All die Farben um mich herum - Katharina Ferihumer - E-Book

All die Farben um mich herum E-Book

Katharina Ferihumer

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Beschreibung

"Ich habe diesen Schmerz in deinen Augen gesehen und er kommt mir bekannt vor ..." Was Josie am meisten fürchtet, ist die Einsamkeit, das Gefühl verlassen zu werden. Die Wunden ihrer Vergangenheit sind noch zu schmerzhaft, um sie zu vergessen. Sie spielt ihre Rolle als Partygirl, versteckt sich hinter den buntesten Farben und einem strahlenden Lächeln - immer darauf bedacht ihre Verletzlichkeit zu verbergen. Doch dann tritt er in ihr Leben: Ein Mann der sich nicht von ihrer Fassade blenden lässt. Seine Nähe ist gefährlich, denn er könnte die Mauern einreißen, die sie so mühsam errichtet hat. Gleichzeitig ist er der Einzige, der ihre Gedanken für eine Weile zum Stillstand bringt.

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Seitenzahl: 486

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ich will auffallen,

nicht tief fallen,

will in bunten Farben leuchten,

statt mein Licht zu verstecken.

Will meine Dunkelheit verbergen,

sie niemandem zeigen.

Bis jemand kommt,

der meine Mauern niederreißt.

Für dich!

Bleib so, wie du bist.

Ob laut, schrill, bunt,

ruhig, gelassen, unauffällig,

oder alles auf einmal ...

Es ist dein Leben.

Und nur deines!

Der perfekte Song zu diesem Buch: Colors, d-freq

Bester Ort und Zeit dafür: Auf der Sonnenliege mit einem Cocktail in der Hand

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.Die Triggerwarnung findet ihr auf der letzten Seite.Achtung: Spoiler!

Ich wünsche euch viele emotionale Lesemomente.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1 Jahr später

Prolog

Liebe Eltern,

Wenn ihr das lest, bin ich schon weg. Wahrscheinlich ist es euch gar nicht aufgefallen und die Putzfrau hat diesen Brief gefunden. Aber, egal. Ihr seid ja ohnehin nie da und wenn doch ignoriert ihr mich. Alles andere ist wichtiger als ich.

Immer, wenn ich

Nichts ist gut genug, alles, was ich mache wird kritisiert. Und wenn ich euch etwas erzählen will oder eure Hilfe brauche, habt ihr Besseres zu tun.

Manchmal frage ich mich, warum ihr mich nicht zur Adoption freigegeben habt. Dann wäre es für uns alle einfacher. Ihr hättet ein schönes Leben mit Samuel dem Goldlöckchen und ich vielleicht eine Familie, die sich für mich interessiert.

Ich weiß, dass ich viel falsch mache, dass ich nicht so klug bin wie Samuel und nicht so lange stillsitzen kann.

Und manchmal kommt mir eben ein Lachen aus ...

Ich habe wirklich versucht euch stolz zu machen, aber ich schaffe es nicht.

Wie schafft ihr es nur, so perfekt zu sein?

Ich bin anscheinend nicht die richtige Tochter für euch. Und nun habt ihr eine Last weniger.

Wenn ich irgendwann gut genug bin, komme ich zurück und mache euch stolz.

JosefaJOSIE

Kapitel 1

„Das war die dümmste Idee, die du je hattest!“.

Zoe schnaubt frustriert. Sie hält die bunte Lichterkette hoch, damit ich sie an der Außenmauer befestigen kann.

Die dumme Idee, von der meine Mitbewohnerin spricht, ist eine Party. Und ich finde sie gar nicht mal schlecht. Eigentlich war ich bislang sogar ziemlich überzeugt davon. Doch Zoe verunsichert mich.

„Du siehst zu viele Liebesfilme. Er wird sich nicht in dich verlieben, nur weil du ihn auf deine Party einlädst.“

Ich steige von der Leiter und strecke ihr dabei die Zunge raus. Sie lacht nur.

„Ich will ihm auffallen. Und das gelingt mir hier sicher leichter als im Club.“

„Und dann?“ Zoe gibt nicht auf.

„Dann unterhalten wir uns und er streicht mir eine lose Strähne hinters Ohr und ...“

„Oh mein Gott, Josie. Wann bist du so kitschig geworden?“

Tja, wann wohl? In dem Moment, in dem ich Marvin verfallen bin. Seitdem kann ich nicht mehr klar denken.

Zoe seufzt schwer und verschwindet im Haus. Sie war die letzten Tage schon irgendwie komisch drauf. Vielleicht nerve ich sie mit meinem Gejammer über Marvin.

Ich lasse mich auf die Bank sinken und betrachte die Dekoration, die mich fast zwei Stunden meiner Zeit gekostet hat. Thema: Sommerbeginn. Lichterketten, Muschelketten, Kokosschalen als Kerzenhalter und Lampions. Außerdem werden Cocktails gemixt und es wird gegrillt. Zwar habe ich noch keinen Freiwilligen dafür gefunden, aber ich bin optimistisch. Mein Bruder Samuel schuldet mir einen Gefallen. Immerhin habe ich seine letzte Schicht im Club übernommen.

Als es klingelt, schrecke ich hoch. Ich war völlig in Gedanken versunken. In der Hoffnung auf meine ersten Gäste laufe ich zur Tür, doch als ich sie öffne, steht ein Unbekannter vor mir.

„Hi. Ist Zoe hier?“

Ein schlanker, großer Mann grinst mich an. Sein Lächeln ist frech, schon fast verwegen. Er lässt seinen Blick über mein tief ausgeschnittenes Dekolletee wandern, bevor er mir wieder in die Augen sieht. Ich habe alle Register gezogen und offenbar zeigt es die gewünschte Wirkung. Hoffentlich auch bei Marvin.

„Sie müsste oben im ...“

Weiter komme ich nicht. Der Fremde verschafft sich Zutritt und eilt ungefragt die Treppen hinauf. Ich folge ihm fluchend.

„Hey, warte! Du kannst nicht einfach ...“

Ich werde schneller, als ich bemerke, dass er auf mein Zimmer zusteuert. Bevor ich noch etwas sagen kann, hat er schon die Tür geöffnet und bleibt abrupt stehen.

„Wow.“, murmelt er bloß.

Ich ziehe ihn zurück in den Flur und lasse die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen.

„Das ist nicht ihr Zimmer.“

Sein Grinsen wird breiter. Kein Wunder bei dem, was er vermutlich gesehen hat. Auf meinem Bett sind all meine Dessous ausgebreitet. Ich konnte mich noch nicht entscheiden. Doch ich will vorbereitet sein. Für den Fall.

Der Fremde lässt erneut seinen Blick über mein Dekolletee gleiten, dabei fallen ihm seine blonden Haare in die Stirn. Er könnte sich ruhig mal einen neuen Haarschnitt gönnen. Sie sind viel zu lang und unordentlich für meinen Geschmack.

„Alex!“

Zoe kommt aus ihrem Zimmer gestürmt und bleibt abrupt stehen, als sie mich erblickt.

„Was ...?“ Ihr Blick wandert irritiert zwischen uns hin und her.

„Hey Sister!“, begrüßt er sie lachend und zieht sie in eine Umarmung.

Das ist also der ominöse Bruder, von dem sie manchmal erzählt. Alex, der Komiker, Alex, der Charmeur, Alex, der nichts ernst nimmt ...

„Warum bist du hier?“, fragt sie gereizt.

„Du hast gar nicht erwähnt, dass er vorbeikommt.“, mische ich mich ein.

Zoe wirft mir nur einen angestrengten Blick zu, dann zerrt sie Alex wortlos in ihr Zimmer. Für einen Moment bleibe ich verwirrt zurück. Zoe ist sehr verschlossen, wenn es um ihre Familie geht. Ich weiß so gut wie nichts über ihre Eltern und selbst ihren Bruder erwähnt sie nur selten. Dafür kennt sie all meine Geheimnisse und Geschichten. Ich kann mich da leider schwer zurückhalten. Manchmal hätte ich wohl besser die Klappe gehalten. Aber ich spreche, bevor ich denke. Mein Mundwerk hat mir schon einiges an Ärger eingebracht.

Gedankenverloren gehe ich in mein Zimmer, suche mir spontan ein schwarzes, sexy Dessous heraus und werfe den Rest in die oberste Lade meiner Holzkommode. Dieses Möbelstück passt so gar nicht zu den anderen. Doch es ist das Einzige, was mir von meiner Oma geblieben ist. Sie war der Halt in meiner Kindheit und der einzige Mensch, der mich wirklich verstand. Als sie starb, war nichts mehr wie zuvor.

Ein Klingeln reißt mich aus meinen Gedanken. Endlich. Etwas Ablenkung habe ich dringend nötig. Ich schlucke schwer, verdränge die aufkeimende Traurigkeit und laufe nach unten.

Samuel steht mit einem mürrischen Ausdruck vor der Tür. „Party?“ Er rollt mit den Augen, als wolle er seine Worte noch mit seiner Mimik unterstreichen.

