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»Ein Debüt, wie es lange keines gegeben hat: In seinem Roman Alles ist erleuchtet vollbringt Jonathan Safran Foer das Wunder der erfundenen Erinnerung.« Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung Man lacht und weint und ist hingerissen vom Talent eines jungen Autors. Er erzählt die phantastische Geschichte eines jüdischen Schtetls, das Schicksal seiner Familie während des Holocaust und die Abenteuer eines jungen Amerikaners, der aufgebrochen ist, um die Vergangenheit zu suchen. Ein junger Amerikaner kommt in die Ukraine. Er heißt zufällig Jonathan Safran Foer. Im Gepäck hat er das vergilbte Foto einer Frau namens Augustine. Sie soll gegen Ende des 2. Weltkrieges seinen Großvater vor den Nazis gerettet haben. Jonathan will Augustine finden und Trachimbrod, den Ort, aus dem seine Familie stammt. Sein Reiseführer ist ein alter Ukrainer mit einem noch älteren klapprigen Auto, sein Dolmetscher dessen Enkel Alex, ein unglaubliches Großmaul und ein Genie im Verballhornen von Sprache. Mit von der Partie ist noch Sammy Davis jr. jr., eine neurotische Promenadenmischung mit einer Leidenschaft für Jonathan, der Angst vor Hunden hat. Die Reise führt durch eine verwüstete Gegend und in eine Zeit des Grauens. Alex berichtet in seiner unnachahmlichen Sprache von den Abenteuern und irrsinnigen Missverständnissen während dieser Fahrt, Jonathan erzählt die phantastische Geschichte Trachimbrods bis zum furchtbaren Ende, und der alte Ukrainer begegnet den Gespenstern seiner Vergangenheit. Alex und Jonathan aber sind zum Schluss der Reise Freunde geworden. Übersetzungsrechte in fast 20 Sprachen vergeben.
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Seitenzahl: 527
Inhalt
TitelWidmungEine Ouvertüre zum Beginn einer sehr harten ReiseDer Anfang der Welt kommt oftDie Lotterie, 1791Eine Ouvertüre zum Treffen mit dem Helden und dann das Treffen mit dem HeldenDas Buch der Wiederkehrenden Träume, 1791Erwachende Liebe, 1791–1796Eine weitere Lotterie, 1791Auf dem Weg nach LutskErwachende Liebe, 1791–1803Wiederkehrende Geheimnisse, 1791–1943Eine Parade, ein Todesfall, ein Antrag, 1804–1969Die sehr harte SucheDie Sonnenuhr, 1941–1804–1941Erwachende LiebeDie Hochzeitsfeier war so außergewöhnlich! oder Nach der Hochzeit geht alles den Bach runter, 1941Der Spielball des Schicksals, 1941–1924Blut ist ein besonderer Saft, 1934Was wir sahen, als wir Trachimbrod sahen oder Erwachende LiebeErwachende-Liebe, 1934–1941Eine Ouvertüre zur ErleuchtungErwachende Liebe, 1934–1941ErleuchtungDie Hochzeitsfeier war so außergewöhnlich! oder Das Ende des Augenblicks, der nie zu Ende geht, 1941Die ersten Detonationen und dann Liebe, 1941Die Kniffligkeit der Erinnerung, 1941Oft kommt der Anfang der Welt, 1942–1791BuchAutorImpressum[Menü]
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Mein gesetzlicher Name ist Alexander Perchow. Aber alle meine Freunde nennen mich Alex, weil das eine Version meines gesetzlichen Namens ist, die man lässiger sprechen kann. Mutter nennt mich »Alexi-nerv-mich-nicht«, weil ich sie immer nerve. Wenn Sie wissen wollen, warum ich sie immer nerve: Das liegt daran, dass ich immer mit Freunden woanders bin und so viel Geld verbreite und so viele andere Dinge ausführe, die eine Mutter nerven. Vater hat mich immer Schapka genannt, wegen der Pelzmütze, die ich sogar im Sommermonat getragen habe. Er hat aufgehört, mich so zu nennen, weil ich ihm befohlen habe, mich nicht mehr so zu nennen. Es klang für mich wie ein kleiner Junge, und ich habe mich immer sehr stark und potent gefunden. Ich habe viele, viele Freundinnen, das können Sie mir glauben, und sie haben alle verschiedene Namen für mich. Eine nennt mich »Baby«, nicht weil ich ein Baby bin, sondern weil sie mich bekümmert. Eine andere nennt mich »Ganze Nacht«. Wollen Sie wissen, warum? Ich habe eine Freundin, die mich »Geld« nennt, weil ich um sie herum so viel Geld verbreite. Sie leckt meine Lippen dafür. Ich habe einen winzigen Bruder, der mich »Alli« nennt. Ich stehe nicht so sehr auf diesen Namen, aber auf ihn stehe ich sehr, also erlaube ich ihm, dass er mich Alli nennt, okay. Was seinen Namen angeht: Er ist »Klein-Igor«, aber Vater nennt ihn »Tollpatsch«, weil er ständig gegen irgendwas spaziert. Erst vier Tage her hat er ein blaues Auge gekriegt, weil er mit einer Mauer falschen Umgang hatte. Wenn Sie wissen wollen, wie der Name meiner Hündin ist: Er ist Sammy Davis jr. jr. Sie hat diesen Namen, weil Sammy Davis jr. Großvaters geliebter Sänger war, und die Hündin gehört ihm, nicht mir, weil ich es nicht bin, der denkt, dass er blind ist.
