All Year's Horror - Christina Staudinger - E-Book

All Year's Horror E-Book

Christina Staudinger

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Beschreibung

Januar, Februar, März, April – Die Menschen machen einfach nie, was er will … Mai, Juni, Juli, August - entfachen im Killer den Rachedurst. September, Oktober, November und Dezember – Tja und dann, fängt das fröhliche Morden natürlich von vorne an. Es gibt Geschichten, die sind zu düster und barbarisch, um sie laut zu erzählen, ganz gleich, ob es draußen regnet oder schneit, die Sonne strahlend am Horizont scheint. Das Grauen kennt keine Gnade. Wie die klebrige Spur eines alten Kaugummis verfolgt es einen in der Nacht von Halloween, oder beim Spaziergang an der Strandpromenade, bei dem ihr plötzlich euren unausweichlichen Tod prophezeit bekommt. Der Geschmack von Meerschaum liegt in der Luft - das Aroma der Verderbnis. Selbst am Heiligen Abend macht der Albtraum keinen Halt davor, dir ein blutiges Geschenk zu hinterlassen, das du niemals vergessen wirst … Dieser Jahreszeitenschocker enthält folgende Horror-Bände: Der Tag vor Weihnachten, Der Geschmack von Meerschaum und Die Nacht von Halloween.

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Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB

1. Auflage

September 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2024 Infinity Gaze Studios

Texte: © Copyright by Christina Staudinger

Cover & Buchsatz: V.Valmont @valmontbooks

Klappentext: LiebeaufsersteWort

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Infinity Gaze Studios AB unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Infinity Gaze Studios AB

Södra Vägen 37

829 60 Gnarp

Schweden

www.infinitygaze.com

 

All Year’s Horror

 

Sammelband:

 

Der Tag vor Weihnachten

Der Geschmack von Meerschaum

Die Nacht von Halloween

 

Der Tag vor Weihnachten

 

Weihnachtliche Horrorkurzgeschichten

 

Eins

Der Frostige

 

„Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten.“

„Ach, hab‘ dich doch nicht so. Das wird lustig!“

Emmas Blick fiel auf die bunt geschmückten Zweige. Die Jahre zuvor hatte ihre Mutter den Weihnachtsbaum, den ihr Vater und Emma jährlich sorgfältig auswählten, in schlichter Einfachheit geschmückt. Emmas Gedanken an die Weihnachtsdekoration waren seit jeher mit goldenen und roten Kugeln verknüpft. Doch dieses Jahr wollte Emmas Mutter etwas anderes versuchen, etwas Neues. So stand der, mit unterschiedlich farbig schimmernden Dekoteilchen und Lametta geschmückte, Tannenbaum im ausladenden Wohnzimmer. Sie, die gerade mit ihrem Mann, Emmas Vater, ausgegangen war, nannte das „amerikanischen Stil“.

Tanja stieß ihren Ellbogen sanft in Emmas linke Seite. Ihre Cousine war viel mutiger als sie, auch wenn sie im selben Alter waren. Tanja kniete sich vor den üppigen Christbaum und schob das Spielbrett unter ihrem Arm vorsichtig auf den Boden. Emma seufzte. Sie hatte ohnehin keine Wahl. Tanja würde nicht aufgeben, bis sie ihren Willen bekam, und so gab Emma sofort nach. Das machte sie immer so, wenn Tanja etwas wollte.

Das brünette Mädchen nahm im Schneidersitz neben ihrer Cousine Platz. Bedacht breitete sie das rote samtene Kleid, das sie am heutigen Abend trug, um sich aus, sodass es ihre Knie knapp bedeckte. Der Parkettboden war nachgiebig und durch die Bodenheizung angenehm warm.

Tanja fummelte bereits konzentriert am Brett vor ihr herum. Emma, hingegen, betrachtete einmal mehr die Lichter, die den ganzen Raum auf friedvolle Weise erhellten. Obwohl das Wohnzimmer ansonsten in Dunkelheit gehüllt war, ging von den bunt leuchtenden Ketten ein sanfter Lichtschein aus.

Emma wurde ungeduldig. Ihre Eltern waren zwar sicherlich noch mindestens eine Stunde unterwegs, doch würden sie früher zurückkommen, würden sie keinesfalls gutheißen, was ihre Tochter und ihre Nichte hier taten.

„Wie funktioniert das jetzt?“

Tanjas Augen funkelten vor Vorfreude. Wie einen Preis hielt sie freudig eine tropfenförmige Scheibe mit einem gläsernen Loch darin nach oben. Die Oberfläche spiegelte die schönen Lichter, die an den Zweigen befestigt waren.

„Wir müssen uns an den Händen halten und beide einen Finger auf das Auge legen. Das Hexenbrett dürfen wir dabei nicht berühren.“

Für Emma hatte die Scheibe, die Tanja nun eilig auf das Spielbrett legte, wenig mit einem Auge zu tun.

„Ach komm schon, das ist doch albern. Als ob wir so einen Geist rufen können...“

„Vielleicht nicht“, sagte ihre Cousine, „aber vielleicht rufen wir ja den Geist der Weihnacht.“

Die beiden Mädchen kicherten.

Sekunden später deutete Tanja auf das Spielbrett und hob ihre Augenbrauen an, sodass Emma erneut in ein unkontrolliertes Kichern ausbrach.

