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Die verzweifelte Suche nach dem Täter … Der spannungsgeladene Thriller »Allein mit deinem Mörder« von Nicole Drawer jetzt als eBook bei dotbooks. Sie sind jung und schön – und er tötet sie, ohne eine Spur zu hinterlassen ... Die Hamburger SOKO ist in höchster Alarmbereitschaft, seit ein Serienkiller in rascher Abfolge zuschlägt. Weil die Ermittlungen nicht vorankommen und die Presse Sturm läuft, wird die junge Psychologin Johanna Jensen hinzugezogen – und obwohl der SOKO-Chef ihre Arbeit zunächst behindert, findet sie bald eine Spur: Anhand der Persönlichkeiten der Opfer gelingt es ihr, ein präzises Täterprofil zu erstellen. Aber kommt die Polizei dem Killer damit wirklich näher? Als ein Kollege aus dem Team spurlos verschwindet, deutet alles darauf hin, dass der Gejagte begonnen hat, seine Jäger ins Visier zu nehmen – und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bevor er Johanna finden wird … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Psychothriller »Allein mit deinem Mörder« von Nicole Drawer wird Fans von Catherine Shepherd und Chris Meyer begeistern; das Hörbuch erscheint bei Saga Emont Deutschland. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 519
Über dieses Buch:
Sie sind jung und schön – und er tötet sie, ohne eine Spur zu hinterlassen ... Die Hamburger SOKO ist in höchster Alarmbereitschaft, seit ein Serienkiller in rascher Abfolge zuschlägt. Weil die Ermittlungen nicht vorankommen und die Presse Sturm läuft, wird die junge Psychologin Johanna Jensen hinzugezogen – und obwohl der SOKO-Chef ihre Arbeit zunächst behindert, findet sie bald eine Spur: Anhand der Persönlichkeiten der Opfer gelingt es ihr, ein präzises Täterprofil zu erstellen. Aber kommt die Polizei dem Killer damit wirklich näher? Als ein Kollege aus dem Team spurlos verschwindet, deutet alles darauf hin, dass der Gejagte begonnen hat, seine Jäger ins Visier zu nehmen – und es nur noch eine Frage der Zeit ist, bevor er Johanna finden wird …
Über die Autorin:
Nicole Drawer (1965–2019) begann gleich nach dem Schulabschluss ihre Karriere bei der Polizei Hamburg. Sie war viele Jahre als verdeckte Ermittlerin tätig und absolvierte von 1993 bis 2000 ein Studium der Kriminalistik und Psychologie. In dieser Zeit setzte sie sich intensiv mit der Psyche von Serienmördern auseinander. Später wechselte sie zum Landeskriminalamt Hamburg und war viele Jahre als Kriminaloberkommissarin tätig.
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre Kriminalromane um die Psychologin Johanna Jensen: »Allein mit deinem Mörder« und »Das Zeichen auf der Stirn«, auch im Doppelband erhältlich. Außerdem erscheinen bei dotbooks ihre True-Crime-Sachbücher »Todesart: Nicht natürlich. Mit modernster Technik dem Täter auf der Spur« und »Todesart: Nicht natürlich. Ungeklärte Todesfälle auf dem Seziertisch«.
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eBook-Neuausgabe Juni 2014, September 2023
Copyright © der Originalausgabe 2003 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
Copyright © der Neuausgabe 2014, 2023 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Karol Kinal unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ys)
ISBN 978-3-95520-721-2
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Nicole Drawer
Allein mit deinem Mörder
Kriminalroman
dotbooks.
Für Chris Kevin,ohne den das Lebennicht halb so schön wäre.
Sie kannte kaum jemanden, der die Sonntage so hasste wie sie selbst. Besonders die nasskalten Sonntage im Herbst waren furchtbar. Das Nieselwetter in Hamburg schien untrennbar mit Sonntagen und Herbst verbunden zu sein; Bilder aus ihrer Kindheit kamen in ihr hoch, und sie sah sich wieder zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Mutter, einer strengen, kühlen Frau. Und beinahe glaubte sie sogar ihren Blick im Rücken zu spüren. Sie fröstelte. Unwillkürlich legte sie die Arme fester um ihren Oberkörper.
An Tagen wie diesen konnte man nichts Vernünftiges anfangen, schon gar nicht, wenn man allein war. Sie warf einen wütenden Blick auf ihr riesiges Bett, in dem sie immer öfter alleine schlief. Stefan hatte gestern angerufen und gesagt, dass es ihm Leid täte, aber er könnte leider nicht kommen. Wichtige Geschäfte würden ihn zwingen, nach Köln zu fahren. Übers Wochenende, na klar.
Sie wusste genau, dass er wieder mit einer anderen Frau unterwegs war. Wenn er dann genug hatte, kam er wieder zu ihr zurück, und sie tat dann immer so, als wäre nichts gewesen. Sie wusste wirklich nicht, warum sie sich das antat, aber wahrscheinlich fehlte ihr einfach der Mut, endgültig mit ihm Schluss zu machen. Mut war noch nie ihre Stärke gewesen. Etwas zu beenden oder etwas neu zu beginnen, machte ihr Angst. Irgendwie schien sie immer nur stumm abzuwarten, was als Nächstes auf sie zukam, ohne die Kraft, allein eine Entscheidung zu fällen oder auch nur ablehnend den Kopf zu schütteln.
Sie spürte, wie ihre Gedanken abschweiften. Wenn sie etwas nicht wollte, dann über ihre Vergangenheit nachzudenken und ihre Schwächen zu analysieren. Sie starrte noch immer grimmig auf das zerwühlte Bett. Stefans Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge. Sie war nur heilfroh, dass sie nicht mit Stefan zusammenlebte und jeder seine eigene Wohnung hatte. Wahrscheinlich hätte sie ihn einfach nicht ertragen. Aber so ganz konnte sie sich doch noch nicht von ihm lösen, obwohl er ein verdammter Hurenbock war. Ihren Patienten hätte sie bestimmt geraten, sich aus dieser Situation zu befreien und alleine weiterzumachen oder einfach noch mal von vorn anzufangen.
Sie kam sich bei solchen Sitzungen immer wie ein Klugscheißer vor. Aber wahrscheinlich war genau dies die bestechendste Eigenschaft eines Psychologen, nämlich die Fähigkeit, in anderer Leute Leben eine gewisse Ordnung herzustellen. Für das eigene Leben blieb dann nicht mehr genug Kraft. Sie musste daran denken, dass viele Menschen – besonders diejenigen mit den meisten Vorurteilen – der Meinung waren, dass Psychologen selbst Hilfe am nötigsten hätten. Und sie hatten Recht.
Auch beruflich sah es nicht gerade rosig aus. Das, was sie »Patienten« nannte, waren nichts anderes, als mehr oder weniger gestrandete Polizisten, die sich verstohlen in ihr Büro schlichen, damit bloß keiner sah, wohin sie gingen. Polizisten, die tranken, Drogen nahmen oder einfach kurz vor dem Suizid standen.
Sie hatte schon gewusst, warum sie diesen Job nie machen wollte. Ihr fehlte einfach die Geduld für diese Art von Psychologie. Das war nicht ihre Welt. Aber es blieb keine andere Möglichkeit. Ihr fehlte der Mut, etwas Neues zu beginnen.
So stand sie denn fast jeden Sonntag an irgendeinem Fenster und bemitleidete sich selbst. Es gab schließlich immer noch die Hoffnung, dass man sie irgendwann um Hilfe bat, wenn es darum ging, einen Mörder zu fassen. Manchmal kam sie sich vor wie ein kleines Mädchen, das davon träumte, Ballerina zu werden. Träume, die Wunschträume blieben. Nur eines war klar: Es musste bald etwas geschehen, schließlich wurde sie nicht jünger, höchstens frustrierter.
Das war auch der Grund, warum sie Sonntage so hasste: Jede Woche aufs Neue ergriffen Frust, Wut und vor allen Dingen eine gehörige Portion Selbstmitleid Besitz von ihr, und sie hatte das Gefühl, sich nicht dagegen wehren zu können. Natürlich war das Unsinn, aber es war so einfach, die Schuld nicht bei sich selbst zu suchen, sondern stattdessen alle Welt für das eigene Unglück verantwortlich zu machen.
Sie presste die Stirn gegen die Scheibe und schwenkte dabei ihren Becher mit dem inzwischen lauwarmen Kaffee. Sie hatte nur ihr Schlafshirt an und merkte, wie die Kälte langsam an ihren Beinen hochkroch. Von draußen klatschte der Regen gegen die Scheibe, und sie versuchte einem der Tropfen mit dem Finger zu folgen. Aber schließlich verlor sie den Tropfen, und ihr Finger verharrte auf der Scheibe. Es war fünf Uhr morgens und eigentlich für einen Sonntag noch zu früh, aber es lohnte sich nicht, wieder ins Bett zu gehen. Dort würde sie ohnehin nur weiter grübeln. Und grübeln konnte sie auch im Wohnzimmer mit ihrer beinahe kalten Tasse Kaffee.
Das Klingeln des Telefons holte sie zurück aus ihren Depressionen. Sie zuckte erschrocken zusammen, so sehr war sie in Gedanken gewesen. Stirnrunzelnd warf sie einen Blick auf die Uhr. Für ihre Mutter war es zu früh, und Stefan würde doch wohl nicht die Frechheit besitzen, sie aus dem Bett einer anderen Frau anzurufen? Sie widerstand ihrem ersten Impuls, das Telefon klingeln zu lassen, und nahm den Hörer ab.
