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Alba will nur eins: endlich aus ihrem goldenen Käfig im Nordbezirk Londons ausbrechen. Als Tochter des mächtigsten Mannes des Landes ist ihre Zukunft jedoch längst vorherbestimmt. Die letzte Chance, frei zu sein, kommt in Gestalt eines jungen Diebes: Seven. Und der ist nicht nur total unverschämt, sondern auch Mitglied einer Straßengang, die mit gestohlenen Erinnerungen auf dem Schwarzmarkt handelt. Ausgerechnet ihm folgt Alba zum ersten Mal in den Süden. Doch in einer Welt, in der keine Erinnerung privat ist, bleiben auch Geheimnisse nicht lange verborgen. Geheimnisse, die Albas Leben für immer verändern, und Seven in tödliche Gefahr bringen. Die beiden müssen alles aufs Spiel setzen - ihr Leben … und ihre Liebe.
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Natasha Ngan
VERTRAUE NIEMALS DER ERINNERUNG
Aus dem Englischen von Michael Koseler
Natasha Nganwurde im englischen Hertfordshire geboren und hat ihre Kindheit in Großbritannien und in Malaysia verbracht, von wo die chinesische Seite ihrer Familie stammt. Bücher waren schon immer ihre besten Freunde, und auch wenn inzwischen ein paar echte menschliche Freunde dazugekommen sind, hat sie sich ihre Liebe zu spannenden Geschichten erhalten. Neben dem Schreiben an ihren eigenen Romanen arbeitet Natasha als begeisterte Fotografie- und Modebloggerin.
Mehr über Natasha findest Du auf Twitter und Instagram @girlinthelens oder auf ihren Blogs: girlinthelens.com und natashangan.com.
Für Nicola, weil sie alles in Gang setzte
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »The Memory Keepers« bei Hot Key Books, einem Imprint der Bonnier Publishing Group. Copyright © Natasha Ngan, 2014
1. Auflage 2016 Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Aus dem Englischen von Michael Koseler Covergestaltung: Martina Eisele unter Verwendung der Fotografien von zffoto und elaineitalie © depositphotos ISBN 978-3-401-80560-3
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»Erinnerungen wärmen einen von innen. Sie können einen aber auch innerlich zerreißen.«
Haruki Murakami
2 Uhr 30 morgens. Hyde-Park-Anwesen
Seven unterdrückte einen Fluch, als seine Finger vom Sims des Balkons abrutschten. Seine eine Hand verlor den Halt und baumelte in der Luft, sodass sein Körper gegen das Gebäude prallte, das er gerade hochkletterte (und ja, das, was er hier machte, war natürlich völlig illegal). Im letzten Moment schaffte er es, sich mit der anderen Hand festzuklammern. Die Mauer vor ihm fiel steil nach unten ab wie ein erstarrter Wasserfall aus glänzendem weißen Stein. Er befand sich im zweiten Stock. Wenn man aus dieser Höhe abstürzte und auf Rasen landete, kam man für gewöhnlich mit ein paar gebrochenen Knochen davon. Doch um dieses Haus zog sich eine Terrasse, die mit Marmorplatten ausgelegt war …
Wenn er da aufkam, war es aus mit ihm.
Nachdem er tief Luft geholt hatte, packte Seven die Kante des Balkons mit beiden Händen und zog sich nach oben. Seine Arme schmerzten, denn um auf das Hyde-Park-Anwesen zu gelangen, war er bereits über einen fünf Meter hohen Zaun geklettert, um anschließend auch noch die Fassade des Hauses zu erklimmen. Und das hatte verdammt hohe Stockwerke.
»Wofür zum Teufel brauchen reiche Leute solche großen Häuser?«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. Klar, wenn er mehrere Millionen Pfund besäße, würde er sich wahrscheinlich ein Haus kaufen, das zwanzigmal so groß wäre wie das hier – und zwar einfach, weil er es könnte.
Der Balkon war klein und hatte eine schmiedeeiserne Brüstung, die wie ein Rosenstrauch gearbeitet und weiß angestrichen war, um farblich zur Fassade des Hauses zu passen. Nachdem Seven auf den Balkon geklettert war, kauerte er sich in eine dunkle Ecke, um wieder zu Atem zu kommen. Er schob die Ärmel seines T-Shirts hoch und fuhr sich durch das zerzauste schwarze Haar. Dann vergewisserte er sich, dass seine Worker Boots fest zugeschnürt waren – offene Schnürsenkel hatten schon so manchen Speicherchip-Dieb ins Verderben gestürzt – und dass die Enden der Hosenbeine in den Schuhen steckten.
Hinter der Glastür, die auf den Balkon führte, war alles dunkel. Seven versuchte, durch die Gardinen zu spähen, die vor die Tür gezogen waren, konnte jedoch lediglich erkennen, dass dahinter ein hohes, geräumiges Zimmer lag.
Seven ließ mehrere Minuten verstreichen und wartete ab.
In der Dunkelheit, die ihn umgab, raschelten Blätter. Irgendwo in der Nähe schrie eine Eule und durch die Büsche huschten Kaninchen. Ansonsten war alles still. Das Anwesen lag auf dem riesigen Gelände, das früher einmal der Hyde Park gewesen war. Über das ganze Areal waren nur fünf Häuser verteilt. Zu dieser späten Stunde waren selbst das ständige Brausen des Verkehrs und der Baulärm in der Stadt verstummt und einer tiefen Stille gewichen.