„Du magst das doch!“

„Gemütliches Zusammensitzen. Ein paar Bier, ein bisschen Grillen ... Aber eine Party?“

„Da gibt es nicht viel Unterschied!“, beharre ich und ziehe ihn in meine Wohnung.

„Ben kommt gleich noch. Er bringt Paul mit.“

Samuel geht durch die offene Wohnküche hindurch zur Terrasse. Ich höre sein Seufzen, als er die Deko erblickt. Seine Stimmung überträgt sich auf mich. So war es schon immer.

„Hey Josie!“

Ben kommt die Treppe hoch. Seine dunklen Haare stehen in alle Richtungen. Zur Begrüßung streiche ich sie mit einer Hand glatt. Sie sind nass.

„Hey, lass das!“, beschwert er sich und zieht mich in eine kurze Umarmung.

Ben ist wie ein Bruder für mich. Wir stehen uns nahe, albern herum und sind füreinander da. Manchmal wünschte ich, es wäre mit Samuel genauso unbefangen und einfach.

„Wir kommen vom Training.“, erklärt er notdürftig und zeigt auf seinen Begleiter, der plötzlich hinter ihm auftaucht.

Ich habe Paul schon ein paar Mal in dem Fitnessstudio gesehen, in dem Ben arbeitet. Wir haben uns einmal kurz unterhalten. Er scheint ganz nett zu sein. Eingeladen war er zwar nicht, aber Ben weiß, dass meine Tür für Freunde und auch deren Freunde immer offensteht.

„Er hatte einen miesen Tag und ich dachte ...“

„Kein Problem. Ich freue mich über neue Leute.“

Paul grüßt mich zögernd. Er überragt Ben um einiges. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, um ihn ansehen zu können. Er sieht tatsächlich ziemlich geknickt aus.

„Eine Frau?“, frage ich vorsichtig.

„Kann man so sagen. Ein bisschen Ablenkung wäre ganz nett. Ich habe leider so kurzfristig nichts mehr besorgen können, aber ich bin Grillmeister, falls das hilft ...“

Ben zwinkert mir zu, bevor er sich mit den Chips, die er kaufen sollte, Richtung Terrasse bewegt.

„Das ist perfekt. Ben zeigt dir alles. Fühl dich wie zuhause!“

Meine Stimmung wird noch besser als Musik aus dem Garten ertönt. Das Glück an dieser Wohnung ist, dass die Vermieterin, der das Haupthaus gehört, kaum hier ist. Den Garten kann ich vollends nutzen und die Lage am Stadtrand ist perfekt. Ich bin hier völlig ungestört und kann tun und lassen, was ich will. Und das ist meistens laut, schräg und immer mit vielen Leuten verbunden. Ich hasse es, alleine zu sein. Wenn die anderen mitspielen würden, wäre die gesamte Clique in einer großen WG untergebracht. Aber sie wollen alle ihren Rückzugsort. Das konnte ich noch nie nachvollziehen.

Während ich den Salat durchmische, schwinge ich meine Hüften zu dem Song, der gerade läuft. Ich höre ein Lachen aus dem Garten. So liebe ich das. Genau so.

Beinahe hätte ich dabei das Klingeln überhört. Ich eile zur Tür und erblicke eine Menschentraube. Allen voran Andrea und Marie, die Zwillinge, wie immer perfekt gestylt. Sie begrüßen mich kurz und gehen durch. Sie kennen den Brauch.

Melanie kommt zum Vorschein. Sie ist das komplette Gegenteil. Ruhig, sanftmütig, kaum geschminkt, beinahe unsichtbar. Ihr Lächeln wirkt aufgesetzt.

Ich mag sie, doch manchmal triggert mich ihre Schüchternheit. Vor allem, wenn ich keine Zeit dafür habe, sie an die Hand zu nehmen. Denn in diesem Moment habe ich nur Augen für ihn. Marvin. Deshalb bemerke ich seine Begleitung auch erst beim zweiten Blick. Sie hält seine Hand und lächelt breit.

Ich hasse sie auf Anhieb. Dabei kann sie nichts dafür. Sie ist ihm genauso verfallen, wie ich. Strahlend überreicht sie mir eine Schüssel mit grünem Inhalt.

„Hallo. Danke für die Einladung. Ich habe etwas mitgebracht.“

Ihre Stimme ist sanft. Alles an ihr ist sanft und unscheinbar. Sie wirkt wie ein Reh in Begleitung eines Wolfes. Marvin ist ein bis oben hin tätowierter Kerl, der mit einem Blick das Höschen feucht werden lässt. Er ist wild, verwegen, sexy und braucht eine Frau, die ihm ebenbürtig ist.

„Oh, danke. Wie nett von dir.“

Ich schlucke schwer, versuche mich in einem Grinsen.

„Guacamole. Letizia macht die Beste.“, erklärt Marvin und sieht dabei ziemlich stolz aus.

Ich habe das Gefühl gleich brechen zu müssen.

„Ja, super. Kommt doch rein.“

„Bring es schon mal in die Küche, Süße. Ich muss mich noch kurz mit Josie unterhalten.“, fährt er fort.

Ihr Blick wandert irritiert zwischen uns hin und her. Da lockert ausgerechnet Melanie die peinliche Situation.

„Hey, komm. Ich zeige dir, wo es langgeht.“

Sie hakt sich bei Letizia unter und führt sie durch die Wohnung. Ich sehe ihr nach, bis sie außer Sichtweite ist. Als ich meinen Blick wieder Marvin zu wende, liegt seine Stirn in Falten.

„Ich war erst nicht sicher, ob ich kommen soll. Ich will nicht, dass du dir Hoffnungen machst. Du bist echt süß und so.“ Sein Blick wandert über mein Dekolletee. Er seufzt schwer und ich bekomme Panik. Das läuft absolut nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. „Ich fühle mich ja geschmeichelt, dass du ...“

Marvins Blick wird von etwas hinter mir abgelenkt. Ich drehe mich um. Alex kommt die Treppe herunter. Ausgerechnet jetzt. Es könnte nicht peinlicher werden.

„Hi.“, grüßt Marvin stirnrunzelnd.

Es scheint ihn zu irritieren, dass Alex von oben kommt. Woher sollte er auch wissen, dass ich eine Mitbewohnerin habe.

„Auch hi.“, brummt dieser mit verengten Augen.

„Darf ich vorstellen. Alex, mein Freund.“

Es kam so schnell über meine Lippen, dass ich selbst überrascht bin. Doch es ist die einzige Möglichkeit, unbeschadet aus dieser Lage herauszukommen. Er soll mich nicht für ein gefühlsduseliges Mädchen halten. Mein Herz pocht wie verrückt. Wenn er jetzt nicht mitspielt, bin ich verloren. Doch zu meiner Überraschung legt er einen Arm um mich.

„Und du bist?“

Er mimt den misstrauischen Freund. Das gefällt mir.

„Marvin. Josie und ich kennen uns vom Club. Ich wusste nicht, dass ...“ Er sieht mich überrascht an und ich halte instinktiv die Luft an. „Das ist gut. Freut mich ...“, murmelt er abwesend und zeigt in Richtung Küche. „Ich suche mal meine Freundin.“

Er verschwindet und ich winde mich peinlich berührt aus Alex´ Griff.

„Oh, Shit. Danke. Ich bin dir etwas schuldig.“ Ich sehe ihm in die Augen. „Dass du so schnell mitgespielt hast ...“

Ich habe ein Grinsen erwartet, stattdessen mustert er mich eingehend.

„Ich wollte nicht lauschen, habe aber gehört, was er zu dir gesagt hat. Er spielt mit dir. Dich auf deiner Party so vorzuführen, ist echt nicht okay.“

Unschlüssig, was ich darauf antworten soll, zucke ich nur mit den Schultern. Da hören wir eine Stimme.

„Alex.“ Zoe, schon wieder.

Sie wirft ihrem Bruder einen missbilligenden Blick zu, während sie die Treppe herunter kommt.

„Also danke nochmal. Du kannst gern zur Party bleiben.“

Die Stimmung wird mit jedem Schritt, den seine Schwester näher kommt, erdrückender. Ich drehe mich um und entfliehe dieser seltsamen Situation.

In der Küche greife ich nach dem Salat und der Sauce und bringe beides hinaus in den Garten. Die Musik hebt meine Laune augenblicklich. Irgendwie bekomme ich das schon hin. Vielleicht ist es auch gar nichts Ernstes mit Letizia.

Mein Blick schweift über die Gästeschar und ich bin zufrieden. Sie scheinen sich alle wohl zu fühlen. Samuel mixt ein paar Getränke und Paul steht tatsächlich am Grill. Somit wäre dieses Problem auch gelöst.