Was mich angeht, so bin ich 1977 gezeugt, im selben Jahr wie Jonathan Safran Foer, mein erstklassiger Freund, der auch der Held dieser Geschichte ist. Ehrlich gesagt ist mein Leben sehr gewöhnlich. Wie ich erwähnt habe, tue ich allein und mit anderen viele gute Sachen, aber das sind gewöhnliche Sachen. Ich stehe auf amerikanische Filme. Ich stehe auf Neger, besonders auf Michael Jackson. Ich stehe darauf, sehr viel Geld in berühmten Nachtclubs in Odessa zu verbreiten. Lamborghini Countachs sind hervorragend, und Cappuccinos auch. Viele Mädchen wollen mit mir Verkehr haben, in vielen schönen Arrangements, nicht nur dem Betrunkenen Känguru, dem Gorki-Kitzler und dem Unnachgiebigen Zoowärter. Wenn Sie wissen wollen, warum so viele Mädchen mit mir Verkehr haben wollen: Das liegt daran, dass ich ein sehr erstklassiger Mensch bin. Ich bin häuslich, aber auch ernsthaft komisch, und das sind Dinge, mit denen man gewinnt. Aber trotzdem kenne ich viele, die auf schnelle Wagen und berühmte Diskotheken stehen. Es gibt so viele, die den Sputnik-Busen-Fummler ausführen – das endet immer mit einem Geschleime aus der unteren Gesichtshälfte –, dass ich sie gar nicht an allen meinen Händen zählen kann. Es gibt sogar viele, die Alex heißen. (Drei allein in meinem Haus!) Darum schäumte ich auch vor Begeisterung, nach Lutsk zu fahren und für Jonathan Safran Foer zu übersetzen. Das würde etwas Ungewöhnliches sein.
An der Universität habe ich in meinem zweiten Jahr Englisch maßlos gute Leistungen gehabt. Das war eine sehr imposante Sache, denn mein Lehrer hatte Scheiße zwischen den Ohren. Mutter war so stolz auf mich, dass sie sagte: »Alexi-nerv-mich-nicht, du hast mich so stolz gemacht.« Ich erkundigte mich, ob sie mir eine Lederhose kaufen wollte, aber sie sagte nein. »Shorts?« »Nein.« Vater war auch stolz. Er sagte: »Schapka«, und ich sagte: »Nenn mich nicht so«, und er sagte: »Alex, du hast Mutter so stolz gemacht.«
Mutter ist eine bescheidene Frau. Sehr, sehr bescheiden. Sie schuftet in einem kleinen Café in einer Stunde Entfernung von unserem Haus. Sie gibt den Leuten Essen und Trinken, und sie sagt: »Ich steige für eine Stunde in den Autobus und arbeite den ganzen Tag, indem ich Dinge tue, die ich hasse. Und willst du wissen, warum? Für dich, Alexi-nerv-mich-nicht! Eines Tages wirst du für mich Dinge tun, die du hasst. Das bedeutet es, eine Familie zu sein.« Aber sie betrachtet nicht, dass ich schon jetzt Dinge für sie tue, die ich hasse. Ich höre ihr zu, wenn sie mit mir spricht. Ich weigere mich, über mein winziges Taschengeld zu klagen. Und habe ich erwähnt, dass ich sie nicht so viel nerve, wie ich es mir wünsche? Aber ich tue diese Dinge nicht, weil wir eine Familie sind. Ich tue sie, weil sie normaler Anstand sind. Das ist ein Ausdruck, den mir der Held beigebracht hat. Ich tue sie, weil ich kein Scheißarschloch bin. Das ist noch ein Ausdruck, den mir der Held beigebracht hat.
Vater schuftet für ein Reisebüro, das Heritage Touring getauft ist. Es ist für Juden wie den Helden, die danach sehnen, das erhebende Land Amerika zu verlassen und bescheidene Dörfer in Polen und der Ukraine zu besuchen. Vaters Reisebüro beschafft einen Übersetzer, einen Führer und einen Fahrer für die Juden, die versuchen, die Plätze auszugraben, wo ihre Familien früher gelebt haben. Okay, bis zu dieser Reise hatte ich nie einen Juden kennen gelernt. Aber das war ihr Fehler, nicht meiner, denn ich war immer bereit – man könnte sogar schreiben: ich glühte darauf –, einen kennen zu lernen. Ich will auch diesmal wahrheitlich sein und erwähnen, dass ich vor der Reise vorgestellt hatte, dass Juden Scheiße zwischen den Ohren haben. Das liegt daran, dass ich von Juden nur wusste, dass sie Vater viel Geld dafür bezahlen, um im Urlaub von Amerika in die Ukraine zu fahren. Aber dann habe ich Jonathan Safran Foer kennen gelernt, und ich kann Ihnen sagen: Er hat keine Scheiße zwischen den Ohren. Er ist ein genialer Jude.
Genauso wie der Tollpatsch, den ich nie Tollpatsch, sondern immer Klein-Igor nenne. Er ist ein erstklassiger Junge. Für mich ist jetzt klar, dass er ein sehr starker und potenter Mann werden und sein Gehirn viele Muskeln haben wird. Weil er ein so stiller Junge ist, sprechen wir nicht mit großer Lautstärke, aber ich bin sicher, dass wir Freunde sind, und ich glaube, dass ich keine Nicht-Wahrheiten verbreite, wenn ich schreibe, dass wir die allergrößten Freunde sind. Ich habe Klein-Igor beigebracht, ein Mann von dieser Welt zu sein. Zum Beispiel habe ich ihm drei Tage vorher ein schmutziges Magazin gezeigt, damit er die vielen Positionen ansehen kann, in denen ich verkehre. »Das ist neunundsechzig«, sagte ich zu ihm und hielt ihm das Heft vor die Augen. Ich zeigte mit den Fingern – mit zwei Fingern – auf das Geschehen, damit er es nicht übersah. »Warum nennt man es neunundsechzig?«, fragte er, denn er ist ein Mensch, der auf Neugier brennt. »Weil es 1969 erfunden worden ist. Mein Freund Gregorij kennt einen Freund vom Neffen des Erfinders.« »Und was haben die Leute vor 1969 gemacht?« »Sie haben nur geblasen und die Zauberdose ausgeleckt, aber nie im Chor.« Wenn es nach mir geht, wird er ein VIP werden.
Hier beginnt die Geschichte.