Seven hatte dieses Haus so lange beobachtet, dass er den Tagesrhythmus seiner Bewohner bestens kannte. Inzwischen mussten alle im Bett sein, auch die Dienstboten. Trotzdem konnte man nie hundertprozentig sicher sein und Vorsicht war besser als Nachsicht. Seven hielt nämlich nicht unbedingt etwas davon, erwischt und zum Tode verurteilt zu werden.
Als er schließlich davon überzeugt war, dass sich niemand in der Nähe befand, holte er einen Dietrich aus seinem Werkzeuggürtel. Er steckte ihn in das Schlüsselloch der Tür und stocherte damit im Schloss herum.
Sevens Herz hämmerte wie wild. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm hoch, weil er, wie immer in so einer Situation, Angst hatte, dass es diesmal nicht klappen würde. Doch dann – er atmete erleichtert auf – war ein leises Klicken zu vernehmen und das Schloss sprang auf.
»Danke, ihr Götter«, flüsterte Seven grinsend. Nicht dass er an irgendwelche Götter glauben würde. Wenn es überhaupt welche gab, dann hatten sie sich bisher herzlich wenig um ihn gekümmert. Aber Gebete kosteten ja nichts (ganz im Gegensatz zu so gut wie allen anderen Dingen in London).
Seven schob die Tür auf und schlüpfte ins Zimmer.
Das Erste, was ihm wie immer auffiel, war der Geruch des Raums. Die Luft war sauber, wenn auch etwas muffig, was von den Büchern in den Regalen ringsum kam. Vor allem aber roch es hier nicht nach Dingen wie Kotze, Pisse, Scheiße, Müll, Zigarettenrauch, Fabrikabgasen, Haschisch, Marihuana oder all den unzähligen anderen Gerüchen, nach denen die Straßen in der Nähe seiner Wohnung im Süden stanken.
Seven reckte die Arme in die Höhe, um seine verkrampften Muskeln zu lockern, und atmete tief ein. Ein durchdringend süßer Duft erfüllte das Zimmer. Als seine Augen sich an die durch das Mondlicht aufgehellte Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass überall Vasen voller Blumen standen. Er rümpfte angewidert die Nase. Das war auch etwas, das er an reichen Leuten hasste: Sie gingen so verschwenderisch mit ihrem Geld um, dass sie Hunderte von Pfund für Dinge ausgaben, die nicht nur grässlich rochen, sondern auch nach ein paar Tagen verwelken würden.
Plötzlich war vom Treppenabsatz vor dem Zimmer ein Knarren zu hören. Seven hielt den Atem an und presste sich, mit der Dunkelheit verschmelzend, gegen die Wand. Ihm brach der Schweiß aus. Als von draußen keine weiteren Geräusche hereindrangen, trat er wieder in den Raum.
Na dann an die Arbeit, dachte er.
Seven war ein so erfahrener Dieb, dass er sich bei seiner Arbeit normalerweise Zeit ließ und auch mal gerne in Bücherregalen herumstöberte. Wenn irgendwo Essen stand, bediente er sich. Doch heute Abend konnte er es sich nicht leisten, die Sache derart lässig anzugehen.
Denn er befand sich auf dem Hyde-Park-Anwesen, der teuersten Wohngegend des Nordens.
Im Haus der Familie White.
Der Familie White.
Das hier war das Zuhause des Mannes, der Leute wie ihn kalt lächelnd in den Tod schickte.
So leise wie möglich verließ Seven das Zimmer und trat in den Gang hinaus, der sich links und rechts in der Dunkelheit verlor. Direkt vor ihm führte eine breite geschwungene Treppe zu der riesigen Eingangshalle im Parterre hinunter. Über der hohen Haustür befand sich ein rundes Fenster, das den größten Teil der Wand einnahm und mit verschlungenen Spiralen bemalt war. Das Mondlicht, das dort hindurchschien, warf das Muster geradewegs auf den Marmorfußboden, wo es sich wie gespenstische Ranken kräuselte.
Obwohl das hier zweifellos das luxuriöseste Haus war, das Seven je betreten hatte, war er nicht im Geringsten beeindruckt. Mit finsterer Miene wandte er sich ab und ging den Korridor entlang.
Der Raum, nach dem er suchte – das Memorium – lag im Ostflügel des Gebäudes, hinter einer Geheimtür, die sich in jenem der acht Wohnzimmer befand, das die Familie am seltensten benutzte. Diese Details hatte Seven schon bei der Observation des Hauses in Erfahrung gebracht. Völlig sicher war er sich zwar nicht, weil das Memorium keine Fenster hatte, andererseits kannte er dieses räumliche Arrangement von anderen Häusern, aus denen er Speicherchips gestohlen hatte. Außerdem hatte er beobachtet, wie jemand durch das Bücherregal auf der rechten Seite des Raums getreten und verschwunden war. Falls er keine Halluzinationen hatte (was als Nebenwirkung seines ständigen Hungers durchaus möglich war), musste sich das Memorium der Whites genau dort befinden.
Es gab immer eine Geheimtür. Erinnerungen waren schließlich eine äußerst heikle Angelegenheit und man wollte natürlich nicht, dass sie in die falschen Hände gerieten.
Und mit »falschen« meine ich diese hier!, dachte Seven und winkte dem Wohnzimmer grinsend zu, als er hineintrat.