Schnell streckte Emma ihre Hand nach dem Auge aus. Sie tat es Tanja nach und legte ihren Zeigefinger sanft auf die kleine Platte. Als sie das Spielbrett betrachtete, war sie plötzlich fasziniert von der verschnörkelten Schrift, in der die dunkelbraunen Buchstaben auf dem hölzernen Brett verewigt waren. Die Worte Aufwiedersehen, Ja und Nein prangten unter den einzelnen Buchstaben, die im Halbkreis angeordnet waren.

Tanja strich sich eine der blonden Strähnen hinter ihr Ohr, ehe sie nach Emmas anderer Hand griff.

Sie sog hörbar Luft ein, ehe sie die Augen für einen Moment schloss, nur um sie Sekunden später eilig aufzureißen. Sie wollte Emma Angst einjagen, doch das war ihrer Cousine von Anfang an klar gewesen. Dafür hielten sie doch diese ganze Séance ab. Tanja hatte eine Vorliebe für Übernatürliches und liebte die düstere Stimmung, die geprägt war von einer gewissen Furcht.

„Ist ein Geist in diesem Raum?“

Emma fröstelte. Sie wusste, dass die Kontaktaufnahme mit einem Geist über ein solches Brett wohl kaum Erfolg haben konnte. Dennoch machte sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend breit. Aufmerksam betrachtete sie das Brett auf dem Boden.

„Ist ein Geist in diesem Raum?“, wiederholte Tanja, wobei sie jedes Wort deutlich aussprach.

„Tanja, da tut sich nichts, wir sollten...“

Plötzlich setzte sich das Spielauge in Bewegung. Es war zuerst nur ein Zucken, das dann in einer vollständigen Änderung der Position resultierte.

Emma beobachtete, wie sich Tanjas Pupillen weiteten. Gespannt betrachteten die beiden Mädchen, wie der Marker sich zielstrebig in die linke untere Ecke bewegte.

Ja.

Emma traute ihren Augen nicht.

„Emma, warst du das?“, Tanjas Stimme zitterte plötzlich. Wie von Angst gepackt konnte sie ihre Augen nicht mehr von dem Tropfen, auf der ihr Zeigefinger verweilte, lösen.

Ehe ihre Cousine antworten konnte, setzte sich der Marker erneut in Bewegung.

Nein.

„Es reicht jetzt, Tanja, hör‘ auf!“

Emmas Stimme war laut und beinahe kreischend. Sie durchschnitt die Stille des späten Abends wie eine Klinge. Trotzdem wagte sie es nicht, ihren Finger wegzubewegen. Das Beben, das sich langsam in ihren Armen ausgebreitet hatte, ließ den Zeiger dennoch regungslos zurück.

„Ich mach‘ doch gar nichts!“

„Wer denn dann?!“

Emmas Stimme wurde leise, flüsternd, als sie ihre Worte wiederholte: „Wer denn dann?“

Zügig setzte sich das Auge wieder in Bewegung.

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Mit konzentriertem Blick folgten die beiden Mädchen dem Zeiger, der unbeeindruckt von Buchstabe zu Buchstabe weitereilte, um ihnen die Nachricht zu eröffnen.

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Ein plötzlicher kalter Luftzug huschte durch den Raum und Emma bekam augenblicklich Gänsehaut. Sofort fröstelte jeder Zentimeter ihres Körpers.

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Schnee? Was konnte das bedeuten?

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„Schneemann?“, Tanjas Stimme vibrierte. Ihr Blick flog nervös durch alle Ecken des Raumes.

Ein Knarren zog augenblicklich die Aufmerksamkeit von Tanja und Emma auf sich. Eiseskälte umfasste die Mädchen schlagartig, als das nur wenige Meter entfernte Fenster sich wie in Zeitlupe öffnete. Die Gestalt dahinter war in Dunkelheit gehüllt. Erst als sie ihr erstes Bein durch die Öffnung steckte, schnell und geschickt das Zweite nachzog, konnte Emma erkennen, was da in ihr Wohnzimmer gekommen war.

Gigantische Massen aus Eis formten eine Gestalt, die so groß war, wie das Wohnzimmer selbst. Bei jedem Schritt hinterließ die Erscheinung Schneespuren auf dem Parkettboden. Die Pranken zierten Äste, die als Klauen fungierten. Emmas dünnes Kleid schützte sie keinen Moment lang vor der Eiseskälte, die zusammen mit dem Horrorschneemann in ihr Zuhause gekommen war.

Die Angst ließ sie einen Moment erstarren, ehe sie aus dem Augenwinkel ihre Cousine registrierte, die aufsprang, um davon zu laufen. Emmas Puls raste. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. Der Schneemann bewegte sich trotz seiner immensen Größe in Windeseile über das Parkett. Tanja kam zwei Schritte, ehe der Frostige sie eingeholt hatte.

„Nein! Tanja!“, Emmas Kreischen war in jedem Winkel des Hauses zu hören. „Lass sie in Ruhe!“

Doch die grausige Schneegestalt dachte gar nicht daran, Emmas Befehlen Folge zu leisten.

Der Horrorschneemann umarmte das Mädchen und drückte den dünnen Körper fest zusammen. Seine ästigen Arme zerkratzten die Ärmel ihres Pullovers und die zarte Haut darunter. Blut färbte den Schnee rot. Ein lautes ein erstickter Schrei war zu hören, als sie unter den Schneemassen begraben wurde.

Tränen begannen über Emmas Wangen zu laufen, die sofort gefroren. Ein unerträglicher Schmerz zuckte durch ihr Gesicht. Ihre zarte Haut zog sich zusammen und riss auf diese Weise kleine trockene Löcher in ihre Wangen. Sie wollte aufschreien, nach Hilfe rufen, doch ihre Lippen waren vereist.

