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«Alle außer das Einhorn» heißt die Chatgruppe der Klasse. Alle sind dabei, nur Netti darf nicht mitmachen. Dafür muss sie hilflos zusehen, wie ihr Handydisplay sich mit Lügen, Hasskommentaren und Drohungen füllt. Nicht mal Nettis bester Freund Julius hält mehr zu ihr, seit Fever, die Neue, in der Klasse das Sagen hat. Und was sollen die Eltern oder die Lehrerin schon ausrichten gegen die Flut an anonymen Beschimpfungen? Also tut Netti nichts, bis zum Tag des Kostümfests. Heute soll Netti, das Einhorn, endlich richtig aufs Horn kriegen – doch dann geht die Sache ganz anders aus … Cybermobbing unter Jugendlichen nimmt dramatisch zu, der Umgang damit überfordert Eltern und Pädagog_innen gleichermaßen. Kirsten Fuchs nähert sich dem Thema auf so unterhaltsame wie drastische Weise, ohne dabei das Internet und soziale Medien zu verteufeln.
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Seitenzahl: 50
Kirsten Fuchs
Alle außer das Einhorn
Ihr Verlagsname
«Alle außer das Einhorn» heißt die Chatgruppe der Klasse. Alle sind dabei, nur Netti darf nicht mitmachen. Dafür muss sie hilflos zusehen, wie ihr Handydisplay sich mit Lügen, Hasskommentaren und Drohungen füllt. Nicht mal Nettis bester Freund Julius hält mehr zu ihr, seit Fever, die Neue, in der Klasse das Sagen hat. Und was sollen die Eltern oder die Lehrerin schon ausrichten gegen die Flut an anonymen Beschimpfungen? Also tut Netti nichts, bis zum Tag des Kostümfests. Heute soll Netti, das Einhorn, endlich richtig aufs Horn kriegen – doch dann steckt jemand anderes in Nettis Kostüm …
Cybermobbing unter Jugendlichen nimmt dramatisch zu, der Umgang damit überfordert Eltern und Pädagog_innen gleichermaßen. Kirsten Fuchs nähert sich dem Thema auf so unterhaltsame wie drastische Weise, ohne dabei das Internet und soziale Medien zu verteufeln.
Kirsten Fuchs, 1977 in Karl-Marx-Stadt geboren, ist vermutlich die bekannteste und beliebteste Autorin der Berliner Lesebühnenszene. 2003 gewann sie den renommierten Literaturwettbewerb Open Mike, seither hat sie einen festen Platz in der jüngeren deutschen Literatur. 2005 erschien ihr vielgelobter Debütroman «Die Titanic und Herr Berg», 2008 der Roman «Heile, heile» und 2015 «Mädchenmeute», das mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2016 ausgezeichnet wurde. In Moabit betreibt sie seit 2014 die Lesebühne «Fuchs und Söhne». Für ihr erstes Theaterstück «Tag Hicks oder Fliegen für vier» erhielt sie den Berliner Kindertheaterpreis und Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin 2015.
NETTI
Nennen wir diesen Tag mal Einhorntag. Der Einhorntag heißt Einhorntag, weil – das werdet ihr ja gleich verstehen. Wenn ich den Einhorntag wiederholen könnte, würde ich alles anders machen. Ich würde einfach klüger sein. Ich würde mutiger sein, und ich würde …
… alles anders machen. Das fängt schon morgens an. Ich würde aus dem Zimmer kommen und mit meinen Eltern über die Sache reden.
Hab ich aber nicht.
MUTTER
Netti!
VATER
Nettchen.
NETTI
Hallo, ich bin Jeanette. Mama und Papa sagen …
MUTTER
Nettiiiiiii!
VATER
Nettiliebileinchen.
NETTI
Sie sagen, dass sie sich echt viele Gedanken gemacht haben, wegen meinem Namen, damit es der richtige ist, damit er zu mir passt. Sie haben sich um alles andere auch Gedanke gemacht. Die richtige Ernährung und hier der richtige Ranzen, gut für meinen Rücken und da das richtige Brot. Von gestern. Hab ich gar nicht aufgegessen. Muss ich verstecken, aber dann finden das meine Eltern. Oh Mann, NERV! (Isst das alte Brot.)
MUTTER
Netti? Was machst du denn da so lange?
NETTI
(mit vollem Mund) Nöchts!
VATER
Lass sie doch. Sie darf doch auch mal Geheimnisse haben.