Aber zuerst muss ich meine gute Erscheinung vortragen. Ich bin hundertprozentig groß. Ich kenne keine Frauen, die größer sind als ich. Die Frauen, die ich kenne, die größer sind als ich, sind Lesben, für die 1969 ein sehr tragweites Jahr war. Ich habe gut aussehendes Haar, das in der Mitte durchgeteilt ist. Das liegt daran, dass Mutter es an der Seite durchgeteilt hat, als ich ein Junge war, und um sie zu nerven, habe ich es in der Mitte durchgeteilt. »Alexi-nerv-mich-nicht«, sagte sie, »wenn du dein Haar so durchteilst, siehst du aus wie einer, der geistig nicht in der Mitte ist.« Ich weiß, dass sie das nicht so gemeint hat. Mutter äußert sehr oft Dinge, von denen ich weiß, dass sie es nicht so meint. Ich habe ein aristokratisches Lächeln und verteile gern kleine Faustschläge. Mein Bauch ist sehr stark, auch wenn er im Augenblick zu wenig Muskeln hat. Vater ist dick, und Mutter auch. Das beunruhigt mich nicht, weil mein Bauch sehr stark ist, auch wenn es so aussieht, als ob er sehr dick ist. Ich werde noch meine Augen beschreiben und dann mit der Geschichte beginnen. Meine Augen sind blau und leuchtend. Jetzt beginne ich mit der Geschichte.
Vater bekam einen Telefonanruf von dem amerikanischen Büro von Heritage Touring. Sie wollten einen Fahrer, Führer und Übersetzer für einen jungen Mann, der bei Anbruch Juli in Lutsk sein würde. Das war eine mühselige Bitte, denn bei Anbruch Juli feiert die Ukraine den ersten Geburtstag ihrer ultramodernen Verfassung, weswegen wir sehr vaterländische Gefühle haben, und darum würden viele weit weg in Urlaub fahren. Es war eine unmögliche Situation, wie 1984, bei den Olympischen Spielen. Aber Vater ist ein übereindruckender Mann, der immer kriegt, was er sehnt. »Schapka«, sagte er am Telefon zu mir, als ich gerade zu Hause vor dem Fernseher saß und mir eine Sendung über wundertätige Putzmittel ansah, »welche war noch mal die Sprache, die du dieses Jahr an der Universität studiert hast?« »Nenn mich nicht Schapka«, sagte ich. »Alex«, sagte er, »welche Sprache hast du studiert?« »Englisch«, sagte ich. »Und bist du gut?«, fragte er mich. »Fließend«, sagte ich, denn ich hoffte, ihn damit so stolz zu machen, dass er mir die Zebra-Polsterbezüge kaufen würde, von denen ich träume. »Ausgezeichnet, Schapka«, sagte er. »Nenn mich nicht so«, sagte ich. »Ausgezeichnet, Alex. Du wirst alle Pläne, die du für Anbruch Juli hast, für nichtig erklären.« »Ich habe keine Pläne«, sagte ich. »Doch, hast du«, sagte er.
Es ist jetzt geziemend, Großvater zu erwähnen, der auch dick ist, aber noch mehr als meine Eltern. Also gut, ich erwähne ihn. Er hat goldene Zähne und viele Haare im Gesicht, die er jeden Abend kämmt. Er hat viele Jahre in vielen Anstellungen geschuftet, hauptsächlich auf den Feldern und später als Maschinenbediener. Seine letzte Anstellung war bei Heritage Touring, wo er in den fünfziger Jahren zu schuften angefangen und bis vor kurzem ausgedauert hat. Jetzt ist er verrentet und lebt in unserer Straße. Meine Großmutter ist zwei Jahre vorher an einem Krebs im Gehirn gestorben, und Großvater ist sehr melancholisch und blind geworden, sagt er. Vater glaubt ihm das nicht, hat ihm aber trotzdem Sammy Davis jr. jr. gekauft, weil eine Blindenhündin nicht nur gut für Blinde ist, sondern auch für Leute, die sich nach dem Gegenteil von Einsamkeit sehnen. (Ich hätte nicht sagen müssen »gekauft«, denn Vater hat Sammy Davis jr. jr. in Wirklichkeit nicht gekauft, sondern sie vom Heim für vergessliche Hunde gekriegt. Darum ist sie auch keine echte Blindenhündin und außerdem geistig verstört.) Großvater hockt die meiste Zeit des Tages in unserem Haus herum und sieht Fernsehen. Er schreit mich oft an. »Sascha!«, schreit er. »Sascha, sei nicht so faul! Sei nicht so wertlos! Tu etwas! Tu etwas Wertvolles!« Ich gebe ihm nie eine Entgegnung, ich nerve ihn nie mit Absichten, und ich verstehe nie, was »wertvoll« heißen soll. Bevor Großmutter gestorben ist, hatte er nicht die unappetitliche Angewohnheit, Klein-Igor und mich anzuschreien. Darum sind wir sicher, dass er das nicht mit Absicht tut, und darum können wir ihm verzeihen. Ich habe einmal entdeckt, dass er weinend vor dem Fernseher saß. (Jonathan, dieser Teil über Großvater muss zwischen dir und mir bleiben, ja?) Der Wetterbericht wurde gegeben, und darum war ich sicher, dass es nichts Melancholisches im Fernsehen war, das ihm weinen ließ. Ich habe es nie erwähnt, weil es ein normaler Anstand ist, es nicht zu erwähnen.