»Ja?«
»Johanna, hier ist Markus. Du musst sofort ins Polizeipräsidium kommen.«
»Was ist passiert?«
»Das sage ich dir, wenn du hier bist. Beeile dich einfach, okay?«
»Ja, gut. Gib mir 'ne Stunde. Geht das?«
Aber Markus hatte schon aufgelegt. Einen Moment blieb sie regungslos neben dem Telefon stehen. Sie runzelte skeptisch die Stirn. Es schien wirklich eilig zu sein. Irgendein Kollege, der drohte, von einem Hochhaus zu springen? Egal, jedenfalls brauchte man ihre Hilfe. Auch wenn sie sich insgeheim darüber freute, war sie verärgert. Es hätte ja auch sein können, dass sie nicht allein war. Sie hätte ja auch verreist sein können. Darüber hatte Markus bestimmt nicht nachgedacht. Doch so schnell, wie ihr Ärger gekommen war, verschwand er auch wieder. Markus kannte sie einfach zu lange, war zu gut mit ihr befreundet, als dass er darüber nachgedacht hätte.
Resigniert ließ sie die Schultern fallen und stellte ihren Kaffeebecher auf den kleinen Tisch, der neben ihr stand. Etwas von der dunklen, leicht öligen Flüssigkeit schwappte auf die polierte Tischplatte. Sie beobachtete einen Moment lang die kleine Pfütze, die sich zögernd ausbreitete. Es würde einen Rand geben. Sie fragte sich, was ihre Mutter wohl jetzt sagen würde.
Wenn sie geglaubt hatte, das Polizeipräsidium an einem Sonntagmorgen verlassen vorzufinden, hatte sie sich gründlich getäuscht.
Vor dem Eingang standen ein paar Übertragungswagen der lokalen Radio- und Fernsehsender, was eigentlich nur bedeuten konnte, dass es sich um etwas ziemlich Wichtiges handelte. Im Geiste verabschiedete sie sich von der Vorstellung, dass auf irgendeinem Hochhaus ein lebensmüder Polizist stand, der nur darauf wartete, mit einem spektakulären Sprung in die Tiefe in die Abendnachrichten zu kommen.
Über den Hintereingang gelangte sie ungesehen in das Innere des Gebäudes. Was mochte wohl passiert sein? Markus hatte am Telefon nicht viel erzählt, aber es schien eine ziemlich eilige Sache zu sein, so viel konnte sie aus der Anwesenheit der Presse schließen.
Die Mordkommission befand sich im 7. Stock, und als sie aus dem Fahrstuhl trat, hatte sie das Gefühl, in einen Bienenstock geraten zu sein. Niemand kümmerte sich um ihre Anwesenheit, alle wuselten beschäftigt hin und her.
Markus' Büro war am Ende des Ganges, und als sie zaghaft an die offen stehende Tür klopfte, sprang er auf und eilte ihr entgegen.
»Gut, dass du da bist. Ich fürchte, wir haben ein Problem.« Markus wirkte müde, aber er schien trotz allem hoch konzentriert bei der Sache zu sein.
Einige Personen standen im Raum, vorwiegend Männer, und Johanna bemerkte leicht verärgert, dass sie verlegen wurde. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie direkt aus dem Bett kam. Ungeschminkt, in alten Jeans und einem verwaschenen Sweatshirt machte sie bestimmt nicht gerade den Eindruck, eine erfolgreiche Psychologin zu sein. Unsicher strich sie sich über ihre raspelkurzen Haare. Sei's drum, eine erfolgreiche Psychologin war sie einfach nicht, und auf einer Modenschau war sie hier schon gleich gar nicht. Etwas trotzig hob sie den Kopf und sah den Männern auffordernd entgegen.
»Was gibt's?« Es sollte sich gelangweilt anhören, aber irgendwie versagte ihr die Stimme. Sie war aufgeregt. Schließlich war es das erste Mal, dass man sie zu nachtschlafender Zeit anrief. Und zum Kaffeekochen hatte man sie vermutlich kaum aus dem Bett geholt.
Markus hatte sie schon am Arm gepackt und zog sie mit sich in einen Nebenraum.
»Hast du es schon gehört?«
»Was denn?«
»Wir haben wieder eine.«
»Eine was?« Verdammt, es war Sonntagmorgen und noch ziemlich früh für solche Frage-und-Antwort-Spiele.
Markus sah ihr in die Augen und redete geduldig weiter. »Eine weitere Leiche. Weiblich, 23 Jahre alt, schlank und sehr schön.«
»Das wäre dann Nummer drei.«
»Sehr richtig. Und das genau ist unser Problem.«
»Inwiefern?« Johanna bemerkte selbst, dass ihre Fragen Markus ungeduldig werden ließen, aber für sie war jeder Todesfall ein Problem. Nur bei Markus klang es, als gäbe erst diese Tote Grund zur Sorge.
»Mensch, Johanna, wir haben keinerlei Anhaltspunkte, und davon hat die Presse Wind bekommen. Die Journalisten bedrängen uns jetzt und fordern im Namen der Bürger mehr Sicherheit, schnellere Aufklärung und vor allem höhere Einschaltquoten.« Seine letzte Bemerkung klang ziemlich sarkastisch.
»Du brauchst meine Hilfe?« Vorsichtig war das richtige Wort, um den Tonfall ihrer letzten Frage zu beschreiben.
»Falsch. WIR brauchen deine Hilfe. Als Erstes steht eine Pressekonferenz an. Da macht sich ein Psychologe immer gut, aber dann, meine Liebe, wartet eine Menge Arbeit auf dich. Wir wissen gar nicht, wo wir anfangen sollen.«
»Eine was? Pressekonferenz? Du meinst, ihr wollt mich den Löwen zum Fraß vorwerfen, weil ihr mit eurem Latein am Ende seid? Ich habe mich doch mit den Morden bisher noch gar nicht befasst, ich weiß doch noch viel weniger als ihr!«
»Richtig, aber das wird sich ändern. Mein Chef ist der Meinung, dass ein Psychologe jetzt auch nicht schaden kann und wir es zumindest einmal probieren können.«
»Na, herzlichen Dank.« Da war sie endlich. Ihre Chance. Aber einen bitteren Beigeschmack hatte die ganze Sache doch. Es ging hier nicht um ihre Kompetenz, es ging hier lediglich darum, das Gesicht zu wahren und bei der Pressekonferenz eine gute Figur zu machen – viel schien man ihr auf jeden Fall nicht zuzutrauen. Sie hatte nicht übel Lust, zurück nach Hause zu fahren, aber ihr Stolz verbot ihr diese Reaktion. Schließlich war sie Profi und konnte endlich das tun, weswegen sie studiert hatte.
Sie klatschte in die Hände. Ihre Handflächen waren feucht, so dass es sich anhörte, als sei sie mit dem Fuß in den Matsch getreten.
»Also schön, was habt ihr?«
»Von der dritten Leiche noch nicht sehr viel. Die Kollegen sind noch draußen und machen die Tatortarbeit, aber ich kann dich schon mal im Groben mit den anderen Fällen vertraut machen. Allerdings«, er blickte auf seine Uhr, »haben wir nicht mehr viel Zeit. In einer Stunde soll die Pressekonferenz stattfinden. Es wird also nur ein kurzer Überblick werden. Genug, damit du dich vor der Presse nicht blamierst. Das sind Hyänen da draußen.« Er deutete mit dem Kopf über seine linke Schulter, um ihr zu zeigen, wo seiner Meinung nach die wilden Tiere auf sie warteten. Unwillkürlich folgte sie seiner Kopfbewegung und war fast ein wenig erstaunt, niemanden hinter sich zu sehen.
»Warum wollt ihr zu diesem Zeitpunkt die Presse informieren?«
»Schätzchen, wir brauchen die Presse nicht mehr zu informieren, sie ist es schon. Aber wir müssen versuchen, sie ruhig zu stellen, und damit ein wenig hinzuhalten. Wir brauchen mehr Zeit. Pass auf.« Er ging an einen Aktenschrank an der Wand und holte einen Ordner raus, in dem er blätterte. »Ich habe das Ganze mal grob zusammengeschrieben und versucht, einen Überblick zu bekommen. Die kompletten Ermittlungsakten gehen wir später durch. Erst einmal das hier.« Er setzte sich an einen Tisch, der direkt am Fenster stand, und winkte sie zu sich. »Komm setz dich.«
Die nächsten fünfundvierzig Minuten saßen sie sich gegenüber, und Johanna versuchte, Markus' Zusammenfassung zu folgen. Er schien alles im Kopf zu haben und brauchte nicht einmal in die vor ihm liegenden Unterlagen zu blicken. Es ging um drei Frauen, die zwischen zweiundzwanzig und dreißig Jahren alt gewesen waren. Alle drei waren tot, und es gab keine erkennbaren Zeichen äußerlicher Gewalteinwirkung.
»Kann es nicht auch Zufall gewesen sein?« Sie merkte selbst, wie albern ihre Frage war. Markus blickte sie schief von der Seite an.