Der Frostige setzte geduldig seinen Weg fort. Er hatte es nicht eilig. Er hatte alle Zeit der Welt. Der Körper von Tanja war nirgends zu sehen, sie war einfach verschwunden. Der eisige Frost zog Emmas Gesichtszüge weiter zusammen. Sie wusste, sie würde ihrer Cousine dorthin folgen, wo auch immer sie war. Sie wusste, dass der Schneemann sie nicht verschonen würde.

Es sah beinahe aus, als würde sie lächeln.

 

Zwei

Backe backe Kuchen

 

Der Duft der selbstgebackenen Plätzchen wehte wie ein Windhauch zu ihr hinüber und sie überkam sofort eine Erinnerung an ihre Großmutter.

Jessica hatte immerzu versucht, die Tradition zu bewahren, die ihre Oma so liebevoll gepflegt hatte. Jedes Jahr beendete sie am Tag vor Heiligabend das Backen ihrer allseits bekannten selbstgemachten Plätzchen. Vanillekipferl, Zimtsterne, Butterplätzchen, Nusskringel, Schneeflocken, Nougatplätzchen – alle Rezepte in einem von Hand geschriebenen Buch verewigt.

Schon als Kind hatte Jessica ihrer Oma gerne beim Backen zugesehen, meist durfte sie ihr auch etwas zur Hand gehen. Der alten Dame war es wichtig, dass die ganze Familie in den Genuss ihrer Köstlichkeiten kam. So fand sich auf den hinteren Seiten des Backbuches auch eine Liste mit Adressen. Verschiedene Tanten, Onkel, Cousins und weitere Verwandte waren dort aufgelistet. Jessica kannte einen Teil nicht einmal und dennoch: Wie ihr aufgetragen wurde, schickte sie jedes Jahr Plätzchen an die Adressen, die ihre Großmutter ihr hinterlassen hatte. Zum Dank bekam sie Briefe aus allen Ecken des Landes, die ihr Herz erfüllten.

Ihre Großmutter hatte Recht gehabt: Es war wichtig, Traditionen zu bewahren. Die brünette junge Frau drehte den Lautstärkeregler noch ein Stück weiter auf. Für ihren Backmarathon hatte sie sich eigens eine Playlist mit dem Titel „Jessicas Musik: Backe backe Kuchen“ erstellt. Auf dieser fand sich nicht nur das gleichnamige Kinderlied, sondern auch viele Weihnachtslieder aus dem Pop- und Rock-Bereich. Während die christnächtlichen Töne durch die Küche hallten, wippte Jessica heiter mit ihren Füßen.

Die erste Sorte der Plätzchen – Zimtsterne – waren bereit, aus dem Backofen geholt zu werden. Mit ihren Ofenhandschuhen bewaffnet, machte sich Jessica daran, das Blech herauszuziehen. Sie summte dabei und bewegte sich im Takt der Musik. Das jährliche Backen war ihr Highlight in der Weihnachtszeit. Schon in wenigen Tagen würden die ersten Grüße per Post ankommen, in denen ihr für ihre Mühe gedankt wurde.

Die letzten Jahre hatte sie immer auch eine große Portion Plätzchen für alle mit in die Arbeit gebracht, doch dieses Jahr tat sie es nicht. Denn da dankte es ihr niemand, während es sich ihre Kollegen allerdings schmecken ließen. Kein „Danke, Jessica“ oder „Sind die lecker“, nicht einmal ein kurzes Zunicken. Sie wollte ja gar keinen Blumenstrauß oder eine große Beglückwünschung zu ihren leckeren Süßwaren – aber viel Arbeit machten sie dennoch und es hatte sie traurig gemacht, dass keiner ihrer Kollegen ihre Mühe wertschätzte.

Doch davon ließ sie sich dieses Jahr nicht ihre gute Weihnachtslaune vermiesen. Wer weiß, vielleicht würden sie ja sogar nach den Plätzchen fragen.

Der einzigen, der Jessica ihre leckeren Weihnachtsleckereien wahrlich nicht vergönnte, war ihrer Kollegin Sherry. Sie war eine hochgewachsene, schlanke und unglaublich schöne Frau mit schwarzem langem Haar. Sherry wusste nicht nur um ihre Schönheit, sondern war auch unfassbar durchtrieben. Mit ihrem Charme gelang es ihr, jeden einzuwickeln und so Projekte von sich schieben zu können bis die Schreibtische ihrer Kollegen fast überquollen und ihrer leer blieb.

Jessica hasste die eingebildete Ziege.

Seit mehreren Tagen schon war sie nicht mehr zur Arbeit erschienen und es lag für die meisten ihrer Kollegen nahe, dass sie es nur nicht für nötig befunden hatte, ihren Urlaub anzukündigen. Schließlich kam sie ohnehin mit allem durch. Besonders die männlichen Kollegen und auch Jessicas Chef wirkten dennoch bedrückt, dass Sherry weg war.

Jessica hingegen hatte sich gefreut, die letzten Tage vor Weihnachten in Ruhe ohne „Miss Perfect“ arbeiten zu können. Da Sherry sowieso gewillt war, keinen Finger zu rühren und andere ihre Arbeit machen zu lassen, änderte sich nichts außer der angenehmen Ruhe von ihrer nervigen Piepsstimme.

