All die Farben am Horizont - Katharina Ferihumer - E-Book

All die Farben am Horizont E-Book

Katharina Ferihumer

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Beschreibung

"Alles, was ich bin, was ich glaubte zu sein, ist eine Lüge." Fiona weiß, was Verantwortung bedeutet. Ohne Vater, dafür mit einer Mutter, die dieser Rolle nicht gerecht wurde, musste sie früh erwachsen werden. Sie hat gelernt für sich selbst zu sorgen und sich auf niemanden zu verlassen. Doch das Leben folgt seinen eigenen Regeln und so lernt Fiona Josie´s Clique kennen, die ihr Leben ordentlich auf den Kopf stellt. Plötzlich sieht sie sich gezwungen eine Entscheidung zu treffen: Kehrt sie zurück in ihr altes Leben oder wagt sie den Sprung ins Unbekannte?

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Für alle Einzelkämpfer da draußen. Ihr seid nicht allein!

Der perfekte Song zu diesem Buch: Wenn du die Augen schließt, SOPHIA

Bester Ort und Zeit dafür: Am Balkon bei Sonnenuntergang

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Die Triggerwarnung findet ihr auf der letzten Seite.

Achtung: Spoiler!

Ich wünsche euch viele schöne und berührende Momente.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

1

„Mama? Mama?“

Ich stupse sie an, doch sie bewegt sich nicht.

Selbst wenn Mama schläft und das Schwarze um ihre Augen verschmiert ist, ist sie wunderschön. Ihre langen, hellen Haare, die in der Sonne so schön glänzen, verdecken teilweise ihr Gesicht. Ich streiche sie ihr hinters Ohr, doch sie fallen immer wieder nach vorn.

„Mama!“, versuche ich es erneut.

Ich möchte nachhause, hier ist es doof. Die Musik ist laut und die Leute sind seltsam. Sie lachen ständig und reden über Sachen, die ich nicht verstehe.

Wenn wir alleine sind, ist Mama lustig und lieb, aber sobald ihre Freunde dabei sind, ist sie anders. Das macht mir Angst.

„Lass sie schlafen! Die wacht so schnell nicht wieder auf.“, sagt ein Mann neben mir.

Seine Stimme klingt komisch, er stinkt und wankt hin und her. Meine Augen brennen vom Rauch, während ich durch den Raum sehe, aber ich kenne niemanden von diesen Leuten. Vorsichtig klettere ich neben Mama auf die Couch, lege meinen Kopf auf ihren Schoß und warte. Der Lärm ist furchtbar und ich habe Angst. Doch bis sie wieder aufwacht, muss ich hierbleiben und sie beschützen. Also bemühe ich mich, ein braves Kind zu sein und an etwas Schönes zu denken ...

Ein Umzug stand nicht auf dem Plan. Genauso wenig, wie wieder Single zu sein. Und doch bin ich hier. Frisch getrennt und obdachlos. Dabei war mein Leben bis vor einigen Stunden noch so strukturiert und geordnet wie eine Liste, dessen Punkte es abzuhaken gilt.

Vermutlich hätte ich es ahnen sollen. Die Zeichen waren da und wurden geschickt ignoriert. Das kann ich gut. Ausblenden und verdrängen. Offensichtlich habe ich dabei etwas Grundlegendes übersehen – nämlich, dass mein Ex unglücklich war.

Ich bin verwirrt, als ich auf das Gebäude zusteuere. Eigentlich sollte ich mir hier eine Wohnung und kein Einfamilienhaus ansehen. Erst als ich näherkomme, bemerke ich den Anbau, der sich vom Haupthaus abhebt. Auf dem Türschild steht der Name der Vermieterin: Josefa Declaire.

Ich bin hier also richtig und drücke die Klingel. Kurz darauf ertönt ein Brummen und die Haustür lässt sich öffnen. Niemand erwartet mich, als ich eintrete. Der kleine Vorraum geht in ein Stiegenhaus über, welches in den Keller und den ersten Stock führt. Das Erdgeschoß selbst scheint hier nur als Abstellplatz für Fahrräder und Gartenmöbel zu dienen. Ich nehme all meinen Mut zusammen und laufe die Treppe hoch.

Das ist bereits die fünfte Besichtigung an diesem Tag, ein regelrechter Marathon. Josefa´s Anzeige habe ich erst vor einer halben Stunde entdeckt – oder viel mehr gehört. Ich saß erschöpft und mit schmerzenden Füßen auf einer Parkbank, als ein älterer Mann neben mir Platz nahm, seine Zeitung aufschlug und irgendwelche Stellenanzeigen vor sich hin murmelte. Erst war ich genervt davon, aber irgendwie hatte er trotzdem meine Aufmerksamkeit erregt. Als er die Anzeige von Josefa vorlas, stellte ich mir eine alte Dame vor, die liebend gern Apfelkuchen bäckt und mir meine Ruhe lässt.

Das hörte sich vielversprechend an und ich bat den Mann um die Kontaktdaten. Telefonisch war sie allerdings nicht zu erreichen, also habe ich ihr eine Nachricht geschrieben und prompt einen Besichtigungstermin erhalten.

Und nun stehe ich mit schwitzigen Händen und der vagen Hoffnung, dieser nervenaufreibenden Suche ein Ende zu setzen, vor ihrer Wohnung. Ein lautes Lachen kündigt eine lebensfrohe Natur an, dann öffnet sich die Tür. Vor mir steht eine junge Frau mit aschblonden Haaren, die sie seitlich zu einem Zopf zusammengebunden hat. In ihrer Hand hält sie ein Smartphone, welches sie verdeckt gegen die Brust drückt.

„Hi, du musst Fiona sein!“, begrüßt sie mich aufgekratzt.

Sie streckt mir lächelnd ihre freie Hand entgegen. Ihre gesamte Erscheinung strahlt vor Energie und Ausgelassenheit. Ich fühle mich ein wenig überrumpelt und reiche ihr nur zögernd meine Hand.

„Hallo Josefa.“, bringe ich mühsam hervor.

Der Name passt so gar nicht zu ihr.

„Sag bitte Josie. Ich hasse meinen vollen Namen, aber ich musste ihn in der Zeitung angeben. Komm doch herein.“

Ich betrete die Wohnung, die auf den ersten Blick sehr geräumig wirkt und ziehe meine Schuhe aus. Der Flur ist groß und hell und mündet in einen offenen Wohnbereich.

„Sorry, ich muss da kurz zurückschreiben. Hast du denn gleich hergefunden?“, erkundigt sich Josie und tippt dabei auf ihrem Handy herum.

„Ja, danke.“, antworte ich knapp.

Sie blickt von ihrem Telefon auf und mustert mich, als erwarte sie weitere Details, doch ich bleibe stumm, bis sie sich schließlich abwendet.

Ich folge ihr ins Wohnzimmer, während mein Blick zum riesigen Kühlschrank in der offenen Küche, die sich durch einen schmalen Esstisch vom Wohnbereich räumlich abtrennt, gleitet.

„Okay ... also das angrenzende Haupthaus gehört einer Emilia Grain. Sie ist aber selten da. In diesem Anbau hat früher ihr Sohn gelebt, bevor er weggezogen ist. Ich wohne hier seit fast vier Jahren. Wohnzimmer, Küche und Flur würden wir gemeinsam nutzen. Die Schlafzimmer und Bäder sind im ersten Stock.“

Während sie von den umgänglichen Nachbarn und der Vorteile einer Vorstadt erzählt, sehe ich mich weiter um. Die Möbel sind allesamt modern und farblich aufeinander abgestimmt. Am beeindruckendsten jedoch finde ich die Deckenlampe, die an einen Kronleuchter aus vergangenen Zeiten erinnert und die Umgebung in ein schimmerndes Licht taucht. Sie verleiht dem Raum einen Hauch von Glamour.

Auch die Bilder an der Wand, die an Notenschlüssel erinnern, bringen einen gewissen Flair in die Wohnung. Mein Blick schweift zum Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Seite. Darunter fügt sich ein flaches Regal mit Kerzen und schlichter Deko perfekt in den Raum. Die beige, große Couch mit bunten Decken schafft eine heimelige Atmosphäre.