»Soll das ein Witz sein? Die Todesursache konnte bei allen drei Frauen bisher nicht geklärt werden, und die Leichen wurden so abgelegt, dass sie möglichst vor großem Publikum gefunden werden mussten. Aber du hast schon Recht. Zuerst dachten wir auch so wie du. Aber nach der dritten Leiche hört der Zufall auf.«
»Was meinst du mit großem Publikum?«
»Der Typ will Aufmerksamkeit erregen. Vielleicht glaubt er, eine Art Kunstwerk zu schaffen, jedenfalls waren die Leichen auf beinahe künstlerische Art drapiert worden. Eine saß auf einer Parkbank im Stadtpark. Am Sonntagmorgen. Die Zweite saß auf einer Kirchenbank in einer katholischen Kirche in Bergedorf, und die dritte wurde heute auf einem Kinderspielplatz auf einer Schaukel gefunden.«
»Fundort oder Tatort?«
»Gute Frage. Vermutlich hat die Tat woanders stattgefunden, und er hat sie dort nur abgelegt, aber sicher sind wir nicht. Wie gesagt, es gibt keine Zeichen von äußerer Gewalteinwirkung. Der Pathologe sagt, Herzstillstand.«
»Gift?«
»Das ist das Problem. Es gibt zu viele Giftarten, aber Tests auf die bekanntesten Gifte hat der Pathologe durchgeführt.« Markus' Telegrammstil und sein Blick auf die Uhr verrieten Johanna, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten, bevor sie sich der Presse stellen mussten.
»Bist du auch gleich dabei?«
»Ja. Ich, mein Chef Sven Diekmann, der Staatsanwalt und du. Wirf den Löwen etwas zum Fraß vor. Irgendetwas. Denk dran, wir brauchen nur noch etwas mehr Zeit.«
»Kann ich mich irgendwo frisch machen? Ich fühle mich etwas übernächtigt.«
»Vergiss es. Das macht dich glaubwürdiger. Alle werden glauben, dass du dir ebenfalls die Nacht um die Ohren geschlagen hast.«
»Wir wären dann so weit.« Eine junge Polizistin steckte den Kopf zur Tür herein und nickte Johanna kurz zu. Johanna glaubte in den Augen der jungen Frau Skepsis zu lesen, aber das konnte natürlich auch Einbildung sein.
»Wir kommen.« Markus erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl. Erst jetzt sah sie, wie übernächtigt er war, und sie fühlte ein wenig Mitleid mit ihm. Er seufzte. Tiefe Falten hatten sich um seinen Mund gegraben, und seine Augen blickten trübe. Er schien schon die ganze Nacht im Dienst zu sein. Johanna dachte plötzlich daran, dass auch Markus es nicht immer ganz einfach gehabt hatte im Leben und es trotzdem irgendwie geschafft hatte. Doch sie verscheuchte die Gedanken gleich wieder und erhob sich ebenfalls. Sie musste sich jetzt auf die vor ihr liegende Aufgabe konzentrieren.
»Was, zum Teufel, soll ich ihnen erzählen?«
»Sag irgendetwas. Am besten etwas, was sich wissenschaftlich anhört. Dir fällt schon was ein.«
Gemeinsam gingen sie zum Fahrstuhl und fuhren ins Erdgeschoss. Wenig später standen sie vor dem großen Saal, in dem auch Einsatzbesprechungen abgehalten wurden. Vor der Tür wurden sie bereits von Markus' Vorgesetztem Sven Diekmann erwartet, der sich, ohne Johanna zu beachten, gleich direkt an Markus wandte.
»Alles geklärt?«
Markus nickte.
»Sie sollten sich auf ein Minimum beschränken.« Er streifte Johanna nur mit einem kurzen Blick und blätterte dann weiter in seinen Unterlagen, die er anscheinend noch schnell vor der Pressekonferenz ordnen wollte.
»Ich habe noch nicht einmal ein Minimum.« Johanna merkte selbst, dass sie zickig klang. Ob es daran lag, dass sie unausgeschlafen war, dass Stefan das Wochenende mit einer anderen verbrachte oder dass sie einfach über Diekmanns Arroganz, der sie wie eine kleine Anfängerin behandelte, verärgert war, wusste sie nicht zu sagen. Sie merkte nur, dass sich ihre Stimmung immer weiter verschlechterte. Diekmann blickte auf und sah sie aus zusammengekniffenen Augen verärgert an.
»Sie wissen, was ich meine? Erzählen Sie irgendwas über die Seele des Mörders im Allgemeinen. Alles, was wir wollen, ist, die Meute ein wenig hinzuhalten und Panik zu vermeiden. Es gibt schon Anfragen im Senat, ob Bürgerwehren die Lösung aller Übel wären. Also seien Sie brav, gehen Sie da rein und machen eine gute Figur.«
Er drehte sich um und eilte in den Raum, in dem die Presse bereits ungeduldig wartete. Johanna kochte vor Wut. Er hatte sie wie ein kleines Mädchen abgekanzelt, und das war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Fast hatte sie erwartet, dass er ihr einen aufmunternden Klaps auf den Hintern gab. Sie spürte Markus' Hand auf ihrem Arm.
»Reg dich nicht auf. Er ist genauso überreizt wie wir alle.«
Er ging voran zum Podium, auf dem bereits der Staatsanwalt und Diekmann saßen. Sie setzte sich neben Markus ans äußere Ende des Podiums und faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte. Langsam kehrte Ruhe im Saal ein, und Diekmann verlas eine vorbereitete Erklärung.
»In den frühen Morgenstunden des heutigen Tages wurde eine weibliche Leiche auf einem Spielplatz im Stadtteil Rissen gefunden, die auf einer Schaukel festgebunden worden war. Aufgrund der näheren Umstände kann ein Zusammenhang mit den beiden Frauenleichen der jüngeren Vergangenheit nicht ausgeschlossen werden. Die Polizei geht von einem Gewaltverbrechen aus. Polizei und Staatsanwaltschaft haben die Ermittlungen aufgenommen.«
Kaum hatte Diekmann geendet, brach ein Sturm los. Der Staatsanwalt hob beschwichtigend beide Hände. »Bitte, lassen Sie uns diese Angelegenheit geordnet regeln. Ja, bitte?« Er deutete auf einen jungen Mann in der ersten Reihe, einem Vertreter der »Morgenpost«.
»Was meinen sie mit näheren Umständen?«
»Die Leiche wurde an einem öffentlich zugänglichen Platz gefunden und weist keine äußeren Verletzungen auf. Nach ersten Erkenntnissen scheint es sich auch hier nicht um ein Sexualdelikt zu handeln.«
»Woran ist sie gestorben?« Der Vertreter der »Bild« schoss gleich hinterher.
»Dazu können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts sagen. Die Todesursache wird eine Obduktion ergeben.«
»Wer ist die Tote?«
»Auch dazu können wir uns, auf Rücksicht auf die Angehörigen, nicht äußern. Bitte, haben Sie Verständnis.« Der Staatsanwalt führte die Veranstaltung mit ruhiger Hand, und die Erregung legte sich langsam. Das Blitzlichtgewitter ließ nach, und auch Johanna entspannte sich ein wenig.
»Können Sie schon etwas zur Natur des Täters sagen?«
Diekmann beugte sich zu einem der Mikrofone.
»Hierzu wird Ihnen Frau Dr. Jensen, unsere Psychologin, mehr sagen können.« Damit hatte er Johanna den schwarzen Peter zugeschoben. Sie beugte sich nun ebenfalls vor und räusperte sich.
»Der Täter ist, wie Sie sicherlich wissen, noch nicht gefasst«, begann sie unsicher, und wurde sofort wieder unterbrochen.
»Da erzählen Sie uns nichts Neues! Aber wie sieht es mit einem Täterprofil aus. Haben Sie schon eines erarbeitet? Ist es ein Irrer?«
»Der Begriff ›Irrer‹ in diesem Zusammenhang ist unangebracht. Bei Serientätern handelt es sich nicht immer um Irre, wobei ich die Vokabel ›krank‹ bevorzugen würde.«
»Jetzt stellen Sie es so hin, als sei der Mörder das Opfer«, rief ein Journalist ungehalten dazwischen.
»Nein, aber in einigen Fällen ist das schon der Fall. Oft finden sich in der Kindheitsgeschichte solcher Täter gewalttätige Eltern oder möglicherweise sogar sexueller Missbrauch.«
Einige der Anwesenden sogen scharf die Luft ein. Johanna spürte einen Tritt von der Seite und sah aus den Augenwinkeln, wie Markus ihr ein Zeichen gab. Sie reagierte nicht.
»Und in den anderen Fällen?« Eine Frau aus der hinteren Reihe war aufgestanden und sah sie aus ernsten Augen interessiert an.
»Die Gründe für solche Taten sind vielschichtig. Aber fast immer steckt ein Streben nach Macht dahinter, das Gefühl, einen anderen Menschen beherrschen zu wollen und in einer solchen Situation auch beherrschen zu können.«
»Mit was für einem Typ haben wir es diesmal zu tun?« Die junge Frau konzentrierte sich weiterhin auf Johanna.
»Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt leider noch nicht sagen, wir arbeiten daran.«
Der Staatsanwalt stand auf. »Vielen Dank, meine Herrschaften. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihr Interesse. Mehr können wir bisher leider noch nicht sagen; sollten wir weitere wichtige Informationen gewinnen, werden wir Sie selbstverständlich umgehend informieren.« Ungeachtet des leisen Protestes aus den Reihen der Journalisten, drehte er sich um und marschierte gefolgt von den anderen zum Ausgang.
