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Der Bestseller ALEX RIDER – die Vorlage zur actiongeladenen TV-Serie! Alex hat sich geschworen, nie wieder für den MI6 zu spionieren. Doch als die Verbrecherorganisation Snakehead weltweit für Angst und Schrecken sorgt, kann er nicht tatenlos zusehen. Undercover wird Alex nach Thailand geschleust, wo er bis ins Herz der Organisation vordringt. Dabei riskiert er mehr als sein Leben … Band 7 der actionreichen Agenten-Reihe von Bestseller-Autor Anthony Horowitz
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Seitenzahl: 439
Als Ravensburger E-Book erschienen 2019Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2019 Ravensburger Verlag GmbHDie englische Originalausgabe erschien 2007unter dem Titel Snakeheadby Walker Books Ltd., 87 Vauxhall Walk, London SE11 5HJ.© 2007 by Anthony HorowitzPublished by arrangement with Anthony HorowitzAlex Rider™ © 2006, Stormbreaker Productions Ltd.Die deutsche Erstausgabeerschien unter dem Titel Snakehead2008 im Ravensburger Verlag GmbHCover © Digital Art by Larry Rostantverwendet mit freundlicher Genehmigung von Penguin Books USA.Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-38392-4www.ravensburger.de
Platsch.
Den Aufprall würde Alex Rider nie vergessen. Der erste Schlag kam, als der Fallschirm sich öffnete, und der zweite – noch heftiger –, als die Kapsel, die ihn aus dem Weltraum zurückbrachte, ins Meer krachte. Bildete er sich das ein oder stieg tatsächlich überall um ihn herum Dampf auf? Vielleicht war es Gischt. Egal. Er hatte es geschafft. Alles andere war unwichtig. Er war zurück. Und er lebte noch.
Er lag auf dem Rücken, eingezwängt in die winzige Kapsel, die Knie an die Brust gepresst. Die Augen halb geschlossen, erlebte Alex einen Moment außerordentlicher Stille. Er rührte sich nicht. Seine Fäuste waren geballt. Er atmete nicht. Er konnte kaum noch glauben, dass die Ereignisse, die zu seiner Weltraumreise geführt hatten, tatsächlich stattgefunden hatten. Er versuchte sich vorzustellen, wie er mit siebzehneinhalbtausend Meilen pro Stunde um die Erde gerast war. Unmöglich. Das konnte er doch nur geträumt haben.
Langsam begann er sich aufzurappeln. Er hob einen Arm; das funktionierte ganz normal. Er spürte die Muskeln. Nur Minuten zuvor hatte er sich in einem Zustand der Schwerelosigkeit befunden. Aber nun fiel die Anspannung allmählich von ihm ab, er sammelte seine Gedanken und stellte fest, dass sein Körper wieder ihm gehörte.
Alex hätte nicht sagen können, wie lange er allein auf dem Meer umhertrieb, noch wusste er, wo er sich befand … Und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Zuerst war das Knattern eines Helikopters zu hören. Dann das Jaulen einer Sirene. Durch das Fenster konnte er nur sehr wenig sehen – nur das Schwanken der Meereswogen –, aber auf einmal schlug eine Handfläche an das Glas. Ein Taucher. Ein paar Sekunden später wurde die Kapsel von außen geöffnet. Herrlich frische Luft strömte herein. Gleichzeitig beugte sich jemand über ihn, ein Mann in Neoprenanzug und Tauchermaske.
»Alles in Ordnung bei dir?«
Alex konnte ihn kaum verstehen bei dem Krach da draußen. Sprach der Taucher mit amerikanischem Akzent?
»Alles klar!«, schrie er zurück. Aber das stimmte nicht. Ihm wurde übel, und er spürte einen stechenden Schmerz hinter den Augen.
»Keine Sorge! Wir holen dich gleich da raus …«
Sie brauchten aber doch eine Weile. Alex war nur kurz im Weltraum gewesen, aber nie dafür ausgebildet worden, und jetzt spielten seine Muskeln verrückt und wollten ihn nicht tragen. Er musste aus der Kapsel gehoben werden, hinein in den grellen Sonnenschein des pazifischen Morgens. Ringsum herrschte Chaos. Über ihm hing ein Helikopter in der Luft, dessen kreisende Rotoren vibrierende Wellenmuster auf die Wasseroberfläche peitschten. Alex drehte sich um und sah – das gab’s doch nicht! – einen Flugzeugträger, keine vierhundert Meter entfernt, so groß wie ein Berg. Er trug die amerikanische Flagge. Also hatte er bei dem Taucher richtig geraten. Er musste irgendwo vor der Küste Amerikas gelandet sein.
Neben der Kapsel schwammen zwei weitere Taucher und Alex sah auch einen vierten, der sich über ihm aus dem Hubschrauber beugte. Er wusste, was jetzt kam, und leistete keinen Widerstand. Als Erstes wurde ihm ein Tau um die Brust geschlungen und festgemacht. Er spürte, wie es sich unter seinen Armen straff zog, und dann wurde er in seiner blauen Ark-Angel-Uniform hochgehievt und baumelte wie eine Marionette in der Luft.
Und sie wussten es schon. Er hatte es in den Augen des Tauchers gesehen, der mit ihm gesprochen hatte. Das ungläubige Staunen. Diese Männer – der Helikopter, der Flugzeugträger – waren hier, um eine Kapsel zu bergen, die soeben aus dem Weltraum zurückgekehrt war. Und drinnen hatten sie einen Jungen gefunden. Einen Vierzehnjährigen, der aus hundert Meilen Höhe in den Ozean geplumpst war. Diese Männer waren natürlich zur Geheimhaltung verpflichtet. Dafür würde der MI6 schon sorgen. Sie würden nie über diese Sache reden. Aber sie würden sie auch nie vergessen.
An Bord der USSKitty Hawk, des Schiffs, das zu seiner Bergung entsandt worden war, erwartete ihn ein Arzt. Er hieß Josh Cook und war vierzig Jahre alt, ein Schwarzer mit Drahtbrille und freundlicher Stimme. Er half Alex aus dem Trainingsanzug und blieb auch bei ihm, als Alex sich übergeben musste. Wie sich herausstellte, hatte Cook schon öfter mit Astronauten zu tun gehabt.
»Denen wird immer schlecht, wenn sie zurückkommen«, erklärte er. »Das gehört einfach dazu, wenn man wieder festen Boden unter den Füßen hat. Aber jetzt bist du ja hier. Morgen geht’s dir wieder gut.«
»Wo bin ich?«, fragte Alex.
»Ungefähr hundert Meilen vor der Ostküste von Australien. Wir führen hier in der Gegend gerade Manöver durch und haben Befehl bekommen, dich aus dem Wasser zu holen.«
»Und was jetzt?«
»Jetzt gehst du duschen und haust dich ein bisschen aufs Ohr. Du hast Glück. Du kannst auf einer Matratze aus Viscoschaum schlafen. Ursprünglich von der NASA entwickelt. Da können deine Muskeln sich wieder an die Schwerkraft gewöhnen.«
Alex hatte eine Privatkabine im Lazarett der Kitty Hawk bekommen – eigentlich ein voll ausgestattetes »Krankenhaus« mit fünfundsechzig Betten, einem OP-Saal, einer Apotheke und allem Erdenklichen, was fünfeinhalbtausend Matrosen einmal brauchen könnten. Die Kabine war nicht gerade riesig, aber er vermutete, dass auf der Kitty Hawk niemand sehr viel Platz hatte. Cook trat beiseite und zog einen Plastikvorhang auf, hinter dem eine Dusche zum Vorschein kam.
»Du wirst vielleicht Schwierigkeiten beim Gehen haben«, sagte er. »Du wirst dich mindestens vierundzwanzig Stunden lang nicht gut auf den Beinen halten können. Wenn du willst, warte ich, bis du geduscht hast.«
»Das schaff ich schon«, sagte Alex.
»Na gut.« Cook lächelte und machte die Tür auf. Bevor er ging, wandte er sich noch einmal um. »Weißt du – alle auf diesem Schiff reden von dir, Alex«, sagte er. »Ich hätte jede Menge Fragen an dich, aber ich habe strikten Befehl vom Captain, den Mund zu halten. Trotzdem sollst du wissen, ich fahre schon sehr, sehr lange zur See, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Ein Kind im Weltraum!« Er nickte. »Ich hoffe, du erholst dich jetzt gut. Neben deinem Bett ist ein Klingelknopf, falls was ist.«
Alex brauchte zehn Minuten, um in die Dusche zu klettern. Er besaß kein Gleichgewichtsgefühl mehr, und das Schwanken des Schiffs war alles andere als hilfreich. Er stellte die Temperatur so heiß ein, wie er es eben noch aushalten konnte, und ließ das dampfende Wasser auf seinen Kopf und über die Schultern strömen. Dann trocknete er sich ab und legte sich ins Bett. Die Matratze war nur wenige Zentimeter dick, schien sich aber exakt seinem Körper anzupassen. Er fiel sofort in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf.