Großvaters Name ist auch Alexander. Zusätzlich auch der von Vater. Wir sind alle Erstgeborene, was für uns eine riesengroße Ehre ist, ungefähr so groß wie bei den Sportarten der Baseball, der in der Ukraine gefunden worden ist. Ich werde mein erstes Kind Alexander nennen. Wollen Sie wissen, was geschieht, wenn mein erstes Kind ein Mädchen ist? Ich sage es Ihnen: Er ist kein Mädchen. Großvater wurde 1918 in Odessa gezeugt. Er ist nie von der Ukraine weg gewesen. Das Weiteste, das er gefahren ist, war Kiew, und das war, als mein Onkel »die Kuh« geheiratet hat. Als ich ein Junge war, brachte Großvater mir bei, dass Odessa die schönste Stadt der Welt ist, weil der Wodka dort billig ist und die Frauen auch. Er machte immer Witze mit Großmutter, bevor sie starb, und zwar darüber, dass er andere Frauen liebte, die nicht sie waren. Sie wusste, dass es nur Witze waren, weil sie mit großer Lautstärke darüber lachte. »Anna«, sagte er, »ich verheirate die mit dem rosa Hut.« Und sie sagte: »Wem willst du sie verheiraten?« Und er sagte: »Mir.« Ich saß auf dem Rücksitz und lachte sehr, und sie sagte: »Aber du bist kein Priester.« Und er sagte: »Heute bin ich einer.« Und sie sagte: »Heute glaubst du an Gott?« Und er sagte: »Heute glaube ich an die Liebe.« Vater hat mir befohlen, Großmutter nie zu erwähnen, wenn Großvater dabei ist.»Das macht ihn nur melancholisch, Schapka«, sagte Vater. »Nenn mich nicht so«, sagte ich. »Es macht ihn nur melancholisch, Alex, und dann denkt er, dass er noch blinder ist. Lass ihn vergessen.« Also erwähne ich sie nie, denn ich tue, was Vater mir sagt, außer ausgenommen, ich will es nicht. Außerdem ist er ein erstklassiger Faustschläger.
Nachdem er mit mir getelefoniert hatte, telefonierte Vater mit Großvater, um ihm zu sagen, dass er bei unserer Reise der Fahrer sein würde. Wenn Sie wissen wollen, wer der Führer sein würde, dann sage ich Ihnen: Es würde keinen Führer geben. Vater sagte, dass ein Führer keine unvermeidliche Sache war und Großvater von seiner Zeit bei Heritage Touring einen Haufen Zeug wusste. Vater nannte ihn einen Spezialisten. (Damals, als er das sagte, klang das sehr vernünftig. Aber was für ein Gefühl hast du jetzt dabei, Jonathan, im Schein von allem, was passiert ist?)
Als wir drei, die drei Männer mit dem Namen Alex, uns abends im Haus meines Vaters versammelten, um uns wegen der Reise zu unterhalten, sagte Großvater: »Ich will das nicht. Ich bin verrentet, aber nicht, damit ich so einen Mist aufführen muss. Das hab ich hinter mir.« »Mir ist egal, was du willst«, sagte mein Vater. Großvater schlagte mit großer Kraft auf den Tisch und rief: »Vergess nicht, wer wer ist!« Ich dachte, das war das Ende der Unterhaltung, aber Vater sagte etwas Abweichendes. »Bitte.« Dann sagte er etwas noch Abweichenderes. Er sagte: »Vater.« Ich muss zugestehen, es gibt so vieles, das ich nicht begreife. Großvater kam zu seinem Stuhl zurück und sagte: »Das ist das letzte Mal. Ich tue es nie mehr.«
Also machten wir einen Plan, wie wir den Helden am 2. Juli um 15 Uhr nachmittags am Bahnhof von Lwow aufnehmen würden. Danach würden wir zwei Tage in der Gegend von Lutsk vertreiben. »Lutsk?«, sagte Großvater. »Du hast nichts von Lutsk gesagt.« »Er will aber nach Lutsk«, sagte Vater. Großvater versank in Denken. »Er sucht das Städtchen, aus dem sein Großvater kam«, sagte Vater, »und eine Frau, die er Augustine nennt und die seinen Großvater aus dem Krieg gerettet hat. Er will ein Buch über das Städtchen seines Großvaters schreiben.« »Oh«, sagte ich, »dann ist er intelligent?« »Nein«, korrigierte mich Vater. »Er hat einen zweitklassigen Kopf. Das amerikanische Büro hat uns informiert, dass er jeden Tag mit ihnen telefoniert und viele halbkluge Fragen nach genießbarem Essen stellt.« »Auf jeden Fall gibt es doch Wurst«, sagte ich. »Natürlich«, sagte Vater. »Er ist nur halbklug.« An dieser Stelle muss ich wiederholen, dass der Held ein sehr genialer Jude ist. »Wo ist dieses Städtchen?«, fragte ich. »Es heißt Trachimbrod.« »Trachimbrod?«, fragte Großvater. »Das ist beinahe fünfzig Kilometer von Lutsk«, sagte Vater. »Er besitzt eine Karte und ist voll Hoffnung, dass er die Lage findet. Es wird nicht schwer sein.«
Als Vater zur Ruhe gegangen war, sahen Großvater und ich noch mehrere Stunden Fernsehen. Wir sind beide Menschen, die sehr verspätet wach bleiben. (Ich war nahe daran zu schreiben, dass wir beide es genießen, verspätet wach zu bleiben, aber das ist nicht wahrheitlich.) Wir sahen ein amerikanisches Fernsehprogramm, bei dem die Worte auf Russisch am unteren Rand des Fernsehers zu sehen waren. Es ging um einen Chinesen, der einfallsreiche Dinge mit einer Bazooka machte. Wir sahen auch den Wetterbericht. Der Wettermann sagte, dass das Wetter am nächsten Tag sehr unnormal würde, aber am Tag danach würde es wieder normal. Zwischen Großvater und mir war eine Stille, die man mit einem Krummsäbel hätte schneiden können. Nur einmal teilte einer von uns etwas mit, als er sich während einer Reklame für McDonald’s McPorkburger zu mir drehte und sagte: »Ich will nicht zehn Stunden zu einer hässlichen Stadt fahren, um einen sehr verwöhnten Juden zu bekümmern.«
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Am 18. März 1791 drückte Trachim B.s doppelachsiger Wagen seinen Besitzer auf den Grund des Flusses Brod oder auch nicht. Die W.-Zwillinge waren die Ersten, die das seltsame Treibgut an der Oberfläche auftauchen sahen: sich schlängelnde Schlangen aus weißer Schnur, ein knittriger Samthandschuh mit ausgestreckten Fingern, leere Garnspulen, leutselige Pincenez, Him- und Brombeeren, Fäkalien, Rüschen, die Scherben eines zerschmetterten Zerstäubers, ein Stück Papier, auf das in ausblutender roter Schrift ein Vorsatz geschrieben war: Ich werde … ich werde …
Hannah weinte. Chana watete in das kalte Wasser, zog die Beine der Kniehose an den Stoffbändern hoch und schob die an die Oberfläche treibenden Gegenstände des Lebens beiseite. Was machst du da?, rief der entehrte Wucherer Jankel
D. und hüpfte auf die beiden Mädchen zu, dass der Uferschlamm spritzte. Er streckte eine Hand nach Chana aus, während er mit der anderen wie immer die inkriminierende Abakusperle verdeckte, die er aufgrund einer Schtetl-Proklamation an einer Schnur um den Hals tragen musste. Komm aus dem Wasser raus, sonst passiert dir noch was!