Eine angrenzende Terrasse mit Essbereich lädt zum gemütlichen Verweilen ein und als ich den unglaublichen Ausblick bemerke, bin ich drauf und dran zu unterschreiben. Staunend trete ich hinaus auf den knarrenden Holzboden. Mir bietet sich eine sagenhafte Aussicht, die sofort mein Herz höher schlagen lässt. Diese unendliche Weite, die sich im Horizont hinter den Bergen verliert, hat eine ungeheure Wirkung auf mich. Das leicht abschüssige Gelände bietet einen Blick weit in die Ferne und die untergehende Sonne taucht alles in ein goldenes Licht. Ein Gefühl von Frieden breitet sich in meiner Brust aus und ich atme das erste Mal an diesem Tag tief durch.

Der Moment wird je zerstört, als Josies Handy erneut klingelt und sie den Anrufer jauchzend begrüßt.

„Hey, Nathan, ich muss heute in der Bar aushelfen. Kann sein ... Bis später dann.“

Mein Blick gleitet erneut zum Horizont und ich bin gewillt zu bleiben.

„Hey, möchtest du noch den Rest sehen?“, fragt Josie nun drängend und sieht dabei auf die Uhr. „Sorry, ich muss gleich nochmal weg …“

„Bist du viel unterwegs?“, frage ich und bereue meine Neugier sofort.

Sie nickt nur und bittet mich wieder ins Innere der Wohnung. Es ist kühl für Anfang Juni. Fröstelnd verschränke ich die Arme vor der Brust und folge ihr in die Küche.

Josie trägt nur ein kurzes, rotes Kleid. Gewagt, wie ich finde. So ein Look käme für mich niemals in Frage.

„Der Garten gehört natürlich auch dazu. Samt Grill und Feuerstelle. Irgendwann möchte ich mir vielleicht noch einen kleinen Pool zulegen. So einen offenen, Freistehenden …“

Sie quasselt weiter vor sich hin. Still folge ich ihr über die Wendeltreppe in den ersten Stock. Sie fügt sich nahtlos in den Wohnbereich ein und ist mit ihrer filigranen Verzierung ein echter Blickfang.

Mit einer schnellen Handbewegung deutet sie nach links, zu ihren Räumen. Auf der rechten Seite gibt es zwei weitere Zimmer. Hinter der ersten Tür befindet sich ein kleines Bad inklusive Toilette. Die zweite Tür führt direkt in ein quadratisches Schlafzimmer, welches sogar eine Verbindungstür zum Bad hat, um den Flur zu umgehen.

Der Balkon lockt mich an. Ich durchquere den leeren Raum und blicke sehnsüchtig durch die verglaste Tür nach draußen. Es wäre ein Traum hier jeden Morgen aufzuwachen.

„Die Vormieterin hat leider alles mitgenommen.“ , bedauert Josie. „Aber jetzt kannst du dich ganz nach deinem Stil einrichten. Wenn ich könnte, würde ich ständig alles erneuern oder umstellen.“

Sie lacht vergnügt, doch ihr Lachen erstirbt, als sie auf einen losen Nagel an der Wand blickt.

„Ich nehme es!“, sage ich in einem Anflug von Spontanität. Ich bin selbst überrascht darüber. Vielleicht liegt es daran, dass ich die ewigen Wohnungsbesichtigungen satthabe oder der Ausblick hat mich tatsächlich so sehr in den Bann gezogen.

Josie dreht sich ruckartig zu mir um. In ihren Augen erkenne ich so viele Fragen, doch sie hat sich schnell wieder im Griff und klatscht jubelnd in die Hände.

„Wirklich? Du hast ja keine Ahnung, wie sehr mich das erleichtert.“

Ich bin kurz verwundert über ihre Aussage, reagiere aber nicht darauf.

„Wann willst du einziehen?“, fragt sie mit einem weiteren Blick auf die Uhr. Das macht mich nervös.

„Heute?“ Meine Hände werden schwitzig.

Bestimmt kommt ihr das seltsam vor. Aber ich brauche dringend eine Wohnung oder zumindest einen Platz zum Schlafen.

Überrascht hebt sie den Kopf.

„Ist das ein Problem?“, hake ich nach.

„Nein, natürlich nicht. Ich bin nur verwundert ... Hast du irgendwo dein Zeug lagernd?“

Das Wenige, das ich besitze, befindet sich in einem Koffer in meinem Auto. Über den Rest kann ich mir erst Gedanken machen, wenn ich einen festen Wohnsitz habe.

„Nein, aber ich brauche heute schon etwas. Ich kann dir auch gleich die erste Miete geben, als Sicherheit …“

Josie winkt ab. Sie gibt sich gelassen, doch in ihren Augen erkenne ich Neugier.

„Keine Sorge. Das klären wir alles morgen. Im Flur hängt ein Schlüssel mit einer gelben Sonne als Anhänger, den kannst du haben. Ich muss nur leider gleich zur Arbeit. Zur Not schläfst du heute auf der Couch. Und morgen …“

Josie blickt auf die Uhr, flucht laut und läuft eilig die Treppe hinunter. Verunsichert folge ich ihr bis in den Flur.

Hektisch zieht sie sich ihre Stiefeletten an.

„Einfach so? Warum?“, frage ich irritiert.

Sie hält inne und sieht stirnrunzelnd hoch.

„Was meinst du?“

„Na ja, ich könnte dich hintergehen oder ausrauben, während du weg bist. Sollten wir nicht erst alles klären …“

„Nicht nötig!“, unterbricht sie mich lachend und zieht eine Jeansjacke über. „Ich habe ein gutes Gefühl bei dir und glaube mir, ich täusche mich selten.“

Das ist beneidenswert, denn meinen Gefühlen traue ich kaum. Sie schnappt sich eine schwarze Tasche und kramt darin herum.

„Also fühle dich wie zuhause. Sorry, dass ich dich nicht gebührend willkommen heißen kann. Aber ich komme erst nach Mitternacht heim, da ich Spätschicht in einer Bar habe. Hast du noch irgendeine Frage, die nicht warten kann?“

Ich schüttle bloß den Kopf. Ihre Hektik beginnt auf mich abzufärben. Josie hält kurz inne und atmet hörbar aus.

„Ich habe echt ein schlechtes Gewissen … Wir werden uns morgen ausgiebig unterhalten, okay? Ich versuche dich später nicht zu wecken. Tschau, Mitbewohnerin!“

Mit einem knappen Winken verabschiedet sie sich und schon fällt die Tür ins Schloss. Die unterschiedlichsten Gefühle und Gedanken keimen in mir auf. Ich habe eine Wohnung. Mein Neuanfang kann beginnen.

Doch Josie ist alles andere als eine ruhige, alte Dame und ich bin nicht sicher, ob ich mit ihrem Temperament zurechtkomme.

Ich erblicke den Schlüssel mit der Sonne, der an einem Haken an der Wand hängt. Ich nehme ihn ab und lasse ihn gedankenverloren zwischen meinen Fingern hin und her gleiten. Es ist spät und der Tag war voller Absagen und unzumutbaren Mietern. Ich habe keine Kraft mehr weiterzusuchen und zu meinem Ex gehe ich nicht zurück. Thomas hätte mich noch eine Weile bei sich wohnen lassen, doch dass wollte ich nicht. Ich kann mir etwas Besseres vorstellen, als mit meinem Ex zusammenwohnen. Wir sind nicht im Streit auseinandergegangen, dennoch gibt es einen Teil in mir, der ihn dafür hasst, dass er Schluss gemacht hat. Er war immerhin drei Jahre lang eine wichtige Konstante in meinem Leben.

Zehn Minuten später öffne ich, mit einem schweren Koffer im Schlepptau, das erste Mal die Tür zu meiner neuen Wohnung. Ein merkwürdiges Gefühl – fremd und doch tröstlich. Mein Blick fällt auf die Terrasse, dabei lässt sich durch die Balkontür der Horizont erahnen. Ich gestehe mir einen andachtsvollen Moment der Hoffnung zu, dann bringe ich den Koffer nach oben ins Schlafzimmer.