Ich geselle mich zu Melanie, die etwas abseits sitzt und verwickle sie in ein Gespräch. Sie ist schüchtern und fühlt sich in Menschenmengen unwohl. Deshalb plaudere ich meist mit ihr, bis sie ein wenig auftaut. Sie ist etwas eigen, was das betrifft und so sehr ich sie auch mag, so sehr triggert es mich. Sie lässt sich nicht von Äußerlichkeiten beeinflussen, sie hält sich im Hintergrund, will nicht auffallen. Ich kann das nicht. Die Angst unterzugehen, nicht gesehen zu werden, lässt mich oft verrückte Dinge tun. Ich wünschte, es wäre mir schlichtweg egal, was andere von mir denken.

„Das vorhin war komisch, oder?“ Melanie nickt kaum merklich in Marvins Richtung, der gerade seinen Arm um Letizia legt.

„Ja, oder? Bringt seine Freundin mit und dann schickt er sie weg. Danke, dass du sie begleitet hast. Als wir alleine waren, wurde es erst richtig schräg.“

„Was wollte er denn?“

„Mir klar machen, dass er eine Freundin hat.“

„Dann sollte er aufhören, ständig auf dein Dekolletee zu starren.“

Ich seufze schwer.

„Manche Männer muss man nicht verstehen ...“

„Aber es wäre gut, wenn man es könnte.“

Ihr Blick gleitet in die Ferne.

„Alex, Zoes Bruder hat so getan, als wäre er mein Freund. Das hat mir einen peinlichen Moment erspart. Diesen Schwindel muss ich wohl den ganzen Abend lang aufrecht erhalten.“

„Da hättest du es schlimmer treffen können, oder nicht?“

Sie grinst und deutet mit einem Nicken zu ihm hin. Er hat sich zu Ben gesellt und plaudert mit ihm, als wären sie schon ewig befreundet. Er fügt sich in die Gruppe ein, als wäre er ein Teil davon. Das können nicht viele. Ich mustere ihn aus der Ferne und kann Melanie nicht wirklich zustimmen.

„Ich stehe mehr auf Typen wie Marvin. Tätowiert, breitschultrig, ein bisschen verwegen. Alex scheint ganz nett zu sein, aber im Club würde ich ihn nicht einmal eines Blickes würdigen.“

Ich wechsle das Thema, kann aber nicht aufhören, immer wieder zu Marvin hinzusehen. Dabei versuche ich seine Beziehung mit Letizia zu analysieren. Jeden seiner Blicke, jede Berührung nehme ich schmerzhaft wahr. Wie gern wäre ich jetzt an ihrer Stelle.

Irgendwann ruft Paul zum Essen auf, was einen Jubelschrei von Ben und Samuel nach sich zieht. Wir bedienen uns alle am Grill und setzen uns an den Tisch. Ich freue mich, dass auch Zoe und ihr Bruder mit dabei sind. Alex nimmt neben mir Platz. Und ausgerechnet Marvin sitzt mir gegenüber. Ich darf mir nicht anmerken lassen, wie sehr es mich schmerzt, ihn mit dieser anderen Frau zu sehen. Sie turteln herum, wie idiotische Teenager und ich werde den Verdacht nicht los, dass er es absichtlich darauf anlegt. Denn nach jedem Kuss wirft er mir einen Blick zu und sieht mich herausfordernd an.

Vielleicht sollte ich mitspielen, die Täuschung aufrecht erhalten, aber ich habe keine Lust mit Alex zu flirten. Ein nettes Gespräch und ein paar kleine Lacher müssen genügen.

Als wir mit dem Essen fertig sind, räume ich den Tisch ab. Andrea hilft mir. Das macht sie nur, wenn sie etwas von mir will. Ich schätze sie sehr, doch manchmal ist sie ziemlich berechenbar. Vor allem seit sie in Ben verliebt ist.

„Steht irgendein Spiel am Plan?“, fragt sie neugierig und stellt die Teller am Tresen ab.

„Eigentlich nicht.“

Ihr Blick schweift nach draußen zu Ben. Er unterhält sich mit Paul. Sein charmantes Grinsen hat schon viele Frauenherzen schwach werden lassen. Ich kann sie verstehen. Um so mehr schmerzt es mich, dass ich auch Bens Gefühle kenne.

Warum nur verlieben wir uns immer in Menschen, die unsere Liebe nicht erwidern?

„Ich dachte nur, vielleicht können wir ...“ Die restlichen Worte bleiben unausgesprochen.

Andrea ist eine der taffesten Frauen, die ich kenne. Sie sagt, was sie denkt, ist mutig und steht gerne im Mittelpunkt. Mit ihrer blonden Mähne und ihren schlanken, langen Beinen fällt sie jedem Mann sofort auf. Doch kaum geht es um Ben, wird sie zu einer ängstlichen Version ihrer selbst.

„Andrea, ich kenne ihn. Er will keine Freundin.“

Ihr Blick zuckt zu mir. In ihren Augen erkenne ich denselben Schmerz, den ich auch fühle, wenn es um Marvin geht. So etwas verbindet.

„Marvin hat also eine Freundin?“, lenkt sie das Gespräch auf mich.

„Anscheinend.“

„Dennoch sieht er dich ständig an. Denkst du, er spielt mit dir?“

Als ich meinen Kopf hebe und nach draußen sehe, treffen sich unsere Blicke. Er lächelt. Dieser Arsch. Er spielt eindeutig mit mir. Und doch klopft mein Herz schneller.

„Wer sind die Neuen?“, will sie schließlich wissen und ich löse widerwillig meinen Blick von Marvin.

„Paul, der gegrillt hat, ist Bens Arbeitskollege. Er scheint ganz nett zu sein. Und Alex ist Zoes Bruder. Er hat mich heute schon aus einer misslichen Lage gerettet. Also falls wir dir ziemlich vertraut vorkommen, dann deshalb, weil Marvin glaubt, er wäre mein Freund.“ Ich kann nur hoffen, dass Alex mich nicht plötzlich auffliegen lässt.

Andrea juchzt. So etwas gefällt ihr und das könnte gefährlich werden.

„Meinst du, das funktioniert bei Ben auch? Wenn ich ihn eifersüchtig mache?“

Dafür müsste er Interesse an dir haben, denke ich mir. Ich will sie aber nicht verletzen. Es gab da einen Kuss zwischen den beiden auf einer meiner Partys. Seitdem ist nichts mehr gelaufen. Für Ben ist es abgehakt, für Andrea nicht.

Wir gehen wieder nach draußen. Die Musik wird laut aufgedreht, wir trinken Cocktails und manche von uns tanzen. Ich hingegen sitze auf der Bank und beobachte Marvin, wie er um Letizia herumschwänzelt. Ich frage mich, was er an ihr findet. Wenn das sein Typ Frau ist, habe ich ohnehin keine Chance.

„Er spielt nicht fair.“, höre ich Alex neben mir. Er setzt sich. Sein Blick gilt der Gruppe. „Ich glaube, er versucht dich aus der Reserve zu locken. Keine Ahnung, was ihm das bringt.“

Ich antworte nicht. Stattdessen mustere ich ihn von der Seite. Seine Haut ist makellos, er ist rasiert und wirkt dadurch jünger, als er vermutlich ist.

„Stehst du auf solche Typen? Auf dieses Bad-Boy-Macho-Gehabe?“, versucht er es weiter.

Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu, den er nur mit einem Augenrollen erwidert. Also stehe ich auf und drehe eine Runde. Dabei nehme ich ein paar leere Gläser mit und bringe sie in die Küche. Die Party war ein Fehler. Ich hätte ihn niemals einladen sollen. Darauf war ich nicht vorbereitet. Es ist nicht leicht, zu lächeln, wenn man eigentlich heulen möchte.

„Also, Alex scheint ein netter Kerl zu sein. Ist das was Ernstes zwischen euch?“

Erschrocken drehe ich mich um. Marvin steht vor mir. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht deuten.

„Ist es denn bei euch ernst?“, stelle ich die Gegenfrage.

Sein Blick gleitet kurz nach draußen.

„Kommt drauf an, was sich bietet ...“

Mit offenem Mund starre ich ihn an. Glaubt er ernsthaft, ich würde mich für so etwas hergeben?

„Hey, alles klar bei euch?“

Alex steht in der Tür. Sein misstrauischer Blick gilt Marvin, der ein nervöses Lächeln aufsetzt.

„Ja, klar. Ich wollte nur helfen.“

Alex kommt näher. Er packt mich und zieht mich forsch an sich. Bevor ich etwas erwidern kann, liegen seine Lippen auf mir. Sie sind weich, sein Kuss allerdings ist fordernd. Ich keuche auf. So schnell, wie er mich gepackt hat, so schnell lässt er mich auch wieder los. Ich fühle mich überrumpelt, darf mir aber nichts anmerken lassen.

„Sie gehört zu mir. Ich hoffe, das ist dir klar?“

Seine Stimme ist ruhig, dennoch weicht Marvin zurück.