Schon nach einem flüchtigen Blick auf die Bücherregale an der hinteren Wand entdeckte er den Rahmen einer in das Holz eingelassenen Tür. Der Spalt wurde direkt vom Mondlicht beschienen und Seven lief sofort auf Zehenspitzen hinüber. Wie immer in diesem Moment – der ihm bei seinen Diebestouren der zweitliebste war – beschleunigte sich sein Herzschlag. Er presste die Hände gegen das Holz und zögerte kurz. Wenn die Tür abgeschlossen war, hatte er den ganzen Weg umsonst gemacht. Aber die Leute im Norden schließen ihre Memoriums nur selten ab, beruhigte er sich selbst, schob die Finger in die Ritze der Geheimtür und drückte dagegen.
Langsam gab die schwere Tür nach und ging auf.
Seven entspannte sich und ein Grinsen stahl sich auf seine Lippen. Doch schon im nächsten Moment rutschte ihm das Herz in die Hose.
Im Zimmer brannte Licht; eine flackernde Lampe, die auf einem Schreibtisch stand. Als die Tür noch weiter aufging, erblickte Seven ein Mädchen. Ihr rotbraunes Haar schimmerte im Licht, während sie sich zu ihm umdrehte. Wie in Zeitlupe nahm er wahr, dass sie ihre Augen aufriss, den Mund weit öffnete und die Hände zu Fäusten ballte.
Aus irgendeinem verrückten Grund rannte Seven nicht davon. Möglicherweise hätte er es sogar noch nach draußen geschafft. Stattdessen stand er wie angewurzelt da und starrte das Mädchen nur fassungslos an. Dabei ging ihm durch den Kopf, wie ärgerlich es doch war, dass er diesmal nicht seinen absoluten Lieblingsmoment erleben würde: Nämlich mit den gestohlenen Erinnerungen aus dem Haus zu klettern, ohne dass man ihn erwischt hatte.
Elf Stunden früher
SEVEN 1
Das Zimmer lag am Ende des Korridors, von dem das Wohnzimmer, die Küche, die drei kleinen Schlafzimmer und das ziemlich versiffte Bad abgingen (schließlich wohnten hier drei schmuddelige Teenager).
Nichts an der Zimmertür, die Seven stets abschloss, gab irgendeinen Hinweis darauf, was sich hinter der abblätternden Farbe befand. Trotzdem bildete sich Seven ein, man könne spüren, was im Zimmer verborgen war. Es hatte eine Ausstrahlungskraft, die einen sofort innehalten ließ, wenn man an der Tür vorbeiging. Er stellte sich vor, dass seine Mitbewohner Sid und Kola sich immer wieder fragten: Was zum Teufel ist bloß dadrin? Aber wahrscheinlich hatten sie das Ganze in der nächsten Sekunde schon wieder vergessen.
Seven brauchte sich diese Frage natürlich nie zu stellen. Er wusste, was die blauen Aktenschränke, die im Zimmer standen, enthielten. Einige der Griffe an den Schubladen waren über und über mit seinen Fingerabdrücken beschmiert, weil er sie so häufig aufzog. Und auf einem der Schränke stand ein kaputter Becher, in dem er die Lieblingsstücke seiner Sammlung aufbewahrte. Sie waren wie Freunde für ihn, waren eigentlich seine einzigen Freunde. Er kannte sie genau und sie waren immer da, wenn er sie brauchte.
Bei anderen Gelegenheiten – wie zum Beispiel heute – ging Seven einfach in das Zimmer, um sich überraschen zu lassen.
Der Raum war klein und fensterlos. Aktenschränke aus blauem Metall zogen sich die Wände entlang. In einer Ecke stand eine Maschine, groß und schmal wie Seven selbst. Das Zimmer ließ sich in keiner Weise mit den prächtigen, mit dunklem Holz getäfelten und mit Marmorplatten ausgelegten Memoriums der reichen Leute vergleichen, aber es gehörte ihm, was er nur von wenigen Dingen behaupten konnte.
Nachdem er die Tür mit dem Schlüssel, den er an einer dünnen Kette um den Hals trug, hinter sich abgeschlossen hatte, trat Seven in die Mitte des Zimmers. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Hier drinnen war es genauso heiß wie in der restlichen Wohnung. Im Oktober war es im Süden mit seinen engen Straßen, seinen hohen Wohnsilos und der von den Fabriken verpesteten Luft immer unerträglich schwül. Glücklicherweise würde er in ein paar Minuten weit weg von hier sein.
Seven schloss die Augen, breitete die Arme aus und drehte sich mehrmals um sich selbst. Dann hielt er leicht schwankend inne, weil ihm schwindlig war. Ohne die Augen zu öffnen, überlegte er gespannt, was das Zimmer ihm wohl heute bieten würde. Schließlich machte er die Augen auf.
Sein ausgestreckter Arm zeigte auf einen Aktenschrank mit der Aufschrift Angst, Verzweiflung und Sachen, bei denen man sich in die Hosen macht. Kein besonders ausgeklügeltes Ordnungssystem, aber Seven kam gut damit zurecht. Er wusste immer sofort, was ihm bevorstand.
»Gute Wahl«, teilte er dem Zimmer grinsend mit. »Du willst mir wohl einen kleinen Adrenalinstoß verpassen, wie? Oder werde ich vielleicht zu fett und brauche deiner Ansicht nach mehr Bewegung?«
Seven blickte an sich herab. Durch sein verwaschenes graues T-Shirt kniff er sich mit Daumen und Zeigefinger in den Bauch, bekam jedoch kaum Fleisch zu fassen.
Nein. Zu fett war er ganz bestimmt nicht.
Nicht dass es ihm etwas ausmachte, so dünn zu sein. Mit einem dicken Bauch würde er auf seinen Diebestouren ständig stecken bleiben, wenn er sich durch ein Fenster schlängelte. Deshalb sagte Seven sich, dass es wohl sein Gutes hatte, dass er so wenig zu essen bekam, und verdrängte den Gedanken wieder.