So tänzelte sie weiter durch die Küche ihrer kleinen Wohnung. Ihr Herz war leicht und sie liebte dieses Gefühl, das jedes Jahr kurz vor Weihnachten ihren ganzen Körper erfasste. Ein Gefühl von Geborgenheit – das Gefühl, ihrer Großmutter ganz nahe zu sein.

Letztes Jahr hatte sie am Abend vor Weihnachten nicht geschafft, alle Sorten der feierlichen Köstlichkeiten zu backen, doch es hatte ihr nichts ausgemacht, auch an Weihnachten eine weitere Backrunde einzulegen. Es war wie eine lange Meditation für sie, die sie liebte.

Das Läuten der Türglocke war trotz der lauten Musik deutlich zu vernehmen. Jessica wunderte sich. Sie erwartete niemanden. Durch den Türspion erkannte sie augenblicklich die hagere Person mit den rehbraunen Augen: Es war Tom, ihr Arbeitskollege. Eilig zupfte Jessica ihr Kleid zurecht und legte die Schürze ab, die sie darüber getragen hatte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Was tat Tom bei ihr zu Hause? Sie grinste in sich hinein, als sie die Wohnungstür öffnete.

„Hi Tom“, ihre Stimme war fast schon säuselnd. „Was für eine schöne Überraschung.“

„Hey, ich wollte eigentlich nur kurz vorbeikommen, um dich was zu fragen...“, begann Tom vorsichtig.

„Na klar, komm doch rein! Die erste Fuhre Plätzchen ist schon fertig.“

Jessica trat beiseite, um ihn einzulassen. Toms Augen waren müde. Trotzdem wirkte er auf Jessica wie ein Adonis. Er war seit mehreren Jahren in der Arbeit an Jessicas Seite, aber er war nie in ihrer Wohnung gewesen. Oder hatte sie je anders gesehen, als nur als Kollegin.

Eifrig hielt sie Tom einen Teller mit noch warmem Süßgebäck vor die Nase. Es sah köstlich aus, fand Jessica. Er griff zu und lächelte sie mit vollen Backen an.

„Die sind wirklich hervorragend, Jess!“

Jessicas Wangen wurden heiß.

Tom nahm sich noch ein Plätzchen.

„Soll ich dir welche einpacken?“

„Ja gerne... Aber eigentlich bin ich hier, weil ich fragen wollte, ob du Sherry gesehen hast.“

Jessica war gerade dabei, Plätzchen in eine kleine Box zu packen, als sie überrascht innehielt. Das war also der Grund für seinen Besuch.

Nicht sie.

Sherry.

Wie kam er bitte darauf, dass sie wissen konnte, wo Sherry war?

„Nein, aber du weißt ja wie... flatterhaft und unzuverlässig sie ist.“

Jessica drückte ihm höflich die eingepackten Backwaren entgegen. Er nahm sie und schenkte ihr ein warmes Lächeln.

„Nun ja... Trotzdem vielen Dank für die Plätzchen! Die sind wirklich toll.“

Tom rang sich ein breites Grinsen ab.

„Ich wünsche dir frohe Weihnachten!“

„Bis dann. Frohe Weihnachten.“

Jessica schüttelte den Kopf. In ihrer Stimme hatte mehr Enttäuschung mitgeschwungen, als es ihre Absicht war. Was würde Tom denn bitte an der eingebildeten Schnepfe finden?

Rasch band sie sich ihre Schürze um die ausladenden Hüften. Sie wollte ihrer Backtätigkeit nachgehen, um schnellstmöglich Tom und seine Zuneigung für die dumme Sherry zu vergessen. Der nächste Plätzchenteig war ohnehin beinahe fertig.

Jessica nahm eine der weißen Stangen, um sie eilig zu zermahlen. Das Zermalmen war eine Heidenarbeit, aber das war es wert. Eines musste Jessica klar zugeben: Gut schmecken tat Sherry ja schon. Zumindest ihre Knochen.

 

Drei

Dreh dich nicht um

 

Die Scheibe spiegelte die hagere Gestalt mit den hungrigen Augen wider. Alexander stand vor der großen Glasfront, wie er es jedes Jahr am Tag vor Weihnachten zu tun pflegte. Er liebte die märchenhaft schönen Lichterketten, mit denen der Hausherr des Restaurants seine Zimmer schmückte. Wie von selbst zogen sich seine Mundwinkel nach oben, wenn er sie erblickte. Auf diesen besonderen Tag fieberte Alexander immer monatelang hin.

Begierig beobachtete er das Geschehen im Inneren des japanischen Restaurants. Mehrere Glückskatzen waren in dem großen Raum mit den vielen Tischen platziert worden. Die waren neu, da war er sich sicher. Letztes Jahr waren sie noch nicht Teil der Einrichtung.

Sein rechtes Bein zitterte und wippte nervös auf und ab. Gleich würde es so weit sein.

Er hatte bereits gesehen, dass sie dabei gewesen waren, zu bezahlen. Vermutlich war es teurer als letztes Jahr, denn die junge Frau hatte noch ein Dessert verspeist, was sie sonst in all den Jahren nie getan hatte.

Eine Kugel von einem Sorbet – welche Geschmacksrichtung es hatte, konnte Alexander höchstens raten. Es sah nach Zitrone oder Limette aus, konnte aber genauso gut Apfel gewesen sein. So etwas frisches passte kaum zum weihnachtlichen Flair, der um sie und ihre Mutter herrschte.

Als er beobachtete, wie erneut ein Gast nach draußen in die Gasse, in welcher er wartete, kam, zückte er eilig sein Smartphone, wie er es schon so häufig an diesem Abend getan hatte. Rasch hielt er es sich an sein Ohr, das halb von den braunen Locken bedeckt war.