Er träumte nicht von der Weltraumstation Ark Angel oder von seinem Messerkampf mit Kaspar, dem verrückten Öko-Terroristen, der ihn selbst dann noch hatte töten wollen, als alles längst verloren gewesen war. Er träumte auch nicht von Nikolei Drevin, dem Milliardär, der hinter alldem steckte.
Vielmehr glaubte er im Schlaf ein Flüstern von Stimmen zu vernehmen, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Alte Freunde. Oder alte Feinde. Aber das spielte keine Rolle, denn er konnte nicht verstehen, was sie sagten; und dann wurden sie auch gleich wieder vom dunklen Fluss seines Schlafs weggeschwemmt.
Vielleicht war es eine Warnung.
Denn drei Wochen zuvor waren in einem Zimmer in London sieben Männer zusammengekommen, um eine Operation zu besprechen, die ihnen viele Millionen Pfund einbringen sollte und die ganze Welt verändern würde. Und obwohl Alex keinen von ihnen kannte, wusste er doch ganz genau, wer sie waren.
Scorpia war wieder da.
Es war eins dieser Gebäude, an denen man vorbeigeht, ohne sie zu bemerken: drei Stockwerke hoch, weiß verputzt und bis unters Dach mit Efeu zugewuchert. Es stand in der Sloane Street in Belgravia, nicht weit von Harrods, eine der teuersten Adressen von ganz London. Daneben gab es auf der einen Seite ein Schmuckgeschäft und auf der anderen eine italienische Modeboutique – aber die Kunden, die hierherkamen, brauchten beides nicht mehr. Eine einzelne Stufe führte zu einer schwarzen Tür, und im Schaufenster standen eine Urne und eine Vase mit frischen Blumen, sonst nichts.
Auf der Tür stand in dezenten goldenen Buchstaben der Name des Instituts:
Reed & Kelly
BESTATTUNGEN
Der Tod ist nicht das Ende
An einem strahlenden Oktobermorgen um halb zehn, genau drei Wochen bevor Alex im Pazifik landete, hielt vor dem Eingang eine schwarze viertürige Limousine, ein Lexus LS 500. Der Wagen war sorgfältig ausgewählt. Ein Luxusmodell, aber nicht allzu auffällig. Auch die Ankunftszeit war genauestens geplant. In den vergangenen fünfzehn Minuten waren drei andere Fahrzeuge und ein Taxi kurz vorgefahren, und ihre Passagiere, einzeln oder zu zweit, waren ausgestiegen und in dem Salon verschwunden. Jeder Beobachter musste annehmen, dass da eine große Familie zusammengekommen war, um die Bestattung eines kürzlich Verstorbenen zu arrangieren.
Als Letzter kam ein kräftig gebauter Mann mit breiten Schultern und kahl rasiertem Schädel. Seine kleine eingedrückte Nase, die dicken Lippen und die stumpfen braunen Augen gaben ihm ein brutales Erscheinungsbild. Aber seine Kleidung war tadellos. Er trug einen dunklen Anzug, ein maßgeschneidertes Seidenhemd und einen offenen Kaschmirmantel. Den kleinen Finger zierte ein schwerer Platinring. Er hatte eine Zigarre geraucht, aber als er aus dem Auto stieg, ließ er sie fallen und trat sie mit einem auf Hochglanz polierten Schuh aus. Ohne nach links oder rechts zu sehen, überquerte er den Bürgersteig und betrat das Gebäude. Eine altmodische Klingel schepperte, als er die Tür auf- und wieder zumachte.
Er gelangte in einen großen holzgetäfelten Empfangsraum; hinter einem schmalen Tisch saß mit gefalteten Händen ein älterer Mann mit grauen Haaren. Er betrachtete den Ankömmling mit einer Mischung aus Anteilnahme und Höflichkeit.
»Guten Morgen«, sagte er. »Was können wir für Sie tun?«
»Ich komme wegen eines Todesfalls«, antwortete der Besucher.
»Jemand, der Ihnen nahesteht?«
»Mein Bruder. Aber ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen.«
»Mein herzliches Beileid.«
Dieselben Worte waren an diesem Morgen bereits sechsmal gesprochen worden. Hätte auch nur eine einzige Silbe gefehlt, wäre der Kahlköpfige sofort wieder gegangen. Nun aber wusste er, dass das Haus sicher war. Das Treffen, das erst vierundzwanzig Stunden zuvor vereinbart worden war, konnte beginnen.
Der Grauhaarige beugte sich vor und drückte auf einen Knopf unter dem Schreibtisch. Sogleich schob sich ein Teil der Wandverkleidung auseinander. Dahinter kam eine Treppe zum Vorschein, die in den ersten Stock führte.
Der Bestattungssalon Reed & Kelly war echt. Mehr als fünfzig Jahre lang hatten Jonathan Reed und Sebastian Kelly Beerdigungen und Einäscherungen arrangiert, bis die Zeit kam, dass so etwas für sie selbst arrangiert werden musste. Danach wurde das Institut von einer absolut seriösen, in Zürich eingetragenen Firma gekauft und bot weiterhin erstklassige Dienstleistungen für alle, die in der Gegend lebten – beziehungsweise gelebt hatten. Das aber war nicht mehr der einzige Zweck des Hauses in der Sloane Street. Es war auch das Londoner Hauptquartier der internationalen Verbrecherorganisation geworden, die unter dem Namen Scorpia agierte.
Der Name stand für Sabotage, Corruption, Informationsbeschaffung und Attentate: ihre vier wichtigsten Tätigkeitsfelder. Gegründet wurde die Organisation vor gut zwanzig Jahren in Paris, ihre Mitglieder waren Spione und Killer aus verschiedenen Nachrichtendiensten in aller Welt, die beschlossen hatten, selbst in das Geschäft einzusteigen. Anfangs waren es zwölf. Dann starb einer an Krebs und zwei wurden getötet. Die restlichen neun beglückwünschten sich, dass sie so lange mit so wenigen Verlusten überlebt hatten.
Aber in letzter Zeit hatte sich das Blatt gewendet. Das älteste Mitglied hatte den unklugen und unerklärlichen Entschluss gefasst, in Ruhestand zu gehen, und wurde dementsprechend umgehend exekutiert. Aber seine Nachfolgerin, eine Frau namens Julia Rothman, wurde ebenfalls getötet. Damit war eine Operation – Unsichtbares Schwert –, bei der ohnehin alles schiefgegangen war, endgültig gescheitert. Das war in mancher Hinsicht der Tiefpunkt der Geschichte von Scorpia, und viele Beobachter glaubten, die Organisation werde sich niemals von diesem Schlag erholen. Schließlich war der Agent, der Scorpia besiegt, die Operation vereitelt und den Tod von Mrs Rothman herbeigeführt hatte, ein vierzehn Jahre alter Junge gewesen.
Aber Scorpia hatte nicht klein beigegeben. Man hatte an dem Jungen Rache geübt und sich wieder der Arbeit zugewandt. Unsichtbares Schwert war nur eins von zahlreichen Projekten, um die man sich zu kümmern hatte, denn die Organisation wurde regelmäßig von Regierungen, Terroristen, großen Konzernen und überhaupt jedem, der ihre Dienstleistungen bezahlen konnte, mit Aufträgen versorgt. Und jetzt war es mal wieder so weit. Sie hatten sich in diesem Londoner Haus versammelt, um einen vergleichsweise kleinen Auftrag zu besprechen, für dessen Erfüllung zehn Millionen Pfund ausgesetzt waren, zahlbar in ungeschliffenen Diamanten, die leichter zu transportieren und schwerer zurückzuverfolgen waren als Banknoten.