„Beruhige dich. Ich habe selbst eine Freundin.“

„Bist du sicher?“ Alex verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust. „Lass uns einen Moment allein!“

Ich setze ein hoffentlich überzeugendes Lächeln auf, obwohl mein Herz noch immer rast. Als wir unter uns sind, boxe ich Alex gegen die Schulter.

„Spinnst du?“

Mein Blick gleitet nach draußen. Niemand sonst scheint uns zu beachten.

„Gern geschehen!“ Sein Grinsen macht mich nur noch wütender. „Du musst besser schauspielern, wenn er keinen Verdacht schöpfen soll.“, fügt er lässig hinzu und nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

„Oh, ja. Fühle dich wie zuhause!“

Meine patzige Antwort kostet ihn nur ein Lachen.

„Ich bin dein Freund, was sonst?“ Grinsend marschiert er wieder nach draußen.

Ich brauche einen Moment für mich und atme tief durch. Doch dieses miese Gefühl will nicht verschwinden. Ich hasse es, wenn ein Plan nicht funktioniert und dass er so eine Nummer abzieht, hätte ich Marvin nicht zugetraut. Dieser Abend muss enden. Bald.

Als ich den Garten wieder betrete, schleicht Andrea gerade um Ben herum. Ich merke, wie er seine Schultern hochzieht. Er will sie nicht verletzen, doch wenn er nicht bald Klartext mit ihr redet, wird es nur noch schlimmer werden.

Der Rest der Truppe ist guter Laune. Alle unterhalten sich angeregt. Die Stimmung ist ausgelassen und ich versuche mich davon anstecken zu lassen. Dafür muss ich nur Marvin für den Rest des Abends ignorieren. Gar nicht so einfach.

Dabei fällt mir auf, dass Zoe verschwunden ist. Sie geht meist gleich nach dem Essen. Ich wollte sie noch fragen, wie lange ihr nerviger Bruder vorhat zu bleiben. Er fühlt sich hier eindeutig zu wohl.

„Hey, Honey. Komm her!“

Da ruft er schon nach mir. Mir brennt eine scharfe Erwiderung auf den Lippen und doch verlässt kein Wort meinen Mund. Heute lasse ich ihm das durchgehen.

Mit einem aufgesetzten Lächeln schlendere ich zu Alex und lasse mich bereitwillig auf seinen Schoß ziehen. Dabei rutscht mein ohnehin schon kurzer Rock hoch. Seine Hand landet auf meinem Oberschenkel. Dieser Moment ist so intim, dass ich eine Gänsehaut bekomme und mein Atem stockt.

Dennoch wende ich mich Alex zu, lege meinen Arm um seine Schulter und sehe ihn an. Sein Grinsen verebbt und ein Lodern tritt in seine Augen. Er hat wahrlich Talent darin, anderen etwas vorzuspielen.

„Marvin sieht zu uns her.“, flüstert er nur und lässt seinen Blick über mein Gesicht wandern.

Ich schmiege mich noch näher an ihn, stelle mir vor, wir wären ein Paar. Unsere Lippen berühren sich kaum und doch kann ich seinen Atem auf meinen spüren. Ich werde nervös. Mein Herz pocht wie verrückt, als seine Nasenspitze meine streift.

Genauso habe ich mir einen Kuss mit Marvin immer vorgestellt. So voller Spannung und ungeahnter Anziehungskraft. Das hier ist falsch. So falsch.

Bevor ich einen Rückzieher machen kann, landen seine Lippen auf meinen. Dieses Gefühl raubt mir den Atem.

Dieser Kuss ist anders, als der von vorhin. Anders als jeder Kuss, den ich bislang bekommen habe. So voller Ehrfurcht und gleichzeitig mit einer Leidenschaft, die meinen Puls in die Höhe treibt. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen und einen Moment lang, vergesse ich sogar, warum ich das hier mache.

Doch dann beendet Alex den Kuss und streicht sanft mit seinem Daumen über meine Lippen, als wolle er seine Spuren beseitigen. Ich öffne meine Augen und schlucke. Mein ganzer Körper scheint zu vibrieren. So etwas habe ich noch nie erlebt und das macht mir Angst. Kein Mann sollte so eine Macht über mich oder meinen Körper haben.

Ruckartig weiche ich zurück und stehe auf. Ich brauche Abstand. Sofort.

Auch sein Blick verändert sich.

„Nimm mir bitte ein Bier mit!“, ruft er mir nach, als ich in die Küche flüchte.

Ich brauche einen Moment, um mich wieder zu sammeln. Was ist gerade passiert? Die Party war dazu gedacht Marvin näher zu kommen, dabei küsse ich vor seinen Augen einen fast Fremden, der noch dazu die Fähigkeit hat, mich völlig zu verwirren.

Am Tresen lehnend atme ich tief durch. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es erst Mitternacht ist. Noch nie habe ich mir sehnlicher gewünscht, dass eine Party endet.

„Was war das denn?“

Ben betritt die Küche. Verständlich, dass er irritiert ist. Würde mich jemand im Club so behandeln, hätte ich längst die Security gerufen. Und auch sonst bin ich nicht auf den Mund gefallen.

„Er ist Zoes Bruder ...“

„Das erklärt nicht die Szene, die ihr uns gerade geboten habt.“

Mit roten Wangen wende ich mich ab. Was ist nur los mit mir? Ich erröte sonst nie. Ich bin Josie, die Frau, die sich nimmt, was sie will und stolz darauf ist.

„Ich habe die Party nur organisiert, um Marvin näher zu kommen. Dann tauchte er mit dieser ...“ Ich wedle seufzend mit der Hand herum, als würde das alles erklären.

„Und dann hast du die Eifersuchtsnummer abgezogen?“ Ben hebt fragend eine Augenbraue. „Scheint funktioniert zu haben. Marvin hat nur Augen für dich, obwohl er mit seiner Freundin da ist. Aber ehrlich, willst du so jemanden an deiner Seite?“

Ben öffnet den Kühlschrank und holt ein paar Bier heraus. Er hat Recht, aber das will ich nicht hören. Insgeheim freue ich mich, dass Marvin so reagiert, dass es ihn nicht kalt lässt. Auch wenn mein Verstand weiß, dass er mit mir spielt. Gefühle lassen sich eben nicht einfach so abstellen.

„Soll ich die Party beenden? Du scheinst dich selbst zu quälen.“

Ben kennt mich gut. Er ist ein Freund, den ich nicht missen möchte. Er weiß so vieles über mich. Doch etwas habe ich ihm nie anvertraut. Meine Angst vor der Einsamkeit. Wenn die Party endet, bin ich wieder allein. Und dazu bin ich noch nicht bereit.

Kopfschüttelnd nehme ich ihm ein Bier ab und gehe nach draußen. Alex sitzt unbekümmert auf der Bank und unterhält sich mit Samuel. Warum hat dieser Kuss nur mich so aufgewühlt? Das ist nicht fair.

„Dann bist du quasi ein Kollege. Wenn du mal einen Job brauchst ...“, höre ich Samuel und werde hellhörig.

Unterstehe dich, möchte ich sagen, kann mich aber im letzten Moment noch zurückhalten.

„Worüber sprecht ihr?“, frage ich so beiläufig wie möglich und reiche Alex sein Bier. Ich selbst nehme einen kräftigen Schluck von meinem Drink.

„Alex war auf Wintersaison in einem Skihotel. Ich wollte auch schon immer mal im Ausland arbeiten. Das geht bei uns leider nicht so einfach.“, erklärt Samuel.

„Wie schön das wäre, eine Weile weg von hier ...“, pflichte ich ihm bei.

Unseren Eltern gehören ein Restaurant, eine Bar und ein Club, in dem wir beide arbeiten. Es war immer klar, dass wir diesen Familienbetrieb irgendwann übernehmen. Dennoch hätte ich mir Erfahrungen auswärts gewünscht. Unsere Eltern haben uns allerdings schon in unserer Jugend in den Betrieb eingeführt und seitdem nicht mehr losgelassen. Es ist unser Erbe. Fluch und Segen zugleich. Für mich meist Ersteres.

Samuel steht auf und wirft mir einen strengen Blick zu, der mich davor warnen soll, zu viel preiszugeben. Er ist immer darauf bedacht unsere Familie im guten Licht zu präsentieren. Genauso wie unsere Eltern es tun.

Ich setze mich neben Alex und schwenke gedankenverloren mein Glas hin und her.

„Sorry, wenn ich dich vorhin ein wenig überfordert habe.“, flüstert er mir ins Ohr. Dabei spüre ich seinen Atem in meinem Nacken. Ich erschaudere. Mein ganzer Körper erinnert sich lebhaft an diesen Kuss. Ich bekomme ihn nur schwer wieder aus meinem Kopf.

„Alles okay. Ich war nur überrascht.“

Alex scheint mir nicht wirklich zu glauben. Seine Augen sind verengt, als er mich von der Seite mustert, sagt aber nichts.