„Nein, das geht so nicht... Ja, wir müssen das umplanen...“

Seine Stimme war so laut, dass jedes Wort klar und deutlich zu hören war. Der Gast, der bis eben in der eisigen Kälte eine Zigarette geraucht hatte, machte sich eilig daran, wieder in die Wärme des Hauses zu kommen.

Alexander hatte es so oft durchdacht, Sätze eingeübt, welche er beim „Telefonieren“ verwenden konnte. Einfache Sätze. Sätze, die keinen Verdacht erregen würden. Dabei spielte er bei jedem seiner unechten Telefonate ein anderes Szenario – mal den Geschäftsmann, den Ehemann, den Freund, dessen Hilfe gebraucht wurde. Niemand würde ihn auf diese Weise verdächtigen.

Geduldig wanderte Alexanders Blick erneut in das Restaurant. Der Tisch, an dem bis so eben sein Zielobjekt gesessen hatte, war bereits leer. Sein Puls begann zu rasen. Sie musste jeden Moment aus der Türe kommen. Mit großen Schritten eilte er zur anliegenden Gasse.

Puh. Alexander hatte es gerade so rechtzeitig geschafft, denn seine Traumfrau trat in diesem Augenblick hinaus in die eisige Winterkälte.

An diesem Abend war es besonders frostig. Der Schneefall hatte erst vor wenigen Stunden aufgehört und die Luft war feucht und kalt.

Wie gerne würde Alexander sie wärmen.

Erstmals hatte er sie in einem Buchladen gesehen. Wie sie dort gestanden hatte, vor den vielen Bücherregalen, hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Dort hatte er sie das erste Mal beobachtet. Beobachtet, wie sie das Buch „Oh Kindelein“ aus einem der Regale herausgenommen und eingehend gemustert hatte. Wie sich ihre Mundwinkel nach oben gezogen hatten, in ihrer Vorfreude darauf, es zu lesen. Sie war in Begleitung ihrer Mutter gewesen. Alexander war den beiden Frauen gefolgt, unauffällig und unscheinbar. Er war ihnen hinterhergelaufen bis zu diesem japanischen Restaurant. Nur wenige Minuten hatte er die blonde junge Frau durch das Fenster beobachtet, ehe ihn die Angst gepackt hatte, entdeckt zu werden. Dann war er gegangen.

Die Gedanken an die bezaubernde Frau waren allerdings geblieben – er hatte sie nicht vergessen können. So hatte er beschlossen, sein Glück zu versuchen. Vielleicht würde sie wieder in dasselbe Lokal kommen. Obwohl er viele vergebliche Abende vor dem japanischen Restaurant gelauert hatte, konnte er sie nicht wiedersehen. Bis am Abend vor Weihnachten. Genau ein Jahr nach seinem letzten Treffen mit ihr. Sein Gefühl hatte ihn nicht in Stich gelassen: Er würde ihr endlich wieder begegnen. Alexander hatte nur geduldig sein müssen. Er hatte es gewusst.

An diesem Abend hatte er nur durch das Fenster beobachtet, wie die entzückende Blondine und ihre Mutter aßen.

Im Folgejahr war er ihnen wenige Meter ihres Heimweges gefolgt. Ab diesem Zeitpunkt war ihm klar gewesen, dass die schöne Frau in Gehweite zum Lokal wohnen musste.

Im Jahr darauf hatte er sie ein ganzes Stück begleitet, ehe er sich versteckt und die beiden verloren hatte.

Ein weiteres Jahr später hatte seine Auserwählte eine kleine Notiz verloren. Sie musste ihr aus der Handtasche gefallen sein. Alexander war sich sicher, dass diese Notiz einzig und allein für ihn bestimmt war. Darauf hatte sich eine Adresse gefunden, die er selbstverständlich schon am nächsten Tag aufgesucht hatte. Am Weihnachtstag.

Eine brünette Frau hatte die Tür geöffnet, aus deren Wohnung der Duft nach Plätzchen geströmt war. Der Geruch war köstlich gewesen.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Ihre Stimme hatte freundlich geklungen. Ihr rundes Gesicht war mit Mehlspuren verunreinigt gewesen.

„Ja, ich suche...“

Er hatte ihren Namen nicht gekannt. Schnell hatte er sich geräuspert.

„Eine Dame hat gestern einen Zettel mit Ihrer Adresse verloren. Ich dachte, es könnte vielleicht wichtig sein.“

Irritiert hatte die brünette junge Frau ihn angesehen.

„Einer Kundin vielleicht? Danke für den Hinweis, ich werde sie anrufen und ihr meine Adresse nochmal durchgeben.“

Die Frau hatte nach der Türe gegriffen. Alexander hatte reagieren müssen, wenn er wissen wollte, wer seine geheimnisvolle Liebe war.

„Es duftet einfach köstlich! Darf ich fragen, ob ich eines der Plätzchen kosten dürfte?“

Alexander hatte auf die Gebäckstücke, die hinter der Hobby-Bäckerin aufgetürmt waren, gedeutet.

Sie war augenblicklich errötet, ehe sie zur Seite geschritten war, um ihn hereinzubitten.

„Aber natürlich, kommen Sie!“

Alexander hatte ihr schmeicheln wollen und es schien ihm ohne Probleme gelungen zu sein. Er hatte in sich hineingelächelt, als ihm die Frau einen Teller mit den selbstgebackenen Süßwaren hingehalten hatte.