Der gute Gefilte-Fisch-Händler Bitzl Bitzl R. betrachtete das Durcheinander von seinem Boot aus, das mit einer Schnur an einer seiner Reusen festgebunden war. Was ist da los?, rief er zum Ufer. Bist du’s, Jankel? Gibt’s irgendwie Schwierigkeiten?
Die beiden Zwillinge des Hochgeachteten Rabbis, rief Jankel zurück. Sie spielen im Wasser, und ich habe Angst, dass einer von ihnen was passiert!
Da kommen ja die seltsamsten Sachen hoch!, lachte Chana und spritzte Wasser auf all die Dinge, die rings um sie wuchsen wie ein Garten. Sie fischte die Hände einer Babypuppe und die Zeiger einer Standuhr heraus. Schirmspeichen. Einen Dietrich. Die Gegenstände wurden von Luftblasen emporgetragen, die an der Oberfläche zerplatzten. Die etwas jüngere und weniger vorsichtige der Zwillingsschwestern fuhr mit gespreizten Fingern durch das Wasser und brachte jedes Mal etwas Neues zum Vorschein: ein gelbes Windrad, einen mit Schlamm verschmierten Handspiegel, die Blütenblätter eines versunkenen Vergissmeinnichts, ein Päckchen Samen …
Doch ihre etwas ältere und vorsichtigere Schwester Hannah – ihr genaues Ebenbild bis auf die Härchen, die zwischen ihren Augenbrauen wuchsen – sah vom Ufer aus zu und weinte. Der entehrte Wucherer Jankel D. nahm sie in die Arme, drückte ihren Kopf an seine Brust und murmelte: Ist ja gut … ist ja gut … Bitzl Bitzl rief er zu: Fahr zum Haus des Hochgeachteten Rabbis und bring ihn her. Und hole auch Menasche den Arzt und Isaak den Rechtsgelehrten. Beeil dich!
Der verrückte Grundbesitzer Sofiowka N., dessen Namen das Schtetl später auf Landkarten und in mormonischen Volkszählungsunterlagen annahm, trat hinter einem Baum hervor.Ich habe alles gesehen, was geschehen ist, sagte er mit hysterischer Stimme.Ich kann alles bezeugen. Der Wagen war zu schnell für diesen Feldweg – noch schlimmer als zur eigenen Hochzeit zu spät zu kommen, ist, zur Hochzeit der Frau zu spät zu kommen, die man kriegen wollte, aber nicht gekriegt hat –, und mit einemmal hat er sich umgestürzt, und wenn das nicht die reine Wahrheit ist, dann hat sich der Wagen nicht selbst umgestürzt, sondern ist von einem Windstoß aus Kiew oder Odessa oder was weiß ich woher umgestürzt worden, und wenn das ein wenig unglaublich erscheint, dann ist eben – ich schwöre es bei meinem unbefleckten Namen – ein Engel mit Flügeln, so grau wie ein Grabstein, vom Himmel herniedergefahren, um Trachim mitzunehmen, denn Trachim war zu gut für diese Welt. Das gilt natürlich für jeden von uns. Wir alle sind zu gut füreinander.
Trachim?, fragte Jankel und ließ es zu, dass Hannah die inkriminierende Perle befingerte. Ist Trachim nicht der Schuhmacher aus Lutsk, der vor einem halben Jahr an Lungenentzündung gestorben ist?
Seht euch das an!, rief Chana kichernd und hielt den Cunnilingusbuben aus einem schmutzigen Kartenspiel hoch.
Nein, sagte Sofiowka. Der Mann hieß Trachum, mit einem U. Der hier hieß Trachim mit I. Und dieser Trachum ist in der Längsten Nacht gestorben. Nein, warte mal. Warte mal. Er ist daran gestorben, dass er Künstler war.
Und das hier!, kreischte Chana und schwenkte eine ausgebleichte Karte des Universums.
Komm aus dem Wasser raus!, rief Jankel, und zwar lauter, als er es gegenüber der Tochter des Hochgeachteten Rabbis oder gegenüber irgendeinem anderen jungen Mädchen eigentlich sein wollte. Dir passiert noch was!
Chana kam schnell zum Ufer. Das dunkelgrüne Wasser verbarg den Zodiakus, als die Sternenkarte auf den Grund des Flusses sank und sich wie ein Schleier über den Kopf des Pferdes legte.
Die Fensterläden des Schtetls wurden wegen des Spektakels aufgestoßen (Neugier war das Einzige, was alle Bewohner miteinander verband). Der Unfall hatte sich bei dem kleinen Wasserfall ereignet, an jenem Uferabschnitt, wo die momentane Grenze zwischen den beiden Teilen des Schtetls – dem Jüdischen Viertel und dem Menschlichen Dreiviertel – auf den Fluss traf. Alle so genannten heiligen Handlungen – religiöse Studien, koscheres Schlachten, Feilschen, usw. fanden im Jüdischen Viertel statt. Jene Tätigkeiten dagegen, die zur Routine des täglichen Lebens gehörten – weltliche Studien, Rechtsprechung, Handel und Wandel usw. –, fanden im Menschlichen Dreiviertel statt. Auf der Grenzlinie zwischen den beiden stand die Aufrechte Synagoge. (Auch der Thoraschrein befand sich genau über dieser Grenze, damit es in jedem Teil des Schtetls eine Thorarolle gab.) Wenn sich das Verhältnis zwischen Heiligem und Weltlichem verschob – gewöhnlich um nicht mehr als eine Haaresbreite in diese oder jene Richtung, ausgenommen jene außergewöhnliche Stunde im Jahr 1764, als das Schtetl unmittelbar nach dem Pogrom der Aschebestreuten Häupter ganz und gar weltlich war –, verschob sich auch die Grenzlinie, mit Kreide vom Wald von Radziwill bis zum Fluss gezogen, und die Synagoge wurde angehoben und versetzt. 1783 brachte man Räder an dem Gebäude an, um beim ständigen Hin und Her des Schtetls zwischen jüdischem und menschlichem Leben weniger Kraft zu vergeuden.