Ich sehe mir mein neues Reich genauer an. Die Wände sind alle bis auf eine farblos. Die größte davon hat ein helles Grün, welches mir mit jedem Mal hinsehen besser gefällt. Die dunklen Dielen, die vor dem Balkon leicht knarren, verleihen dem Raum eine gemütliche Atmosphäre. Ich öffne die Balkontür und trete nach draußen. Kühle Abendluft umfängt mich. Der Horizont ist in ein sattes Orange getaucht und erscheint geradezu mystisch.

Unzählige Male habe ich schon den Untergang der Sonne mitverfolgt, doch bisher war kein Abendrot so von Hoffnung erfüllt wie dieses. Bilder meiner Kindheit drängen sich ins Bewusstsein. Ich versuche sie auszublenden, aber sie holen mich immer wieder ein.

„Sieh dir das an Schätzchen! Sieh es dir an!“

Mama hält mein Kinn in Richtung Sonnenuntergang. Ihr Griff tut mir weh. Sie macht das nicht mit Absicht, aber manchmal ist sie etwas zu grob. Und hin und wieder ist sie traurig, dann braucht sie mich. Ich versuche, sie oft zum Lachen zu bringen, doch das gelingt mir nicht immer. Wenn sie weint, laufen schwarze Tränen über ihre Wangen und das gefällt mir nicht. Ich mag es lieber, wenn sie lacht, dann strahlen ihre Augen.

Die Sonne ist fast untergegangen, es wird dunkel. Mir ist kalt und ich bin müde, aber Mama will noch bleiben. Sie will immer bleiben. Meine Augen fallen zu. Ich lege den Kopf auf die Knie und ziehe sie fest an mich heran, dann ist es etwas weniger kalt. Jemand macht ein Lagerfeuer, ich kann das Knistern hören, doch ich möchte nur weg von hier. Mamas Freund fragt genervt, warum ich mit dabei bin. Ich verstehe nicht. Wo sollte ein Kind denn sein, wenn nicht bei seiner Mama? Sie antwortet nicht, beginnt stattdessen zu singen. Ich hebe den Kopf und kuschle mich an sie. Jemand fotografiert uns und Mama lächelt. Sie sieht so anders aus, wenn sie für Fotos grinst. Doch ihr Lachen, dass sie mir allein schenkt, das ist schön.

Sonnenuntergänge hatten immer schon eine ungemeine Anziehung auf mich. Obwohl, oder gerade weil sie mich an meine Mutter erinnern. Der Moment, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, ist so friedlich. Und doch sitze ich hier mit Tränen in den Augen. Ich versuche, die Bilder aus dem Kopf zu bekommen, dieses Mal sind sie hartnäckig.

Ein Läuten lenkt meine Gedanken wieder ins Hier und Jetzt. Ich habe nicht vor aufzumachen, doch es hört nicht auf. Irgendjemand klingelt im Sekundentakt und langsam beginnt es zu nerven. Seufzend erhebe ich mich aus dem Schneidersitz und eile nach unten.

„Wer ist da?“, frage ich hinter verschlossener Tür.

Die Tatsache, dass es keinen Türspion gibt, beunruhigt mich.

„Josie hat uns geschickt.“, höre ich eine männliche Stimme.

Vorsichtig öffne ich einen Spalt und blicke zwei fremden Männern entgegen. Sie sind etwa in meinem Alter, einer blond der andere dunkelhaarig.

„Hey. Du musst Fiona sein. Josie ist meine Schwester.“, klärt mich der Blonde auf.

Er hat Ähnlichkeit mit ihr. Seine Augen haben denselben durchdringenden Blick wie ihre, nur seine Lippen sind voller.

„Sie ist nicht da. Soll ich etwas ausrichten?“

„Wir sind wegen dir hier.“, meldet sich nun der andere zu Wort. Sein Blick streift kurz über meinen Körper.

Ein mulmiges Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Ich zucke zurück und versäume dabei, rechtzeitig die Tür zu schließen. Der Blonde tritt ungefragt ein.

„Vielleicht kommt ihr wieder, wenn sie zurück ist ...“

„Keine Angst, wir haben nicht vor dich zu überfallen.“, meldet sich der Dunkelhaarige lachend, „Wir liefern dir nur eine Matratze. Samuel, das Mathegenie, hat sich vermessen und die Falsche für sein neues Bett gekauft. Sie ist nagelneu.“

Er deutet augenrollend auf seinen Begleiter und kassiert dafür einen heftigen Stoß gegen die Rippen. Hinter ihnen steht tatsächlich ein wuchtiges, rechteckiges Plastikpaket.

„Aber wieso?“, frage ich verwirrt.

„Ich würde sagen, er hat in Mathe nicht richtig aufgepasst. Oder es liegt an seiner falschen Wahrnehmung über Längenmaße ...“

Er bekommt einen weiteren Hieb von der Seite.

„Willst du zu Fuß nachhause laufen?“

Dieses Hin und Her nervt mich. Ich möchte endlich wissen, was sie von mir wollen.

„Nein, ich meine, warum ihr sie mir bringt?“

Die beiden wechseln einen kurzen Blick.

„Josie meinte, du kannst sie brauchen. Oder hat sie da etwas falsch verstanden?“

„Nein, das nicht, aber ...“

Sie beachten mich nicht weiter und hieven das schwere Ding die Treppen hoch bis in mein Reich. Bevor ich etwas einwenden kann, haben sie schon die Tür geöffnet und lassen die Matratze mit einem dumpfen Knall auf den Boden fallen.

„Wie es scheint, hast du das Ding bitternötig.“ Der Dunkelhaarige dreht sich zu mir herum. „Ich bin übrigens Ben. Und du heißt Fiona, oder?“

Grinsend streicht er sich mit der Hand durch seine struppigen Haare. Sie stehen in alle Richtungen und scheinen nass zu sein. Aus irgendeinem Grund stelle ich mir vor, wie sie sich zwischen meinen Fingern anfühlen würden.

Mit einem knappen Nicken wende ich mich schließlich Samuel zu: „Was bekommst du dafür?“

„Ein kühles Bier für uns zwei wäre nett. Wir kommen gerade vom Training.“

Das erklärt Bens nasse Haare. Es ist offensichtlich, dass die beiden regelmäßig trainieren. Ihre breiten Schultern und strammen Beine zeugen davon. Samuel trägt ein kurzes Shirt, das seinen Bizeps betont, während sich Bens Langarmshirt eng an seinen definierten Oberkörper schmiegt. Ich würde lügen, würde ich behaupten, der Anblick der beiden gefiele mir nicht. Doch meine Oma hat mich stets vor solchen Männern gewarnt.

„Hübsche Männer sind genau das: hübsch. Mehr nicht.“ Also lasse ich mich nicht von ihrem Aussehen ablenken und deute zur Tür. Ich will die beiden aus meinem Schlafzimmer bekommen.

„Ich dachte da eher an eine Bezahlung. Sie wird einiges gekostet haben ...“

„Nein, ein Bier genügt. Ich habe mir ohnehin schon eine neue Matratze bestellt.“

Ich bin nicht sicher, was sie damit bezwecken und das macht mich nervös.

„Ich konnte noch nicht einkaufen, also keine Ahnung, ob Bier da ist. Aber vielleicht ...“

Obwohl ich den Satz nicht beende, nicken die beiden. Sie folgen mir nach unten. Ich spüre die Blicke und wünschte, es wäre mir egal, was sie denken. Doch das ist es nicht. In meinen schwarzen Leggings und dem dünnen Oversizedpulli fühle ich mich schlagartig unwohl.

Samuel schreitet selbst zum Kühlschrank und zieht triumphierend zwei Bier aus der Lade.

„Auf Josie ist Verlass!“, ruft er jubelnd.

Ich stehe etwas betreten in der Tür und beobachte die beiden in gebührendem Abstand. Sie scheinen nett zu sein, dennoch ist mir mulmig zumute.

„Also Fiona. Erzähl mal. Bist du zuhause rausgeflogen?“, fragt Samuel in lockerem Ton.

Mit meinen sechsundzwanzig Jahren bin ich schon lange auf mich selbst gestellt, länger als ich sollte.

„Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht.“, erkläre ich notdürftig und bereue es sofort. Warum erzähle ich das?

Samuel und Ben werfen sich einen kurzen Blick zu.