Markus hatte Johanna etwas schmerzhaft am Arm gepackt.
»Bist du wahnsinnig?« Sie fühlte seinen Atem dicht an ihrem Ohr. Draußen wartete Diekmann auf sie. Er unterhielt sich noch mit dem Staatsanwalt und unterbrach nur kurz das Gespräch, als Markus und Johanna hinzutraten. Er warf Johanna einen eisigen Blick zu. »Ich möchte Sie, Frau Dr. Jensen, und dich, Markus, umgehend in meinem Büro sprechen.« Er sprach langsam und ein wenig verbissen, als habe er Mühe, die Beherrschung zu wahren. Markus zog Johanna mit sich fort zum Fahrstuhl.
»Ich kenne diesen Tonfall. Das hat nichts Gutes zu bedeuten.«
»Was soll der Aufstand?« Johanna schüttelte ärgerlich seinen Arm ab. »Ihr behandelt mich, als hätte ich eine Todsünde begangen.«
»Das hast du auch, meine Liebe. Was hast du vor? Willst du dich zur Verteidigerin des Mörders aufschwingen? Was sollte das Opfergeschwafel und so weiter?«
»Es ist die Wahrheit.« Trotzig hob sie den Kopf und sah Markus in die Augen.
»Das mag ja sein, aber alles hat seine Grenzen. Weißt du eigentlich, was morgen in den Zeitungen stehen wird? Nein? Ich kann es dir sagen. Man wird uns zerreißen. Verdammt noch mal, mit deinem Gerede gibst du diesem Kerl da draußen einen Freifahrtschein.« Mittlerweile waren sie wieder im 7. Stock angekommen und standen in Markus' Büro. »Der Alte wird dich zerfetzen, so viel ist klar.«
»Er ist ein Arschloch.«
»So, bin ich das? Ich mag ein Arschloch sein, aber den Bockmist da draußen, den haben Sie ganz allein gebaut. Herzlichen Glückwunsch, Frau Doktor.«
Plötzlich stand Diekmann hinter Johanna. Er klatschte demonstrativ in die Hände, und sah sie grimmig lächelnd an. Dann trat er dicht an sie heran und fragte mit gefährlich leiser Stimme: »Vielleicht können Sie mir erklären, was der Scheiß da sollte?«
Johanna wich keinen Zentimeter zurück und antwortete ebenso ruhig, obwohl ihr die Haare vor Wut zu Berge standen.
»Ich sollte mich allgemein halten, und genau das habe ich getan.«
»Sie sollten aus dem Killer aber kein misshandeltes Kind machen. Dafür hat niemand Verständnis, am allerwenigsten die Angehörigen der toten Frauen. Haben Sie daran vielleicht mal gedacht?«
Johanna schluckte. Der Gedanke an die Angehörigen war ihr tatsächlich nicht in den Sinn gekommen. »Nein, habe ich nicht.«
Diekmann trat verwundert zurück und betrachtete sie skeptisch. Er schien zu überlegen, ob sie es ernst meinte. »Wenn Sie weiter an dem Fall mitarbeiten wollen, gebe ich Ihnen den guten Rat, in Zukunft mit ihren Äußerungen, besonders gegenüber der Presse, etwas vorsichtiger zu sein.«
Diekmann ging zu einem Tisch, auf dem eine Kaffeemaschine stand, und goss sich einen Kaffee ein, der gefährlich schwarz aussah und verbrannt roch.
»Noch jemand einen Kaffee? Übrigens, die Spurensicherung und die Mordbereitschaft vier sind wieder da. Und der Bericht müsste bald kommen. Sowie wir ihn haben, machen wir Feierabend und treffen uns am Nachmittag wieder. Bis dahin«, er wandte sich an Johanna, »haben Sie die anderen zwei Fälle verinnerlicht. Klar?«
Es war fast zehn Uhr, als sie ihre Haustür aufschloss. Der Herbst schien es mit sich zu bringen, dass es auch an diesem Tag nicht richtig hell werden wollte, aber auf einmal störte es sie nicht mehr. Der Fall war eine Herausforderung. Sie musste sich ein Bild von dem Mörder machen, seine Seele studieren, herausfinden, was ihn trieb, was er fühlte, was er erlebt hatte. Aber noch mehr musste sie über die Opfer in Erfahrung bringen. Denn wer das Opfer kennt, kennt auch den Mörder. Wer sich nur auf den Mörder konzentriert, kratzt nur an der Oberfläche. Fast alle Serienmörder suchen ihre Opfer nach bestimmten Kriterien aus. Entweder gibt es etwas, das sie an ihren Opfern anzieht, oder etwas, das sie abstößt.
Sie ließ die Akten auf ihr Sofa fallen und ging in die Küche, um etwas zu trinken. Aus dem Kühlschrank suchte sie sich alles für ein schnelles Frühstück heraus. Butter, Marmelade, Toast, das musste reichen. Mehr war ohnehin nicht da. Seufzend stellte sie fest, dass sie wieder einmal vergessen hatte, einzukaufen. Dabei ging ihr immer wieder Diekmann durch den Kopf. Sie wusste nicht viel über ihn. Er musste um die vierzig sein, und er sah sehr gut aus. Das dunkelbraune Haar war an den Schläfen bereits ein wenig ergraut und seine Figur noch immer sehr athletisch. Sein Körper schien nicht die üblichen Auflösungserscheinungen aufzuweisen, die so manch anderer Polizist in diesem Alter zeigte. Diekmann war geschieden und hatte eine halbwüchsige Tochter, die bei ihrer Mutter lebte. Dies war ein Teil seiner Biografie, den er mit vielen seiner Kollegen teilte.
Johanna nahm eine Brotscheibe aus dem Toaster und goss sich ein Glas Orangensaft ein. Dann balancierte sie ihren Imbiss auf einem Tablett ins Wohnzimmer. Diekmann hatte etwas Magisches an sich. Sie hatte schon viele Beamtinnen von ihm schwärmen hören. Es waren diese Augen, die einen festhielten. Und es waren genau diese Augen, die einen auch in Wut versetzen konnten. Johanna war Diekmann schon früher begegnet, aber sie hatte nie viel mit ihm zu tun gehabt. Er war so anders als Stefan. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Romantische Gedanken waren hier nun wirklich fehl am Platze. Sie hatte einen Job zu erledigen, und außerdem war Diekmanns Arroganz kaum zu überbieten. Sie würde noch öfter mit ihm aneinander geraten, so viel war klar. Für ihn schien nur eine Wahrheit Gültigkeit zu besitzen, und das war seine eigene.
Sie rieb sich mit beiden Händen kräftig übers Gesicht und sah dann auf die Uhr. Gegen fünfzehn Uhr wollten sie sich heute Nachmittag wieder treffen. Das bedeutete, dass sie sich noch in die Akten einlesen und sich einige Notizen machen musste. Zum Schlafen würde sie vermutlich nicht mehr kommen, aber daran sollte sie sich besser schon mal gewöhnen. Markus hatte die Vermutung geäußert, dass eine Sonderkommission eingerichtet werden würde, zu der auch sie gehören sollte. Das hieße dann, Freizeit ade. Zumindest für die nächsten Wochen. Sie seufzte wieder, und stellte ihr Glas auf den Tisch. Dabei fiel ihr der Becher wieder ein, den sie heute Morgen stehen gelassen hatte. Ein Blick auf das kleine Tischchen, das neben dem Fenster stand, zeigte ihr, dass die kleine Pfütze, die sich auf das Holz ergossen hatte, eingetrocknet war. Sie stand auf und hob den Becher, in dem sich ein fettig aussehender Rest befand, hoch und trug ihn in die Küche. Die Pfütze ließ sie, wie sie war. Zurück im Wohnzimmer ließ sie sich auf ihr Sofa fallen und begann zu arbeiten. Beim Öffnen der ersten Akte fielen ihr als Erstes die Tatortbilder in den Schoß. Obwohl darauf keine Verletzungen oder Blut zu sehen waren und die toten Augen der Frauen geschlossen waren, überkam sie ein leichter Schauer. Sie würde sich nie an so etwas gewöhnen können. Die zwei Jahre in den USA, in denen sie an einem Schulungsprogramm für FBI-Agenten teilgenommen hatte, hätten sie eigentlich abhärten müssen. Ihnen wurden damals echte Akten vorgelegt, anhand derer sie lernen sollten. Damals hatte sie einen ersten Eindruck davon bekommen, wozu Menschen fähig waren. Insofern war sie dankbar, dass ihre Arbeit in diesem Fall anscheinend kein so großer Horror werden würde. Sie legte die Bilder beiseite und las:
Claudia Beckmann, Alter: 22 Jahre, Größe: 165 cm, Gewicht: 52 Kilo. Haarfarbe: dunkel. Studentin. Sie wohnte noch zu Hause, hatte einen großen Freundeskreis, keinen festen Freund. Keine Auffälligkeiten. Sie galt als nett, hilfsbereit, und selbst ihre Neider waren sich einig darüber, dass sie sehr schön gewesen war.