Mir scheint, es hat einen Unfall gegeben, keuchte Schloim W., der bescheidene Antiquitätenhändler, der von Almosen leben musste, weil er seit dem allzu frühen Tod seiner Frau nicht mehr imstande war, sich von seinen Kandelabern, Figürchen oder Stundengläsern zu trennen.
Woher weißt du das?, fragte Jankel.
Bitzl Bitzl hat es mir zugerufen, als er mit seinem Boot zum Haus des Hochgeachteten Rabbis fuhr. Ich habe auf dem Weg hierher an so viele Türen wie möglich geklopft.
Gut, sagte Jankel. Wir brauchen eine Schtetl-Proklamation. Ist er denn wirklich tot?, fragte jemand.
Bestimmt, versicherte Sofiowka. So tot, wie er war, bevor seine Eltern sich kennen lernten. Vielleicht sogar noch toter, denn damals war er wenigstens ein Schuss im Schwanz seines Vaters und eine Leere im Bauch seiner Mutter.
Hast du versucht, ihn zu retten?, fragte Jankel.
Nein.
Halt ihnen die Augen zu, sagte Schloim zu Jankel und zeigte auf die Mädchen. Er zog sich rasch aus – dabei entblößte er einen Bauch, der größer war als die meisten anderen, und einen Rücken, der mit dichten Locken aus schwarzem Haar bedeckt war – und sprang ins Wasser. Federn strichen auf den Schwingen der Strudel über ihn hinweg. Lose Perlen und zahnfleischlose Zähne. Blutgerinnsel, Wein und zersplitterte Kristalllüster. Die aufsteigenden Wracktrümmer wurden immer dichter, bis Schloim die Hände nicht mehr vor Augen sehen konnte. Wo? Wo?
Hast du ihn gefunden?, rief Isaak der Rechtsgelehrte, als Schloim schließlich wieder auftauchte. Wissen wir eigentlich, wie lange er schon dort unten ist?
War er allein oder war seine Frau bei ihm?, fragte die trauernde Schanda T., Witwe des verstorbenen Philosophen Pinchas T., der in seiner einzigen bedeutenden Abhandlung »An den Staub: Vom Menschen bist du, und zum Menschen sollst du werden« argumentierte, es sei theoretisch möglich, das Leben und die Kunst gegeneinander auszutauschen.
Ein starker Wind fegte durch das Schtetl und entlockte ihm ein Pfeifen. Jene, die in trüb beleuchteten Kammern schwer verständliche Texte studierten, sahen auf. Liebende, die Sühneopfer darbrachten und Versprechen, Verbesserungsvorschläge und Ausflüchte machten, verstummten. Mordechai C., der einsame Kerzenzieher, tauchte die Hände in eine Schüssel mit warmem, blauem Wachs.
Er hatte eine Frau, warf Sofiowka ein und schob die linke Hand tief in die Hosentasche. Ich erinnere mich gut an sie. Sie hatte so üppige Brüste. Gott im Himmel, was für herrliche Brüste sie hatte! Wer könnte die je vergessen? Sie waren … oh Gott, sie waren so herrlich. Ich würde alle Worte, die ich seither gelernt habe, dafür eintauschen, wieder jung zu sein – ja, oh ja – und an diesen Brüsten saugen zu dürfen. Ja, das würde ich tun! Das würde ich tun!
Woher weißt du das alles?
Ich bin als Kind einmal nach Rowno gefahren, weil ich für meinen Vater dort etwas erledigen sollte. Ich war im Haus dieses Trachim. Sein Nachname liegt mir auf der Zunge, aber ich weiß genau, dass er Trachim mit I hieß und dass er eine junge Frau mit herrlichen Brüsten, eine kleine Wohnung voller Nippes und eine Narbe vom Auge bis zum Mund oder vom Mund bis zum Auge hatte. Das eine oder das andere.
KONNTEST DU SEIN GESICHT SEHEN, ALS ER VORBEIFUHR?, fragte der Hochgeachtete Rabbi mit lauter Stimme, während seine Töchter flink unter den beiden Enden seines Gebetsmantels Zuflucht suchten. DIE NARBE?
Und dann – oijoijoi – habe ich ihn wieder gesehen, als ich ein junger Mann war, der versuchte, in Lwow sein Glück zu machen. Wenn ich mich recht erinnere, lieferte Trachim Pfirsiche – oder vielleicht waren es auch Pflaumen – in ein Haus voller Schulmädchen, das gegenüber lag. Oder war er ein Briefträger? Ja, es waren Liebesbriefe.
Natürlich ist es unmöglich, dass er noch am Leben ist, sagte Menasche der Arzt und öffnete seine Arzttasche. Er holte einige Totenscheine hervor, die von einem neuen Windstoß mitgenommen und in die Bäume gewirbelt wurden. Einige davon würden im September mit den anderen Blättern fallen. Andere würden Generationen später mit den Bäumen fallen.
Und selbst wenn er noch am Leben wäre, könnten wir ihn nicht befreien, sagte Schloim, der sich hinter einem großen Felsenabtrocknete. Man kann erst zu dem Wagen vordringen, wenn die ganze Ladung an die Oberfläche gestiegen ist.
WIR MÜSSEN EINEN SCHTETL-ERLASS VERFASSEN, verkündete der Hochgeachtete Rabbi noch mit gebieterischerer Stimme.
Also – wie hieß er denn nun genau?, fragte Menasche und legte die Feder an die Zunge.
Können wir sicher sein, dass er eine Frau hatte?, fragte die trauernde Schanda und legte die Hand auf ihr Herz.