„Ich bin übrigens Jessica!“

Ein Lächeln hatte sich über ihr pausbäckiges Gesicht gezogen.

„Sehr erfreut, ich bin Michael.“

Die Lüge war ihm ohne Probleme über die Lippen gekommen.

„Warte einen Moment, ich rufe kurz meine Kundin an – nicht, dass ich es wieder vergesse, ich kleines Schusselchen“, nervös hatte Alexanders Gegenüber gekichert. „Willst du noch Plätzchen?“

Ohne die Antwort abzuwarten, hatte sie ihm den Porzellanteller in die Hand gedrückt. Alexander fand, dass die Plätzchen hervorragend waren.

Was wohl ihre Geheimzutat war?

„Hi Tina, hier ist Jessica. Kann es sein, dass du meine Adresse verloren hast?“

Jessicas Stimme hatte plötzlich kühl und professionell geklungen.

Tina. Das war also ihr Name.

Er hatte bemerkt, wie Jessica die Telefonnummer und den Namen aus einem Notizbuch herausgesucht hatte. Eifrig hatte er in einem unbeobachteten Moment einen Blick in das kleine Büchlein geworfen.

Tina Sommer.

Ihre Telefonnummer hatte er sich auf die Schnelle nicht merken können. Aber das war nicht weiter schlimm gewesen. Nur wenige Momente später hatte er sich von der freundlichen Jessica verabschiedet, ihr ein frohes Fest gewünscht und die gesamten sozialen Medien nach Tina Sommer durchforstet.

Und Alexander hatte sie gefunden.

„Mum, kommst du?“

Tina stand auf der Treppe vor dem Restaurant und beobachtete, wie ihre Mutter sich mit dem Inhaber des Lokals unterhielt. Sekunden später traten beide Frauen auf die mit Salz bestreute Straße.

Sein Herz bebte vor Freude. Er konnte es nicht erwarten, mehr von Tina und ihrem Leben zu erforschen. Er war schon so lange geduldig gewesen. Vielleicht konnte er endlich ihren Wohnort ausmachen – sehen, wie sie lebte. Unter den Handschuhen zitterten Alexanders Finger, jedoch nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung. Einen weiteren Moment verharrte er in der Dunkelheit der Gasse, ehe er hervortrat, um den beiden Frauen in die Nacht zu folgen. Sie waren in ein Gespräch vertieft und schienen ihren Verfolger nicht zu bemerken. Wie ein Tiger schlich er hinter ihnen her. Hinter seiner Beute.

Er beobachtet Tina aufmerksam aus der Entfernung. Ihre Haare wippten bei jedem Schritt. Doch urplötzlich wandte sich Tinas Mutter ein kleines Stück um. Alexander duckte sich hinter ein Auto. Das war verdammt knapp gewesen.

Aber er konnte nicht aufgeben. Nicht schon wieder.

Er musste wissen, wo Tina wohnte. Er musste es heute Abend unbedingt erfahren.

Mutter und Tochter schienen eine seltsame Vorahnung zu haben. Ihre Schritte wurden schneller, und die Blicke der beiden zuckten immer wieder hinter sich.

In seine Richtung.

Jedes Mal gelang es ihm knapp, ihnen zu entgehen. Er musste vorsichtiger sein, und so ließ er einen größeren Abstand zu seinen Zielobjekten. Jedoch nicht groß genug, als dass sie ihm entkommen konnten.

Ruckartig kamen die beiden zum Stehen. Tina umarmte ihre Mutter innig. Die Dame schritt weiter die Straße entlang, während Tina in ihrer Tasche kramte. Schnell wurde sie fündig und zog ihren Schlüssel hervor. Wenige Sekunden später öffnete sie bereits die Tür.

Dort also war ihr Zuhause.

Sein Atem hauchte weißen Nebel in die kalte Winterluft. Er betrachtete der breite Eingang, der in ein winziges Häuschen führte. Gerade groß genug für eine einzelne Person – aber vielleicht doch auch für ein Paar? Die Hauswände waren hellgelb gestrichen, das kleine Gebäude war ebenerdig.

Er wusste nun, wo sie wohnte. Gerade wollte er sich umdrehen, um zu gehen, dann sah er es.

Die Tür.

Sie stand einen kleinen Spalt offen.

Hatte sie die Tür für ihn offengelassen?

Ahnte sie etwa, dass er ihr seit Jahren folgte?

Eigentlich hatte er vor, zu gehen.

So weit waren sie doch noch nicht. Oder war sie etwa durchaus schon bereit, ihn kennenzulernen? Alexander lief der Schweiß plötzlich über den ganzen Körper. Sein Herz drohte aus seiner Brust zu springen. Aber was nun? Ratlos stand er vor ihrer Türe. Sollte er gehen?

Nein, beschloss er. Denn wer wusste schon, wann sich eine solche Gelegenheit wieder ergeben würde.

 

Vier

Verspätetes Nikolausfest

 

Die Lichter erstrahlten über der gesamten Stadt. Die leuchtenden Ketten waren an jedem Haus, an jeder Straßenlaterne angebracht und erhellten die kalte Nacht. Jedes Schaufenster erstrahlte in weihnachtlichem Glanz. Kein einziger der Ladenbesitzer hatte es sich nehmen lassen, am inoffiziellen Dekorationswettbewerb teilzunehmen.

Wie er es verabscheute.

Kinder, die gerade aus der Richtung des Weihnachtsmarktes kamen, rannten an Ed vorbei und wirbelten dabei den bereits matschigen Schnee in die Luft. Ihr Lachen war laut in der gesamten Straße zu hören.