In dem Moment beschließe ich das Beste aus den restlichen Stunden herauszuholen und leere mein Glas in einem Zug. Es ist eine Party, keine verdammte Trauerzeremonie. Per Knopfdruck drehe ich die Musik noch lauter und beginne zu tanzen. Wenn ich mich zu einem Song bewege, ist für einen Moment lang alles gut. Die Einsamkeit, die Traurigkeit, die Zweifel, all das ist dann verschwunden. Ich fühle mich lebendig. Und genau das brauche ich jetzt. Es ist mir egal, ob Marvin dabei zusieht und auch diesen verdammten Kuss kann ich vergessen. Ich höre, ich spüre, ich tanze. Nicht mehr und nicht weniger.

Einige Drinks und unzählige Songs später ebbt die Party langsam ab. Die Musik ist nur noch ein Hintergrundgeräusch. Zoe ist nicht mehr aufgetaucht. Sie ist kein großer Fan meiner Freunde. Was ich sehr schade finde, ich hätte sie immer gern dabei gehabt. Melanie, Marie und Andrea verabschieden sich und fahren nach Hause.

Samuel, Ben und Paul unterhalten sich schon eine geschlagene Stunde über den Geschmack von Whiskey. Marvin und seine Freundin wollen einfach nicht verschwinden und der viele Alkohol hat mich leichtsinnig gemacht. Es ist wie ein Spiel geworden. Jedes Mal, wenn er Letizia küsst, ziehe ich Alex an mich heran. Und es wird mit jedem Mal gefährlicher. Seine Küsse sind wie eine Droge. Sie machen süchtig.

„Wir müssen damit aufhören.“, raunt Alex in mein Ohr, legt dann aber doch seine Lippen wieder auf meine. Jeder Kuss ist wie ein Rausch. Ich vergesse alles um mich herum.

Als wir uns voneinanderlösen fällt mein Blick auf Marvin. Seine verengten Augen zeigen mir, wie sehr es ihn stört. Das treibt mich dazu an weiterzumachen.

Alex´ Hände gleiten unter mein Shirt. Seine Finger auf meiner nackten Haut erzeugen eine vollkommen neue Welle von Gefühlen. Keuchend bringe ich etwas Abstand zwischen uns.

„Wie machst du das nur?“

Ich möchte mehr, obwohl ich weiß, dass es ein Fehler ist. Und doch sehne ich mich nach Ablenkung und irgendetwas sagt mir, dass Alex richtig gut darin wäre.

„Was?“, fragt er flüsternd.

„Mich so einzunehmen ...“

Schon wieder landen meine Lippen auf seinen. Ich kann nicht aufhören, sehne mich nach seinen Küssen, die alles um mich herum in Nebel tauchen und werfe all meine Zweifel über Bord.

Alex ist nur hier, um seine Schwester zu besuchen. Er wird also bald wieder abreisen. Was soll schon passieren? Es ist nur eine Nacht.

„Möchtest du sehen, für welches Dessous ich mich entschieden habe?“, frage ich heiser.

Sein Blick verdunkelt sich. Er steht ruckartig auf, packt mich an der Hand und zieht mich wortlos zum Haus. Auf dem Weg dorthin rufe ich allen eine gute Nacht zu. So wie sie jederzeit kommen können, gehen meine Gäste auch wann sie wollen. Es stört mich nicht, wenn sie länger bleiben. Solange sie dafür sorgen, dass Marvin verschwindet. Und ich weiß, auf Ben ist Verlass. Er wird sich darum kümmern, während ich mich von Alex ablenken lasse.

Ich möchte so vieles vergessen und all diesen beklemmenden Gefühlen in mir eine Weile entfliehen. Und Alex scheint die perfekte Medizin dafür zu sein.

Kapitel 2

Als ich am nächsten Morgen durch laute Geräusche aufwache, werden mir drei Dinge sofort klar.

Erstens: Zoe und Alex streiten sich.

Zweitens: Es ist viel zu früh für so einen Krach.

Drittens: Ich hatte letzte Nacht den besten Sex seit langem.

Gerne hätte ich diese selige Befriedigung noch ein wenig genossen. Vor allem, da Marvin endlich einmal eine Weile aus meinem Kopf verschwunden ist. Seit Monaten ist er dort Dauergast. Genau genommen seit dem Abend, an dem er das erste Mal bei mir an der Bar stand. Er hat einen Cocktail bestellt, den wir eigentlich gar nicht auf der Karte haben. Ich habe ihm erklärt, dass wir solche Mode-Cocktails nicht mixen. Daraus entstand eine hitzige Diskussion, die damit endete, dass er seinen gewünschten Drink bekam. Jedes Wochenende kommt er seither in den Club und besteht auf dieses Getränk.

Ich bin absolut nicht schüchtern und schon gar nicht auf den Mund gefallen. Doch bei ihm werde ich unsicher und verhalte mich idiotisch. Kein Mann hat mir bisher solche unklaren Signale gesendet. Er flirtet mit mir, macht mir Komplimente und gleichzeitig verschwindet er im Club jedes Mal wie aus dem Nichts. Es hat ewig gedauert, bis er mich um meine Nummer gefragt hat, nur um mir dann nicht zu schreiben. Ich verstehe es nicht.

Als er dann gestern mit seiner Freundin aufgetaucht ist, hat mich das ganz schön aus der Bahn geworfen. Ich hatte mir wirklich Hoffnungen gemacht. Entweder ist mein Flirtsender kaputt oder Marvin ist einfach ein Idiot.

Alex hat mich letzte Nacht zwar sehr wirkungsvoll abgelenkt, aber Gefühle kann man eben nicht so leicht abstellen. Ich muss dringend herausfinden, wie ernst es ihm mit Letizia ist.

„Mich interessieren deine Spielchen nicht. Du machst alles kaputt!“

Zoes lautstarke Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Gespannt versuche ich, dem Streit zu folgen, doch ich verstehe nur Bruchstücke. Irgendetwas mit Familie und Fehlern der Vergangenheit. Außerdem drückt meine Blase. Leise husche ich ins angrenzende Bad. Ich bin froh, dafür nicht extra raus in den Flur zu müssen. Niemand platzt gerne in einen Streit.

Hoffentlich geht es dabei nicht um mich. Dass er bei mir im Bett übernachtet, war so nicht geplant. Ich wache ungern neben einem Mann auf. So sehr ich einen guten One-Night-Stand auch schätze, auf den Moment, wenn man nebeneinander aufwacht, kann ich gut verzichten. Es ist immer irgendwie komisch.

Küsst man sich zum Abschied oder umarmt man sich lieber? Und wenn der Sex mittelmäßig bis schlecht war, wird es noch komplizierter. Am schlimmsten jedoch sind die Männer, die sich dann auch noch eine Lobeshymne auf ihre Ausdauer erwarten. Keine Frau hat Bock darauf stundenlang durchgerüttelt zu werden. Hauptsache es ist effektiv. Aber manche verstehen das nicht. Sie verwechseln Können mit Größe oder Standhaftigkeit. Was bringt das richtige Werkzeug, wenn man nicht damit umgehen kann?

Ich lasse mir viel Zeit unter der Dusche, pflege meine langen, aschblonden Haare und drehe mir sogar ein paar Locken ein. Heute ist mir danach.

Über eine Stunde später öffne ich vorsichtig meine Schlafzimmertür. Es ist ruhig. Niemand ist zu sehen. Erleichtert husche ich die Treppen hinunter, bleibe allerdings abrupt auf der letzten Stufe stehen. Vor der Wohnungstür reihen sich allerhand Koffer und Taschen.

Ein Türenknallen lässt mich aufschrecken. Zoe stürmt die Treppe herunter. Da kommt auch Alex aus der Küche. Sein Blick wandert nervös zwischen seiner Schwester und mir hin und her.

„Was hast du vor?“, will ich von Zoe wissen.

„Wonach sieht es denn aus? Ich bin weg. Vielleicht zieht ja Alex bei dir ein!“

Sie öffnet schwungvoll die Tür und bugsiert ihre Koffer nach draußen.

„Warte, Zoe. Warum? Was ist passiert? War es die Party, oder was habe ich getan? Wir können doch darüber reden.“ Ich habe keinen blassen Schimmer, was hier los ist.

Zoe dreht sich schwungvoll zu mir herum. Ihr Blick ist so voller Abscheu, dass ich zusammenzucke.

„Hast du oder hast du nicht Alex für deine Zwecke benutzt?“

Ich schlucke. Alex tritt neben mich. Er wird mir doch beistehen, das alles aufklären.

„Er hat mir freiwillig geholfen ...“

Ich bin nicht sicher, wie viel sie weiß. Aber ihr Bruder ist erwachsen und sollte ihr keine Rechenschaft schuldig sein.

„Du bist zu weit gegangen. Ist dir denn gar nichts heilig?“

Irritiert sehe ich zu Alex, doch der presst nur seine Lippen fest aufeinander. Zoe verschränkt ihre Arme demonstrativ vor der Brust. Ich fühle mich in meine Schulzeiten zurückversetzt, wenn ich beim Direktor antanzen musste.