Haben die Mädchen irgendetwas gesehen?, fragte Avram R., der Edelsteinschneider, der selbst keinen einzigen Ring trug (obgleich der Hochgeachtete Rabbi ihm versichert hatte, er kenne eine junge Frau in Lodz, die ihn glücklich machen könne [für immer]).
Die Mädchen haben nichts gesehen, sagte Sofiowka. Ich habe gesehen, dass sie nichts gesehen haben.
Die Zwillinge – diesmal alle beide – begannen zu weinen.
Aber wir können uns in dieser Sache doch nicht nur auf sein Wort verlassen, sagte Schloim und machte eine Geste in Sofiowkas Richtung, der seinerseits diese Freundlichkeit mit einer Geste beantwortete.
Fragt nicht die Mädchen, sagte Jankel. Lasst sie in Ruhe. Sie haben genug durchgemacht.
Inzwischen hatten sich beinahe alle der über dreihundert Einwohner des Schtetls eingefunden, um über das zu debattieren, wovon sie nichts wussten. Je weniger einer wusste, desto unnachgiebiger bestand er auf seiner Meinung. Das war nichts Neues. Vor einem Monat war es um die Frage gegangen, ob es im Interesse der Kinder nicht besser sei, das Loch im Bagel ein für alle Mal zu stopfen. Vor zwei Monaten hatte es die grausame und komische Diskussion über Schriftsetzen und davor die Debatte über die Frage der polnischen Identität gegeben, die viele zum Weinen und viele zum Lachen gebracht und zahlreiche neue Fragen aufgeworfen hatte. Und es würde weitere Fragen geben, über die man sich die Köpfe würde heißreden können, und danach noch mehr Fragen. Fragen vom Anbeginn der Zeit – wann immer das gewesen war – bis zum Ende. VonAsche?zuAsche?
VIELLEICHT, sagte der Hochgeachtete Rabbi und erhob Hände und Stimme noch höher, BRAUCHEN WIR DIESE ANGELEGENHEIT GAR NICHT ZU KLÄREN. WIR KÖNNTEN EINFACH KEINEN TOTENSCHEIN AUSFÜLLEN. WIR KÖNNTEN DEN LEICHNAM ORDENTLICH BEERDIGEN, ALLES VERBRENNEN, WAS ANS UFER GESPÜLT WIRD, UND DAS LEBEN IM ANGESICHT DIESES TODES EINFACH WEITERGEHEN LASSEN?
Aber wir brauchen eine Proklamation, sagte Froida J., der Bonbonmacher.
Nicht, wenn das Schtetl proklamiert, keine Proklamation zu erlassen, berichtigte ihn Isaak.
Vielleicht sollten wir versuchen, uns mit seiner Frau in Verbindung zu setzen, sagte die trauernde Schanda.
Vielleicht sollten wir anfangen, die Überreste einzusammeln, sagte Eliezer Z. der Zahnarzt.
Und im Geflecht der Diskussion ging die Stimme von Hannah, die unter dem fransenbesetzten Flügel des Gebetsmantels ihres Vaters hervorlugte, beinahe unter.
Ich sehe etwas.
WAS?, fragte ihr Vater und brachte die anderen zum Schweigen. WAS SIEHST DU?
Da drüben, sagte sie und zeigte auf das schäumende Wasser.
Inmitten von Schnur und Federn, umringt von Kerzen und durchweichten Streichhölzern, von Krabben, Schachfiguren und seidenen Quasten, die sich wie Quallen wiegten, war ein Baby, ein Mädchen, noch von Schleim überzogen und rosig wie das Innere einer Pflaume.
Die Zwillinge versteckten sich wie Geister unter dem Tallith ihre Vaters. Das in den versunkenen Nachthimmel gehüllte Pferd auf dem Grund des Flusses schloss die müden Augen. Die prähistorische Ameise in Jankels Ring, die schon lange bevor die erste Planke von Noah festgehämmert worden war, reglos im honigfarbenen Bernstein gelegen hatte, verbarg schamvoll den Kopf zwischen ihren vielen Beinen.
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Einige Tage später gelang es Bitzl Bitzl R. mit Hilfe einiger starker Männer aus Kolki, den Wagen zu bergen, und in seinen Reusen verfing sich mehr denn je. Doch sosehr man auch in den Überresten suchte – einen Leichnam fand man nicht. In den folgenden hundertfünfzig Jahren veranstaltete das Schtetl jährlich einen Wettkampf, bei dem es darum ging, Trachim zu »finden«. Die ausgelobte Belohnung wurde allerdings bereits 1793 per Proklamation zurückgezogen – Menasche hatte darauf hingewiesen, ein menschlicher Leichnam beginne nach zwei Jahren im Wasser zu zerfallen, weswegen jede weitere Suche nicht nur sinnlos sei, sondern auch zu ziemlich abstoßenden Funden oder, schlimmer noch, zu mehrfacher Zahlung der Belohnung führen könne –, und so wurde aus dem Wettstreit eine Art Fest, für das Generationen der cholerischen Bäckerfamilie P. besondere Pasteten buken und die Mädchen des Schtetls sich als Zwillinge verkleideten, mit wollenen Kniehosen, deren Beine mit Stoffbändern zugebunden wurden, und Leinenblusen mit blau gesäumten breiten Kragen. Männer kamen von weit her, um nach den Baumwollsäcken zu tauchen, die von der Festkönigin in den Brod geworfen wurden und alle bis auf einen – den »goldenen Sack« – mit Erde gefüllt waren.
Es gab Leute, die glaubten, dass Trachim nie gefunden werden und der Fluss genug losen Sand über ihn schwemmen würde, um ihn ordentlich zu beerdigen. Diese Leute legten bei ihrer monatlichen Runde über den Friedhof Steine ans Flussufer und sagten Dinge wie:
Armer Trachim – ich kannte ihn nicht gut, aber ich hätte ihn gut kennen können.
oder
Du fehlst mir, Trachim, auch wenn wir uns nie begegnet sind.
oder
Ruhe, Trachim, ruhe in Frieden. Und mach unsere Mühle sicher.