„Oh, Shit. Sorry Fiona. Ich wollte nicht unverschämt sein.“

Ich senke den Kopf, um Augenkontakt zu vermeiden. Ich will kein Mitleid. Das Komische ist, dass ich nicht wirklich traurig darüber bin, dass Thomas mich verlassen hat. Schmerzvoller finde ich den Gedanken daran, allein zu sein, wieder von vorne anzufangen. Die Einsamkeit verfolgt mich seit meiner Kindheit. Am schlimmsten ist es unter Menschen zu sein und dennoch niemanden zu haben.

Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und zucke zusammen. Ben sieht mich mitleidig an. Ich hasse diesen Blick.

„Halb so wild.“, behaupte ich abgewandt und trete einen Schritt zurück.

„Themenwechsel.“, schlägt Samuel vor. „Was machst du sonst so?“

Ich habe weder vor Persönliches preiszugeben, geschweige denn mich mit ihnen anzufreunden. Ich wünschte, sie würden gehen. Doch anstatt sich zu beeilen, setzen sie sich an den Tisch. Frustriert lehne ich mich an die Theke und überlege, wie ich aus dieser Sache wieder rauskomme.

Wäre Josie doch nur eine alte, kuchenbackende Frau.

„Ich arbeite in der Buchhaltung in einer Kanzlei nicht weit von hier.“

„Hmm …“, macht Ben und nickt.

„Was hmm?“, frage ich irritiert.

„Das passt zu dir.“

Samuel verhält sich ein Lachen. Er drückt sich die Bierflasche an die Lippen, um es zu kaschieren.

„So offensichtlich?“

Ich bin ehrlich gekränkt. So wie er es sagt, klingt es wie eine Beleidigung. An dem heutigen Outfit liegt es nicht. Ich trage weder Bleistiftrock noch Bluse, aber womöglich verrät mich der legere Dutt. Ich stecke meine langen Haare gern hoch.

„Entweder das oder Langzeitstudentin.“, fügt Samuel grinsend hinzu.

Ben nickt zustimmend und in mir beginnt es zu brodeln. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich angegriffen.

„Ja, macht euch nur lustig. Glaubt ihr, weil ihr mir diese bescheuerte Matratze gebracht habt, könnt ihr das bringen?“

Die beiden blicken mich mit großen Augen an. Damit haben sie also nicht gerechnet.

„Wir wollten die Stimmung nur etwas auflockern.“, fährt Ben mich an, „Diese bescheuerte Matratze hat zweihundert Euro gekostet. Ein einfaches Danke hätte genügt.“

Das ist zu viel für mich. Ich drehe mich um und gehe zu meiner Handtasche im Flur. Dort krame ich nach zwei Hunderteuroscheinen und lege sie vor Samuel auf den Tisch.

„Danke fürs Bringen. Ihr findet dann selber raus.“

Eilig verlasse ich den Wohnbereich und laufe die Treppe hoch in mein Zimmer. Den Tränen nahe, schlage ich die Tür zu und trete auf den Balkon hinaus. Seufzend lehne ich mich über das Geländer und blicke sehnsüchtig in die Ferne.

Mein Leben scheint auseinanderzubrechen. Vor wenigen Tagen noch hatte ich einen Plan, einen Freund, ein Zuhause. Und jetzt stehe ich wieder am Anfang.

„Hey …“, höre ich Ben hinter mir.

Ich reagiere nicht. Die Dielen knarzen und sein Parfum dringt zu mir. Ich bin bereit, mich zu verteidigen. Mit geballten Fäusten warte ich auf das, was kommen mag.

„Tut mir leid. Das war echt unsensibel von uns, vor allem da du gerade eine Trennung hinter dir hast. Wir wollten nur ...“

„Alles okay und danke nochmal. Auch an Samuel.“, murmle ich, ohne aufzusehen.

Es ist unerheblich, ob ich ihnen verzeihe oder nicht. Ich habe nicht vor mich mit ihnen anzufreunden.

Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie er auf den Balkon tritt, sich über das Geländer lehnt und in die Ferne schaut. Für einen Moment bleibt es still, dann höre ich Schritte, die sich entfernen, gefolgt von dem Geräusch einer sich schließenden Tür. Wenig später höre ich auch die Wohnungstür ins Schloss fallen und ich atme erleichtert aus.

Das Wichtigste nach einer Trennung ist der klare Schnitt. Zumindest ist das die Meinung meiner Oma. Meine Mutter hingegen sammelte Männer wie Trophäen, auf die sie immer wieder zugriff. Ich selbst weiß nur, dass es verdammt beschissen ist, täglich seinem Ex auf der Arbeit zu begegnen.

In dem Moment, in dem der Fahrstuhl aufgeht und ich Thomas erblicke, bin ich gewillt umzudrehen. Er lacht und sagt etwas zu Martha unserer Empfangsdame. Sein charmantes Lächeln hat mir immer gefallen. Es gab mir ein Gefühl von Geborgenheit. Als ich den Gang entlanglaufe, wendet er den Kopf in meine Richtung und seinem Grinsen weicht Bedauern.

„Guten Morgen.“, grüße ich die beiden und laufe weiter.

Mein Büro ist am Ende des Gangs. Klein, beengt und nur mit einem mickrigen Fenster zum Innenhof ausgerichtet. Aber ich beschwere mich nicht. Es würde nichts bringen.

Also fahre ich den Computer hoch und studiere den Tagesplan. Bereits nach wenigen Minuten öffnet sich die Tür und Thomas tritt ungefragt ein.

Kurzes Update: Wir sind nicht mehr zusammen. Doch anstatt das laut auszusprechen, ignoriere ich ihn.

„Hey, ich hatte gehofft, dass wir noch mal reden können.“

Ich blicke nur kurz auf und erkenne sofort, dass er schlecht geschlafen hat. In seiner Frisur fehlt das übliche Gel und am Kinn zeichnet sich ein Bartschatten ab. So zerknautscht und kleinäugig sieht er nur nach einer harten Nacht aus. Womöglich tut es ihm schon leid.

„Ich habe eine Wohnung gefunden.“, gebe ich zur Antwort und versuche, mich auf den Bildschirm zu konzentrieren. Dabei entgeht mir nichts. Nicht, dass er ein paar Schritte näher kommt, nicht sein leises Seufzen, welches mit zusammengepressten Lippen endet. Ich kenne ihn zu gut und doch scheint er ein Fremder geworden zu sein.

„Ach ja, wo denn?“, fragt er vorsichtig, „Bei deiner Oma?“

„Gott bewahre!“, rutscht es mir heraus.

„Du hast sie mir nie vorgestellt.“

In seiner Stimme klingt Trauer mit. Ich weiß alles über ihn, kenne seine Familie, seine Freunde, seine Hobbys. Dafür hat er von mir kaum etwas erfahren.

„Irgendwann hätte ich es getan.“, lüge ich.

Die Vorstellung, dass jemand meine Vergangenheit kennt, macht mir Angst. Thomas tritt an den Schreibtisch. Er bräuchte nur eine Hand auszustrecken, um mich zu berühren.

„Weißt du ... unsere Beziehung hat sich angefühlt, als würde ich immer nur warten. Ich war einsam, obwohl du bei mir warst. Ich liebe dich Fiona, aber ich könnte auch eine Puppe lieben. Da kommt genauso viel zurück ...“

Thomas presst die Lippen fest zusammen. Letzteres wollte er offenbar nicht laut aussprechen. Dennoch kränkt es mich.

„Es gibt im Internet genügend Shops, die so etwas anbieten.“, sage ich gespielt locker.

Ich balle meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten. Tränen bahnen sich ihren Weg und ich will nicht, dass er sie sieht. Er hat mich nie weinen gesehen.

„Kannst du nicht einmal auf mich zukommen? Nur ein einziges Mal?“

„Nicht hier bei der Arbeit.“, unterbreche ich ihn harsch.

„Wann dann? Du redest nie mit mir. Ich habe lange Rücksicht genommen, wollte dich nicht bedrängen, aber von dir kommt nichts ...“

„Willst du mich zurück?“ Ich muss es wissen.

In seinen Augen erkenne ich die Antwort, bevor er sie ausspricht.