Außerdem hatte er gelernt, sich mit etwas anderem als Essen am Leben zu halten.
Nachdem er auf gut Glück eine Schublade des Aktenschranks geöffnet hatte, stöberte Seven in den kleinen viereckigen DSCs – Digitale Speicherchips – herum, die klappernd aneinanderstießen. Das Metall fühlte sich kalt an.
»Das heutige Gericht du jour«, verkündete er mit einem französischen Akzent, den er in den Fischhallen am Fluss aufgeschnappt hatte, »ist eine petite Portion atemberaubenden Schreckens, gefolgt von einem Happen très schmackhaften In-die-Hose-Scheißens.«
Ohne hinzusehen, nahm er eine DSC aus der Schublade. Auf dem Etikett stand in roter Tinte:
10.04.2143, R. L. S., Radcliffe Court 27
Auf den Etiketten seiner DSCs vermerkte Seven das Datum des Diebstahls, die Initialen des Besitzers und den Ort. Zum Inhalt machte er jedoch keine Angaben. Abgesehen von den DSCs im Becher, deren Inhalt er in- und auswendig kannte, liebte er es, bei den Stücken seiner Sammlung immer wieder überrascht zu werden. Auf diese Weise konnte er sich einbilden, dass es sich um seine eigenen Erinnerungen handelten, die so weit zurücklagen, dass sie ihm entfallen waren, und jedes Mal, wenn er Erinnerungen erwischte, die er schon einmal aufgerufen hatte, war es so, als finde er zu einem Zuhause zurück, das er nie gehabt hatte.
Mit der DSC in der Hand ging Seven zu der Maschine hinüber, die in der Ecke des Zimmers stand. Zahlreiche Kabel wanden sich darum, ein Gewirr, das an den Efeu erinnerte, mit dem die Betonmauern seines Wohnsilos bewachsen waren. Oben war eine runde Metallkappe angebracht. Diese Maschine war Sevens ganzer Stolz: ein Memory Butler 3S. Vor Jahren hatte er es sich in einem heruntergekommenen Kaufhaus am Fluss ausgeliehen – na ja, eigentlich hatte er es gestohlen. Es war ein altes Modell, bei Weitem nicht so leistungsstark wie die Maschinen in den voll ausgestatteten Memoriums, erfüllte aber seinen Zweck.
Nachdem er den Memory Butler eingeschaltet hatte, zog er ihn in die Mitte des Zimmers. Er setzte sich auf einen Hocker und schnallte sich die mit Kabeln verbundenen Manschetten um die Handgelenke. Sie beeinflussten mit elektrischen Impulsen den Herzschlag, um beim Erinnerungssurfen die besten Bedingungen zu schaffen. Dann setzte er sich die Metallkappe auf, die ebenfalls mit der Maschine verkabelt war. Die stumpfen Zangen am Rand der Kappe schlossen sich um seinen Kopf.
Seven zuckte zusammen. »Ist mir wie immer ein Vergnügen, Butler.«
Als Nächstes verband er das Hauptkabel mit der DSC. Er beobachtete, wie der Balken, der anzeigte, dass der Inhalt des Speicherchips runtergeladen wurde, wuchs. Als der Vorgang abgeschlossen war, drückte Seven auf AKTIVIEREN. Er hielt den Atem an und wartete voller Vorfreude darauf, was er wohl gleich erleben – welche neue Welt er entdecken würde.
In welche neue Person er sich gleich verwandelte.
Zunächst tat sich überhaupt nichts. Nur das Summen der Maschine war zu hören, die in unregelmäßigen Abständen ein Klicken von sich gab. Aus dem Hof drangen das Gurren und Flügelschlagen der Tauben an Sevens Ohr. Aus der Ferne waren die typischen Nachmittagsgeräusche Londons zu vernehmen. Dann wurde das Summen lauter, in das sich ein schriller, kreischender Ton mischte. Plötzlich blitzte ein Licht auf. Seven kniff automatisch die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe.
»ERINNERUNG AKTIVIERT«, teilte ihm eine ausdruckslose Roboterstimme mit, die aus seinem Schädel zu kommen schien. »DAUER: ACHT MINUTEN, EINUNDDREISSIG SEKUNDEN.«
Seven öffnete die Augen.
Um ihn herum war alles schwarz geworden. Kein Laut war zu hören. Es war, als schwebe er im Nichts. Er streckte die Hand aus und spürte, wie die warme Luft einer fremden Erinnerung über seine Haut strich.
Okay, dachte Seven und spähte in die Dunkelheit, um herauszufinden, warum diese Erinnerungen unter Angst, Verzweiflung und Sachen, bei denen man sich in die Hosen macht abgelegt waren. Er grinste. »Nun gib dir mal Mühe, R. L. S. Sonst verlange ich mein Geld zurück.«
Alba 2
Der Nachmittagsunterricht war immer am schlimmsten, besonders um vier herum. Zu dieser Zeit war es so heiß und stickig, dass Alba sich völlig benebelt fühlte und ständig gegen den Schlaf ankämpfen musste. Um vier Uhr sollte man eher ein bisschen vor sich hin träumen oder sich etwas hinlegen. Man könnte auch gemütlich über das Gelände des Hyde-Park-Anwesens spazieren. Oder aber auf der verwilderten Wiese am Ufer der Serpentine sitzen und einen Roman lesen.
