Alle Galgenlieder - Christian Morgenstern - E-Book

Alle Galgenlieder E-Book

Christian Morgenstern

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Beschreibung

Kurios, wortgewandt und bisweilen makaber: der poetische Stil des Dichters Christian Morgenstern ist unverwechselbar. Seine "Galgenlieder" sind eine Sammlung von Gedichten, deren Wortwitz und rhetorische Kunstfertigkeit ihresgleichen sucht – auch wenn manche Werke eines genaueren Blicks bedürfen, um Morgensterns eigenwillige Rhetorik zu entschlüsseln. Seine Lyrik bringt beim ersten Lesen zum Lachen und beim zweiten Lesen zum Nachdenken – in den "Galgenliedern" ist nicht alles, wie es scheint! -

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Christian Morgenstern

Alle Galgenlieder

Galgenlieder Palmström Palma Kunkel Gingganz

Saga

Alle Galgenlieder

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1932, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726997262

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Dem Kinde im Manne

Im echten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen.

Nietzsche

 

zur 15. Auflage (1913)

Dem Kinde im Menschen

In jedem Menschen ist ein Kind verborgen, das heißt Bildnertrieb und will als liebstes Spiel- und Ernst-Zeug nicht das bis auf den letzten Rest nachgearbeitete Miniatur-Schiff, sondern die Walnußschale mit der Vogelfeder als Segelmast und dem Kieselstein als Kapitän. Das will auch in der Kunst mit-spielen, mit- schaffen dürfen und nicht so sehr bloß bewundernder Zuschauer sein. Denn dieses ›Kind im Menschen‹ ist der unsterbliche Schöpfer in ihm...

Christian Morgenstern

Wie die Galgenlieder entstanden

Es waren einmal acht lustige Könige; die lebten. Sie hießen aber so und so. Wer heißt überhaupt? Man nennt ihn. Eines Tages aber sprachen die lustigen Könige zueinander, wie Könige zueinander sprechen. »Die Welt ist ohne Salz; laßt uns nach Salz gehen!« sagte der zweite. »Und wenn es Pfeffer wäre«, meinte der sechste. »Wer weiß das Neue?« fragte der fünfte. »Ich!« rief der siebente. »Wie nennst du's?« fragte der erste. »Das Unterirdische,« erwiderte der siebente, »das Links, das Rechts, das Dazwischen, das Nächtliche, die Quadrate des Unsinnlichen über den drei Seiten des Sinnlichen.« »Und der Weg dazu?« fragte der achte. »Das einarmige Kreuz ohne Kopf mit der Basis über dem Winkel«, sagte der siebente. »Also der Galgen!« sagte der vierte. »Esto«, sprach der dritte. Und alle wiederholten: »Esto«, das heißt »Jawohl«. Und die acht lustigen Könige rafften ihre Gewänder und ließen sich von ihrem Narren hängen. Den Narren aber verschlang alsogleich der Geist der Vergessenheit. –

Betrachten wir den ›Galgenberg‹ als ein Lugaus der Phantasie ins Rings. Im Rings befindet sich noch viel Stummes.

Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht. Man weiß, was ein mulus ist: die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Schulbank und Universität. Nun wohl: ein Galgenbruder ist die beneidenswerte Zwischenstufe zwischen Mensch und Universum. Nichts weiter. Man sieht vom Galgenberg die Welt anders an, und man sieht andre Dinge als Andre.

Laß die Moleküle rasen,

was sie auch zusammenknobeln!

Laß das Tüfteln, laß das Hobeln,

heilig halte die Ekstasen!

Galgenberg

Blödem Volke unverständlich

treiben wir des Lebens Spiel.

Gerade das, was unabwendlich,

fruchtet unserm Spott als Ziel.

Magst es Kinder-Rache nennen

an des Daseins tiefem Ernst;

wirst das Leben besser kennen,

wenn du uns verstehen lernst.

Bundeslied der Galgenbrüder

O schauerliche Lebenswirrn,

wir hängen hier am roten Zwirn!

Die Unke unkt, die Spinne spinnt,

und schiefe Scheitel kämmt der Wind.

O Greule, Greule, wüste Greule!

»Du bist verflucht!« so sagt die Eule.

Der Sterne Licht am Mond zerbricht.

Doch dich zerbrachs noch immer nicht.

O Greule, Greule, wüste Greule!

Hört ihr den Huf der Silbergäule?