„Nein ...“

„Dann sind wir hier fertig. Wir sind nur noch Kollegen, also sollten wir uns auch so verhalten. Das nächste Mal klopfst du an.“

„Fiona, bitte. Lass uns das wie Erwachsene klären.“

Thomas hat Recht mit dem, was er sagt. Ich weiche Unangenehmem aus, ziehe mich zurück, mauere sofort.

Ich weiß nicht, wie ich anders damit umgehen sollte und ich kann ihm nicht geben, was er verdient. Er müsste aus Erfahrung wissen, dass er keine Antwort zu erwarten hat.

„Für mich ist alles geklärt.“

Ungerührt wende ich den Blick ab und öffne ein zu bearbeitendes Dokument am Computer. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, solange er anwesend ist.

Einen Augenblick lang scheint er zu zögern,dannverschwindet er endlich aus dem Büro.

Ich atme hörbar aus und lasse den Kopf auf die Tischplatte sinken. Ich habe kein Recht dazu, wütend zu sein. Er war immer ehrlich und anständig. Thomas ist einer von den Guten. Ich bin es, die unsere Beziehung zerstört hat.

Enttäuschung, Wut und Angst vermischen sich zu einem Gefühlschaos und ich brauche einen Moment um mich wieder zu beruhigen. Es hilft mir nicht, mich in Selbstmitleid zu vergraben, das Leben geht weiter und ich muss meine nächsten Schritte klug wählen.

Kurz vor der Mittagspause suche ich das Büro unseres Chefs auf. Er ist ein mürrischer Mann anfang sechzig, der seine Meinung von einer Minute auf die andere ändert und dabei erwartet, dass wir seine Entscheidungen voraussehen. Ihn, um etwas zu bitten, ist wie Roulette zu spielen, man weiß nie, was man bekommt. Doch ich habe keine Wahl, ich brauche dringend neue Möbel.

Vorsichtig klopfe ich an und betrete, nach einem gemurmelten „Herein“ seinerseits, das Büro. Sein Büro ist das größte und schönste der gesamten Etage. Der Schreibtisch aus Mahagoni ist das Schmuckstück dieses Raumes und beeindruckt viele Klienten. Doch am meisten gefällt mir die Aussicht. Die bodentiefen Fenster ermöglichen einen Blick über die Dächer der Stadt.

„Guten Tag Frau Riedl, was kann ich für Sie tun?“.

So begrüßt er mich jedes Mal. Seine Augen haften weiterhin auf dem Bildschirm.

„Guten Tag. Wäre es möglich, dass ich heute etwas früher gehe? Ich bin kurzfristig umgezogen und brauche dringend neue Möbel.“

Er hebt langsam den Kopf. Dabei bleibt sein Blick ausdruckslosund ich werde nervös.

„Sie wissen, dass ich Ihr Chef bin. Oder sollte ich Sie daran erinnern?“

Ich nicke und schüttle den Kopf fast gleichzeitig.

„Wir haben einen Vertrag, in dem Ihre Arbeitszeiten festgelegt sind. Ihre privaten Belange erledigen Sie in Ihrer Freizeit. Also nein, sie können heute nicht früher gehen.“

Seine Stimme ist gedämpft, dennoch erkenne ich den Groll dahinter.

„Natürlich, ich dachte nur …“

„Sie werden nicht fürs Denken bezahlt, sondern fürs Arbeiten. Heute ist Donnerstag, Herr Gott nochmal. Heute gehören Sie dieser Kanzlei!“

Nickend weiche ich zurück, entschuldige mich flüsternd und eile aus dem Zimmer. In solchen Momenten wünschte ich, ich wäre so taff wie meine Mutter. Sie hat sich immer genommen, was ihr zustand, koste es, was es wolle. Oder wie Oma, die niemals Widerspruch duldet und ihre Stimme stets über die der anderen erhebt.

Als ich mein Büro erreiche, erfasst mich eine Welle aus Wut und Verzweiflung. Mein Herz hämmert gegen die Brust und heiße Tränen brennen in meinen Augen. Ich schließe die Tür und lasse mich daran herabsenken.

„Hallo Mitbewohnerin.“, begrüßt mich Josie am Abend freudestrahlend, als ich die Wohnung betrete.

Sie räumt ein paar Jacken in den Kleiderschrank im Flur.

„Hallo.“, gebe ich murmelnd zurück. Mir ist nicht nach Smalltalk zumute. Doch sie lässt nicht locker.

„Endlich Sommer. Ich liebe diese Jahreszeit.“

Ich strecke einen Daumen hoch und gehe an ihr vorbei in die Küche. Auf dem Weg hier her, es fällt mir schwer, es zuhause zu nennen, habe ich mir ein Baguette mitgenommen.

Wir haben nicht besprochen, wie wir das mit dem Essen regeln. Im Grunde haben wir noch gar nichts geklärt.

„Warst du nicht einkaufen?“, fragt Josie hinter mir.

„Musste arbeiten …“

Ich setze mich an den kleinen Tisch, packe mein Essen aus und beiße genüsslich in ein Mozzarellabaguette.

„Verstehe. Du schläfst gern auf dem Boden …“

Sie holt sich eine Schüssel vom Regal, befüllt sie mit Müsli und Milch und setzt sich zu mir an den Tisch.

„Ich habe nicht freibekommen.“

„Nicht dein Ernst? Für einen Umzug bekommt man mindestens einen Tag frei.“

Ihre Stimme klingt aufgebracht und ich sehe sie für einen Moment lang verdutzt an. Sie hat Recht, doch das hilft mir auch nicht weiter. Also zucke ich resigniert mit den Schultern.

„Und morgen?“

„Da muss ich Überstunden machen. Wir haben eine Deadline einzuhalten …“

„Ich habe am Samstag Zeit. Da fahren wir einfach zusammen einkaufen.“, schlägt sie plötzlich vor.

Verunsichert halte ich inne.

„Warum?“

„Du kannst doch nicht alles alleine tragen. Außerdem möchte ich eine neue Schlafzimmerlampe und vielleicht auch neue Deko. Es gibt da so originelle Vasen …“

„Aber du hast bestimmt Besseres vor.“

Gesättigt wische ich die Finger an der Serviette ab und lege sie auf den Teller.

„Du bist meine Mitbewohnerin. Man hilft sich gegenseitig oder etwa nicht?“

„Ganz ehrlich? Nichts gibt es umsonst. Es braucht immer eine Gegenleistung. Und ich will nicht, dass du mir etwas schuldig bist. Und umgekehrt will ich niemandem etwas schuldig sein …“

Das klingt zwar merkwürdig, doch besser kann ich es nicht erklären.

Josie sieht mich lange nachdenklich an. Ihre Mimik ist unergründlich.

„Wow.“ Sie seufzt lautstark und leert ihre Schüssel. „Das ist echt traurig. Eine Freundschaft sollte bedingungslos sein und nicht berechnend. Aber nun hast du ja mich und ich werde dir zeigen, dass es auch anders geht.“

Ich würde ihr gerne sagen, dass wir keine Freunde sind, lasse es aber dann doch bleiben.

„Bist du sicher?“, frage ich stattdessen.

„Ich habe schon gehört, dass du mit Geschenken nicht gut umgehen kannst.“

Lachend steht sie auf. Ihr Bruder hat offenbar geplaudert. Bei dem Gedanken daran erröte ich. Mein kindisches Verhalten ist mir plötzlich peinlich.

„Ich habe vielleicht überreagiert …“

Josie sieht nicht auf, während sie den Geschirrspüler einräumt. Aber sie grinst in sich hinein.

„Alles gut. Du hast laut Ben eine Trennung hinter dir und kennst uns nicht. Ich war etwas voreilig und habe dich damit überfordert. Aber wir sind eine ganz coole Truppe, das wirst du schon noch sehen, wenn du die anderen kennenlernst.“

Josie sagt frei heraus, was sie denkt. Ich wünschte, das könnte ich auch. Sie ist so lebensfroh und taff.

„Können wir den Vertrag noch durchgehen?“, bitte ich sie.

„Natürlich. Klären wir das Nötige und dann machen wir uns einen schönen Abend. Ich möchte meine neue Mitbewohnerin kennenlernen.“

Meine Vorstellung von diesem Abend war allein im Zimmer zu sein und ein wenig Musik zu hören, aber ich will sie auch nicht gleich abweisen.