Die Treppe führte zu einem kurzen Korridor im ersten Stock; dort gab es nur eine Tür. Eine Überwachungskamera hatte den Kahlköpfigen auf seinem Weg nach oben verfolgt. Eine zweite beobachtete ihn, als er sich auf eine merkwürdige Metallplatte vor der Tür stellte und durch eine in die Wand eingesetzte Glasscheibe spähte. Hinter dem Glas befand sich ein biometrischer Scanner, der das einzigartige Muster der Blutgefäße seiner Netzhaut registrierte und mit den in einem Computer unten am Empfangstisch gespeicherten Daten abglich. Hätte nun ein feindlicher Agent versucht, in das Zimmer zu gelangen, wäre durch die metallene Bodenplatte ein tödlicher Stromstoß von zehntausend Volt gejagt worden. Aber dieser Mann war kein Feind. Er hieß Zeljan Kurst und war ein Gründungsmitglied von Scorpia. Die Tür glitt auf und er trat ein.
Das Zimmer war lang und schmal, die drei Fenster waren zugezogen, die weißen Wände kahl. Um einen Glastisch standen Ledersessel, nirgends waren Papier, Schreibgeräte oder irgendwelche Dokumente zu sehen. Denn von diesen Besprechungen wurden grundsätzlich keine Aufzeichnungen gemacht. Nichts Schriftliches. Sechs Männer warteten, bis er seinen Platz am Kopfende des Tisches eingenommen hatte. Nach der Katastrophe mit der Operation Unsichtbares Schwert waren nur noch sieben von ihnen übrig.
»Guten Morgen, meine Herren«, begann Kurst. Er sprach mit einem fremden mitteleuropäischen Akzent. Das letzte Wort hatte sich wie »Cherren« angehört. Alle Männer am Tisch waren gleichberechtigte Partner, aber Kurst war zurzeit der Vorsitzende. Für jedes neue Projekt wurde ein anderer Leiter ausgewählt.
Niemand antwortete. Diese Leute waren keine Freunde. Außerhalb der jeweils anstehenden Arbeit hatten sie einander nichts zu sagen.
»Wir haben einen höchst interessanten und anspruchsvollen Auftrag erhalten«, fuhr Kurst fort. »Ich brauche Sie wohl kaum daran zu erinnern, dass unser Ruf durch das Scheitern der letzten Aktion schwer beschädigt wurde. Dieses neue Projekt wird uns die erheblichen finanziellen Verluste ersetzen, die wir in Zusammenhang mit Unsichtbares Schwert erlitten haben, und es wird uns wieder ins Geschäft bringen. Es geht um Folgendes: Wir sollen acht außerordentlich wohlhabende und einflussreiche Personen beseitigen. In fünf Wochen werden sie alle an einem Ort versammelt sein, und das bietet uns die ideale Gelegenheit. Wie wir vorgehen, bleibt uns überlassen.«
Er sah in die Runde und wartete auf eine Reaktion. Zeljan Kurst, in den Achtzigerjahren leitender Polizeibeamter in Jugoslawien, war bekannt gewesen für seine Liebe zur klassischen Musik – vor allem Mozart – und für seine übertriebene Brutalität. Man erzählte sich, er habe seine Gefangenen mit Opern oder Sinfonien als Hintergrundmusik verhört, und Leute, die die Folter überlebt hatten, hätten das betreffende Musikstück ihr Leben lang nicht mehr ertragen können. Aber er hatte geahnt, dass sein Land eines Tages auseinanderbrechen würde, und hatte daher rechtzeitig gekündigt und die Seiten gewechselt. Er hatte keine Familie, keine Freunde, keine Heimat. Er brauchte Arbeit, und er wusste, dass Scorpia ihn reich machen würde.
»Sie werden in der Zeitung gelesen haben«, fuhr er fort, »dass der G-7-Gipfel dieses Jahr im November in Rom stattfinden wird. Dort kommen die Regierungschefs der sieben mächtigsten Wirtschaftsnationen zusammen, reden viel, lassen sich fotografieren, speisen viel und teuer und lassen sich ihren Wein schmecken … und tun absolut nichts. Die interessieren uns nicht. Sie spielen keine Rolle.
Gleichzeitig aber wird auf der anderen Seite der Welt eine zweite Konferenz stattfinden. Sie soll dem G-7-Gipfel Konkurrenz machen, und man könnte das Ganze bloß für einen Reklamegag halten. Dennoch erregt diese Veranstaltung bereits mehr Aufmerksamkeit als der G-7-Gipfel. Die Politiker dort werden kaum noch beachtet. Die Augen der Welt richten sich auf Reef Island, eine Insel vor der Nordwestküste Australiens in der Timorsee.
Die Presse hat diesem Alternativgipfel einen Namen gegeben: Reef-Treffen. Eine Gruppe von sieben Personen wird dort zusammenkommen, Sie werden sie alle kennen. Einer von ihnen ist der Popsänger Rob Goldman. Er hat weltweit Millionen für wohltätige Zwecke gesammelt. Ein weiterer ist ein Milliardär, den viele für den reichsten Mann des Planeten halten. Er hat ein ungeheures Imperium aufgebaut, verschenkt sein Vermögen jetzt aber an Entwicklungsländer. Dann haben wir da noch einen ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Eine berühmte Hollywood-Schauspielerin, Eve Taylor. Ihr gehört die Insel. Und so weiter.« Kurst versuchte gar nicht erst, die Verachtung in seiner Stimme zu verhehlen. »Das sind Amateure, Weltverbesserer – aber sie besitzen Macht und Ansehen, und das macht sie gefährlich.
Ihr Ziel, so wie sie es formulieren, lautet: ›Armut wird Geschichte.‹ Um dies zu erreichen, haben sie gewisse Forderungen gestellt, unter anderem Schuldenerlass für arme Länder. Sie verlangen, dass Afrika Millionen von Dollar zur Verfügung gestellt werden zur Bekämpfung von Aids und Malaria. Sie fordern die Beendigung der Konflikte im Nahen Osten. Es wird Sie nicht überraschen, dass viele Regierungen und Unternehmen sich mit diesen Zielen nicht einverstanden erklären. Schließlich ist es nicht möglich, den Armen etwas zu geben, ohne den Reichen etwas zu nehmen; und überhaupt ist Armut etwas Nützliches. Sie sorgt dafür, dass die Leute bleiben, wo sie sind. Und sie hält die Preise niedrig.
Vor sechs Wochen hat ein Vertreter einer der G-7-Staaten Kontakt mit uns aufgenommen. Er wünscht, dass das Reef-Treffen in dem Moment endet, in dem es beginnt – bevor einer dieser Störenfriede sich übers Fernsehen an die Weltöffentlichkeit wenden kann. Und das ist unser Auftrag. Es reicht nicht, die Konferenz zu stören. Alle sieben Teilnehmer müssen getötet werden. Dass sie alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein werden, erleichtert unsere Aufgabe ungemein. Nicht einer von ihnen darf Reef Island wieder lebendig verlassen.«
Einer der Männer beugte sich vor. Sein Name war Levi Kroll. Er war Israeli, etwa fünfzig Jahre alt. Von seinem Gesicht war kaum etwas zu sehen, denn er trug einen Vollbart und eine Klappe über dem Auge, das er sich früher einmal versehentlich selbst ausgeschossen hatte. »Keine große Sache«, krächzte er. »Ich könnte noch heute Nachmittag einen Apache-Kampfhubschrauber mieten. Sagen wir, zweitausend Schuss 30-mm-Artilleriemunition und ein paar lasergesteuerte Hellfire-Luft-Boden-Raketen. Das dürfte reichen, die Konferenz auszulöschen.«
»Leider wird es nicht ganz so einfach sein«, erwiderte Kurst. »Wie gesagt, ist dies eine besonders anspruchsvolle Aufgabe, denn unser Auftraggeber legt Wert darauf, dass die sieben Teilnehmer des Reef-Treffens unter keinen Umständen zu Märtyrern werden. Sollten sie bei einem Attentat ums Leben kommen, würde das ihrem Anliegen nur mehr Gewicht verleihen. Daher wünscht er, dass die Sache nach einem Unfall aussieht. Das ist das Entscheidende. Es darf nicht den geringsten Zweifel oder Verdacht geben.«
Leises Murmeln erhob sich ringsum am Tisch, als die Männer von Scorpia diese neue Information zu verarbeiten versuchten. Einen Menschen so zu töten, dass kein Verdacht aufkam, war einfach. Das Gleiche mit sieben Leuten auf einer abgelegenen Insel zu tun, die zweifellos streng bewacht werden würde, war jedoch eine ganz andere Sache.
»Es gibt da gewisse Nervengase …«, brummte jemand. Er war Franzose und hatte ein schwarzes Seidentüchlein in der Brusttasche seines teuren Anzugs. Seine Stimme klang sehr sachlich.