Johanna beobachtete die Tatortbilder. Alles was sie sah, waren starre Gesichtszüge, die selbst in ihrer wächsernen Blässe seltsam friedlich wirkten. Die Haare waren stumpf. Das konnte aber auch an den Fotografien liegen, wie Johanna sehr wohl wusste. Der Bericht des Gerichtsmediziners gab nicht viel her. Er hatte beschrieben, in welchem gesundheitlichen Zustand sich die Frau vor ihrem Tod befunden hatte; über die Todesursache konnte er jedoch nichts sagen. Danach las sie die Aussagen der Eltern und Freunde. Keiner hatte einen Verdacht. Es gab die üblichen Streitigkeiten in der Familie und mit anderen Mädchen. Das war alles. Sie war nicht leichtsinnig gewesen oder flatterhaft. Ein Flirt dann und wann. Mehr nicht. Fundort der Leiche: die katholische Kirche in Bergedorf.
Sigrid Meinecke. Alter 25 Jahre, Größe: 172 cm, Gewicht: 55 Kilo. Haare: dunkel. Werbefachfrau, verlobt mit einem Bankkaufmann, allein lebend. Vater tot, Mutter wohnhaft in Berlin. Sigrid war ehrgeizig und sehr erfolgreich. Nach Auskunft ihres Verlobten hatten sie vorgehabt, Weihnachten zu heiraten. Keine Flirts, keine Skandale, großer Freundeskreis. Diese Frau hatte man auf einer Parkbank im Stadtpark gefunden. Auch hier die üblichen Beschreibungen über ihren körperlichen Gesundheitszustand vor der Tat. Todesursache unbekannt. Johanna klappte die Schnellhefter zu. Es war erschreckend, auf was ein Menschenleben zusammenschrumpfte. Ein paar Bilder, Berichte, trauernde Hinterbliebene, ein Plastiksack mit Kleidern. Und das, was übrig blieb, wurde durchwühlt, analysiert, zerfleddert. Es gab keine Geheimnisse, keine Pietät, keinen Frieden. Johanna kam sich vor wie ein Voyeur, und plötzlich kamen ihr die Bilder, die sie betrachtete, beinahe obszön vor. Das Leben ging weiter, und irgendwann würde auch der Plastiksack verschwinden. Es blieb nicht sehr viel übrig. Aber es half nichts, damit musste man arbeiten, und wenn man Glück hatte, sorgte man für ein wenig Gerechtigkeit.
Johanna breitete die Fotos auf dem Fußboden aus und ging mit der Lupe auf die Suche. Vielleicht versteckte sich irgendetwas auf den Bildern, etwas, das ihr einen Fingerzeig auf den Täter geben konnte. Schließlich gab es Täter, die verdeckte Hinweise zurückließen. Doch nach einer Stunde gab sie auf. Es hatte keinen Zweck, hier gab es nichts. Sie richtete sich auf. Müde massierte sie sich mit einer Hand den Nacken. Er war völlig verspannt. Als sie sich gerade dafür entschieden hatte, eine Dusche zu nehmen, klingelte das Telefon. Der Anrufbeantworter sprang an und Stefans schmeichelnde Stimme hallte durch das Wohnzimmer. Er sei wieder da, sagte er, wolle sie sehen, habe sie vermisst. Irgendwann gab er auf. Zum Teufel mit ihm! Zumindest für heute.
Man merkte Diekmann nicht an, dass er wenig Schlaf gehabt hatte. Frisch rasiert, in Jeans und Pulli sah er fabelhaft aus, wie Johanna neidvoll anerkennen musste. Sie selbst hatte mehr Schlaf bekommen als die meisten Anwesenden und fühlte sich, als sei sie durch den Fleischwolf gedreht worden. Diekmann schaltete den Tageslichtprojektor an und hielt einen präzisen Vortrag.
»Maike Behrens, Sekretärin, 24 Jahre alt, 180 cm groß, 60 Kilo schwer, Single, galt als ziemlich ausgeflippt. Nach Angaben ihrer Freundinnen«, er nahm sein Skript zu Hilfe, »flog sie von Blüte zu Blüte. Todesursache unbekannt. Wie ihr alle wisst, saß sie auf einer Schaukel, festgebunden, auf einem Spielplatz im Stadtteil Rissen.« Er sah in die Runde. »Irgendwelche Fragen?«
Johanna blickte sich um. Keiner rührte sich. Sie alle schienen förmlich an seinen Lippen zu kleben. Sie verzog verächtlich den Mund und wandte sich wieder Diekmann zu. Dieser fuhr fort: »Wir richten heute eine Sonderkommission ein. Ich habe das Konzept bereits vorgelegt. Wir werden noch weitere Verstärkung bekommen, aber unser wertvollster Zuwachs ist zweifelsohne Frau Dr. Jensen.« Er deutete spöttisch lächelnd auf Johanna. »Vielleicht haben Sie in der Zwischenzeit schon weitere Erkenntnisse über den Täter gewonnen?«
Johanna überlegte, ob sie ihn treten oder ihm ganz einfach in seine überhebliche Visage schlagen sollte. Er war wirklich unausstehlich. Sie erhob sich langsam und ging nach vorne zu Diekmann. Reden war ihr eigentlich nie schwer gefallen, aber Diekmann an ihrer Seite und die skeptischen Blicke der Polizisten ringsherum hemmten sie. Es half nichts. Da musste sie durch.
»Zunächst möchte ich mich gerne vorstellen. Mein Name ist Johanna Jensen, und ich bin, wie vielleicht einigen von Ihnen bekannt sein dürfte, die Polizeipsychologin. Ich hatte bisher noch nicht viel Gelegenheit, mich mit den Fällen zu beschäftigen, aber ich denke, wir werden uns da gemeinsam durcharbeiten.« Sie holte tief Luft und sah kurz in die Runde. Skepsis schlug ihr aus den Gesichtern der Anwesenden entgegen.
»Soweit ich weiß, gibt es keine Gemeinsamkeiten zwischen den Toten, ausgenommen ihr überdurchschnittlich gutes Aussehen. Ich werde mich intensiv mit allen Fällen beschäftigen müssen, aber ich denke, etwas kann ich Ihnen bereits jetzt mit auf den Weg geben.« Sie merkte, wie die Unruhe allmählich aus ihrem Körper wich. Ihre Hände hörten auf zu zittern und sie bekam ihre Stimme in den Griff. Langsam näherte sie sich ruhigeren Gewässern, Gewässern, die ihr vertraut waren.
»Der Täter ist zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Jahre alt. Die Taten waren kaltblütig geplant; er hat also keineswegs im Affekt gehandelt. Daraus, dass die Opfer weder sexuell misshandelt noch verstümmelt wurden, schließe ich, dass der Täter entweder alleine lebt oder aber in einer festen und intakten Beziehung. Zumindest hat er keine Beziehungsprobleme. Diese Tatsachen sprechen zumindest dafür, dass er die Taten nicht aus einer Art Machtstreben heraus begangen hat. Wir vermuten, dass er seine Opfer in irgendeiner Weise vergiftet hat, was darauf schließen lässt, dass er sich möglicherweise ihr Vertrauen erschlichen hat.«
Sie sah kurz auf und registrierte ein paar wohlwollende und interessierte Blicke.
»Die Opfer sind, wie gesagt, unversehrt und an einem öffentlichen Platz abgelegt worden. Hiermit will er uns vermutlich irgendetwas demonstrieren; auf jeden Fall will er jedoch, dass die Leichen gefunden werden. Der Täter ist intelligent, er führt ein normales, vielleicht sogar unscheinbares Leben und handelt überlegt und rational.« Sie holte tief Luft. »Es tut mir Leid, aber das ist alles, was ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann. Ich werde mich, wie schon gesagt, noch intensiver mit den Fällen beschäftigen und hoffe, Ihnen dann weiterhelfen zu können.«
Ein junger Polizist runzelte die Stirn und hob die Hand.
»Ja, bitte?« Johanna war irgendwie erleichtert, dass eine Nachfrage kam.
»Woher wissen Sie das mit den nicht vorhandenen Beziehungsproblemen?«
»Der Täter hat in regelmäßigen Abständen getötet, nämlich im Abstand von exakt drei Wochen. Bei Beziehungsproblemen oder bei Problemen mit Frauen tötet der Täter in den meisten Fällen nach Bedarf, also etwa, wenn er einen Korb erhalten oder mit seiner Partnerin gestritten hat. Das kommt aber, wie Sie wahrscheinlich selber wissen, im Allgemeinen nicht so regelmäßig vor.« Sie sah in die Runde. Einige der Anwesenden lächelten. Wenigstens schien man sie nicht komplett abzulehnen, wenn man schon über ihre Witzchen lächelte. Ihr Galgenhumor hatte endlich wieder Oberhand gewonnen, stellte sie grimmig lächelnd fest.
»Weitere Fragen?« Einige blickten gleichgültig vor sich hin, andere schüttelten den Kopf. Johanna lächelte kurz, und trat dann zurück. Diekmann ergriff wieder das Wort.