Wir übersiedeln mit dem Vertrag auf die Couch und sprechen über die Miete, Einkäufe und die Hausarbeit.

„Wenn dich etwas stört oder Ähnliches sprich es bitte an.“

Ihre Augen funkeln, während sie das sagt. Das scheint ihr sehr wichtig zu sein.

„Ich bin ein offener und lebenslustiger Mensch, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte …“, fügt sie in leichterem Ton hinzu.

Das ist offensichtlich und verschafft mir Kopfzerbrechen. Ich bin Einzelgängerin. Man könnte mich auch als introvertiert bezeichnen. Menschenmengen und Trubel machen mich meist nervös.

„Ich bin nicht gern allein. Es werden öfter Freunde hier sein. Zwei davon kennst du bereits und ich hoffe, du verzeihst ihnen ihr ungehobeltes Benehmen. Samstag Abend kommt auch der Rest der Clique zum Grillen. Sie sind schon sehr neugierig auf dich.“

Sie strahlt. Was für mich Unbehagen bedeutet, ist für sie ein wahres Vergnügen. Meine verhaltene Reaktion scheint sie jedoch falsch zu deuten.

„Du kannst natürlich auch Freunde hier her einladen.“

Ich schlucke schwer. Freundschaften zu schließen war noch nie meine Stärke.

„Ich habe niemanden, den ich einladen würde. Thomas Freunde waren auch meine und das ist ja jetzt vorbei.“, gestehe ich kleinlaut.

Um ehrlich zu sein, fehlen sie mir nicht. Bei ihnen hatte ich immer das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Sie hatten ihre Insiderwitze und viele Geschichten, aus der Zeit vor mir. Dabei habe ich mich oft ausgeschlossen gefühlt.

„Und Thomas ist dein Ex?“

Ich nicke bloß.

„Jetzt hast du ja mich!“, lächelt sie freundlich.

Nein, habe ich nicht, möchte ich sagen. Wir sind eine zufällige Bekanntschaft, durch einen Notfall zusammengeführt. Josie ist nett und ich kann sie gut leiden, aber Freunde werden wir nicht. Und wenn ich endlich den Schritt in die Selbstständigkeit wage, wird sich die Wohnsituation ohnehin wieder ändern. Um abzulenken, frage ich sie nach ihrem Job.

„Unserem Vater gehören ein Restaurant, ein Club und eine Bar. Mein Bruder und ich sind sozusagen ins Geschäft mit eingestiegen. Ich arbeite in der Bar oder helfe im Club aus. Samuel kümmert sich meist um das Organisatorische, die Lieferungen und um Veranstaltungen. Er hat vor zwei Jahren die Leitung des Clubs übernommen.“

„Steht ihr euch nahe?“, frage ich interessiert.

„Er gehört zu meinem Freundeskreis. Als Kinder haben wir uns nicht so gut verstanden ... Hast du auch Geschwister?“

Meine Mutter hatte auf meinen achtzehnten Geburtstag hin gefiebert. Nicht auszudenken, hätte sie noch ein Kind bekommen. Ich schüttle den Kopf und erkundige mich nach Ben, um Josie davon abzuhalten, weitere Fragen zu stellen.

„Samuel und Ben sind schon ewig befreundet. Ich kann mich kaum an eine Zeit ohne ihn erinnern. Auch wenn euer Start nicht besonders gut war, kann ich dir versichern, dass er ein anständiger und netter Typ ist.“

„Arbeitet er auch im Club?“

Josie lacht auf und schüttelt den Kopf.

„Das ist absolut nicht seins, obwohl er ein echter Eyecatcher wäre. Mit ihm hinter der Bar würden die Einnahmen sicherlich steigen. Aber Ben ist Personal Trainer.“

„Das merkt man ...“, rutscht es mir raus.

Josie steht auf und geht zum Kühlschrank.

„Ja, Ben ist ein wahrer Hingucker. Was willst du trinken?“

Ich lehne ab und frage stattdessen, ob zwischen Ben und ihr etwas läuft. Daraufhin lacht sie lautstark.

„Oh, No. Erstens ist er fast wie ein Bruder für mich, er nervt manchmal unglaublich und außerdem hätte ich neben so einem Typen ständig Komplexe. Ich meine hallo? Der hat ein Sixpack wie ein Unterwäschemodel.“

Da hat sie absolut Recht. Er ist der Typ Mann, um dem man immer kämpfen müsste.

„Ist bestimmt anstrengend ständig andere Frauen zu vergraulen.“, stimme ich ihr zu.

Als sie mit einer Flasche Wasser zur Couch zurückkommt, hat sich ihr Blick verändert.

„Du solltest dir bei Ben keine Hoffnungen machen.“

Das trifft mich wie ein Schlag. Nicht dass ich vorhatte, mit ihm etwas anzufangen, doch so eine Aussage schmerzt.

Josie scheint meinen Gesichtsausdruck bemerkt zu haben.

„Oh, nein. So meinte ich das nicht. Ben hat nur eine scheiß Zeit hinter sich und hat das Ganze seither verdrängt. Er will nichts Dauerhaftes. Außer du suchst ein kurzes Vergnügen, dann ist er genau der Richtige. Zumindest habe ich das gehört.“, klärt sie mich mit einem Augenzwinkern auf.

„Ich bin weder auf das eine, noch auf das andere aus.“, antworte ich nachdenklich. „Eine neue Beziehung ist das letzte, was ich im Moment gebrauchen kann und selbst wenn, will ich einen Mann, der zu mir passt.“

Josie setzt sich in den Schneidersitz und krallt sich ein Kissen. Ihr neugieriger Blick bringt mich zum Lachen.

„Okay ... schieß los! Wie sieht dein Typ Mann aus?“

Schwierige Frage. Ich vergleiche Thomas mit seinem Vorgänger Simon und meiner Jugendliebe Noah. Sie haben alle eines gemeinsam: Sie gaben mir das Gefühl von Sicherheit. Jeder davon war strukturiert, bodenständig, ehrlich und ehrgeizig. Das Aussehen war dabei immer zweitrangig. Ich hatte nie Interesse an schönen Männern. Meine Oma hat mir beigebracht, einen Partner nach seinen charakterlichen Vorzügen zu wählen. Was bei ihrer Tochter nicht gefruchtet hat, zeigte bei mir Wirkung. Ich bin immun gegen attraktive Kerle.

Zumindest meistens.

„Ich weiß nicht ... Mir ist nicht wichtig, wie er aussieht. Es muss einfach passen und sich richtig anfühlen, denke ich.“

„Und hat es sich bei Thomas so angefühlt?“

Diese Frage habe ich mir selbst noch nie gestellt.

„Im Nachhinein gesehen nicht ... Aber vielleicht laufe ich auch nur einer Wunschvorstellung hinterher und so etwas gibt es nur in schnulzigen Filmen. Hattest du denn schon einmal so ein Gefühl?“

Josie blickt verlegen zu Boden.

„Bei Marvin. Doch das beruht nicht auf Gegenseitigkeit.“

„Erzähl!“, fordere ich sie auf und bin selbst verwundert, wie gesprächig ich plötzlich bin. Normalerweise meide ich solche Themen und spreche ungern über Gefühle. Aber Josie ist anders, sie lockt etwas in mir hervor, dass ich bislang nicht gekannt habe.

Ihr Lächeln ist traurig, als sie aufsieht.

„Es gibt nicht viel zu erzählen, leider. Ich habe versucht, ihn für mich zu gewinnen, das ging gewaltig schief. Seitdem habe ich Alex an der Backe. Alles ziemlich kompliziert ...“

Ich verstehe kein Wort. Josie zückt die Fernbedienung und wedelt damit in der Luft herum.

„Schluss mit Trübsal! Sehen wir uns einen Film an?“

Sie will nicht weiter darüber sprechen und ich habe nicht vor sie zu drängen, da ich selbst genug unangenehme Themen habe, über die ich lieber schweige.

Josie hat Netflix, was ein absoluter Pluspunkt an dieser Wohnung ist. Sie lässt mich das Abendprogramm wählen und macht uns Popcorn, während ich durch die Filme zappe und mich schließlich für eine Komödie entscheide. Etwas zum Lachen ist genau das, was ich heute brauche.