»Wie wär’s mit R5?«, schlug ein Japaner namens Mikato vor. Er hatte einen Diamanten in einem Zahn und war angeblich am ganzen Körper mit Yakuza-Tätowierungen bedeckt. »Das ist das Virus, das wir Herod Sayle geliefert haben. Vielleicht können wir es in die Trinkwasserversorgung der Insel einspeisen.«
Kurst schüttelte den Kopf. »Meine Herren, diese beiden Methoden wären zwar effektiv, könnten aber bei kriminaltechnischen Untersuchungen aufgedeckt werden. Was wir brauchen, ist eine Naturkatastrophe, und zwar eine, die wir selbst auslösen. Wir müssen die gesamte Insel vernichten und alle, die sich darauf befinden, jedoch so, dass keine Fragen aufkommen können.«
Nun wandte er sich an den Mann, der ihm gegenüber am anderen Ende des Tisches saß. »Major Yu?«, sagte er. »Haben Sie über die Angelegenheit nachgedacht?«
»Allerdings.«
Major Winston Yu war mindestens sechzig, sein dichter Haarschopf war vollkommen weiß – ungewöhnlich für einen Chinesen. Die Haare wirkten künstlich, wie eine Kinderfrisur, mit einem Pony bis zu den Augenbrauen; das Gesicht darunter aber war verschrumpelt wie eine überreife Frucht. Mit seiner runden Brille, den schmalen Lippen und den viel zu kleinen Händen war er die am wenigsten imposante Erscheinung im Raum. Alles an ihm wirkte zierlich. Er hatte die ganze Zeit unbewegt am Tisch gesessen, als fürchtete er zu zerbrechen. An seinem Sessel lehnte ein Spazierstock, um dessen Griff sich ein silberner Skorpion wand. Er trug einen weißen Anzug und hellgraue Handschuhe.
»Ich habe mich lange mit dieser Operation beschäftigt«, erklärte er. »Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es sich in der Tat um eine recht komplizierte Aufgabe zu handeln, jedoch haben wir drei sehr günstige Umstände auf unserer Seite. Erstens befindet sich diese Insel, Reef Island, genau am richtigen Ort. Zweitens ist der Termin in fünf Wochen genau der richtige Zeitpunkt. Und drittens gibt es die Waffe, die wir brauchen, hier in England, keine dreißig Meilen von London entfernt.«
»Und was für eine Waffe soll das sein?«, fragte der Franzose.
»Eine Bombe. Freilich eine ganz besondere Bombe – ein Prototyp. Soweit ich weiß, gibt es nur ein einziges Exemplar davon. Die Briten haben ihr einen Codenamen gegeben. Royal Blue.«
»Major Yu hat vollkommen recht«, unterbrach ihn Kurst. »Royal Blue befindet sich zurzeit in einer geheimen Waffenfabrik außerhalb von London. Das ist auch der Grund, warum wir unser Treffen hier abhalten. Wir beobachten die Fabrik seit einem Monat und haben bereits ein Team in Bereitschaft. Am Ende dieser Woche wird die Bombe in unserem Besitz sein. Danach, Major Yu, übernehmen Sie die Leitung der Operation.«
Major Yu nickte bedächtig.
»Mit allem Respekt, Mr Kurst«, meldete sich Levi Kroll zu Wort. Seine Stimme klang unangenehm und kein bisschen respektvoll. »Ich hatte den Eindruck, dass ich bei der nächsten Operation das Kommando führen sollte.«
»Sie werden sich leider gedulden müssen, Mr Kroll. Sobald wir Royal Blue in Besitz genommen haben, wird die Bombe nach Bangkok geflogen und auf dem Seeweg zu ihrem Bestimmungsort gebracht. Sie kennen sich in dieser Region nicht aus. Major Yu jedoch arbeitet seit zwei Jahrzehnten dort, in Bangkok, Jakarta, Bali und Lombok. Und er hat einen Stützpunkt im Norden Australiens. Er kontrolliert ein gewaltiges kriminelles Netzwerk – sein shetou oder Snakehead. Diese Organisation wird den Transport der Waffe übernehmen. Sie ist in diesem Fall am besten für unsere Belange geeignet.«
Der Israeli nickte knapp. »Sie haben recht. Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe.«
»Ich nehme Ihre Entschuldigung an«, erwiderte Kurst, aber das war gelogen. Er fand, Levi Kroll sprach zu oft, ohne vorher nachzudenken. Eines Tages würde er Scorpia verlassen müssen. »Major?«
Es blieb nur noch wenig zu sagen. Winston Yu nahm die Brille ab und putzte sie mit seinen behandschuhten Fingern. Die Lider über seinen metallisch grau schimmernden Augen waren kaum zu sehen. »Ich werde meinen Leuten in Bangkok und Jakarta Bescheid sagen, dass die Maschine demnächst auf die Reise geht«, murmelte er. »Für die unauffällige Anlieferung in der Nähe von Reef Island ist bereits alles arrangiert. Was diese Konferenz mit ihren hochgesteckten Zielen angeht, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Ich kann Ihnen versichern, dass sie niemals stattfinden wird.«
Zwei Tage später verließ um achtzehn Uhr ein blauer Renault Megane die M11 über eine mit NUR FÜR BETRIEBSFAHRZEUGE gekennzeichnete Ausfahrt. Es gibt viele solche Ausfahrten an den britischen Autobahnen. Tausende Autos rasen stündlich daran vorbei und die Fahrer schenken ihnen keine Beachtung. Tatsächlich sind die meisten dieser Ausfahrten vollkommen harmlos und führen lediglich zu Betriebshöfen oder Verkehrsüberwachungsstellen. Aber auch die Autobahnen haben ihre Geheimnisse. Als der Megane langsam vor einem Flachbau ausrollte, der wie ein ganz normales Bürogebäude aussah, wurde er von drei Überwachungskameras verfolgt und versetzte die Wachleute in Alarmbereitschaft.
In Wirklichkeit war dieses Gebäude ein Waffenforschungszentrum des Verteidigungsministeriums. Nur wenige Leute wussten von seiner Existenz, und noch weniger hatten Zutritt. Das Auto, das soeben vorgefahren war, hatte hier nichts zu suchen, und die Wachleute – Angehörige der Spezialeinheiten – hätten auf der Stelle Alarm auslösen müssen. So sah es die Dienstanweisung vor.
Aber ein Renault Megane ist ein harmloses und gewöhnliches Familienauto und dieser hier hatte offensichtlich einen schlimmen Unfall gehabt. Die Windschutzscheibe war zertrümmert, die Motorhaube eingedrückt. Der Kühler dampfte. Auf dem Fahrersitz saß ein Mann in grünem Anorak und Mütze, neben ihm eine Frau mit blutüberströmtem Gesicht. Schlimmer noch, hinten saßen zwei kleine Kinder, und obwohl das Bild auf dem Monitor leicht unscharf war, schien es ihnen sehr schlecht zu gehen. Sie bewegten sich nicht. Die Frau stieg aus, brach dann aber zusammen. Ihr Mann blieb wie betäubt sitzen.
Zwei Wachleute liefen hinaus. Das war nur eine natürliche Reaktion. Da war eine junge Familie, die Hilfe brauchte; und ein Sicherheitsrisiko bestand offenbar nicht. Die Eingangstür fiel hinter ihnen zu; um sie wieder zu öffnen, musste ein siebenstelliger Code eingegeben werden. Beide Männer trugen Funkgeräte und 9-mm-Automatikpistolen der Marke Browning unter ihren Jacken. Die Browning ist eine alte, aber sehr zuverlässige Waffe und beim SAS sehr beliebt.
Die Frau lag immer noch am Boden. Der Mann auf dem Fahrersitz stieß mühsam die Tür auf, als die zwei Wachmänner herantraten.
»Was ist passiert?«, fragte einer der beiden.
Erst jetzt, als es zu spät war, ging den beiden Wachleuten auf, dass da etwas nicht stimmen konnte. Ein Auto, das auf der Autobahn einen Unfall hatte, wäre einfach auf den Seitenstreifen gefahren – falls es überhaupt noch fahren konnte. Und wieso nur ein Auto? Wo waren die anderen beteiligten Fahrzeuge? Wo war die Polizei? Und die letzten Zweifel zerstreuten sich, als die zwei Wachmänner in das Auto hineinspähten. Die Kinder auf dem Rücksitz waren Puppen. Mit ihren billigen Perücken und den lächelnden Plastikgesichtern sahen sie aus wie Wesen aus einem Albtraum.