»Ich fürchte, wir sind noch nicht ganz fertig, wir haben nämlich ein weiteres Problem. Heute Morgen wurde eine weitere, vierte Leiche, gefunden. Sie hat in Wedel auf einem Ponton an der Begrüßungsanlage ›Willkomm-Höft‹ gesessen. Da hierfür die Kollegen in Schleswig-Holstein zuständig sind, sind wir erst jetzt davon informiert worden. Den genauen Bericht habe ich noch nicht erhalten, aber auch hier scheint es keine äußeren Verletzungen zu geben. Auch hier ist das Opfer jung, weiblich und sehr gut aussehend. Wenn dieser Mord tatsächlich zu unserer Serie passt, stellt sich die Frage, warum der Täter auf einmal zwei Leichen präsentiert, Frau Dr. Jensen?« Er drehte sich leicht zu Johanna um und gab somit mit einer gewissen Genugtuung, wie sie verärgert registrierte, das Wort an sie zurück.
Er hatte sie voll ins offene Messer rennen lassen. Schließlich hätte er dies auch vor ihrem kurzen Erklärungsversuch sagen können. Sie rieb sich mit der Hand über die Stirn, als habe sie Kopfschmerzen.
»Schwer zu sagen. Es scheint aber dennoch genau ins Schema zu passen. Der Mörder versucht, unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Egal wie.« Sie verschränkte beide Arme vor der Brust und sah stirnrunzelnd zu Diekmann. Natürlich klang das ziemlich lahm, aber sie musste Schadensbegrenzung betreiben, wollte sie sich von Diekmann nicht lächerlich machen lassen. Sie bemerkte Diekmanns leises spöttisches Lächeln. Er schien sie vorführen zu wollen, und ein kurzer Blick in die Runde zeigte ihr, dass er auf dem besten Weg dazu war, sie als Stümperin abzustempeln. Auf einigen Gesichtern hatte sich wieder verstärkte Skepsis ausgebreitet, zumindest aber schien das Interesse zum Großteil wieder erloschen zu sein. Ein paar Kollegen lächelten sogar mit grimmiger Befriedigung. Das müssen Diekmanns glühende Verehrer sein, schoss es ihr durch den Kopf. Sie suchte Markus' Blick. Dieser lächelte ihr aufmunternd zu. Zumindest er schien nicht an ihr und ihrer Kompetenz zu zweifeln.
»Bisher hat die Presse nicht gerade erschöpfend über die beiden bisherigen Fälle berichtet. Ich fürchte, dass das dem Killer nicht genug war, weswegen er jetzt gleich zwei weitere Opfer hinterherschiebt.«
Diekmann überlegte kurz. »Könnte er es gewesen sein, der die Presse informiert hat, um so eine Pressekonferenz zu provozieren?«
Johanna nickte. »Durchaus möglich. Aber wir sollten erst einmal ausschließen, dass es ein Polizist war, der nebenher ein paar Mark verdienen wollte. Wir dürfen den Mörder zum jetzigen Zeitpunkt auf gar keinen Fall wichtiger machen, als er tatsächlich ist.«
»Was schlagen Sie vor?« Einer der älteren Polizisten wandte sich direkt an Johanna, versäumte es aber nicht, seinen Chef mit einem fragenden Blick zu streifen.
»Wenn ich es richtig sehe, haben wir im Höchstfall drei Wochen Zeit, bis er das nächste Mal zuschlägt, oder?« Johanna sah Diekmann fragend an.
»Stimmt.«
»Wir müssen sehen, dass wir die Zeit bestmöglich nutzen. Wir sollten nochmals versuchen, Zeugen zu finden, um über die letzten Tage der Opfer etwas herauszubringen und so weiter.«
»Das haben wir alles schon getan.« Diekmanns Interesse schien zu erlahmen. Seine Stimme klang gelangweilt.
»Mag sein, aber dann haben Sie etwas übersehen«, wandte Johanna trotzig ein, und wusste im gleichen Moment, dass es taktisch unklug war, ihm vor seinen eigenen Leuten Unvermögen zu unterstellen. Sie änderte ihre Taktik.
»Es muss etwas geben, vielleicht ist es nur ein winziger Hinweis, der bis jetzt übersehen wurde. Wir haben nicht sehr viel, und wenn wir uns nicht anstrengen, steckt uns der Killer bald in die Tasche. Erst wenn wir etwas mehr über die Opfer und damit über den Täter wissen, können wir von uns aus aktiv werden.«
Diekmann hob zweifelnd die Augenbrauen. Man konnte ihm ansehen, dass er das Ganze eigentlich für Zeitverschwendung hielt. Doch Johanna blieb geduldig, und fuhr fort, als ob sie mit einem verstockten Kind sprechen würde. »Wenn wir uns mit dem Charakter des Killers beschäftigen, können wir möglicherweise proaktive Techniken entwickeln und ihn aus seinem Versteck locken. Dann begeht er vielleicht, wenn wir Glück haben, endlich einen Fehler.«
Mittlerweile war es still geworden in dem Büro, und das Interesse an ihrer Person war wieder gestiegen.
»Was ist proaktiv?«, fragte eine junge Beamtin.
»Es bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass wir von uns aktiv werden, vielleicht versuchen, dem Mörder die Züge aus der Hand zu nehmen. Möglicherweise schaffen wir es sogar, ihn aus dem Tritt zu bringen. Mit proaktiven Techniken versuchen wir, am besten im Zusammenspiel mit der Presse, den Täter so weit zu bekommen, dass er sich vorwagt, sich möglicher. weise sogar öffentlich erklärt. Es wäre auch möglich, Falschmeldungen zu streuen. Das könnte ihn bei seiner Eitelkeit packen. Aber wir müssen vorsichtig sein. Allzu sehr sollte man ihn nicht in Wut bringen, sonst könnte sich das Ganze ins Gegenteil verkehren. Aber zunächst müssen wir einfach mehr über ihn herausfinden.«
Diekmann wandte sich müde lächelnd an seine Mitarbeiter.
»Sie sehen, meine Damen und Herren, ohne einen Psychologen wären wir nur halb so weit.« Er nahm das Gelächter mit einem selbstsicheren Lächeln entgegen und verabschiedete sich mit den Worten: »Wir sehen uns morgen.« Dann ordnete er seine Papiere, drehte sich um und verschwand.
Johanna war kurz in ihr Büro nach Alsterdorf gefahren, um dort einige Dinge zu regeln. Als Erstes musste sie ihren Patienten absagen und sie an einen Kollegen überweisen. Der Job in der Sonderkommission würde sie voll in Anspruch nehmen und würde ihr für andere Dinge kaum noch Zeit lassen. Während sie an ihrem Schreibtisch saß und ihren Terminkalender durchging, beruhigte sie sich ein wenig. Eines war klar, als Sieger hatte sie die Szene nicht verlassen. Diekmann hatte alles an sich gerissen und klar gemacht, was er von Psychologen hielt, nämlich nichts. Sie hatte es lediglich geschafft, den Kopf gerade eben noch aus der Schlinge zu ziehen. Plötzlich fiel ihr ihre Mutter ein, die Psychologie für brotlose Kunst hielt. Solange Johanna denken konnte, hatte ihre Mutter alles schlecht gemacht, was sie tat. Diekmann und ihre Mutter waren sich ähnlich, und wahrscheinlich war das der Grund, warum sie mit Diekmann schwer zurechtkam. Jeder Blick von ihm erinnerte sie an die Hilflosigkeit, die sie als Kind ihrer Mutter gegenüber empfunden hatte und die selbst jetzt immer noch vorhanden war. Diese kühle Ablehnung, der Spott, den sie von ihrer Mutter erfahren hatte. Dieses ständige Infragestellen ihrer Ansichten, ihrer Kompetenz. Sie spürte, wie Tränen der Wut und der Ohnmacht in ihre Augen stiegen. Ihre Jugend war von Trotz und Demut bestimmt gewesen. Sie hatte immer geglaubt, alles besser machen zu müssen als ihr Bruder, um dadurch die Anerkennung und Liebe ihrer Mutter zu erringen. Irgendwann war ihr dann klar geworden, dass es nichts auf dieser Welt gab, was Frau Jensen ihrer Tochter näher brachte. Jetzt sah sie die gleiche Ablehnung und den gleichen kalten Blick wieder in den Augen von jemandem, auf den sie gewissermaßen angewiesen war. Jemand, der sie abblitzen ließ und der sich weigerte, ihre Fähigkeiten anzuerkennen. Diekmann ließ sie dastehen wie jemand, der sich nur zur geistigen Selbstbefriedigung ins rechte Licht rücken will. Er wollte sie lächerlich machen und einen Vorwand finden, um sie loszuwerden. Große Fehler durfte sie sich also nicht leisten. Das hieß aber auch, dass sie in Zukunft auf der Hut sein musste, um ihm nicht in die Falle zu gehen. Wenn er sie in diesem Fall nicht dabeihaben wollte, konnte das nur bedeuten, dass sie gegen seinen Willen hinzugezogen worden war und die Anordnung ihrer Teilnahme von höherer Stelle kam. Sie drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage.
»Jutta, würden Sie bitte einmal kommen?«
Jutta war von Anfang an ihre Sekretärin gewesen und war inzwischen so etwas wie eine Freundin. Sie war zehn Jahre älter als sie und hatte etwas Mütterliches an sich, das sie beruhigte. Jutta kam rein und setzte sich vor ihren Schreibtisch. Sie lächelte leicht. Ihre ruhige Art war Balsam für Johannas Seele.
»Ist alles in Ordnung?«
Johanna seufzte. »Ich denke schon. Ich ärgere mich nur.«
»Diekmann?«
»Ja, kennen Sie ihn etwa?« Johanna sah erstaunt auf.