Obwohl der Film läuft, sehe ich immer wieder zu ihr hinüber. Ich werde aus ihr nicht schlau. Sie ist eigensinnig, wild und unberechenbar. Das genaue Gegenteil von mir. Und doch hat sie etwas an sich, das ich bewundere. Vielleicht ist es ihre Art, mich herauszufordern, ohne mich zu drängen, oder weil sie frei heraussagt, was sie denkt. Womöglich verbringe ich sogar genug Zeit hier, um es herauszufinden.

Ich stehe neben einer verschlafenen Josie und betrachte ein weißes Bett mit integriertem Kopfteil. Sie gähnt mehrmals. Mir macht das frühe Aufstehen nichts. Aber sie ist laut eigenen Angaben eine Langschläferin. Dennoch hat sie sich einen Wecker gestellt und mich schon um acht Uhr früh begrüßt. Zwar war sie bis zum zweiten Kaffee kaum ansprechbar, aber das war ein interessanter Ausgleich zu der sonst so redefreudigen Josie.

„Ich finde es gut.“, murmelt sie und gähnt dabei lautstark.

Es ist ihr völlig egal, dass ein älterer Herr daraufhin missmutig den Kopf schüttelt. Sie beachtet ihn nicht einmal.

„Und weiter?“, frage ich.

„Was und weiter?“

Ein richtiges Gespräch ist heute also noch nicht wirklich möglich. Unschlüssig betrachte ich das Bett. Es bietet viel Platz und hat eine perfekte Höhe für mich.

„Ist es nicht ein wenig zu groß für eine Person?“, überlege ich laut.

„Willst du mich hier ganz subtil fragen, ob du einen Mann in dein Bett lassen darfst?“ Josie lacht auf.

Endlich kommt etwas Leben in ihren müden Körper. Wieder zieht sie Blicke auf sich. Sie ist ohnehin schon eine auffällige Person. Mindestens ein Kleidungsstück an ihr ist immer bunt oder ausgefallen. Ich würde so etwas nicht tragen, aber zu ihr passt es. Sie ist ein bisschen schräg, ohne nervig zu sein.

„Nein, so meinte ich das nicht. Außerdem ist die Trennung von Thomas gerade einmal ein paar Tage her.“

„Deshalb der schnelle Einzug?“

„Vormittag getrennt, Nachmittag bei dir eingezogen ...“

„Oje, ich wusste nicht, dass es noch so frisch ist. Wenn du darüber reden willst, dann kaufe ich Eiscreme oder was du sonst so magst und wir heulen uns die Augen aus …“

„Ich heule nicht!“

Das ist mir rausgerutscht. Normalerweise wähle ich meine Worte bedachter. Ich versuche das Thema zu wechseln, doch sie lässt nicht locker.

„Wie du weinst nicht? Weinen reinigt die Seele, weißt du das nicht?“

Einen Moment lang bin ich sogar gewillt ihr zu glauben. Es klingt so einfach. Als könnte man die Last des Lebens leicht abwaschen. Ich lächle gequält.

„Wenn wir schon in der Schlafzimmerabteilung sind ... Toller Sex lenkt auch gut ab!“

Sie zwinkert mir ungeniert zu.

„Da gebe ich dir Recht.“, murmelt ein Fremder neben uns.

Er prüft die Matratze vom Nebenbett. Josie und ich sehen uns kurz an und prusten dann los. Er selbst grinst nur frech.

„Ich meine ja nur. Ein paar Freunde von mir würden sich garantiert zur Verfügung stellen.“, flüstert sie in mein Ohr.

Kopfschüttelnd winke ich ab. One-Night-Stands sind nichts für mich.

„Was macht dein Liebesleben?“, frage ich stattdessen.

Wir folgen den Pfeilen am Boden und kommen zu den Kästen. Ich erblicke einen hellen, stabilen Schrank und öffne Türen und Läden, um die Stabilität zu prüfen.

„Oh, frag nicht …“.

Josie zuckt mit den Schultern. In ihren Augen liegt eine ungewohnte Traurigkeit. Offenbar habe ich einen wunden Punkt getroffen.

„Mein Liebesleben ist das reinste Chaos. Ich schlafe mit einem Mann, der mich nervt, weil der, für den mein bescheuertes Herz schlägt, nur mit mir spielt ...“

„Also du schläfst mit Alex, obwohl du Marvin willst?“

„Gut kombiniert! Das ist die Kurzfassung ...“

„Und die lange Fassung?“, frage ich weiter.

Ich weiß nicht, ob es mich etwas angeht, aber Josie ist ein offener und direkter Mensch. Wenn sie nicht darüber reden will, wird sie es mir zu verstehen geben.

„Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung ... Bekomme bitte kein falsches Bild von mir. Ich bin niemand, der mit jedem ins Bett springt. Aber Alex, er ist ... Er lenkt mich von Marvin ab. Das klingt so bescheuert.“

Kopfschüttelnd wendet sie sich ab. Ich glaube, Tränen in ihren Augen erkannt zu haben.

„Wie war das mit dem Eis und dem Heulen?“

„Ich mag dich jetzt schon.“, erwidert sie lächelnd.

In meinem Kopf keimen Zweifel auf. Wenn sie mich näher kennenlernt, wird sie ihre Meinung ändern.

„Ich werde schon jemanden finden, der zu mir passt. Und du genauso!“

„Sicher.“, stimme ich ihr nicht ganz so enthusiastisch zu.

Josie deutet auf einen zweitürigen Kleiderschrank. Er scheint perfekt. Doch gleichzeitig wird mir klar, dass ich von nun an auf mich selbst gestellt bin. Ich musste noch nie Möbel kaufen, eine Wohnung mieten oder ein Zimmer einrichten. Als ich vor Jahren von zuhause aus und bei Thomas einzog, waren alle Möbel bereits vorhanden. Nun muss ich selbst diese Entscheidungen treffen und ich habe Angst davor, das Falsche zu tun.

„Ich nehme den Schrank und das Bett von vorhin ...“

Josie klatscht jubelnd in die Hände, ich hingegen bin verunsichert. Wie in Trance packe ich noch ein paar Kleinigkeiten in den Einkaufswagen. Bettwäsche, Nachtlampe, ein Teppich und ein Bild – ein großes, rechteckiges Foto von den Mondphasen auf schwarzem Hintergrund. An der Kassa bezahle ich mit einem Kloß im Hals und kurz darauf verladen wir alles ins Auto. Ich muss die hinteren Sitze umlegen, damit die Möbel hineinpassen. Sie ragen aus dem Kofferraum raus, doch Josie schafft es, sie anständig festzugurten, und wir fahren zur Wohnung zurück.

Es ist bereits nach Mittag, als wir zuhause ankommen.

„Hey. Alles in Ordnung? Du warst auf einmal so still.“

„Ich bin es nur nicht gewohnt, ach keine Ahnung ...“

Ich verstehe es selbst nicht. Es fällt mir schwer, mich anderen gegenüber zu öffnen und obwohl ich Josie kaum kenne, weiß sie schon mehr, als mir lieb ist. Dabei ist sie nicht einmal aufdringlich. Ich unterhalte mich gern mit ihr und das verwirrt mich.

„Hast du Hunger?“

Froh darüber, dass sie nicht weiter nachhakt, nicke ich.

Nachdem wir eine „Gehört Ananas auf eine Pizza?“-Diskussion beendet haben, bestellen wir zwei Pizzen und beginnen mit dem Aufbau. Erst kümmern wir uns um den Schrank, der uns ziemlich herausfordert. Dennoch lockert sich mit der Zeit die Stimmung. Dank Josie sind die beängstigenden Gedanken verschwunden. Wir unterhalten uns nebenbei über Alltägliches und ich habe keine Angst, etwas Falsches zu sagen. Das ist ebenso ungewohnt, wie beruhigend.

Ich frage mich, wie sie das macht, wie sie es schafft, so eine angenehme Atmosphäre zu erschaffen.

Nach zweieinhalb Stunden haben wir die Pizza aufgegessen und den Schrank erfolgreich aufgebaut. Schnell wird klar, dass der Zusammenbau des Bettes noch nervenaufreibender ist. Nicht zu fassen, dass ein Möbelstück einem derart den Nerv rauben kann. Wir haben gefühlt zu wenige Hände, um alle Teile zusammenzufügen.