Die Frau am Boden fuhr herum und hatte plötzlich eine Maschinenpistole in der Hand. Sie traf den ersten Wachmann in die Brust. Der zweite ging sofort in Kampfposition und griff nach seiner Waffe. Aber er hatte keine Chance. Auf dem Schoß des Fahrers lag eine Uzi mit Schalldämpfer. Er packte sie und schoss. Mit leisem Flüstern feuerte die Maschinenpistole in weniger als einer Sekunde zwanzig Kugeln ab. Der Wachmann wurde nach hinten geschleudert.
Das Paar war bereits aufgesprungen und rannte auf das Gebäude zu. Noch kamen sie nicht hinein, aber das war auch nicht nötig. Sie liefen zur Rückseite, wo ein zwei mal zwei Meter großer Metallkasten am Mauerwerk angebracht war. Der Mann trug einen Werkzeugkasten, den er aus dem Auto mitgenommen hatte. Die Frau blieb kurz stehen und schaltete mit drei Feuerstößen die Überwachungskameras aus. In diesem Augenblick kam ein Krankenwagen die Ausfahrt von der Autobahn herunter und hielt hinter dem Megane.
Die nächste Phase der Aktion nahm sehr wenig Zeit in Anspruch. Das gesamte Gebäude war mit einer Anlage ausgestattet, die chemische, biologische und radioaktive Substanzen aus der Luft herausfiltern konnte. Damit sollten feindliche Angriffe abgewehrt werden, nun aber wurde die Anlage gegen sich selbst gerichtet. Der Mann nahm einen Minischweißbrenner aus seinem Werkzeugkasten und schweißte die Schrauben heraus, sodass er eine Abdeckplatte abnehmen konnte, hinter der ein kompliziertes Gewirr von Rohren und Drähten zum Vorschein kam. Er zog eine Gasmaske unter seinem Anorak hervor und stülpte sie sich übers Gesicht. Dann nahm er eine Ampulle aus dem Werkzeugkasten. Sie war aus Metall, nur wenige Zentimeter lang. An einem Ende war sie mit einem Dorn versehen, am anderen mit einem winzigen Griff. Er wusste genau, was er tat. Mit dem Handballen rammte er den Dorn in eins der Rohre. Und schließlich drehte er den Griff herum.
Mit kaum hörbarem Zischen strömte das Zyankali in die Luft, die von der Anlage im ganzen Gebäude verteilt wurde. Unterdessen näherten sich vier als Rettungssanitäter verkleidete Männer mit Gasmasken dem Haupteingang. Einer von ihnen drückte ein magnetisches Kästchen von der Größe einer Zigarettenschachtel auf das Türschloss und trat zurück. Es gab eine Explosion und die Tür schwang auf.
Es war Abend, nur ein halbes Dutzend Leute arbeitete noch in dem Gebäude, hauptsächlich Techniker und der Sicherheitschef. Er hatte gerade versucht, einen Notruf abzusetzen, als er das Gas einatmete. Er lag mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Fußboden, den Hörer hielt er noch in der Hand.
Die vier Sanitäter kannten den Weg genau: durch den Eingangsbereich und am Ende eines Korridors durch eine Tür, auf der ZUTRITT NUR FÜR BEFUGTE stand. Die Bombe lag vor ihnen. Sie sah bemerkenswert altmodisch aus, wie ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg: ein riesiger silberner Metallzylinder, an einem Ende flach, am anderen spitz. Nur der in die Ummantelung eingebaute Monitor und eine Reihe digitaler Steuerelemente wiesen aufs einundzwanzigste Jahrhundert hin. Die Bombe war auf einen Transportkarren geschnallt und das Ganze würde exakt in den Krankenwagen passen. Aus diesem Grund hatte man sich für ein solches Fahrzeug entschieden.
Sie schoben die Bombe durch den Korridor und ins Freie. Der Krankenwagen war mit einer Rampe ausgestattet und die Bombe glitt ohne Weiteres hinein. Jetzt war nur noch Platz für den Fahrer und einen Beifahrer. Die anderen drei Männer und die Frau stiegen in den Megane. Die Kinderpuppen blieben zurück. Die ganze Operation hatte achteinhalb Minuten gedauert. Dreißig Sekunden weniger als geplant.
Als eine Stunde später in London und anderen Teilen des Landes Alarm ausgelöst wurde, waren alle Beteiligten längst verschwunden. Die Perücken, Kontaktlinsen und sonstigen Utensilien, mit denen sie sich bis zur Unkenntlichkeit verkleidet hatten, waren entsorgt. Die beiden Fahrzeuge hatten sie in Brand gesteckt.
Und die Waffe mit dem Namen Royal Blue war bereits auf dem Weg nach Osten.
»Alex Rider.« Der Blinde sprach die beiden Worte aus, als seien sie ihm gerade erst eingefallen. Er ließ sie sich auf der Zunge zergehen, kostete sie wie einen guten Wein. Er saß in einem weichen Ledersessel, ein Möbelstück, das im Büro eines Managers nicht weiter aufgefallen wäre, hier, in einem Flugzeug, fünfundzwanzigtausend Fuß über Adelaide, aber eher befremdlich wirkte. Das Flugzeug war eine Gulfstream G650, ein Privatjet, speziell für diesen Einsatz ausgestattet mit Küche und Bad, Satellitenverbindung für weltweite Kommunikation, einem 50-Zoll-LCD-Fernseher, auf dem drei internationale Nachrichtensender gleichzeitig liefen, und einer ganzen Batterie von Computern. Und Garth, dem Hund des Blinden, hatte man ein Körbchen hingestellt.
Der Mann hieß Ethan Brooke und war Leiter der CAD, Abteilung verdeckte Operationen, des australischen Geheimdienstes ASIS. Nur die wenigsten wussten, dass es eine solche Abteilung überhaupt gab.
Brooke war ziemlich groß, Mitte fünfzig, hatte sandblondes Haar und ein rotes, wettergegerbtes Gesicht, dem man ansah, dass er viele Jahre im Freien verbracht hatte. Er war Soldat gewesen, Oberstleutnant bei den Kommandotruppen, bis eine Landmine in Osttimor ihm erst drei Monate Krankenhaus und dann eine neue Karriere beim Nachrichtendienst beschert hatte. Er trug eine Armani-Sonnenbrille – silbern verspiegelt, nicht die üblichen schwarzen Gläser eines Blinden – und war ziemlich lässig gekleidet: Jeans, Jackett und ein offenes Hemd. Ein hoher Beamter im australischen Verteidigungsministerium hatte sich einmal über Brookes Kleidungsstil beklagt. Derselbe Beamte schleppte jetzt Koffer in einem Drei-Sterne-Hotel in Sydney.
Brooke war nicht allein. Ihm gegenüber saß ein Mann, etwa halb so alt wie er, schlank, kurze blonde Haare. Er trug einen Anzug. Marc Damon hatte sich beim australischen Geheimdienst beworben, sobald er mit der Uni fertig gewesen war. Zu diesem Zweck war er ins Hauptquartier von ASIS in Canberra eingebrochen und hatte seine Bewerbung auf Brookes Schreibtisch gelegt. Die beiden arbeiteten jetzt seit sechs Jahren zusammen.
Damon hatte die Akte STRENG GEHEIM: NUR FÜR CAD auf den Tisch zwischen ihnen gelegt. Ihr Inhalt war in Blindenschrift übersetzt worden, aber damit brauchte Brooke sich nicht mehr abzugeben. Er hatte den Bericht einmal gelesen und sofort auswendig gelernt. Jetzt wusste er alles über Alex Rider, was er wissen musste. Nur wie der Junge aussah, wusste er nicht. Auf dem Aktendeckel war ein Foto befestigt, aber wie immer hatte er sich nur auf den offiziellen Bericht verlassen können:
BESCHREIBUNG/BESONDERE KENNZEICHEN
Größe: 1,63 Meter, etwas zu klein für sein Alter, operativ jedoch von Vorteil.
Gewicht: 108 Pfund
Haarfarbe: blond
Augenfarbe: braun
Körperlicher Zustand: ausgezeichnet, womöglich aber seit der Verwundung bei der Operation gegen Scorpia eingeschränkt (siehe Akte Scorpia)
Besondere Fähigkeiten: Karate seit dem sechsten Lebensjahr, Inhaber des schwarzen Gürtels (bzw. erster Kyu). Spricht fließend Französisch und Spanisch und recht gut Deutsch.
Waffenausbildung: nein
Schule: schwach, in letzter Zeit schlechte Noten. Zeugnisse der Brookland School siehe Anlage. Es ist jedoch zu bedenken, dass er in den vergangenen acht Monaten kaum am Unterricht teilgenommen hat.