»Nein, ich habe nur viel von ihm gehört. Er soll ein Querdenker sein, einer, der seine Meinung sagt, und er soll sehr gut sein, er scheint es aber auch zu wissen. Kein sehr einfacher Mensch. Als ich heute hörte, dass Sie mit ihm arbeiten werden, dachte ich mir schon, dass es wohl über kurz oder lang zu Spannungen kommen würde.«
»Über kurz oder lang ist gut.« Johanna lachte kurz auf. Es hörte sich mehr an wie ein wütendes Grunzen.
Ja, diesmal hat er sich nicht viel Zeit gelassen, sich unbeliebt zu machen.« Jutta beugte sich vor und sah sie fast liebevoll an.
»Lassen Sie sich bloß nicht ins Bockshorn jagen. Und wenn es Ihnen zu viel wird, dann kommen Sie her und schütten mir bei einer Tasse Kaffee Ihr Herz aus, okay?«
Johanna musste wider Willen lachen. Sie griff über den Tisch und tätschelte Juttas Hand.
»Okay.«
»So, und jetzt seien Sie ein gutes Kind und gehen nach Hause. Ich kümmere mich hier um alles Weitere.«
Johanna hatte, trotz aller Wut und Aufregung, tief und fest geschlafen. Als sie erwachte, tauchten zwar fast sofort wieder die Erinnerungen an die gestrigen Geschehnisse auf, aber sie fühlte sie wenigstens ausgeruht. Ihr war klar, dass die ganze Angelegenheit ruhig angegangen werden musste, ansonsten hatte sie keine Chance zu überleben. Sie hasste diese Zweifrontenkriege, vor allen Dingen, wenn man eigentlich auf der gleichen Seite kämpfen sollte.
Sie streckte sich und kuschelte sich noch für einen Moment in ihre Decke. Diese paar Minuten, die sie sich jeden Morgen zugestand, gehörten ihr ganz allein. Die einzige Zeit des Tages, die sie mit niemandem teilen musste. Es half ihr, viele Dinge klarer zu sehen. Probleme wirkten in diesem fahlen morgendlichen Licht nicht mehr ganz so bedrohlich, und die Stille sorgte dafür, dass sie sich treiben lassen und alles ein wenig rationeller betrachten konnte. Das war eine Angewohnheit aus ihrer Kindheit, die ihr immer geholfen hatte, Kraft zu sammeln. Nur dass sie damals, im Gegensatz zu heute, oft den Daumen im Mund gehabt hatte. Fast war sie versucht, diese alte Angewohnheit wieder aufleben zu lassen. Ihr Bruder hatte sie auf diesen Weg gebracht. Er war es auch, der ihr gesagt hatte, dass sie mehr Geduld aufbringen und das Beste aus allem machen sollte. Sie sah sein liebes Gesicht und sein gütiges Lächeln vor sich, wenn er auf ihrem Bett saß und sie versuchte zu trösten, und für einen Moment meinte sie seine Hand an ihrer Wange zu spüren. Schnell drehte sie sich auf die Seite und kniff die Augen fest zusammen. Sie wollte jetzt nicht an ihn denken.
Die allmorgendliche Entscheidung, was sie anziehen solle, fiel ihr heute nicht besonders schwer. Sie musste nicht unbedingt seriös wirken, schließlich empfing sie keine Patienten, und was Diekmann betraf, so war es egal, was sie anhatte. Sie würde ihn nicht mit einem perfekten Äußeren überzeugen können.
Er mochte zwar weibliche Schönheit zu schätzen wissen, war aber insgesamt nicht der Typ, der sich davon blenden ließ. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es höchste Zeit war, zu fahren. Sie griff nach den Schlüsseln, die auf der Flurgarderobe lagen, und verließ schleunigst die Wohnung. Der Verkehr war mörderisch, und als sie nach über einer Stunde im Präsidium ankam, war sie nervös. Unwillkürlich fuhr sie sich durch die Haare, bis ihr einfiel, dass es da nicht mehr viel zu ordnen gab. Vor ein paar Wochen hatte sie sich für einen radikalen Schnitt entschieden, der Kamm und Bürste fast überflüssig machte, sie aber dafür um einiges jünger wirken ließ. Zu ihrem Ärger nahmen die Leute sie jetzt noch weniger ernst als vorher. Sie hastete zu den Fahrstühlen und hätte auf dem Weg dorthin beinahe Markus über den Haufen gerannt.
»He, wohin so schnell?« Er lachte sie an und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ich wollte nicht als Letzte kommen. Ich will Diekmann keine Angriffsfläche mehr bieten.«
»Egal, wann du kommst, du kommst immer zu spät. Diekmann ist wieder als Erster hier gewesen: Der Mann scheint keinen Schlaf zu benötigen.« Seine Stimme klang fast bewundernd. Es schien ihr, als hege er für diesen Mann so etwas wie Hochachtung. Johanna sah ihn verwundert und auch ein wenig misstrauisch von der Seite an.
»Du scheinst ihn zu mögen?«
»Er war der Einzige, der mich damals gut behandelt hat und dem es egal war, was ich bin. Für ihn zählt Leistung, und manchmal gibt es auch Menschen, die er mag.« Er sah sie schief lächelnd von der Seite an.
»Er ist kein Monster. Er weiß es zu schätzen, wenn Leute etwas von ihrem Job verstehen.« Jetzt hatte er beinahe Ähnlichkeit mit einem Priester, der seinen Schäfchen die Güte und Wahrheit Gottes näher zu bringen versuchte. Fast erwartete Johanna, dass Markus ein Kreuz schlagen und sie segnen würde.
Er schob sie vor sich her in den Fahrstuhl, der gerade seine Türen öffnete. Es war fast so etwas wie ein Kampf, den man führen musste, um im Aufzug einen Platz zu ergattern, und bei dem man seine Ellbogen einsetzen musste. Man durfte keinen Millimeter verschenken. Schließlich hatten sie es geschafft. Schweigend fuhren sie in die 7. Etage. Erst dann sprach Markus weiter. »Puh, ich hasse Fahrstühle, aber noch mehr hasse ich Treppen. Hast du schon gefrühstückt?«
Ja, ein wenig. Ich hab nicht viel runterbekommen.« Das war nur die halbe Wahrheit. Sie hatte mal wieder vergessen einzukaufen, so dass der Kühlschrank heute Morgen nur Butter, verdorbene Marmelade und ein wenig Wurst, die sich an den Rändern bereits nach oben zu wellen begann, hergab.
»Soweit ich weiß, bekommst du hier oben ein eigenes Büro. Du sollst am Puls der Zeit bleiben und jederzeit verfügbar sein. Was hältst du davon, wenn wir uns etwas aus der Kantine kommen lassen und dein Büro bei einem Kaffee einweihen?« »Klingt verlockend. Ich habe meine Angelegenheiten in Alsterdorf geregelt. Alles weitere übernimmt Jutta.« Sie dachte einen Moment nach. »Es war nicht Diekmanns Idee, mich zur SOKO zu bestellen, oder?«
Markus lachte amüsiert. »Wo denkst du hin? Diekmann hält nicht viel von Psychologen. Er ist der Meinung, das es sich dabei durchweg um Menschen handelt, die selbst Hilfe brauchen. Nein, der Chef des Landeskriminalamtes hat das angeordnet. Er hat sich die letzten Wochen Bericht erstatten lassen und feststellen müssen, dass die Ermittlungen auf der Stelle treten.« »Na toll, das ist fast so schön, als hätte ich mich in diesen Job per Gerichtsbeschluss reingeklagt.« Johanna war frustriert. Kein Wunder, dass man sie nicht unbedingt gern sah. Jeder musste das Gefühl haben, sie sei auf Beziehungen angewiesen und würde diese bei Bedarf auch nutzen. Und dann noch diese Vorurteile. Für Diekmann, wie für die meisten Menschen, war ein Psychologe nur ein Klotz am Bein. Jemand, den man bei Bedarf vorzeigen und danach wieder in der Versenkung verschwinden lassen konnte. Ihr fiel der Vergleich mit den »Quotenfrauen« bei der Polizei ein. Irgendwann einmal wurde entschieden, dass jede Dienststelle eine Frau aufnehmen musste, um Toleranz und Liberalität bei der Behörde zu beweisen. Es war eine harte Zeit für Frauen gewesen, doch die meisten hatten sich ihren Platz erkämpft und sich behauptet. Die Quotenregelung wurde schließlich aufgehoben und eine Frau in Uniform gehört nun zum Selbstverständnis der Polizei.
Johanna seufzte. Ihr Weg schien sehr lang zu werden. Markus blieb stehen und fasste sie an den Schultern.
»Komm schon, du kannst was. Zeig ihm, was in dir steckt. Lass dich nicht unterbuttern von ihm. Du bist doch sonst nicht so zaghaft. Was ist los mit dir?« Er sah ihr einen Moment in die Augen, und selbst wenn Johanna versuchte, seinem Blick ungerührt standzuhalten, musste sie sich doch irgendwie verraten haben. Markus verdrehte die Augen.