„Zoe, es tut mir leid, ich verstehe nicht, was dich so aufregt.“

„Habt ihr miteinander geschlafen?“, fragt sie geradeheraus. Es geht sie zwar nichts an, aber ich wüsste auch nicht, warum ich lügen sollte.

„Ja!“, antworte ich, während Alex zeitgleich verneint. „Was erzählst du für einen Bullshit?“, fahre ich ihn an.

Wieder blickt er nur panisch zwischen uns hin und her. Das ist doch alles nicht zu fassen.

Zoe schnaubt, bläht ihre Nasenflügel auf und holt tief Luft. Wie ein Stier, der zum Angriff übergeht. Da kommt auch endlich Alex in Bewegung. Er greift nach ihrem Arm und schiebt sie beiseite.

„Vergiss es einfach. Sie ist nicht wichtig ... Ich weiß, ich hätte für dich da sein sollen.“

Fassungslos starre ich die beiden an. Ich bin nicht wichtig? Alex hat die falschen Knöpfe gedrückt. Das wird er noch bereuen.

„Verschwindet! Raus mit euch! Haut ab!“

Ich schubse und werfe alles hinaus. Die Koffer, die Taschen und vor allem die beiden. Ohne Rücksicht auf Verluste. Dabei kreische ich wie eine Irre. Niemand hat das Recht, so über mich zu sprechen. Seine Worte lösen eine alt Wut in mir aus. Sie triggern mich, schmerzen in meiner Brust. Ich wollte immer, dass Zoe mich als Freundin sieht, dass sie sich mir öffnet. Und vielleicht, war es nicht ideal mit ihrem Bruder zu schlafen. Aber diese Aktion bringt das Fass zum Überlaufen. Ich lasse mir von niemandem mehr sagen, dass ich nicht wichtig bin.

Alex versucht, mich zu beruhigen, nach mir zu greifen, da beginne ich um mich zu schlagen.

„Es tut mir leid. Ich konnte nicht anders.“ , flüstert er in mein Ohr, bevor er mich abrupt loslässt und einen Koffer vor dem sicheren Absturz rettet. Zoe ist in dem ganzen Wirbel schon mit zwei Taschen nach unten gelaufen.

Ich verschließe die Wohnungstür und renne hoch in mein Zimmer. Den Tränen nahe rutsche ich die Tür hinab. Mein Atem geht stoßweise, während sich Alex´ Worte in meinem Kopf wiederholen. Immer und immer wieder. Ich versuche zu verstehen, was da eben passiert ist. Aber ich kann mir keinen Reim darauf machen. Warum dreht Zoe deshalb so durch und warum verleugnet er mich? Was habe ich übersehen?

Alex kommt in mein Leben und veranstaltet nichts als Chaos. Und das alles in wenigen Stunden. Es ist mir unerklärlich, warum sie so wütend ist und noch viel mehr, warum er mich verleugnet hat.

Es vergehen einige Minuten, in denen ich am Boden kauere, bis ich irgendwann mühsam hochkomme. Es hat keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Zoe ist weg und Alex mit ihr. Dennoch hallen seine Worte in mir nach.

Sie ist nicht wichtig ...

Papa;

Ich werde diesen Brief niemals abschicken und doch muss ich ihn schreiben. Vielleicht weil es mir dann leichter fällt, alles in Worte zu fassen. Oder weil ich die Hoffnung habe, es so aus meinem Kopf zu bekommen.

Ich habe kürzlich in einer Zeitschrift etwas gelesen, das mich zum Nachdenken angeregt hat.

„Die Männerwahl einer Frau spiegelt das Verhältnis zum eigenen Vater wieder.“

Erst hat mir diese Aussage nicht viel gebracht. Doch irgendwie blieb sie hängen, hat sich eingedreht in meinem Kopf wie ein Gewinde. Komischer Vergleich, ich weiß. Ich kann es nicht besser beschreiben.

Ich habe darüber nachgedacht, welche Erfahrungen ich in puncto Männer in meinem Leben bisher gemacht habe. Und überraschenderweise, oder auch nicht, wenn man dem Artikel glauben will, habe ich mich immer zu Männern hingezogen gefühlt, die unerreichbar für mich waren. Welch Ironie, wenn man bedenkt, dass auch du immer unerreichbar für mich warst. Als Kind habe ich oft am Fenster auf dich gewartet.

Aber weißt du was? Mama war genauso selten da, doch nach ihr habe ich mich nicht so sehr gesehnt, wie nach dir. Nach deinen starken Armen, die mich halten, nach deiner beruhigenden Stimme, die mir sagt, dass alles gut wird. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich Mama nie gerecht werden konnte. Sie hatte keine netten Worte für mich übrig. Doch jetzt bin ich glatt abgeschweift.

Nun stellt sich mir also die Frage: Wie finde ich einen Mann, der mich sieht, der mich wahrnimmt, der nicht mit mir spielt. Einen Mann für den ICH wichtig bin.

Wenn du der Schlüssel zur Lösung bist, wo ist dann die verdammte Tür, die ich damit aufsperren muss?

Zwei Wochen später hat sich die Lage etwas beruhigt. Zumindest rede ich mir das ein. Immer wieder muss ich an Alex denken, an unsere gemeinsame Nacht und auch daran, wie sie endete. Das leere Zimmer meide ich und ich halte mich mit Arbeit und Partys bei Laune. Ben wollte wissen, ob etwas vorgefallen ist. Er bemerkt die kleinsten Veränderungen an anderen. Ich glaube, dass er durch seine Ex so feinfühlig geworden ist. Sie hat ihn schwer verletzt. Seither versucht er, alle Menschen zu durchschauen. Er ist erstaunlich gut darin. Ein paar Mal wollte ich ihm davon erzählen. Doch dann hielt mich etwas zurück.

„Ich bin nicht wichtig, bin es nicht wert.“

Was, wenn das wahr ist?

Mit Ben darüber zu sprechen, hieße auch, sich damit auseinanderzusetzen. Und dazu bin ich nicht bereit. Also lasse ich es in mir brodeln, verdränge es und flirte weiterhin mit Marvin. Auch wenn nichts davon gesund ist.

Seit meiner Party war er drei Mal im Club. Kein einziges Mal mit seiner Freundin. Er spricht nicht einmal von ihr. Gestern hat er nur so mit Komplimenten um sich geworfen und mich ständig angelächelt. Ich Idiotin habe mir Hoffnung gemacht, bis ich ihn vor der Toilette mit einer Rothaarigen rumknutschen sah. Das hat mir einen gewaltigen Stich versetzt. Und nun hinterfrage ich wieder mein ganzes Leben. Ich wurde nicht nur von ihm enttäuscht, sondern auch von Zoe und Alex. Das zieht dermaßen an meinen Nerven, dass ich dringend Ablenkung brauche.

Ich hasse die Einsamkeit. Samuel hingegen war schon immer gern allein. Er liebt die Stille, die Kraft der Ruhe, wie er es nennt. Für mich bedeutet es verdrängte Gefühle, schlaflose Nächte und Ängste. Nur glaubt mir das niemand, weil ich doch das aufgedrehte, bunte und lustige Mädchen bin.Kaum jemand blickt hinter die Fassade. Ben ist nahe dran. Allerdings ist er der beste Freund meines Bruders. Was bedeutet, dass ich ihm nicht alles erzählen kann. Er würde versuchen zu helfen und damit nur zwischen die Fronten geraten.

Ich quäle mich aus dem Bett, nur um festzustellen, dass mein Kühlschrank leer ist. Zoe hat den meist gefüllt, dafür hat sie weniger Miete bezahlt. Das war ein guter Deal.

Ich muss anfangen, mich wieder neu auszurichten. Oder ich suche mir eine neue Mitbewohnerin. Nicht, dass ich es mir alleine nicht leisten könnte. Durch den Fond, den mir meine Oma damals eingerichtet hat und den ich bis zu meinem Auszug nicht angerührt habe, kann ich es mir erlauben, in dieser Traumwohnung zu leben.

Ich hasse es nur, in eine leere Wohnung zu kommen, alleine meine Abende zu verbringen und auch jeden Tag an Zoes altem Zimmer vorbeizugehen.

Kurzerhand installiere ich die App, die mir vor drei Jahren schon half, eine Mitbewohnerin zu finden. Sie funktioniert ähnlich wie Tinder. Es ist ganz witzig und wunderbar unverbindlich. Man muss niemandem direkt absagen, lediglich nach links wischen.

Mit meinem Handy und einem knurrenden Magen mache ich es mir auf der Couch bequem. Essen kann warten.

Männliche Anfragen werden ignoriert. Mein allererster Mitbewohner war ein Mann und das endete in Chaos und Tränen. Nie wieder. Auch das Alter ist mir wichtig. Ich möchte weder mit einer störrischen Jugendlichen noch mit einer geschiedenen Frau in den Wechseljahren zusammen leben. Das würde einfach nicht matchen.