Psychologisches Profil: AR wurde im März dieses Jahres vom MI6 rekrutiert, im Alter von vierzehn Jahren und zwei Monaten. Sein Vater John Rider – alias Hunter – wurde im Einsatz getötet. Auch seine Mutter kam dabei ums Leben. Er wuchs bei seinem Onkel Ian Rider auf, der bis zu seinem Tod Anfang dieses Jahres ebenfalls Mitarbeiter des MI6 war.
Es scheint gesichert, dass der Junge vom frühesten Alter an körperlich und geistig auf Geheimdiensttätigkeit vorbereitet wurde. Außer Sprachen und Kampfsport hat Ian Rider ihn viele weitere Fähigkeiten gelehrt, unter anderem Fechten, Bergsteigen, Wildwasser-Rafting und Tauchen.
Trotz seiner offenkundigen Eignung für nachrichtendienstliche Arbeit (siehe unten) scheint AR nicht allzu begeistert davon zu sein. Wie die meisten Teenager ist er kein Patriot und interessiert sich nicht für Politik. MI6 hat bei mindestens zwei Gelegenheiten Druck auf ihn ausüben müssen, um ihn zur Mitarbeit zu bewegen. In der Schule ist er beliebt – vorausgesetzt, er ist mal anwesend.
Hobbys: Fußball (Chelsea-Fan), Tennis, Musik und Kino. Klares Interesse an Mädchen – siehe Akte Sabina Pleasure und Bericht der CIA-Agentin Tamara Knight.
Lebt bei seiner amerikanischen Haushälterin Jack Starbright (Hinweis: Jack ist weiblich, trotz des männlichen Vornamens). Keine Bestrebungen, Vater und Onkel in die Geheimdienstarbeit zu folgen.
Frühere Einsätze: Der britische Geheimdienst bestreitet, jemals einen Jugendlichen beschäftigt zu haben, daher ist es schwierig, konkrete Fakten zu ARs Agententätigkeit zusammenzustellen. Wir nehmen jedoch an, dass er an mindestens vier Operationen beteiligt war. Darüber hinaus ist er mindestens zweimal mit ähnlichem Erfolg für die amerikanische CIA tätig gewesen.
Großbritannien: Siehe Herod Sayle: Sayle Enterprises, Cornwall; Dr Hugo Grief: Point Blanc Academy, Frankreich; Damian Cray: Cray Software Technology, Amsterdam; Julia Rothman (Scorpia-Vorstand): Operation Unsichtbares Schwert, London.
USA: AKTEN GESCHLOSSEN. Eventuell Verbindung zu General Alexei Sarow: Skeleton Key, Kuba; Nikolei Drevin: Flamingo Bay, Karibik (Beendigung des Projekts Ark Angel).
Auch wenn bisher keine Einzelheiten bestätigt werden konnten, scheint es sicher, dass AR innerhalb eines Jahres an sechs größeren Einsätzen erfolgreich teilgenommen und zwei Attentate (von Scorpia und den chinesischen Triaden) überlebt hat.
Aktueller Status: verfügbar
Anmerkung: Vergangenes Jahr hat das FBI für den Kampf gegen Drogensyndikate, die von Miami aus operieren, probeweise einen Teenager rekrutiert. Der Junge wurde praktisch auf der Stelle getötet. Das Experiment wurde nicht wiederholt.
Geheimdienstakten sind überall auf der Welt gleich. Sie werden von Leuten geschrieben, die in einer Schwarz-Weiß-Welt leben und im Allgemeinen keine Zeit haben, Fantasie zu entwickeln – jedenfalls nicht, wenn ihnen Tatsachen im Weg stehen. Die wenigen Seiten über Alex Rider hatten Brooke einen vagen Eindruck von dem Jungen vermittelt, doch als Denkanstoß genügte das allemal. Obwohl davon auszugehen war, dass der Bericht mindestens ebenso viele Lücken wie Informationen enthielt.
»Er ist in Australien«, murmelte er.
»Ja, Sir.« Damon nickte. »Er ist aus dem Weltraum zu uns runtergefallen.«
Brooke lächelte. »Wenn mir das ein anderer erzählt hätte, würde ich es niemals glauben. Er war tatsächlich im Weltraum?«
»Man hat ihn hundert Meilen vor der Ostküste aus dem Meer gefischt. Er saß in der Landekapsel einer Sojus-Fregat. Die Amerikaner erzählen uns natürlich nichts. Aber es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Weltraumstation Ark Angel nach Angaben von NIWO etwa zur selben Zeit explodiert ist.«
NIWO, das National Intelligence Watch Office, sammelt Informationen. Es beschäftigt etwa zweitausend Leute, die alles, was auf der Welt – und außerhalb – geschieht, ständig unter Beobachtung haben.
»Das war Drevins tolle Idee«, murmelte Brooke. »Ein Weltraumhotel.«
»Ja, Sir.«
»Ich hatte schon immer das Gefühl, der führt nichts Gutes im Schilde.«
Das Flugzeug geriet in Turbulenzen und sackte ab. Der Hund in seinem Korb winselte. Er war noch nie gern geflogen. Aber dann stabilisierte sich das Flugzeug wieder, und sie setzten ihren Flug Richtung Sydney störungsfrei fort.
»Sie meinen, wir hätten Verwendung für ihn?«, fragte Brooke.
»Alex Rider lässt sich nicht gern verwenden«, erwiderte Damon. »Nach allem, was ich gehört habe, wird er auf keinen Fall freiwillig mitmachen. Aber falls wir irgendein Druckmittel finden könnten, wäre er genau der Richtige für uns. Ein vierzehnjähriger Junge – da würde niemand Verdacht schöpfen. Genau aus diesem Grund haben die Amerikaner ihn nach Skeleton Key geschickt – und bei ihnen hat’s funktioniert.«
»Wo ist er jetzt?«
»Auf dem Weg nach Perth, Sir. Ein ziemlich weiter Flug, aber man wollte ihn an einen sicheren Ort bringen und hat sich für das SAS-Hauptquartier in Swanbourne entschieden. Er wird ein paar Tage brauchen, um sich zu erholen.«
Brooke schwieg. Da seine Augen immer hinter der Brille verborgen waren, konnte man ihm nie ansehen, was er dachte; aber Damon wusste, er ging im Geist sämtliche Möglichkeiten durch, würde dann rasch eine Entscheidung fällen und daran festhalten. Vielleicht war es wirklich nicht möglich, diesen englischen Jungen zur Mitarbeit bei ASIS zu bewegen. Aber sollte er irgendeine Schwäche haben, irgendetwas, was sie zu ihrem Vorteil nutzen könnten, würde sein Boss es finden.
Schließlich nickte Brooke. »Wir könnten ihn mit Ash zusammenbringen«, sagte er.
Das war’s. Einfach, aber genial.
»Ash ist in Singapur«, sagte Damon.
»Im Einsatz?«
»Routineauftrag.«
»Sofort abkommandieren. Wir schicken die beiden zusammen los. Sie sind das perfekte Team.«
Damon musste grinsen. Alex Rider würde mit dem Agenten arbeiten, den sie Ash nannten. Allerdings gab es dabei ein Problem.
»Glauben Sie denn, Ash wird mit einem Teenager arbeiten?«, fragte er.
»Das wird er, wenn der Junge wirklich so gut ist, wie alle behaupten.«
»Er will bestimmt Beweise haben.«
Jetzt grinste auch Brooke. »Überlassen Sie das mir.«
Die SAS-Zentrale in Swanbourne liegt ein paar Meilen südwestlich von Perth und wirkt wie eine Ferienhaussiedlung, allerdings mit ungewöhnlich vielen Sicherheitsvorrichtungen. Sie erstreckt sich bis an den weißen Strand des Indischen Ozeans und ist durch Dünen vor allzu neugierigen Blicken geschützt. Die Gebäude sind sauber, modern und unauffällig. Wäre da nicht die Schranke am Haupttor, die hin und her fahrenden Militärfahrzeuge und die in Kaki und sandfarbene Käppis gekleideten Männer, könnte man kaum glauben, dass es sich hier um das Hauptquartier der härtesten Elitetruppe Australiens handelt.