»Oh nein, nicht Stefan. Lass mich raten, er hat das Wochenende wieder mit einer anderen verbracht?«
»Er hat gesagt, er sei geschäftlich in Köln.« Sie konnte es nicht fassen. Da wiederholte sie doch dieselbe lahme Entschuldigung, die sie vor ein paar Tagen noch so in Wut gebracht hatte. Ihre Art der Loyalität grenzte schon beinahe an Selbstverleugnung.
Markus ließ sie los und schob die Hände in die Hosentaschen. »Du wirst auch nicht schlauer.« Er seufzte. »Dir ist wohl nicht mehr zu helfen. Aber was soll's, irgendwann merkst auch du es.« Er lächelte sie mitleidig an und tätschelte ihre Wange.
»Wie wäre es, wenn du heute Abend zum Essen kommst? Flo vermisst dich und hat sich schon darüber beschwert, dass ihr euch so selten seht.«
»Das ist eine gute Idee.« Sie stimmte erleichtert zu. Sie hasste es, das Thema »Stefan« mit Markus zu besprechen und außerdem freute sie sich auf einen Abend mit Flo und Markus. Das würde eine willkommene Abwechslung sein.
»Schön, dass Sie uns auch schon beehren.« Kaum hatten sie Markus' Büro betreten, verpasste ihr Diekmann eine Breitseite. Er stand an der Stellwand, an der die Fotos der Opfer und der Tatorte befestigt waren, und machte sich nicht einmal die Mühe, sich ihr zuzuwenden. Wieder einmal kam sie sich vor, wie ein kleines Kind, das sich vor einem strengen Lehrer zu verantworten hatte. Sie straffte die Schultern und wollte gerade antworten, als ihr Diekmann zuvorkam.
»Hier ist der Bericht über die Leiche in Wedel.« Achtlos warf er die Akte auf den Schreibtisch. Markus nahm sie in die Hand und blätterte. Diekmann sah auf die Uhr. »In einer halben Stunde ist Einsatzbesprechung. Ach, übrigens, Markus, zeig ihr das neue Büro. Es ist am Ende des Flures. Du weißt schon, das alte Archiv.« Er drehte sich um, und verließ den Raum.
»Guten Morgen.« Johannas Stimme klang bissig, aber Diekmann schien sie nicht gehört zu haben, oder zumindest tat er so, als ob er sie nicht gehört hatte. Markus reichte ihr die Akte und griff nach dem Telefon.
»Brötchen?« Er hielt eine Hand über die Sprechmuschel und blickte Johanna fragend an. Sie nickte. Eigentlich hatte sie keinen großen Appetit, aber irgendetwas musste sie im Laufe des Tages essen, da sie vermutlich den ganzen Tag nicht mehr aus dem Büro kommen würde.
»Ich zeig dir dein neues Zimmer.« Markus legte seine Hand leicht auf ihren Arm und führte sie zurück auf den Flur. Am Ende des Ganges öffnete er eine Tür und ließ sie als Erste eintreten.
»Voilà, hier ist dein neues Reich.«
Johanna schlenderte durch den Raum und sah sich um. Das Zimmer war ziemlich übersichtlich, aber es würde ihr reichen. Sie fuhr mit den Fingerspitzen leicht über die Tischplatte, als ob sie prüfen wollte, wann hier zuletzt Staub gewischt worden war. Sie hatte das Gefühl, als hätte man ihr hier die ausrangierten Möbel hereingestellt. Alles wirkte ein bisschen schäbig, aber schließlich sollte sie hier nur arbeiten, mehr nicht. Durch ein kleines Fenster fiel ein wenig Licht herein, genau so viel, dass man den Raum nicht mit einem düsteren Dachbodenverschlag verwechseln konnte. Mit einem lauten Seufzen ließ sie sich in einen quietschenden Schreibtischsessel fallen.
»Meinst du, du könntest mir Kopien aller Akten anfertigen lassen?« Johanna sah Markus fragend an.
»Ich denke schon. Ich werde mal den Schreibdienst darauf ansetzen. Was genau brauchst du denn?«
»Alles. Sämtliche Berichte, einschließlich der Bilder. Ich muss sie miteinander vergleichen, Unterschiede finden, Gemeinsamkeiten herausfiltern und so weiter.«
»Geht klar.« Markus machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer. Johanna ließ sich erleichtert aufatmend in ihren Sessel zurücksinken und drehte sich zum Fenster. Sie hatte nicht gerade die beste Aussicht erwischt, aber zumindest dröhnte der Krach, der von der Kreuzung kam, an der sich das Gebäude befand, nicht zu ihr nach oben.
Der Verkehr wirkte, von hier oben betrachtet, wie eine lautlose Schar kleiner Ameisen, die ziellos umherirrten, ohne jemals irgendwo anzukommen. Irgendwie vergleichbar mit ihrer Situation. Sie hatte jetzt endlich das, wovon sie geträumt hatte, aber sie gehörte nicht wirklich dazu, und wäre Markus nicht, hätte sie keinen Freund in dieser, wie es ihr schien, feindlichen Umgebung. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Es war noch einiges zu erledigen, bevor sie anfangen konnte zu arbeiten. Sie war erstaunt, ein Telefon zu haben; eigentlich war sie davon ausgegangen, nicht einmal die kleinsten Errungenschaften der Technik vorzufinden, aber Diekmann hatte wohl beschlossen, ihr nicht die geringste Angriffsfläche zu bieten.
Es klopfte, und bevor sie »Herein« rufen konnte, betraten mehrere jüngere Polizisten den Raum. Die meisten kannte sie bereits vom Sehen aus der Besprechung, persönlichen Kontakt hatte sie jedoch noch nicht aufgenommen. Sie schleppten Teile eines Computerterminals herein.
»Wohin damit?« Hier schien wirklich keiner Wert auf Höflichkeit zu legen.
»Stellen Sie mir alles hier auf den Schreibtisch. Er ist groß genug.« Sie stand auf und ging um den Tisch herum.
»Brauchen Sie einen Internet-Zugang?« Die jungen Leute schienen Order von ihrem Chef bekommen zu haben, sich nicht weiter mit dieser Psychologin einzulassen, denn sie vermieden es, sie anzusehen. Selbst wenn sie splitterfasernackt gewesen wäre, hätte es vermutlich niemand bemerkt.
»Nein, ich denke, es reicht, wenn sie mir den Rechner startklar machen.«
Johanna hatte das Bedürfnis, ihnen etwas Unflätiges hinterherzurufen, unterließ es aber.
»So, das wäre geklärt.« Jetzt stand Markus wieder hinter ihr, ein wenig außer Atem. »Ich habe das mit dem Schreibdienst geklärt. In einer halben Stunde, also spätestens nach der Besprechung, hast du die Unterlagen auf deinem Tisch. Kann ich sonst noch etwas tun?«
Sie lächelte. »Nein, danke, du tust schon genug für mich. Wie wäre es jetzt mit einem Kaffee?«
Markus grinste. »Das Frühstück steht schon in meinem Büro. Lass die Jungs hier einfach werkeln.«
Die Beamten stellten das Gerät auf und schlossen es in aller Eile an. Einer der Polizisten startete einen Testlauf, fluchte, setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und drehte den Monitor so, dass er besser sehen konnte. Johanna verließ ihr Büro und warf sich auf einen der Besuchersessel in Markus' Zimmer.
»Wie fühlst du dich?« Markus sah sie prüfend an. Er packte die belegten Brötchen aus und verteilte sie auf Papptellern. Dann goss er dampfenden Kaffee in zwei Becher und setzte sich ihr gegenüber. Der Kaffee verbreitete ein angenehmes Aroma im Zimmer. Fast augenblicklich entspannte sich Johanna.
»Ich dachte nur gerade darüber nach, ob es in dieser Dienststelle irgendjemanden gibt, der mir nicht feindlich gesinnt ist.«
»Du solltest nicht so empfindlich sein. Es kennt dich schließlich niemand, und alle wissen, wie du hergekommen bist. Was erwartest du?«
»Eigentlich nichts.« Sie nahm den Becher, den er ihr reichte. Sie wusste wirklich nicht, was sie eigentlich erwartete. Jedenfalls konnte sie nicht darauf hoffen, dass man sie freudestrahlend begrüßte. Sie würde sich ihre Stellung genauso erarbeiten müssen wie alle anderen auch. Und doch kam sie sich wie eine Außenseiterin vor.
»Man hat fast das Gefühl, alle haben Angst, es sich mit Diekmann zu verderben, wenn sie ein bisschen höflich sind.«
»Hier herrscht ein anderer Umgangston als der, den du kennst. Daran musst du dich gewöhnen.« Markus beugte sich ein wenig vor. »Mach es dir nicht noch schwerer. Wir wollen einen Killer fangen, nicht Freundschaften fürs Leben schließen.«
Der Ton war freundlich, aber Johanna merkte, dass mit Markus nicht über Diekmann zu reden war. Sie gab es auf.
»Vielleicht hast du ja Recht.« Sie biss herzhaft in ein Brötchen und merkte, dass sie großen Hunger hatte.
»Ich hoffe, es schmeckt.« Die eisige Stimme Diekmanns ging ihr durch und durch. Fast glaubte sie, an ihrem Bissen ersticken zu müssen.
»Wessen Idee war es, den Schreibdienst mit der Anfertigung irgendwelcher Kopien zu belasten?« Diekmann füllte den Türrahmen fast aus. Sein Gesicht war verkniffen, die Lippen schmal zusammengepresst.