Edgar war in seinen besten Jahren und hatte zeit seines Lebens noch nie verstanden, was an diesem jährlichen Fest so geliebt wurde. Von seiner Familie war schon viele Jahre lang keiner mehr übrig, abgesehen von seiner entfernten Großnichte Jessica, die ihm jährlich köstlichste Backwaren zuschickte. Und eigentlich war das auch das Einzige, was Ed an Weihnachten mochte: Jessicas Plätzchen.

Das morgige Fest würde er ignorieren, so wie er es jedes Jahr tat. Doch leider sah der Rest der Stadt das anders und zwang Ed ihre Weihnachtsfreude beinahe auf. Von wegen Fest der Liebe. Dass er nicht lachte. Auf ihn nahm kein Mensch Rücksicht. Er rümpfte seine Nase. Das war das Nächste, was ihm überhaupt nicht gefiel an dieser viel zu überschätzten Zeit des Jahres: die Kälte.

Eilig setzte er einen Fuß vor den Anderen. Wenn er keine Lebensmittel benötigen würde, würde er gar nicht erst nach draußen gehen, in diese weihnachtsverseuchten Straßen. Der Supermarkt war fußläufig, doch die Minusgrade erschwerten ihm jeden Atemzug. Wie kleine scharfe Messer bohrte sich die Kälte bei jedem Schnaufer in seinen Rachen. Nur noch wenige Meter bis zum Supermarkt zog er sich den kratzigen Schal, den er vor Jahren geschenkt bekommen hatte, enger um den faltigen Hals.

Die Wärme des Gebäudes empfing ihn, als er den ersten Schritt durch die Glastüre machte. Erleichtert atmete er aus. Ed zog seine Einkaufstasche hervor. Durch die Regale huschend begann er zu verstehen, dass er nicht einmal hier vor Weihnachten sicher sein würde: Lebkuchen, Schokoladen-Weihnachtsmänner, Spekulatius. Für ihn war es einfach nur zum Kotzen.

Selten war er derart froh gewesen, seine kleine Wohnung im ersten Stock zu betreten. Nicht nur, dass er endlich vor der Eiseskälte geschützt war, sondern auch der ganze Weihnachtsspuk hatte sich hiermit für ihn erledigt. Nun konnte er sich einen Whiskey, den er mit den restlichen Einkäufen durch das Frostwetter geschleppt hatte, einschenken und in aller Ruhe Fernsehen.

Das Flackern des Bildschirms erhellte die Wohnung. Die Deckenlampe hatte Ed ausgeschaltet, denn die bunten Lichterketten, die gegen seinen Willen von den Nachbarn überall vor seinem Fenster platziert worden waren, waren für seinen Geschmack bereits hell genug.

Er wünschte sich doch nichts sehnlicher als nur seine Ruhe vor dem ganzen Trubel.

War das denn tatsächlich zu viel verlangt?

Die kühle Flüssigkeit brannte in seinem Rachen. Er verzog das Gesicht.

„In der Not trinkt der Teufel Whiskey.“

Ed schüttelte den Kopf.

Er war viel zu geizig als Unmengen an Geld für überteuerten Whiskey auszugeben. Da trank er lieber diese Plörre.

Nach dem dritten Glas der bräunlichen Flüssigkeit machte sich Müdigkeit in ihm breit. Er sah gerade noch, wie die Werbung startete, als seine Lider zufielen und er die Welt, wie er sie kannte, verließ, um in einen tiefen Schlaf zu fallen.

Seine Beine fühlten sich taub an. Warum zum Teufel war er auf dem Sofa eingeschlafen? Das tat er nie, seine Rückenschmerzen plagten ihn auch so schon genug. Erschöpft rappelte er sich auf. Es musste tiefste Nacht sein, es war dunkel draußen – insofern man bei diesem bunten Lichtermeer von Dunkelheit sprechen konnte.

Ed stützte sich mit seinen Händen ab, um seine Beine von seiner ledernen Sitzecke zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Die dicke Wolldecke, die ihn bis zu seiner Hüfte bedeckte, schien ihn festzuhalten. Verschlafen zog er sie zur Seite. Das Glas Whiskey stand noch immer auf dem Wohnzimmertisch vor ihm, doch er hatte nicht länger ein Verlangen danach.

Er wollte nur schlafen.

Als der Stoff sich von seinen Beinen löste, erblickte Ed etwas, dass ihn stocken ließ. Nicht die Decke hielt seine unteren Extremitäten so fest zusammen. Präzise drapierte Lichterketten waren um seine Gliedmaßen gewickelt. Sie gaben in bunten Farben Licht von sich.

Was ging hier vor sich?

Ein Zittern der Angst erweckte seine müden Knochen und das Adrenalin, das augenblicklich durch seinen gesamten Körper strömte, rüttelte seinen Geist wach.

Sofort griff er mit seinen Händen nach den Ketten, doch es waren zu viele. Er musste sie erst entwirren. Panisch sah Ed um sich, während er sich weiter an den Lichtern zu schaffen machte.

Machten sich die strahlenden Leuchten etwa über ihn lustig, so wie sie dort blinkten und ihre Farbe wechselten?

Er kniff seine Augen zusammen. Niemand war in den Ecken seines Wohnzimmers zu sehen, die durch seine Fesseln erleuchtet wurden. Er zog weiter an den einzelnen Strängen, ehe das Licht plötzlich erlosch.