Alex Rider stand am Fenster seines Zimmers und blickte auf den großen Platz hinaus, der auf einer Seite von einem Schießstand und auf der anderen von einer Art Fitnesscenter begrenzt wurde. Er wollte nach Hause und fragte sich, wie lange man ihn wohl noch hierbehalten würde. Auf der Kitty Hawk war er jedenfalls nicht sehr lange gewesen. Er hatte nicht einmal Zeit zum Frühstücken gehabt; ehe er sichs versah, wurde er in einen Hawkeye-Jet verfrachtet und bekam eine Sauerstoffmaske übergestülpt, und schon war der Flieger gestartet. Niemand hatte ihm gesagt, wo man ihn hinbrachte, aber er hatte den Namen der Stadt in großen Buchstaben auf dem Terminal des Flughafens gelesen: PERTH. Ein Jeep neben der Landebahn nahm ihn in Empfang, und dann fuhr er auch schon durch den mächtig langweiligen Vorort Swanbourne. Erst auf dem SAS-Gelände hielt der Jeep. Ein Soldat erwartete ihn, die Augen versteckt hinter einer Sonnenbrille, sein Mund ein gerader Strich, der nichts verriet. Er führte Alex in ein komfortables Zimmer, ausgestattet mit Bett und Fernseher und Aussicht auf die Dünen. Die Tür war zu, aber nicht abgeschlossen.
Da war er also. Man hatte ihn quer durch ganz Australien hierhergebracht. Was mochten sie mit ihm vorhaben?
Es klopfte. Alex ging zur Tür und machte auf. Vor ihm stand ein Soldat in grünbraunem Kampfanzug.
»Mr Rider?«
»Ich heiße Alex.«
»Colonel Abbott lässt Sie grüßen. Er möchte mit Ihnen reden.«
Alex folgte dem Soldaten über das Gelände. Niemand war zu sehen. Der Exerzierplatz lag menschenleer in der prallen Sonne. Es war kurz vor Mittag und der australische Frühsommer machte sich schon bemerkbar. Sie gelangten zu einem Bungalow, der etwas abseits am Rand des Anwesens stand. Der Soldat klopfte an, öffnete die Tür, ohne auf eine Reaktion zu warten, und ließ Alex hinein.
Ein dünner Mann in den Vierzigern saß hinter einem Schreibtisch; auch er trug einen Tarnanzug. Er hatte an einem Bericht gearbeitet, stand aber auf, als Alex eintrat.
»Du bist also Alex Rider!« Sein australischer Akzent kam ein wenig überraschend; so wie er aussah, hätte Alex ihn ohne Weiteres für einen Engländer gehalten. Abbott begrüßte ihn mit einem festen Händedruck. »Ich bin Mike Abbott, und es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Alex. Ich habe schon viel von dir gehört.«
Als er Alex’ verblüffte Miene sah, lachte er. »Vor sechs Monaten gab es Gerüchte über einen Jungen, den die Briten als Agenten einsetzen. Natürlich hat das kein Mensch geglaubt. Aber wie es scheint, hat man dich ganz schön auf Trab gehalten. Und nachdem du Damian Cray ausgeschaltet hattest … nun, du kannst nicht mitten in London Air Force One in die Luft sprengen, ohne dass jemand das mitbekommt. Aber keine Angst. Du bist bei Freunden.«
Abbott wies auf einen Stuhl und Alex setzte sich. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Colonel«, sagte er. »Aber ich möchte jetzt wirklich nach Hause.«
Abbott kehrte zu seinem Sessel zurück. »Das kann ich verstehen, Alex. Und ich werde dich auch bald auf die Reise schicken. Aber vorher müssen wir noch ein paar Dinge regeln.«
»Was denn?«
»Na ja, du bist ohne Visum in Australien gelandet.« Abbott hob die Hände, ehe Alex ihn unterbrechen konnte. »Ich weiß, das hört sich lächerlich an. Aber das muss in Ordnung gebracht werden. Sobald ich grünes Licht bekomme, buche ich dir den nächsten Flug nach London.«
»Ich möchte jemanden anrufen …«
»Jack Starbright, richtig? Deine Pflegemutter.« Abbott lächelte, und Alex fragte sich, woher er von ihr wusste. »Du kommst zu spät, Alex. Sie ist bereits vollständig informiert und auf dem Weg hierher. Sie ist vor etwa einer Stunde in Heathrow abgeflogen, wird in gut fünfundzwanzig Stunden in Sydney eintreffen und dich in Empfang nehmen. Bis dahin bist du mein Gast hier in Swanbourne. Genieße die Zeit. Du kannst an den Strand gehen, es ist schon warm genug. Also entspann dich. Ich sage dir Bescheid, sobald sich mit deinem Visum etwas Neues ergibt.«
Alex wollte widersprechen, besann sich dann aber eines Besseren. Der Colonel wirkte zwar ganz freundlich, aber etwas an ihm ließ Alex zögern. Beim SAS machte man nur Karriere, wenn man außerordentlich abgebrüht war – und hinter diesem Lächeln verbarg sich garantiert ein eiserner Wille.
»Möchtest du sonst noch etwas wissen?«
»Nein, danke, Colonel.«
Die beiden gaben sich die Hand.
»Ich habe ein paar meiner Männer gebeten, sich um dich zu kümmern«, sagte Abbott. »Die freuen sich schon, dich kennenzulernen. Sollte sich einer von ihnen danebenbenehmen, sag mir Bescheid.«
Während seiner Ausbildung beim SAS in Wales war Alex an ein paar ziemlich raue Burschen geraten. Aber als er den Bungalow verließ, sah er sofort, dass es hier anders war. Die vier jungen Soldaten, die ihn draußen erwarteten, machten einen ganz lockeren Eindruck und schienen gespannt zu sein, seine Bekanntschaft zu machen. Vielleicht war ihm sein Ruf vorausgeeilt. Auf alle Fälle war gleich klar, dass die Angehörigen der australischen Spezialeinheiten irgendwie ganz andere Typen waren als ihre britischen Kollegen.
»Toll, dich kennenzulernen, Alex.« Der Mann, der das sagte, war zweiundzwanzig Jahre alt und unglaublich fit; sein grünes T-Shirt spannte sich über beeindruckend geformten Brust- und Schultermuskeln. »Ich heiße Scooter. Und das sind Texas, X-Ray und Sparks.«
Zuerst dachte Alex, das seien Codenamen, aber dann wurde ihm klar, dass das nur Spitznamen waren. Die anderen waren auch alle Anfang zwanzig und genauso gut gebaut.
»Wir sind gerade auf dem Weg zum Mittagessen«, sagte Scooter. »Kommst du mit?«
»Danke, gern.« Alex hatte noch nicht gefrühstückt. Er hatte einen Bärenhunger.
Sie gingen zusammen los. Keiner machte eine Bemerkung über sein Alter. Offenbar wussten alle, wer er war. Alex begann, sich etwas wohler zu fühlen. Vielleicht würden ihm ein paar Tage hier doch ganz guttun.
Der Colonel sah ihnen vom Bungalow aus nach. Irgendetwas beunruhigte ihn. Er war verheiratet und hatte drei Kinder, und das älteste war nur wenige Jahre jünger als der Junge, den er soeben kennengelernt hatte. Er war beeindruckt. Nach allem, was er durchgemacht hatte, strahlte Alex dennoch so etwas wie innere Ruhe aus. Abbott hatte keine Zweifel, dass der Junge auf sich selbst aufpassen konnte.
Aber trotzdem …
Er las noch einmal den Befehl, den er vor wenigen Stunden empfangen hatte. So ein Wahnsinn. Das kam doch gar nicht infrage. Außer dass nicht daran zu rütteln war. Man hatte ihm detaillierte Anweisungen erteilt.
Und was, wenn Alex dabei verletzt wurde? Wenn er dabei getötet wurde?
Nicht sein Problem.
Der Gedanke tröstete ihn kein bisschen. In zwanzig Jahren hatte Mike Abbott die Anweisungen seiner Vorgesetzten nie in Zweifel gezogen, aber als er jetzt zum Telefon griff und die Befehle für den Abend ausgab, tat er das nur sehr widerwillig und ein wenig wütend.
Alex war nach der weiten Reise hundemüde, deshalb ging er am Nachmittag in sein Zimmer und legte sich schlafen. Als er durch ein Klopfen geweckt wurde, war es bereits Abend. Er ging zur Tür und machte auf. Es waren der junge Soldat, der sich als Scooter vorgestellt hatte, und Sparks mit einer Kühlbox in der Hand.
»Na, wie geht’s?«, fragte Scooter. »Hast du vielleicht Lust, uns zu begleiten?«
»Was habt ihr denn vor?«
»Ein Picknick am Strand. Wir wollen grillen. Bier trinken. Vielleicht auch schwimmen.« Scooter zeigte auf das Gelände hinter ihm. Da war niemand zu sehen. »Heute Nacht findet ein großes Manöver statt, aber ohne uns. Vielleicht hast du Lust, den Ozean zu sehen, bevor du wieder wegmusst.«
Alex horchte auf. »Wann muss ich denn weg?«
»Morgen früh. Soweit ich weiß. Also, kommst du?«
»Ja, klar.« Alex hatte für den Abend nichts vor. Und er hatte keine Lust, allein vor dem Fernseher zu sitzen.