MUTTER
Hast du Geheimnisse? Du darfst Geheimnisse haben, ja? Ich will nur wissen, ob du welche hast.
NETTI
Nein.
VATER
Hörst du, sie hat keine.
MUTTER
Das würde sie uns doch nicht sagen, wenn sie welche hätte. Hast du welche?
NETTI
Nein.
MUTTER
Siehst du, sie hat also welche. Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.
NETTI
Jetzt machen sie sich wieder Gedanken. Direkt vor meiner Tür.
MUTTER
Wenn du nicht bald rauskommst, kommen wir rein.
VATER
Wir müssen ihre Privatsphäre respektieren.
MUTTER
Netti, mach doch bitte auf und komm raus, ja? Wir wollen zusammen frühstücken. Es gibt Müsli mit frischen Früchten.
NETTI
(isst immer noch Brote vom Vortag) Kein Hunger.
MUTTER
(flüstert zu Vater) Hat sie eine Essstörung? Hatte sie zu viel Zucker? Oder zu wenig? Oder den falschen? Oder zu spät am Tag?
VATER
Nun beruhige dich mal.
NETTI
Ich muss noch was für die Schule machen.
VATER
Gut, gut. Kein Problem.
MUTTER
Ja, klar. Na klar. Das Müsli packe ich dir ein, ja?
NETTI
Dann muss ich morgen früh also altes Müsli essen. Vielleicht denke ich mal dran, es heute gleich in der Schule wegzuwerfen. (Schaltet ihr Handy an, liest schweigend, weint)
Du Hässlichkeit
Ich rasier dich hinten
Ich rasier dich
Deine Mutter
Heul doch
Heul doch
Deine Mutter, ey
Bring dich um
Bitte lösch dich
MUTTER
Nettchen
Heulopfer
Pickelface
Du kleiner Hund
MUTTER
Mäuschen, jetzt komm doch.
VATER
Kirschenäuglein.
Deine Mutter ist so arm wie ein Penner
Du bist ein Bastard
Deine Mutter ist eine Hure
Geh dich vergraben, du Wichskind
Dein Vater ist schwul. Deine Mutter so fett wie die Sonne.
Wenn du heute zum Kostümfest kommst, verprügeln wir dich.
NETTI
Mama, Papa, ich muss euch was erzählen. Wäre doch gar nicht so schwer gewesen, das zu sagen. Hier kuckt mal (hält ihnen das Handy hin oder imaginären Eltern oder Publikum): Die schreiben mir gemeine Sachen. Und dann hätte Mama gesagt:
MUTTER
Wir helfen dir.
NETTI
Und Papa hätte gesagt:
VATER
Wir kommen jetzt direkt mit zur Schule, und dann reden wir mit deiner Lehrerin, und dann wird das vor der Klasse ausgewertet. Was fällt denen ein, zu dir zu sagen …
Na, hast du gepetzt, du kleine Wurst?
Hat deine Mutter dich eigentlich schon geboren, oder steckst du noch in ihrer Muschi fest?
NETTI
Boah, ih, das ist ja eklig.
Wir können noch ekliger. Das ist erst der Anfang.
Wir machen dich fertig. Und wenn deine Mami und dein Papi in der Schule auftauchen, dann …
NETTI
Also habe ich am Morgen dieses Einhorntages nichts zu meinen Eltern gesagt. Stattdessen habe ich mein Einhornkostüm eingepackt und bin losgegangen.
MUTTER/VATER
Sollen wir dich in die Schule bringen?
NETTI
NEIN!
MUTTER
Freust du dich aufs Kostümfest? Wir kommen dich dann abholen.
NETTI
NEIN!
VATER
Doch, das ist so abgemacht. Wir wollten heute, weil die Ferien anfangen, essen gehen. Wie immer.
Netti kommt aus dem Zimmer, bekommt Küsschen.
MUTTER/VATER
(legen ihr die Hand auf die Schulter) Wir lieben dich.
Wir hassen dich.
MUTTER/VATER
Viel, viel, viel Spaß beim Kostümfest.
Wehe, du kommst heute zum Kostümfest. Das wäre dein letzter Tag.
Wenn wir dich da sehen, pissen wir dich voll.
Sobald Netti weg ist, stürmen die Eltern in ihr Zimmer, durchsuchen alles.
MUTTER
Taschentücher. Sie hat geweint.
VATER
Oder sie hat Schnupfen.
MUTTER
Oder Liebeskummer.
VATER
Was? Jetzt schon?
MUTTER
Vielleicht stopft sie sich was in den BH