Bei seinem Versuch, die Lichterkettenfalle zu lösen, hatte er das Ende der Gebinde aus der Steckdose hinter seinen Beinen gezogen.

Das konnte ihm nur recht sein. Endlich hatte er Ruhe von dem elenden Lichterfest.

Ruhelos ließ er seinen Blick durch den Raum wandern. Hatte er dort etwa einen Schatten gesehen? Oder hatte er sich doch getäuscht? Die düsteren Gestalten in seiner Fantasie übernahmen seine Gedanken.

Wer hatte das getan? War das etwa ein blöder Streich?

Kaum hatte er die erste Lichterkette entfernt, merkte er, dass es mindestens weitere sechs sein mussten, die seine Beine in ihrem Bann hielten. Eilig warf er die Erste beiseite.

Waren es vielleicht diese blöden Kinder von nebenan, die immerzu hinter seinem Rücken tuschelten? Was sollte diese Kapriole?

Schritte unterbrachen seine Gedanken.

Jemand war in seiner Wohnung.

Laute Schritte, zu schwer für die eines Kindes.

Er musste sich befreien.

Schnell.

Eds Herz begann immer rasender zu pochen. Seine Hände flogen über die einzelnen Ketten, aber es war nicht möglich, sie so schnell zu lösen.

Die Schritte waren nun deutlich hinter ihm zu hören. Gänsehaut überzog seinen gesamten Körper. Seine Beine, die aufgrund seiner Lage zu anderen Bewegungen außerstande waren, vibrierten. Der Geruch von feuchter Erde machte sich im gesamten Raum breit. Angestrengt dachte Ed nach, woran ihn dieser Duft erinnerte.

Es roch nach Weihnachten.

Schwachsinn, verbesserte er augenblicklich seine eigenen Gedanken.

Es roch nach Weihnachtsbaum.

Die Schritte klangen ab.

In Zeitlupe hob Ed seinen Kopf vorsichtig an. Er hatte Angst davor, was ihn erwarten würde. Sein eigener Atem ging laut und ungleichmäßig und er hatte Angst, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.

Eine dunkel gekleidete Gestalt mit einer mit Fell beklebten Holzmaske stand vor ihm. Spitze Hörner befanden sich auf seinem Schädel und ließen sein Antlitz um ein Vielfaches erschreckender wirken.

Der Krampus!

Die Gestalt hatte einen großen Leinensack über seine Schulter geworfen.

Ed erkannte die dämonische Erscheinung augenblicklich. Seine Eltern hatten ihm Schreckgeschichten von der angsteinflößenden Visite erzählt. Doch er war längst kein kleines Kind mehr.

„Aber-... das Nikolausfest ist doch bereits um...“

Nicht mehr als ein Stammeln kam von Eds dünnen Lippen. Das Pochen seines Herzschlags hallte laut in seinen Ohren wider.

Eine Antwort bekam er nicht. Sein Gegenüber öffnete stattdessen seinen Sack und hüllte Ed damit in Dunkelheit.

 

Fünf

Onryō

 

Dan betrachtete eindringlich die Glückskatzen – die japanischen Maneki Neko –, die überall in seinem Restaurant aufgestellt waren. Es war kurz vor zehn Uhr und die meisten Gäste hatten sich bereits verabschiedet. Draußen war längst alles in Dunkelheit gehüllt. Eilig ging er auf die beiden Damen zu, die sich gerade erhoben.

„Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.“

Er lächelte zuerst das Mädchen, dann ihre Mutter an. Die beiden waren jedes Jahr am Tag vor Weihnachten hier und Dan freute sich, dass er Teil ihrer Tradition geworden war. Die Tochter war bereits die ersten Stufen in die Kälte hinausgetreten, als Dan ihrer Mutter noch in den Mantel half.

„Das Essen war wie immer hervorragend“, sie lächelte ihn an.

„Ein schönes Weihnachtsfest!“

Die Eiseskälte, die sich von draußen seinen Weg zu Dan suchte, als er der Frau die Tür öffnete, ließ ihn zittern. Es kam ihm so vor, als wäre dieser Winter noch kühler als in den Vorjahren.

Die Heizrechnungen waren in jedem Fall bereits im November höher gewesen als letztes Jahr.

Dan nahm die benutzten Teller samt der leeren Glückskeksverpackungen von dem Tisch, an dem soeben noch die beiden Frauen gesessen hatten. Der letzte verbliebene Tisch bat ihn um die Rechnung, er nickte und trat schnell hinter den Tresen. Wie meistens vermied er es, auf die Kasse zu klicken, sondern nahm seine schriftlichen Notizen, die er zu jeder Tischnummer zu machen pflegte, zur Hand. Die Steuerbehörde war schon lange nicht mehr hier gewesen, und wenn sie wieder kamen, musste er auf der Hut sein. Doch am Tag vor Weihnachten drohte ihm keine Gefahr, keine Menschenseele würde ihm am heutigen Abend seine Arbeit schwerer machen, als sie es ohnehin bereits war. Er hatte seine beiden Angestellten bereits nach Hause geschickt, als die ersten Gäste im Aufbruch gewesen waren. Sollten doch sie wenigstens einen schönen Start ins Weihnachtsfest haben.

Dan war ein unzufriedener Mann.

Er schuftete sich zu Tode, und doch fragte er sich Tag für Tag, wozu. Seine Frau war vor einigen Jahren an Weihnachten in der Küche gestürzt und hatte sich den Kopf tödlich an einer Ecke der metallenen Arbeitsplatte gestoßen.

---ENDE DER LESEPROBE---