»Gut. Wir kommen dich in zehn Minuten abholen.«
Die beiden gingen, und erst sehr viel später – aber da war er schon zehntausend Meilen weit weg – erinnerte sich Alex an diesen Augenblick und wie sie sich angesehen hatten, als sei ihnen nicht ganz wohl bei der Sache.
Er zog seine Turnschuhe an und nahm eine Armeejacke aus dem Kleiderschrank. Scooter hatte was von Schwimmen gesagt, aber die Sonne stand schon ziemlich tief, und es war ein kühler Wind aufgekommen. Er überlegte kurz und nahm dann von den Sachen, die ihm der SAS zur Verfügung gestellt hatte, ein Handtuch und ein Paar Boxershorts, die er notfalls als Badehose benutzen konnte. Er wollte eigentlich gehen, zögerte aber noch. War das eine gute Idee, mit irgendwelchen Fremden, die zehn Jahre älter waren als er, an den Strand zu gehen? Plötzlich fühlte er sich sehr allein und verspürte so etwas wie Heimweh. Aber Jack war ja schon auf dem Weg zu ihm. Und von Scooter hatte er gehört, dass er morgen abreisen würde. Er schüttelte die bedrückte Stimmung ab, ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Gleich darauf fuhr ein Jeep vor, Sparks saß am Steuer, Scooter neben ihm. Texas und X-Ray hockten hinten zwischen Tüten, Kühlboxen, Decken und einer Gitarre. Für Alex war gerade noch Platz. Beim Einsteigen sah er, dass Texas eine Automatikpistole auf dem Schoß hatte und den Mechanismus prüfte.
»Schon mal mit so was geschossen?«, fragte Texas.
Alex schüttelte den Kopf.
»Dann kannst du’s gleich mal ausprobieren. Wenn wir da sind, bau ich dir ein paar Zielscheiben auf. Mal sehen, was du draufhast.«
Wieder hatte Alex das unbestimmte Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte; aber dann stellte Sparks das Radio an, und zur Musik einer australischen Band, von der er noch nie gehört hatte, brausten sie los. Der Abend versprach, schön zu werden. Am Himmel waren einige rote Streifen zu sehen, aber keine Wolken, und die dicht überm Horizont stehende Sonne warf lange Schatten. Scooter legte lässig einen Fuß aufs Armaturenbrett. X-Ray hielt eine Hand hoch und ließ den Fahrtwind durch seine Finger strömen. Als sie durch die Schranke auf die Straße gelangten, hatte sich Alex’ Anspannung wieder gelöst. Ihm blieb nur dieser eine Abend in Australien. Und den wollte er genießen.
Sie fuhren erst etwa zehn Meilen an der Küste entlang und bogen dann landeinwärts. Nachdem sie eine Vorstadt mit Einfamilienhäusern und Supermärkten durchquert hatten, gelangten sie auf eine vierspurige Autobahn. Keiner von ihnen sprach, als sie durch die kahle Landschaft fuhren. Bei den Fahrgeräuschen des offenen Jeeps verstand man sowieso kein Wort. Nur die Musik dröhnte.
Nach zwanzig Minuten drehte Scooter sich um und schrie: »Alles klar bei dir?«
Alex nickte. Aber im Stillen fragte er sich, wann sie endlich ankommen würden.
Die Fahrt dauerte über eine Stunde. Sie verließen die Autobahn und nahmen eine Straße, die durch waldiges Gelände führte. Dann bogen sie auf einen unbefestigten Weg ab und holperten über unebenes Gelände, das dicht mit Eukalyptusbäumen und Pinien bewachsen war.
X-Ray studierte eine Landkarte. Er tippte Scooter auf die Schulter und schrie: »Ist das der richtige Weg?«
»Ja, sicher!«, schrie Scooter zurück, ohne sich umzudrehen.
»Ich glaub, wir sind schon zu weit!«
»Hör auf damit, X-Ray. Das ist der richtige Weg …«
Vor ihnen tauchte eine Schranke auf, ähnlich wie die in Swanbourne, aber alt und rostig. Daneben stand ein Schild:
MILITÄRISCHES SPERRGEBIET
Kein Zutritt.
Unbefugtes Betreten wird strafrechtlich verfolgt.
Sparks bremste und Scooter sprang, ohne die Tür zu öffnen, aus dem Wagen.
»Wo sind wir?«, fragte Alex.
»Das wirst du schon sehen«, sagte Sparks. »Wir kennen uns hier in der Gegend gut aus. Es wird dir gefallen.«
»Wir sind zu weit«, wiederholte X-Ray. »Wir hätten schon vor einer Meile abbiegen müssen.«
Scooter hatte die Schranke aufgemacht – sie war offenbar nicht abgeschlossen gewesen –, und der Jeep rollte hindurch. Kaum war Scooter wieder auf den Beifahrersitz gesprungen, drückte Sparks das Gaspedal durch und jagte den Jeep über Wurzelwerk und Schlaglöcher durchs Gelände.
Inzwischen war es dunkel geworden, ohne dass Alex etwas davon mitbekommen hatte. Die Bäume schienen plötzlich sehr nah und drohten den Weg zu versperren. Der Boden wurde immer holpriger. Alex wurde hin und her geworfen und musste sich festhalten, die Kühlboxen hoben sich und krachten wieder herunter. Blätter und Zweige schossen heran, tausend schwarze Schatten im Scheinwerferlicht, bevor sie über die Windschutzscheibe huschten und hinter ihnen im Nichts verschwanden. Der Weg schien nirgendwohin zu führen, und Alex verfluchte sich schon, dass er überhaupt mitgekommen war, als sie unvermittelt durch dichtes Laubwerk brachen und dann auf weichem Sand zum Stehen kamen. Sie waren da.
Als Sparks den Motor abgestellt hatte, vernahmen sie die sanfteren Geräusche des Abends. Alex hörte den Wind säuseln und die rhythmische Brandung der Wellen.
Der Strand hier war wirklich schön: eine halbmondförmige Bucht mit weißem Sand und dahinter das schwarzsilberne Meer. Am Himmel zeigten sich ein Vollmond und eine fantastische Ansammlung von Sternen, die sich nach allen Seiten bis zum Horizont erstreckte.
»Alles aussteigen!«, rief Scooter. Er trat die Tür auf und warf sich in den Sand. »X-Ray, gib mir ein Bier. Texas, du bist mit Kochen dran.«
»Immer ich!«, schimpfte Texas.
»Was glaubst du, wozu wir dich mitnehmen?«
»Hier!« X-Ray hatte eine Dose Foster’s aus der Kühlbox genommen und warf sie Scooter zu. Dann wandte er sich an Alex. »Willst du auch eins?«
»Hast du auch Cola?«, fragte Alex.
»Klar doch!« X-Ray reichte ihm eine Dose.
Unterdessen hatte Texas angefangen, den Jeep auszuladen. Die SAS-Männer hatten Würstchen, Hamburger und Schnitzel mitgebracht – Fleisch genug, um eine kleine Armee satt zu machen. Und einen schmutzigen, schwarz angelaufenen Stahlrost. Darauf wollten sie grillen?
Scooter schien seine Gedanken zu lesen. »Wir machen ein Lagerfeuer. Alex«, sagte er. »Du kannst uns helfen, Holz zu sammeln.«
Sparks hatte die Gitarre vom Rücksitz geholt. Er stützte sie auf sein Knie und schlug ein paar Akkorde an. Die Töne verloren sich in der Leere der Nacht.
»Okay. Wir machen Folgendes«, sagte Scooter. Offenbar war er der Wortführer, auch wenn alle vier gleich alt waren und denselben Rang bekleideten. »Alex und ich holen Brennholz. Texas und X-Ray bauen alles auf. Und du, Sparks – spiel weiter.« Er nahm eine Taschenlampe und warf sie Alex zu. »Falls du dich verirrst, kannst du dich an der Musik orientieren«, sagte er. »Die führt dich wieder an den Strand zurück.«
»In Ordnung.« Alex war nicht überzeugt, dass er die Gitarre noch hören würde, wenn er erst mal im Wald war, aber Scooter schien zu wissen, was er tat.
»Gehen wir«, sagte Scooter.