Es schreit der Kauz: pardauz! pardauz!

da tauts, da grauts, da brauts, da blauts!

Galgenbruders Lied an Sophie, die Henkersmaid

Sophie, mein Henkersmädel,

komm, küsse mir den Schädel!

Zwar ist mein Mund

ein schwarzer Schlund –

doch du bist gut und edel!

Sophie, mein Henkersmädel,

komm, streichle mir den Schädel!

Zwar ist mein Haupt

des Haars beraubt –

doch du bist gut und edel!

Sophie, mein Henkersmädel,

komm, schau mir in den Schädel!

Die Augen zwar,

sie fraß der Aar –

doch du bist gut und edel!

Nein!

Pfeift der Sturm?

Keift ein Wurm?

Heulen

Eulen

hoch vom Turm?

Nein!

Es ist des Galgenstrickes

dickes

Ende, welches ächzte,

gleich als ob

im Galopp

eine müdgehetzte Mähre

nach dem nächsten Brunnen lechzte

(der vielleicht noch ferne wäre).

Das Gebet

Die Rehlein beten zur Nacht, hab acht!

Halb neun!

Halb zehn!

Halb elf!

Halb zwölf!

Zwölf!

Die Rehlein beten zur Nacht, hab acht! Sie falten die kleinen Zehlein, die Rehlein.

Das Große Lalula

Kroklokwafzi? Se  e  e  i!

Seiokronto -- prafriplo:

Bifzi, bafzi; hulale  i

quasti bast bo ...

Lalu lalu lalu lalu la!

Hontraruru miromente

zasku zes rü rü?

Enpente, leiolente

klekwapufzi lü?

Lalu lalu lalu lalu la!

Simarar kos malzipempu

silzuzankunkrei (;)!

Marjomar dos: Quempu Lempu

Siri Suri Sei []!

Lalu lalu lalu lalu la!

Der Zwölf-Elf

Der Zwölf-Elf hebt die linke Hand:

Da schlägt es Mitternacht im Land.

Es lauscht der Teich mit offnem Mund.

Ganz leise heult der Schluchtenhund.

Die Dommel reckt sich auf im Rohr.

Der Moosfrosch lugt aus seinem Moor.

Der Schneck horcht auf in seinem Haus;

desgleichen die Kartoffelmaus.

Das Irrlicht selbst macht Halt und Rast

auf einem windgebrochnen Ast.

Sophie, die Maid, hat ein Gesicht:

Das Mondschaf geht zum Hochgericht.

Die Galgenbrüder wehn im Wind.

Im fernen Dorfe schreit ein Kind.

Zwei Maulwürf küssen sich zur Stund

als Neuvermählte auf den Mund.

Hingegen tief im finstern Wald

ein Nachtmahr seine Fäuste ballt:

Dieweil ein später Wanderstrumpf

sich nicht verlief in Teich und Sumpf.

Der Rabe Ralf ruft schaurig: »Kra!

Das End ist da! Das End ist da!«

Der Zwölf-Elf senkt die linke Hand:

Und wieder schläft das ganze Land.

Das Mondschaf

Das Mondschaf steht auf weiter Flur.

Es harrt und harrt der großen Schur.

      Das Mondschaf.

Das Mondschaf rupft sich einen Halm

und geht dann heim auf seine Alm.

      Das Mondschaf.

Das Mondschaf spricht zu sich im Traum:

»Ich bin des Weltalls dunkler Raum.«

      Das Mondschaf.

Das Mondschaf liegt am Morgen tot.

Sein Leib ist weiß, die Sonn ist rot.

      Das Mondschaf.

Lunovis

Lunovis in planitie stat

Cultrumque magn' exspectitat.

      Lunovis.

Lunovis herba rapta it

In montes, unde cucurrit.

      Lunovis.

Lunovis habet somnium:

Se culmen rer' ess' omnium.

      Lunovis.

Lunovis mane mortuumst.

Sol ruber atque ips' albumst.

      Lunovis.

Das Mondschaf

Das Mondschaf sagt sich selbst gut Nacht,

d.h., es wurde überdacht

von seinem eigenen Denker:

Der übergibt dies alles sich

mit einem kurzen Federstrich

als seinem eigenen Henker.

Die Trichter

Zwei Trichter wandeln durch die Nacht. Durch ihres Rumpfs verengten Schacht fließt weißes Mondlicht still und heiter auf ihren Waldweg u.s. w.