Nach unzähligem Linkswischen verharre ich das erste Mal mit dem Zeigefinger über einem Bild.

Sara Teiler, 25, Sozialpädagogin. Hobbys: Malen, Filme, Tiere, Musik ... Klingt nicht übel. Ich wische nach rechts und scrolle weiter. Eine Stunde später habe ich immerhin drei Wohnungsbesichtigungen ausgemacht und solch ein Magenknurren, das einen Bären wecken würde.

„Hi, du musst Sara sein. Komm doch rein!“, begrüße ich die erste Interessentin zwei Tage später. Mit einem Lächeln greift sie nach meiner Hand und legt ihre andere darauf.

„Es freut mich außerordentlich, liebe Josie. Ich kann spüren, dass wir zueinander passen. Das wird wunderbar.“

Etwas irritiert, lasse ich sie eintreten. Sie stellt ihre übergroße Tasche ab und blickt sich im Flur um. Ihre Haare hat sie geflochten. Mit wenig Geschick, wie ich feststelle. Aber das sollte kein Ausschlusskriterium sein.

Ich führe sie in den Garten hinaus und erzähle ihr von der Vermieterin.

„Gib mir deine Hände.“, unterbricht sie mich mitten im Satz.

Zögernd und auch verwirrt strecke ich sie ihr entgegen. Sara umfasst sie und schließt ihre Augen. Ich blicke mich um, erwarte beinahe eine versteckte Kamera.

„Deine Schwingung passt nicht zu meiner.“ Mit enttäuschtem Blick lässt sie meine Hände abrupt los und tritt einen Schritt zurück. „Dabei war ich mir vorhin so sicher ...“

Ich kann ihr nicht folgen. Stirnrunzelnd starre ich sie an und versuche zu verstehen, was sie mir damit sagen will.

„Willst du dir nicht den Rest der Wohnung noch ansehen?“

Dabei bin ich nicht einmal sicher, ob ich das will. Ich bin offen für vieles. Aber Sara scheint schon sehr schräg zu sein.

„Nein, danke.“

Zielstrebig läuft sie zurück zur Wohnungstür, hebt ihre Tasche hoch und greift nach der Türklinke. Dann hält sie doch noch inne und wendet sich mir zu.

„Josie ... Du solltest damit abschließen.“

„Womit?“, frage ich sie verwirrt.

„Mit dem, was dich so sehr belastet. Was es auch ist, es geht nicht von alleine weg!“

Mit diesen Worten huscht sie hinaus und lässt die Tür ins Schloss fallen. Einen Moment lang stehe ich einfach nur so da, starre auf den Platz, an dem sie eben noch stand.

Mein Kopf versucht, das Ganze zu analysieren, irgendwie zu begreifen. Aber ich werde daraus nicht schlau.

Momentan scheinen nur merkwürdige Menschen in mein Leben zu treten.

Drei Tage und einige Interessenten später lasse ich mich seufzend auf die Couch fallen. Ben reicht mir ein Bier und setzt sich neben mich. Ich erzähle ihm von Sara und ihren komischen Andeutungen.

„Warum suchst du denn überhaupt nach einer Mitbewohnerin? Du bist ohnehin kaum hier.“

Dass ich nur deshalb ständig unterwegs bin, weil mich sonst die Einsamkeit auffressen würde, verrate ich ihm nicht.

„Aus dem gleichen Grund, warum Frauen zusammen aufs Klo gehen ...“, umgehe ich seine Frage geschickt. „Aber jetzt zu Mona, die gestern hier war. Sie landet auf Platz zwei der schrägsten Bewerberinnen. Stell dir vor, sie wollte tatsächlich eine Schweigezeit einführen. Nach sieben Uhr abends, bis das die Sonne am Morgen aufgeht, darf nicht mehr gesprochen werden.“

Kopfschüttelnd nehme ich einen Schluck Bier. Ben beäugt mich ungläubig.

„Du verarschst mich!“

„Oh, nein. Und ich habe auch nicht nach dem Grund gefragt. Ich lasse mir doch in meiner eigenen Wohnung nicht vorschreiben, wann ich sprechen darf.“

„Du bestimmt nicht! Ich bereue die Frage vermutlich. Aber wer ist Platz 1 auf dieser kuriosen Liste?“

„Pinky.“

„Pinky?“, fragt er irritiert.

Ich bekomme einen Lachflash, bevor ich antworten kann. Statt einer Antwort zeige ich ihm ein Foto, das ich unbemerkt von ihr gemacht habe. Pinky heißt eigentlich Samara. Sie ist junge Zwanzig und absolut schräg. Aber auf eine ganz besondere Art und Weise. Ich liebe schräg, nein, ich bin schräg. Bunt ist meine Lieblingsfarbe und in schwarzer Kleidung sieht man mich nur in Ausnahmefällen. Ich bin auffällig, schrill und laut. Aber Pinky ist sogar für mich eine Nummer zu groß.

Ben prustet los, als er das Bild erblickt.

„Sie macht ihrem Namen alle Ehre. Ist das ... ist das ein Hund?“

„Ja und er ist pink.“

„Aber ... aber wieso? Das tut doch schon in den Augen weh!“

Pink ist eine tolle Farbe. Zumindest in Maßen. Samara allerdings lebt pink. Sie inhaliert es geradezu.

„Davon habe ich leider kein Foto, aber ihre Augen ... Sie hatte pinke Kontaktlinsen!“

Ihm ist das Lachen vergangen. Ben schüttelt nur noch den Kopf.

„Josie, wo bekommst du bloß immer diese Leute her? Das ist doch nicht normal. Bist du sicher, dass du auf der richtigen Seite suchst? Versuche es einmal ganz klassisch mit einer Anzeige.“

„Das ist so oldschool. Dann rufen nur langweilige Jurastudentinnen und Junggebliebene auf dem zweiten Bildungsweg an ...“

Ben lacht auf, dann klopft er mir tröstend auf die Schulter.

„Immer noch besser als Pinky. Sag mal, wärst du dann Brain?“

„Was?“, frage ich verwirrt, bis ich seine Anspielung auf die Serie „Pinky and the Brain“ verstehe und auflache.

„Denn dann wären wir verloren, Josie. Wir wären verloren!“

Ich jage ihn mit dem Polster durch das Wohnzimmer, bis wir vor Lachen nicht mehr können. Mit Ben ist es so einfach. Ich mag ihn. Manchmal wünschte ich, er wäre nicht der beste Freund meines Bruders. Das würde vieles erleichtern. Nicht weil ich romantische Gefühle für ihn habe, sondern weil ich immer ein wenig Misstrauen hege, wenn es um meinen Bruder geht. Wir verstehen uns besser als früher und doch gibt es da eine unüberwindbare Barriere zwischen uns, die verhindert, dass ich ihm vollends vertraue.

„Ich habe Hunger!“, mault Ben und öffnet den Kühlschrank.

Ich blicke ihm über die Schulter. Gähnende Leere. Schon wieder.

„Wir könnten uns was bestellen.“, schlage ich vor.

„Sollen wir den anderen auch Bescheid geben?“.

Mit den Anderen meint er den Rest der Clique. Andrea, Marie und Samuel, besagter Bruder. Sie alle bilden, mit Ben und mir, den Kern unserer Gruppe. Melanie habe ich erst vor kurzem dazu geholt. Ich bin mir noch nicht sicher, ob sie wirklich zu uns passt.

Vor ein paar Monaten traf ich sie im Büro meines Bruders an. Sie macht die Buchhaltung für die Firma. Ich kannte sie, habe mich aber noch nie länger mit ihr unterhalten. Überraschenderweise verstanden wir uns auf Anhieb so gut, dass wir über eine Stunde gequatscht haben. Kurz darauf habe ich sie zum Grillen mit den anderen eingeladen und seitdem gehört sie irgendwie dazu. Melanie ist zwar mehr der zurückhaltende Typ, also völlig anders als ich, dennoch verstehen wir uns auf eine ganz eigene Weise.

„Ja, klar. Aber dieses Mal bestimme ich den Lieferanten. Das letzte Mal war ein echter Reinfall.“

Ben verzieht das Gesicht. Der Italiener blieb uns nicht sonderlich gut in Erinnerung. Sein Nicken ist Bestätigung genug. Während ich in der App nach etwas Passendem suche, verständigt er die anderen in der Whatsapp-Gruppe. Es dauert nicht lange, da trudeln alle außer Melanie ein. Sie hat abgesagt.

„Ich habe uns Salat mitgebracht.“, verkündet Marie stolz. Andrea hingegen hat nur Augen für Ben. Sie tut mir beinahe leid, aber er ist eben nicht der Typ für feste Beziehungen. Nicht mehr. Er wurde zu schwer verletzt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie fertig er damals war. Das will ich nicht noch einmal miterleben.

Als es erneut klingelt, blicke ich überrascht auf.