Jedenfalls war das ganz entschieden nicht die richtige Zeit, um bei Professor Nightingale Neuere Geschichte zu haben. Sein Unterricht war für den Schulalltag das, was »vier Uhr« für Nachmittage war …
Nämlich das Schlimmste, was einem passieren konnte.
»Ende des 21. Jahrhunderts kam es dann zur Großen Depression. Der Aktienmarkt brach zusammen und die internationalen Beziehungen waren extrem gespannt. Und natürlich spielte auch die Auflösung der EU und die daraus folgenden Unruhen und kleinen Kriege eine Rolle. Außerdem hatte der Treibhauseffekt weltweit um sich gegriffen, sodass das Klima auf den Britischen Inseln mutierte und die Jahreszeiten aus dem Gleichgewicht gerieten. Die Temperatur stieg alle zehn Jahre um durchschnittlich drei Grad an. Und natürlich …«
Alba stützte den Kopf in die Hände, als höre sie aufmerksam zu, und richtete den Blick so, wie es sich gehörte, auf den Lehrer, obwohl ihre Augen halb geschlossen waren und sie innerlich total abgeschaltet hatte.
Professor Nightingale trug aber auch gar nichts dazu bei, die Situation irgendwie erträglicher zu machen. Praktisch alles an ihm machte sie nur noch müder: seine ausdruckslose, leiernde Stimme ebenso wie die zahlreichen Falten in seinem Gesicht, das so zerknittert wirkte wie sein karierter Anzug. Von seinen Haaren waren nur noch wenige Büschel übrig, die sich über seinen ganzen Schädel verteilten.
Alba fielen die Augen zu. Professor Nightingale ließ sich gerade über irgendetwas absolut Todlangweiliges aus – was nichts Neues war – und sie merkte, wie sie vom Sog seiner Stimme in Richtung Schlaf davongetragen wurde. Sie sank auf ihrem Stuhl zusammen. Ihre seidene Schuluniform schmiegte sich an ihre Haut, was sich so warm und gemütlich anfühlte, als läge sie zu Hause unter ihrer Daunendecke. Doch gerade als sie dabei war, ins Traumland hinüberzugleiten, da –
»Mistress White? Könnten Sie uns sagen, wann genau der Vertrag unterzeichnet wurde, der die Selbstständigkeit aller acht Stadtstaaten auf den Britischen Inseln festlegte?«
Alba schreckte hoch. Professor Nightingales Glubschaugen starrten sie durch runde Brillengläser an. In der Klasse war es mucksmäuschenstill; alle Schülerinnen hielten den Atem an (wie immer reichte allein die Erwähnung von Albas Familiennamen dazu aus).
Rasch setzte Alba sich gerade hin.
»Das war am 16. Januar 2101, Professor«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
Das war eine leichte Frage, weil dieses Datum für die Londoner ein Feiertag war, der an die Unterzeichnung des Vertrags erinnern sollte. Alle Kinder im Norden lernten in der Schule, dass Großbritannien zu Beginn des 22. Jahrhunderts in acht unabhängige Stadtstaaten aufgeteilt worden war, die jeweils von Premierministern regiert wurden. Diese Aufteilung war das Ergebnis jahrzehntelanger Konflikte, wirtschaftlicher Konkurrenzkämpfe und sozialer Spannungen, die der britischen Regierung schließlich über den Kopf gewachsen waren. Die Stadtstaaten waren nach wie vor an Gesetze gebunden, die für das ganze Land galten und deren Einhaltung von einem Gremium überwacht wurde, in dem Delegierte aus jedem Stadtstaat saßen. Im Großen und Ganzen konnten die Stadtstaaten jedoch unabhängig voneinander agieren. Londons gegenwärtiger Premierminister war ein in Frankreich geborener Mann namens Christian Burton-Lyon, der hauptsächlich deswegen gewählt worden war, weil er gute Beziehungen zu europäischen Handelsunternehmen hatte.
Professor Nightingale nickte. »Richtig, Mistress White. Um fünf Uhr dreißig nachmittags, um ganz genau zu sein. Und könnten Sie uns auch noch sagen, wann die Gipfelkonferenz zum Thema Erinnerungssurfen und Handel mit Erinnerungen stattgefunden hat, auf der die diesbezüglichen internationalen Gesetze formuliert wurden?«
Das war schon schwieriger. Alba warf einen Blick auf ihr Schulheft, dessen Seiten jedoch leer waren.
»Oh, äh …«, murmelte sie und suchte krampfhaft nach einer Antwort.
In allen Einzelheiten hatten sie die Geschichte des Erinnerungssurfens noch nicht durchgenommen. Was damals geschehen war, wusste Alba in groben Zügen aus dem Fernsehen und diversen Artikeln im Internet sowie aus kurzen Zusammenfassungen in ihren Schulbüchern. Nachdem die Neurologie im späten 21. Jahrhundert gewaltige Fortschritte gemacht hatte, wurden die ersten Erinnerungsmaschinen gebaut, und zwar hier in London. Obwohl man sie anfänglich nur in der medizinischen Forschung eingesetzt hatte – Krankheiten wie Alzheimer und Demenz waren auf dem Vormarsch gewesen –, führte der Zusammenbruch des Staates dazu, dass es keine öffentlichen Mittel mehr gab und die betroffenen Forschungseinrichtungen sich an private Investoren wandten. Für die Erinnerungsmaschinen wurden neue Anwendungsmöglichkeiten entwickelt, und als die Zahl ausländischer Investoren immer mehr zunahm, wurde die Technologie bald auch von verschiedenen anderen Ländern übernommen.