Der Rabe Ralf

Der Rabe Ralf

      will will hu hu

dem niemand half

      still still du du

half sich allein

am Rabenstein

      will will still still

            hu hu

Die Nebelfrau

      will will hu hu

nimmts nicht genau

      still still du du

sie sagt nimm nimm

's ist nicht so schlimm

      will will still still

            hu hu

Doch als ein Jahr

      will will hu hu

vergangen war

      still still du du

da lag im Rot

der Rabe tot

      will will still still

            du du

Fisches Nachtgesang

Galgenbruders Frühlingslied

Es lenzet auch auf unserm Spahn,

o selige Epoche!

Ein Hälmlein will zum Lichte nahn

aus einem Astwurmloche.

Es schaukelt bald im Winde hin

und schaukelt bald drin her.

Mir ist beinah, ich wäre wer,

der ich doch nicht mehr bin ...

Des Galgenbruders Gebet und Erhörung

(Ein Nachtlied, im Jenseits vorzusingen)

Die Mond-Uhr wies auf halber ilf,

da rief ich laut: Gott hilf, Gott hilf!

Wie singt im nahen Röhricht

die Unke gar so töricht!

U u, u u, u u, u u –

So geht es immer und immerzu!

Ich kann solch lautes Grübeln

der Kröte nur verübeln.

So schweig doch still, verruchtes Maul!

Sonst freß dich gleich der Silbergaul!

Er frißt dich auf wie Hafer drum

werde stiller, braver! ...

– – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – –

Die Mond-Uhr wies dreiviertel ilf,

verweht war mein: Gott hilf, Gott hilf! –

Im nahen Röhricht aber

erschien der Silbertraber.

Das Problem

Der Zwölf-Elf kam auf sein Problem

und sprach: »Ich heiße unbequem.

Als hieß ich etwa Drei-Vier

statt Sieben – Gott verzeih mir!«

Und siehe da, der Zwölf-Elf nannt sich

von jenem Tag ab Dreiundzwanzig.

Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen

Der Ochsenspatz

Die Kamelente

Der Regenlöwe

Die Turtelunke

Die Schoßeule

Der Walfischvogel

Die Quallenwanze

Der Gürtelstier

Der Pfauenochs

Der Werfuchs

Die Tagtigall

Der Sägeschwan

Der Süßwassermops

Der Weinpintscher

Das Sturmspiel

Der Eulenwurm

Der Giraffenigel

Das Rhinozepony

Die Gänseschmalzblume

Der Menschenbrotbaum.

Nachtbild

Es horcht ein Hofhund hinterm Zaun –

      (›Achtung! Hunde!‹)

Es horcht ein Hofhund hinterm Zaun

zur mitternächtigen Stunde.

Mit glühnden Augen steht der Hund

an einem Möbelwagen...

Der Mensch ist fort. Die Nacht ist rund

mit Sternen ausgeschlagen.

Der Tanz

Ein Vierviertelschwein und eine Auftakteule

trafen sich im Schatten einer Säule,

die im Geiste ihres Schöpfers stand.

Und zum Spiel der Fiedelbogenpflanze

reichten sich die zwei zum Tanze

Fuß und Hand.

Und auf seinen dreien rosa Beinen

hüpfte das Vierviertelschwein graziös,

und die Auftakteul auf ihrem einen

wiegte rhythmisch ihr Gekrös.

Und der Schatten fiel,

und der Pflanze Spiel

klang verwirrend melodiös.

Doch des Schöpfers Hirn war nicht von Eisen,

und die Säule schwand, wie sie gekommen war,

und so mußte denn auch unser Paar

wieder in sein Nichts zurücke reisen.

Einen letzten Strich

tat der Geigerich –

und dann war nichts weiter zu beweisen.

Das Knie

Ein Knie geht einsam durch die Welt.

Es ist ein Knie, sonst nichts!

Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!

Es ist ein Knie, sonst nichts.

Im Kriege ward einmal ein Mann

erschossen um und um.

Das Knie allein blieb unverletzt –

als wärs ein Heiligtum.

Seitdem gehts einsam durch die Welt.

Es ist ein Knie, sonst nichts.

Es ist kein Baum, es ist kein Zelt.

Es ist ein Knie, sonst nichts.

Der Seufzer

Ein Seufzer lief Schlittschuh auf nächtlichem Eis

      und träumte von Liebe und Freude.

Es war an dem Stadtwall, und schneeweiß

      glänzten die Stadtwallgebäude.