„Das ist doch nicht möglich“, seufzt Josie nach unzähligen missglückten Versuchen aus der Anleitung schlau zu werden und lässt sich gegen die Wand sinken, „Ich kann echt nicht mehr. Wenn das so weiter geht, werden wir nie fertig. Ich rufe Samuel an …“

Ich drehe eines der Bretter in meiner Hand hin und her und versuche herauszufinden, welche Seite die Richtige ist.

„Ich krieg das schon hin.“, beteuere ich hartnäckig.

Selbst wenn ich noch eine Nacht ohne Bett verbringe, ich frage keinen Mann um Hilfe.

„Fiona, es ist halb fünf. Ich muss noch einiges vorbereiten. Wir wollen später grillen. Ich bitte dich, lass mich meinen Bruder anrufen.“

„Danke für deine Hilfe. Du kannst gern gehen. Ich komme schon klar.“

Sie sieht nicht überzeugt aus, dennoch stemmt sie sich hoch und verlässt seufzend das Zimmer.

Natürlich komme ich nicht klar. Allein ist es fast unmöglich. Das Brett anzuschrauben, ohne das jemand das andere Teil hält, ist unrealistisch. Fluchend sinke ich auf meine Knie.

2

Mama hat wieder ihren kurzen, schwarzen Rock an. Oma sagt oft, dass er wie ein Gürtel aussieht. Ich finde ihn auch nicht schön. Denn wenn sie den trägt, hauen ihr oft Männer auf den Po und sie quiekt dann immer so komisch.

Als es an der Tür klingelt, springt sie auf. Ich wusste nicht, dass Besuch kommt.

„Das wird Rene sein, er kann uns helfen!“, jubelt sie.

Ein Mann steht in der Tür. Er lacht, bis er mich sieht, dann wird sein Gesicht ernst. Ich strecke ihm die Zunge raus, verstecke sie aber schnell wieder im Mund. Wenn Mama das bemerkt, schickt sie mich ins Zimmer, dann bin ich allein.

Wir hatten es gerade so schön. Mit Kerzen, Keksen und Musik haben wir uns auf den Boden gesetzt und Mama hat versucht meinen Kasten aufzubauen, es aber nicht geschafft. Die Wohnung, in der wir jetzt leben, ist noch leer, doch das stört mich nicht. Wenn man singt, hallt es so schön, man kann super fangenspielen und ich liebe das Höhlebauen und Picknicken im Wohnzimmer. Ich brauche keine Möbel.

„Ich dachte, du hast einen Notfall?“, fragt der Fremde.

Mama macht ein komisches Gesicht und streichelt seine Wange. Das gefällt mir nicht.

„Ich brauche einen starken Mann. Allein schaffe ich das nicht. Bitte hilf mir!“

Ich bekomme ein komisches Gefühl im Bauch, wenn sie ihn so ansieht. Das mag ich nicht.

„Mama?“, frage ich vorsichtig.

Sie nimmt den Laptop von der Fensterbank und überreicht ihn mir, ohne herzusehen.

„Hier, schau dir deine Lieblingsserie an. Rene und ich bauen jetzt den Kasten zusammen. Damit du was Schönes hast. Hörst du? Du wirst dich freuen.“

Ich will nicht gehen, doch Mama beachtet mich nicht weiter. Sie zieht den Mann zu sich und küsst ihn. Das finde ich ekelig und ich laufe in mein Zimmer. Dort warte ich, bis Mama mich wieder holt.

„Hey, ich habe gehört, hier werden starke Arme benötigt.“

Ein Seufzer entkommt mir, als ich Bens Stimme vernehme. Frustriert stehe ich wieder auf und wische mir über die Augen. Ein paar Tränen konnte ich nicht zurückhalten. Hilflosigkeit bringt mich jedes Mal zum Heulen. Trotzdem will ich mir nicht helfen lassen. Irgendetwas in mir sträubt sich dagegen.

„Nein, danke. Ich komme klar.“

Dennoch nimmt er die Anleitung in die Hand. Ich kann nicht anders und blicke hoch. Mir fällt sofort auf, wie attraktiv er an diesem Tag wieder aussieht. Die helle, tiefliegende Jeans und das schwarze Shirt dazu stehen ihm viel zu gut. Ich lasse meinen Blick über seine starken Unterarme schweifen. Aus irgendeinem Grund finde ich sie bei Ben besonders sexy.

Er kommt einen Schritt näher und ich rieche sein Parfum. Als sich unsere Blicke treffen, verengen sich seine Augen. Vermutlich sind meine Lider noch gerötet. Ich sehe schnell weg und versuche mich von seiner Erscheinung nicht weiter ablenken zu lassen. Er ist nur ein schöner Mann, mehr nicht.

„Sei mir nicht böse, aber es sieht nicht danach aus.“

Es ist das erste Mal, dass ich ernsthaft in Erwägung ziehe mir eine andere Wohnung zu suchen. Ich bin es gewohnt Einzelgänger zu sein und dass ständig jemand ungefragt in mein Zimmer kommt, überfordert mich. Mit zusammengepressten Lippen, um nichts Unüberlegtes zu sagen, reiße ich ihm die Anleitung aus den Händen.

„Kann es sein, dass du ziemlich stur bist?“, fragt er sichtlich amüsiert. Auf seinen Lippen liegt ein Schmunzeln.

„Kann es sein, dass du gern große Sprüche klopfst?“

Ich rechne nicht mit einer Antwort und werde überrascht.

„Ja. Das kann sein.“

Sein Lächeln wird breiter, bevor er sich dem Bett zuwendet und einige Schrauben löst.

„Was machst du da?“, frage ich entsetzt.

Das war so viel Arbeit und er macht sie wieder zunichte.

„Wonach sieht es aus?“

Ich gebe auf. Es würde mich mehr Kraft kosten, ihn aus dem Zimmer zu bugsieren, als ihn werken zulassen. Aber mir ist auch bewusst, dass manche Männer eine Gegenleistung verlangen. Bei dem Gedanken wird mir ganz flau.

„Und keine Angst. Ich will nicht dafür bezahlt werden.“, sagt er mit Blick auf die Anleitung. „Außer du lässt mich Probeliegen. Ich hätte nichts dagegen.“

Die Bilder, die in meinem Kopf auftauchen, lassen mich zurücktaumeln. Als Kind habe ich es nicht verstanden, aber jetzt als Erwachsene weiß ich, wie sich Mama damals für die Hilfe revanchiert hat. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.

Ben beachtet mich nicht weiter, liest und schraubt und steckt Teile zusammen. Manchmal flucht er auch. Ich beobachte ihn aus sicherer Entfernung und versuche dabei nicht durchzudrehen. Er hat eine gewisse Coolness, die nicht gezwungen wirkt. Seinen Charakter kann ich noch schwer einschätzen. Zugegebenermaßen habe ich auch nicht sonderlich erwachsen reagiert, bei unserem ersten Treffen.

Wenn ich ehrlich bin, verhalte ich mich idiotisch, sobald er in meiner Nähe ist. Er macht mich nervös, dabei sollte es mir egal sein, was er von mir hält. Wir kennen uns nicht und ich bin auch nicht auf ihn angewiesen. Außer vielleicht in diesem Moment ...

„Fiona?“

Mein Blick schnellt hoch. Ich bin gedanklich abgedriftet.

Ben sieht mich fragend an. „Ich schaff das nicht alleine ...“

Er versucht ein Seitenteil anzuschrauben, doch es braucht zwei weitere Hände, um es zu fixieren.

„Oh, ja tut mir leid ...“.

Schnell greife ich danach und folge seinen Anweisungen.

Mit Josie war es lustig und chaotisch. Zwischen Ben und mir ist es still, aber angenehm. Wir reden kaum, arbeiten Hand in Hand. Ich weiß instinktiv, was er braucht, bevor er es sagt. Als ich das nächste Mal auf die Uhr blicke, sind zwei Stunden rum und das Bett ist aufgebaut. Es fehlen nur noch der Lattenrost und die Matratze. Auch dabei hilft er mir ungefragt.