Das Erinnerungssurfen und der Handel mit Erinnerungen erfreute sich verständlicherweise großer Beliebtheit. Damals waren die Ölressourcen fast aufgebraucht; die internationalen Beziehungen waren schon seit Jahrzehnten angespannt und die Technologie war so allumfassend geworden, dass die Leute fast mit ihrem Bildschirm verschmolzen und ihre Umgebung kaum noch wahrnahmen. Die Möglichkeit, die Welt ohne große Mühe mithilfe einer Erinnerungsmaschine zu erkunden, passte perfekt zur Gesamtsituation. Das Ganze war jedoch nicht billig. In London, wo es die Kluft zwischen Norden und Süden gab, entstand im Norden geradezu ein Kult des Erinnerungssurfens, während es für Leute im Süden der reinste Luxus war, den sie sich nur selten leisten konnten.
Doch das waren nur die grundlegenden Tatsachen. Einzelheiten kannte Alba nicht, zum Beispiel, wann die Gipfelkonferenz stattgefunden hatte.
Sie linste hoffnungsvoll zu Rosemary Daltons Schulheft hinüber, das (was für eine Überraschung!) von Notizen nur so strotzte. Doch Rosemary – ein großes blondes Mädchen mit einem Schweinchengesicht, das ständig zu einem spöttischen Grinsen verzogen war – bemerkte ihren Blick und legte demonstrativ den Arm über das Heft. Alba seufzte. Sie wickelte sich eine Locke ihres dichten roten Haars um den Finger und versuchte, nachdenklich auszusehen.
»Ich … ich glaube, das war so ungefähr am 23. März 2138, Professor. Oder war es 2137 …?« Sie verstummte und wurde knallrot.
Professor Nightingale seufzte so lange und ausführlich, dass Alba fast wieder einnickte. »Nein, Mistress White«, sagte er, »das war an keinem dieser Tage. Es war natürlich am 2. Mai 2138.«
»Natürlich«, murmelte Alba vor sich hin.
Als Alba nach Unterrichtsschluss die Schule verließ, wartete Dolly schon am Tor auf sie. Obwohl man von der Knightsbridge Academy zum Hyde-Park-Anwesen nur zwanzig Minuten brauchte, durfte Alba nie allein nach Hause gehen. Bevor Dolly Albas Eltern überredet hatte, ihre Tochter zu Fuß gehen zu lassen – natürlich mit Dolly als Begleitung –, war Alba immer mit einem der Bentleys, auf dessen Kühlerhaube in silbrigem Metall das Emblem der Familie White prangte, zur Schule chauffiert worden. Das hatte sie gehasst, weil es bedeutete, dass alle Passanten auf der Straße sofort wussten, wer da im Wagen saß.
Natürlich wusste niemand, dass es Alba war. Man wusste nur, dass es jemand war, der zur Familie gehörte, und genau das war das Problem.
Dolly blinzelte, halb zur Straße gedreht, in den nachmittäglichen Sonnenschein. Sie trug ihre Dienstbotenuniform, zu der eine weiße Seidenschürze, eine weiße Bluse und weiße Strümpfe gehörten. Auf die Tasche ihrer Schürze war mit schwarzem Garn das Familienemblem der Whites gestickt. Ihr langes purpurrotes Haar war oben auf dem Kopf zu zwei Knoten geschlungen.
Alba eilte über den Schulhof. Auf dem Spielplatz tobten einige Kinder herum, deren Geschrei die stickige heiße Luft zerriss. Auf der Straße hinter dem Tor rauschte der Verkehr. Die Elektroautos, die die Straße entlangschossen, verursachten Vibrationen, die wie Wellen gegen Alba brandeten.
Dolly drehte sich um, bevor Alba dazu kam, sich von hinten anzuschleichen und sie in die Seite zu kneifen.
»Diesmal nicht«, sagte Dolly mit ihrer hellen warmen Stimme. Auf ihrem jungen Gesicht erschien ein Lächeln. Nachdem sie Alba eine Haarsträhne aus der Stirn gestrichen hatte, gingen sie los. »Wie war dein Tag? Ich hoffe, du hast viel gelernt.«
Alba schnaubte. »Oh, Unmengen«, erwiderte sie und legte Dolly den Arm um die Taille.
Alba liebte es, dass Dolly so drahtig und groß war. Dolly hatte einen Körper, den Albas Mutter als »jungenhaft« bezeichnete, den Alba jedoch wunderschön fand. Sie würde zu gern wie Dolly aussehen. Stattdessen war sie eher kurvig und für ihre sechzehn Jahre ziemlich klein. Sie war froh, dass wenigstens ihre Gesichter einige Ähnlichkeiten aufwiesen. Beide hatten sie stark ausgeprägte Wangenknochen, ein rundes Kinn und große, weit auseinanderstehende Augen, obwohl die von Dolly blau und die von Alba grün waren.
Manchmal stellte Alba sich vor, dass Dolly ihre Schwester sei. Soweit sie wusste, hatte keine ihrer Mitschülerinnen ein so enges Verhältnis zu ihrer Zofe wie Alba. (Obwohl sie von den anderen Mädchen an der Knightsbridge Academy eigentlich keines richtig kannte. Es war schwer, Freundschaften zu schließen, wenn man Alastair Whites Tochter war, und abgesehen vom täglichen Schulgang ließen ihre Eltern sie nur selten aus dem Haus.) Obwohl es natürlich üblich war, Zofen schon in frühen Jahren mit ihren Schützlingen zusammenzubringen, damit zwischen ihnen ein geschwisterliches Band entstand. Als Alba geboren wurde, war Dolly erst neun gewesen und hatte ihre Aufgaben gelernt, indem sie der Zofe von Albas Mutter zur Hand gegangen war. Sie hatte sich um Alba gekümmert, bis Dolly alt genug gewesen war, um diese Rolle selbst zu übernehmen. Jetzt war sie Mitte zwanzig.