„Das ging ja schnell.“, juble ich und bitte Samuel an die Tür.

Allerdings verwandelt sich meine Freude rasch in Wut, als ich Alex erblicke. Er grüßt die Runde und kommt unsicher lächelnd auf mich zu. Wie gern würde ich ihm eine Szene machen und ihn rauswerfen. Doch ich habe niemandem erzählt, was genau passiert ist. Die anderen wissen nur, dass Zoe wegen eines Streits ausgezogen ist.

Was sie mir an den Kopf geworfen haben, will ich nicht preisgeben. Allein aus Angst, dass es wahr sein könnte. Wie oft habe ich das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Alex hat meine Angst nur bestätigt. Die Erinnerung daran treibt mir beinahe die Tränen indieAugen. Ichmussmich zusammenreißen.

„Was willst du hier?“, frage ich flüsternd, als er vor mir stehen bleibt.

Die anderen wenden sich ab, nur Ben beäugt uns kritisch.

„Ich wollte noch einmal mit dir reden. Das Ganze lief ein wenig aus dem Ruder ...“

Ich möchte auflachen und ihm gleichzeitig eine verpassen. Doch Alex soll auf keinen Fall merken, wie sehr er mich mit seinen Worten verletzt hat. Schlimm genug, dass ich bei Zoe´s Auszug derart ausgerastet bin.

„Wenn deine Schwester glaubt, so austicken zu müssen …“ Ich sehe ihm direkt in die Augen und unterdrücke ein Seufzen. „Ich weiß noch immer nicht, was ihr Problem ist. Da sie aber nicht mehr hier wohnt, gibt es auch für dich keinen Grund hierzubleiben.“

Sein Blick bleibt einen Moment lang an meinen Lippen hängen. Sofort entflammt bei der Erinnerung an unsere Küsse ein Kribbeln in meinem Bauch. Das macht es deutlich schwieriger, aber nicht unmöglich. Alex ist attraktiv, charmant und unglaublich gut im Bett. Wenn auch nicht ganz mein Typ. Ich stehe eigentlich auf muskulöse, tätowierte Männer. Alex ist mehr der athletische Typ, der mit seinem Charme überzeugt. Dennoch war er die perfekte Ablenkung von Marvin und dem ganzen anderen Mist, den ich so mit mir herumtrage. Schade, dass es so enden musste.

„Hey, Alex. Willst du auch Pizza? Josie hat so viel bestellt, da kannst du locker mitessen!“

Andrea hat sich zu uns gesellt. Wenn sie wüsste, was vorgefallen ist, würde sie ihn verjagen. Unsere Freundschaft mag oft oberflächlich wirken, aber ich weiß, wenn es darauf ankommt, steht sie mir bei. Bevor ich etwas einwenden kann, höre ich seine Zustimmung.

„Du hast ihnen nichts davon erzählt ...“, flüstert er kaum hörbar. Er sieht mich überrascht an.

Als Samuel ihn zu sich ruft, setzt er ein Grinsen auf und schon sitzt er bei der Clique. Er fühlt sich hier richtig wohl, als gehöre er dazu. Doch da irrt er sich. Er ist ein Eindringling, jemand, der Chaos in anderer Leute Leben bringt. Und ich werde dafür sorgen, dass es das letzte Mal sein wird.

Vorerst bleibe ich in der Küche und kümmere mich um den Salat. Dabei höre ich sein dämliches Lachen. Wenn ich den anderen davon erzählt hätte, könnte ich ihn getrost zum Teufel jagen.

„Was ist zwischen euch passiert?“, höre ich Ben neben mir. Er ist einfach zu aufmerksam. Das macht es oft schwer etwas vor ihm geheim zu halten. Ich gebe oft zu viel preis, aber meine Ängste und Zweifel behalte ich lieber für mich. Niemand würde mich verstehen. In deren Augen bin ich das fröhliche Mädchen aus gutem Hause. Nach außen hin habe ich die perfekte Familie. Wie es wirklich war, weiß kaum jemand.

„Wir hatten Sex.“, gebe ich zu.

Das ich offen für solche Dinge bin, ist kein Geheimnis.

„Hat er dir irgendetwas getan?“

Sein Blick ist forschend.

„Nein, aber nach einem One-Night-Stand ist es immer ein wenig komisch. Manchmal reicht dafür auch ein Kuss ...“

Dabei spiele ich auf Andrea an. Das weiß Ben. Er verzieht das Gesicht und blickt nach draußen.

„Ich mag sie, das weißt du. Aber eben nicht mehr.“

Perfekt abgelenkt. Darin bin ich gut. Während er sich weiter rechtfertigt, hole ich Besteck und Servietten. Und noch bevor er das Thema erneut wechseln kann, klingelt es schon an der Tür. Dieses Mal ist es wirklich der Lieferant.

„Essen ist da. Ich hoffe, ihr habt was zu trinken. Ich stehe erst wieder auf, wenn ich satt bin.“

Ich stelle die Boxen und Schachteln mitten auf dem Tisch ab und alle greifen sofort beherzt zu. Da wird mir erst bewusst, dass der einzig freie Platz genau gegenüber von Alex ist. Ich unterdrücke ein Seufzen und setze mich. Dabei spüre ich seinen Blick auf mir. Was mich wütend macht und gleichzeitig ein Feuer in mir entfacht, dass nur er löschen kann.

„Bevor ich es vergesse, Josie.“, lenkt Samuel meine Aufmerksamkeit auf sich. „Morgen Abend essen wir mit unseren Eltern.“

Ich stocke. Das kam völlig unerwartet. Die Gabel in der Luft verharrend, starre ich meinen Bruder an.

„Was? Warum?“, frage ich irritiert.

Es dauert einen Moment, bis ich mich aus meiner Trance lösen kann.

„Weil es eine ganze Weile her ist und ...“

Er wollte mir garantiert noch etwas vorwerfen. Vermutlich dass ich meist ihre Anrufe ignoriere oder Treffen oft kurzfristig absage. Aber da wir in Gesellschaft sind, hält er sich zurück. Der Schein der perfekten Familie muss gewahrt werden.

„Morgen Abend um sieben. Sei pünktlich! Du weißt, wie sehr Vater Unpünktlichkeit verabscheut. Wir treffen uns im Restaurant, es wird ein Tisch für uns reserviert.“

Im eigenen Lokal, um das Personal zu überprüfen und gleichzeitig den Familienzusammenhalt zu präsentieren. Guter Schachzug. Bei meinen Eltern gibt es keine Zufälle. Sie sind so berechnend.

„Mal sehen, ob ich Zeit habe.“, versuche ich es ein letztes Mal.

„Wir haben uns nach deinem Dienstplan gerichtet. Du hast frei!“

Wir ... So war es schon immer. Die drei und ich. Nie eine Einheit, sondern immer zwei Seiten. Damit ist das letzte Wort gesagt und mir der Appetit vergangen.

Alex wirft mir einen nachdenklichen Blick zu. Also setze ich ein falsches Lächeln auf und unterhalte mich mit den anderen. Doch die Gedanken an den morgigen Abend lassen mir keine Ruhe. Ein Abendessen mit meinen Eltern ist bei Weitem das Letzte, was ich zurzeit gebrauchen kann. Und obwohl Samuel die gleiche Kindheit, wie ich hatte, war seine doch eine gänzlich andere. Er ist nie von zuhause abgehauen.

So sehr ich mich erst auf einen geselligen Abend gefreut habe, so sehr strengt es mich nun an. Diese lockere Art und ein ständiges Lächeln aufrecht zu erhalten, ist so mühsam. Ich kann nur schwer den Gesprächen folgen.

Doch die Alternative, nämlich ganz allein in der Wohnung zu sein, ist auch keine Option. Manchmal weiß ich selbst nicht, was ich eigentlich will.

Nach dem Essen trage ich alles in die Küche zurück. Samuel hilft mir dabei.

„Ich weiß, dass du diese Abendessen hasst. Aber es sind eben unsere Eltern.“, beginnt er sich zu rechtfertigen.

Wie sehr wünschte ich, er würde einmal auf meiner Seite sein, würde verstehen, wie es für mich war.

„Ja, schon gut. Ich werde kommen.“

„Es ist ja nur ein Abend. Der geht schnell ...“

„Ich komme ja, verdammt!“, unterbreche ich ihn harsch. Samuel weicht einen Schritt zurück.

„Dann bis morgen.“, murmelt er mit gesenktem Blick und verschwindet aus meiner Wohnung, bevor ich mich für meinen Ausbruch entschuldigen kann.

„Alles okay?“, höre ich Alex hinter mir.

Die ganze Truppe scheint unsere kleine Auseinandersetzung mitbekommen zu haben. Ben vergräbt seine Hände in den Hosentaschen. Er fühlt sich sichtlich unbehaglich. Andrea steht dicht neben ihm und legt eine Hand auf seinen Arm. Wenn er nicht bald Klartext spricht, wird sie es immer weiter versuchen.