Der Seufzer dacht an ein Maidelein

      und blieb erglühend stehen.

Da schmolz die Eisbahn unter ihm ein –

      und er sank – und ward nimmer gesehen.

Bim, Bam, Bum

Ein Glockenton fliegt durch die Nacht,

als hätt er Vogelflügel;

er fliegt in römischer Kirchentracht

wohl über Tal und Hügel.

Er sucht die Glockentönin bim,

die ihm vorausgeflogen;

d.h., die Sache ist sehr schlimm,

sie hat ihn nämlich betrogen.

»O komm,« so ruft er, »komm, dein bam

erwartet dich voll Schmerzen.

Komm wieder, bim, geliebtes Lamm,

dein bam liebt dich von Herzen!«

Doch bim, daß ihrs nur alle wißt,

hat sich dem bum ergeben;

der ist zwar auch ein guter Christ,

allein das ist es eben.

Der BAM fliegt weiter durch die Nacht

wohl über Wald und Lichtung.

Doch, ach, er fliegt umsonst! Das macht,

er fliegt in falscher Richtung.

Das aesthetische Wiesel

Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel.

Wißt ihr, weshalb?

Das Mondkalb verriet es mir im stillen:

Das raffinier- te Tier tats um des Reimes willen.

Der Schaukelstuhl auf der verlassenen Terrasse

Ich bin ein einsamer Schaukelstuhl

und wackel im Winde,

                              im Winde.

Auf der Terrasse, da ist es kuhl,

und ich wackel im Winde,

                              im Winde.

Und ich wackel und nackel den ganzen Tag.

Und es nackelt und rackelt die Linde.

Wer weiß, was sonst wohl noch wackeln mag

im Winde,

            im Winde,

                              im Winde.

Die Beichte des Wurms

Es lebt in einer Muschel

ein Wurm gar seltner Art;

der hat mir mit Getuschel

sein Herze offenbart.

Sein armes kleines Herze,

hei, wie das flog und schlug!

Ihr denket wohl, ich scherze?

Ach, denket nicht so klug.

Es lebt in einer Muschel

ein Wurm gar seltner Art;

der hat mir mit Getuschel

sein Herze offenbart.

Das Weiblein mit der Kunkel

Um stille Stübel schleicht des Monds

barbarisches Gefunkel –

im Gäßchen hoch im Norden wohnts,

das Weiblein mit der Kunkel.

Es spinnt und spinnt. Was spinnt es wohl?

Es spinnt und spintisieret...

Es trägt ein weißes Kamisol,

das seinen Körper zieret.

Um stille Stübel schleicht des Monds

barbarisches Gefunkel –

im Gäßchen hoch im Norden wohnts,

das Weiblein mit der Kunkel.

Die Mitternachtsmaus

Wenns mitternächtigt und nicht Mond

noch Stern das Himmelshaus bewohnt,

läuft zwölfmal durch das Himmelshaus

      die Mitternachtsmaus.

Sie pfeift auf ihrem kleinen Maul, –

im Traume brüllt der Höllengaul ...

Doch ruhig läuft ihr Pensum aus

      die Mitternachtsmaus.

Ihr Herr, der große weiße Geist,

ist nämlich solche Nacht verreist.

Wohl ihm! Es hütet ihm sein Haus

      die Mittemachtsmaus.

Himmel und Erde

Der Nachtwindhund weint wie ein Kind,

dieweil sein Fell von Regen rinnt.

Jetzt jagt er wild das Neumondweib,

das hinflieht mit gebognem Leib.

Tief unten geht, ein dunkler Punkt,

querüberfeld ein Forstadjunkt.

Der Mond

Als Gott den lieben Mond erschuf,

gab er ihm folgenden Beruf:

Beim Zu- sowohl wie beim Abnehmen

sich deutschen Lesern zu bequemen,

ein   formierend und ein   –

daß keiner groß zu denken hätt.

Befolgend dies, ward der Trabant

ein völlig deutscher Gegenstand.

Mondendinge

Dinge gehen vor im Mond,

die das Kalb selbst nicht gewohnt.

Tulemond und Mondamin

liegen heulend auf den Knien.

Heulend fletschen sie die Zähne

auf der schwefligen Hyäne.

Aus den Kratern aber steigt

Schweigen, das sie überschweigt.

Dinge gehen vor im Mond,

die das Kalb selbst nicht gewohnt.