Alba hörte manchmal, wie Mitschülerinnen sich abfällig über ihre Zofen äußerten. Obwohl etliche Dienstboten aus den unbedeutenderen Familien im Norden stammten, kamen auch viele aus dem Süden, und das bedeutete, dass es zwischen ihnen und ihren Arbeitgebern eine unüberwindbare Kluft gab. So wie eine unsichtbare Mauer, eine Barriere, die die beiden Welten strikt in zwei Hälften teilte.
Norden.
Süden.
Licht und Schatten.
Doch zwischen Alba und Dolly gab es so etwas nicht. Alba hatte eher das Gefühl, als wäre Dolly die Einzige, die auf ihrer Seite der Mauer stand. Alles andere im Norden befand sich auf der anderen Seite, weit von ihr entfernt, hinter einer Fassade aus funkelndem Glas, Juwelen und falschem Lächeln. Eine Welt, der sie sich einfach nicht zugehörig fühlte.
»Hattet ihr heute zufällig wieder Unterricht bei Professor Nightingale?«, fragte Dolly und grinste Alba an.
Alba verdrehte die Augen. »Was meinst du wohl, warum ich mich in einen Zombie verwandelt habe?«
Dolly gab ein glockenhelles Lachen von sich, das sie beide wie ein sanfter Sommerregen umgab. Zum x-ten Mal wünschte Alba, Dolly wäre ihre Mutter oder ihre Schwester und würde sie weit, weit von hier fortbringen.
SEVEN 3
»Was für eine beknackte Zeitverschwendung«, schimpfte Seven vor sich hin, als er die Metallkappe vom Kopf nahm und am Kabel nach unten baumeln ließ. Er rieb sich die Schläfen, wo die Zangen Druckstellen hinterlassen hatten. »Das waren acht Minuten und einunddreißig Sekunden meines Lebens, die ich nie zurückbekommen werde. Du kommst in den Mülleimer, R. L. S. Und du …« Er entfernte die Manschetten von seinen Handgelenken und drohte dem Zimmer mit dem Finger. »… du solltest dich am Riemen reißen! Möchte wissen, warum diese DSC gerade in dem Schrank war. Die hätte man unter Zum Gähnen langweilig ablegen müssen.«
Er schnaubte. Natürlich gab es keinen Aktenschrank mit dieser Aufschrift, dafür aber einen Mülleimer, der hinter der Tür stand.
In Gedanken versunken schob Seven den Memory Butler in die Ecke des Raums. Wie kam es, dass dieser Speicherchip in der Kategorie Angst, Verzweiflung und Sachen, bei denen man sich in die Hosen macht gelandet war? Wenn er neue Erinnerungen gestohlen hatte, wurden sie, sobald er sie das erste Mal durchlebt hatte, in die Aktenschränke eingeordnet. Es war überhaupt nicht nachvollziehbar, dass er diese hier je für angsterregend gehalten hatte. Um ihn herum war nichts als Schwärze gewesen, die sich endlos auszudehnen schien, und er hatte das leise Gemurmel von Stimmen gehört, ohne ein Wort verstehen zu können. Als er die DSC eingeordnet hatte, musste er einen Fehler gemacht haben.
Doch als Seven aus dem Zimmer schlüpfte und die Tür rasch hinter sich verriegelte, schoss ihm ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf: Ich bin ein Speicherchip-Dieb. Ich mache keine Fehler.
So was kann ich mir nicht leisten.
Am Abend wollte Seven auf den DSC-Markt gehen, doch bis dahin blieben ihm noch ein paar Stunden, die er auf dem Dach des Hauses, in dem er wohnte, verbrachte. Da seine Erinnerungsmaschine oft heiß lief, konnte er pro Tag nur ein- oder zweimal surfen. Sonst hätte er sie sicher ständig benutzt. Im Süden gab es ja sonst nicht viel, was man unternehmen konnte.
Das Dach war zu seinem privaten Rückzugsort geworden, weil ihm die Aussicht gefiel. Es gab auch noch einen anderen Grund, den er sich aber nur ungern eingestand. Die Typen, die immer unten im Hof rumhingen, Zigaretten rauchten, billiges Bier tranken und ständig alles um sich herum demolierten, hielten Seven nämlich für ein Versuchsobjekt und probierten gern an ihm aus, wie viele Schläge jemand einstecken konnte, ohne zu Boden zu gehen. Deshalb zog er sich lieber zurück, sobald er unten im Hof ihre Stimmen hörte.
Auch jetzt waren sie da, als er auf der Kante des Daches hockte, das über dem dreißigsten Stock lag. Er hatte sich so gesetzt, dass er nach Norden blicken konnte, auf die schöne Hälfte Londons, die aus funkelnden Glastürmen, grünen Parks und gepflegten Häusern bestand. Dieser Ausblick war einer der Gründe, warum er in das Haus hier gezogen war. Es lag am oberen Rand von Vauxhall, unmittelbar an der Themse, die silbern im Licht der Sonne glitzerte.
Wenn er von hier oben nach Norden schaute, konnte Seven so tun, als gehörte er zu der Welt jenseits des Flusses. Dann konnte er sich einreden, dass er nicht auf einem von Tauben verdreckten Dach im Süden saß. Dass sich hinter ihm kein Labyrinth schmutziger, verpesteter Straßen erstreckte. Dass er bloß die Arme auszubreiten brauchte, um über den Fluss zu fliegen und den Süden weit hinter sich zu lassen.
(Seven hätte nie zugegeben, nicht einmal sich selbst gegenüber, dass er vor einigen Jahren, an seinem fünfzehnten Geburtstag, nach einem besonders üblen Zusammenstoß mit den Kerlen im Hof, ernsthaft mit dem Gedanken gespielt hatte, die Arme auszubreiten und vom Dach zu springen, obwohl er natürlich wusste, dass er nicht wirklich fliegen konnte.)
Seven schloss die Augen, lehnte sich, auf die Arme gestützt, zurück und streckte die Beine aus. Obwohl es später Nachmittag war, knallte die Sonne noch so stark vom Himmel, dass er in Schweiß gebadet war und sein dünnes T-Shirt und seine blaue Hose ihm am Körper klebten.
Er versuchte, nicht an das zu denken, was er in der Nacht vorhatte. Am Tag vor einem Einbruch war Seven stets nervös. Wenn die Dunkelheit hereinbrach, wurde er immer aufgeregter, denn dann schien die ganze Stadt eine andere Identität anzunehmen und sich in eine Welt zu verwandeln, in der alles möglich war.
Doch was er diesmal plante, war kein normaler Einbruch. Diesmal ging es um das Haus der Familie White. Das war so, als lege man sich selbst eine Schlinge um den Hals und drücke dem Teufel das Seil in die Hand.
»Hey, Mann.«
Beim Klang der Stimme fuhr Seven zusammen, weil er glaubte, die Jungen aus dem Hof seien zu ihm hochgekommen. Er sprang auf und drehte sich blitzschnell um, doch es war nur Kola, einer seiner Mitbewohner, der vor ihm stand.
Kola war ein großer, gut aussehender Junge mit mahagonifarbener Haut. Er stammte aus Malaysia und war mit zehn nach London geflohen, um den Rassenunruhen zu entkommen, die seine ganze Familie ausgelöscht hatten. Obwohl Kola und Seven gut miteinander auskamen, hatte er etwas an sich, das Seven beunruhigte. Vielleicht lag es daran, dass er so still und ernst war, oder an seinen dunklen Augen, in denen man zu versinken drohte, sobald man ihn ansah.
Die zwei starrten sich ein paar Sekunden lang an. Dann senkte Kola den Blick, setzte sich neben Seven und schaute auf die Stadt hinüber.
»Hier kommst du also jeden Tag her.« Kola sprach langsam und mit starkem malaysischen Akzent.
Seven zuckte die Achseln. »Wo soll ich denn sonst hin?«
»Stimmt.«
»Und die Aussicht …«
»Ist sehr schön«, stimmte Kola zu. »Ich komme auch manchmal hierher, obwohl ich selten die Gelegenheit dazu habe, wenn’s noch hell ist.«
Dann verstummten sie. Seven dachte, dass sie wahrscheinlich noch nie ein so langes Gespräch geführt hatten, seit Kola sich vor vier Jahren auf Sevens Mitbewohner-Annonce gemeldet hatte. Kola schuftete tagsüber auf den Docks, Seven ging nachts auf Diebestour (nicht dass Kola das gewusst hätte, denn Seven hatte ihm erzählt, er arbeite in der Nacht auf einem Bauplatz), sodass ihre Wege sich selten kreuzten.
»Ich wollte dich warnen«, sagte Kola plötzlich. »Vor den Kerlen, die unten im Hof rumhängen. Einer von ihnen hat gesagt, er hätte gesehen, wie du zum Dach raufgegangen bist. Und sie haben beschlossen, nach dir zu suchen.«
Instinktiv verkrampfte sich Sevens ganzer Körper. Es war, als erinnere sich jede Faser in ihm an die Schläge und Fußtritte und versuche, der Erinnerung an die Schmerzen zu entkommen.
Und der Aussicht, weitere Schmerzen zugefügt zu bekommen.
Seven schluckte schwer.
»Willst du gegen sie kämpfen?«
Sevens Kopf fuhr herum. Kola blickte immer noch nach Norden. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Im Sonnenschein wirkten seine dunklen Augen bernsteinfarben.
»Will ich … was?«, stammelte Seven.
»Willst du gegen sie kämpfen?«, wiederholte Kola, ohne Seven anzusehen. »Allerdings sind wir ein bisschen in der Unterzahl.«
Seven lachte gequält. Das war ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. Erst nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass Kola wir gesagt hatte.
»Äh … vielleicht beim nächsten Mal.«
Kola nickte. Dann stand er auf und klopfte sich die Hose ab. »Jedenfalls werden sie in ein paar Minuten hier sein.« Bevor Seven etwas erwidern konnte, ging Kola zur Treppe hinüber, die vom Dach nach unten führte.
Seven wartete noch eine Zeit lang, dann eilte er Kola hinterher. Als er in die Wohnung im dreiundzwanzigsten Stock zurückkehrte, sah er, dass die Tür zu Kolas Zimmer geschlossen war. Die Stille dahinter tönte lauter als je zuvor.
Alba 4
Als Alba und Dolly heimkamen, war im Haus alles still. Sie hatten sich Zeit gelassen und waren noch ein wenig auf dem Anwesen umhergeschlendert. Dabei hatte Alba Dolly von der hochnäsigen Rosemary Dalton erzählt und die zwei hatten sich lachend die gemeinsten Dinge ausgedacht, um Rosemary eins auszuwischen. Doch als sie durch die Haustür traten, verstummten sie abrupt.
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