Einige vermuteten auch, dass er nicht unter seinem Wagen begraben, sondern vom Fluss zum Meer getragen worden war und das Geheimnis seines Lebens in sich bewahrt hatte wie eine Flasche, die einen Liebesbrief enthält und eines Morgens von einem nichts ahnenden Liebespaar bei einem romantischen Strandspaziergang gefunden wird. Möglicherweise waren er oder ein Teil von ihm am Ufer des Schwarzen Meers oder in Rio angespült worden oder hatten es sogar bis nach Ellis Island geschafft.
Oder vielleicht hatte ihn eine Witwe gefunden und in ihr Haus gebracht: Sie kaufte ihm einen Schaukelstuhl, zog ihm jeden Morgen einen anderen Pullover an, rasierte ihn, bis die Haare aufhörten zu wachsen, nahm ihn abends mit ins Bett, flüsterte ihm süße Trivialitäten in das, was von seinem Ohr übrig geblieben war, lachte mit ihm bei schwarzem Kaffee, weinte mit ihm beim Betrachten vergilbter Fotos, sprach blauäugig davon, dass sie Kinder haben wolle, begann sich nach ihm zu sehnen, bevor sie schließlich krank wurde, setzte ein Testament auf, in dem sie ihm alles vermachte, dachte beim Sterben allein an ihn, wusste immer, dass er nur eine Einbildung war, und glaubte dennoch an ihn.
Andere waren überzeugt, es habe nie einen Leichnam gegeben. Trachim, der geniale Betrüger, habe tot sein wollen, ohne zu sterben. Er habe seinen ganzen Besitz auf einen Wagen geladen, sei in das unbedeutende, namenlose Schtetl gefahren – das bald wegen des jährlichen Festes, dem Trachimtag, in ganz Ostpolen bekannt war und wie ein Waisenkind Trachims Namen trug (und nur auf Landkarten und in mormonischen Volkszählungsunterlagen als Sofiowka bezeichnet wurde) –, habe seinem namenlosen Pferd einen letzten Schlag aufs Hinterteil gegeben und es in den Fluss getrieben. War er auf der Flucht vor Schulden gewesen? Vor einer unerwünschten arrangierten Ehe? Vor Lügen, die ihn schließlich eingeholt hatten? War sein Tod ein unerlässliches Moment für die Fortsetzung seines Lebens?
Natürlich gab es auch welche, die darauf hinwiesen, dass Sofiowka verrückt sei, dass er nackt im Brunnen der Hingestreckten Meerjungfrau zu sitzen pflege, wo er ihren schuppigen Hintern liebkose wie die Fontanelle eines Neugeborenen, und dass er seine eigene bessere Hälfte liebkose, als sei ganz und gar nichts dagegen einzuwenden, dass einer überall und zu jeder Gelegenheit an seinem gereckten Abzug herumzupfte. Oder dass man ihn, eingewickelt in weiße Schnur, eines Tages im Vorgarten des Hochgeachteten Rabbis gefunden habe und dass er gesagt habe, er habe ein Stück Schnur um seinen Zeigefinger gebunden, um etwas schrecklich Wichtiges nicht zu vergessen, und dann, aus Angst, seinen Zeigefinger zu vergessen, eine Schnur um seinen kleinen Finger gebunden habe, und dann eine von der Taille bis zum Hals, und, aus Angst, auch diese zu vergessen, eine Schnur vom Ohr zum Eckzahn, von dort zum Hodensack und von dort zur Ferse gespannt habe – dass er, mit einem Wort, seinen Körper benutzt habe, um seinen Körper nicht zu vergessen – und sich schließlich nur an die Schnur habe erinnern können. Konnte man einem solchen Menschen Glauben schenken?
Und das Baby? Meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter? Das war ein schwierigeres Problem, denn es ist relativ leicht zu verstehen, dass ein Leben im Fluss endet – aber dass ein Leben im Fluss beginnt?
Harry V., der Schtetl-Perverse und örtliche Meister-Logiker – der seit so vielen Jahren und mit so wenig Erfolg, wie man sich nur vorstellen kann, an seinem Opus magnum mit dem Titel »Der Herrscher der himmlischen Winden« gearbeitet hatte, das, wie er verhieß, den unwiderleglichsten logischen Beweis enthielt, dass Gott den unkritisch Liebenden unkritisch liebt –, präsentierte wortreich die These, es müsse auf dem verhängnisvollen Wagen noch jemanden gegeben haben: Trachims Frau. Vielleicht, argumentierte Harry, sei ihre Fruchtblase geplatzt, als die beiden auf einer Wiese zwischen zwei Schtetln gefüllte Eier gegessen hätten, und vielleicht habe Trachim das Pferd zu gefährlicher Geschwindigkeit angetrieben, um zu einem Arzt zu kommen, bevor das Kind der Mutter entschlüpfte wie eine zappelnde Flunder dem Griff des Fischers. Als die Wellen der Wehen über ihrem Kopf zusammenschlagen seien, habe Trachim sich zu seiner Frau umgedreht und vielleicht ihr zartes Gesicht mit der schwieligen Hand gestreichelt, vielleicht den Blick von der zerfurchten Straße abgewandt und vielleicht den Wagen versehentlich in den Fluss gelenkt. Vielleicht sei der Wagen umgestürzt und habe die beiden unter sich begraben, und vielleicht sei das Kind zwischen dem letzten Atemzug der Mutter und dem letzten Befreiungsversuch des Vaters geboren worden. Vielleicht. Aber nicht einmal Harry konnte das Fehlen der Nabelschnur erklären.
Die Schlote von Ardischt – jene Vereinigung rauchender Handwerker in Rowno, die so viel rauchten, dass sie sogar rauchten, wenn sie nicht rauchten, und aufgrund einer Schtetl-Proklamation gehalten waren, als Dachdecker und Schornsteinfeger zu arbeiten – glaubten, meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter sei der wiedergeborene Trachim. Als sein erschlaffender Körper vor dem Hüter des herrlichen und dornenbewehrten Himmelstors erschienen sei und man über ihn zu Gericht gesessen habe, sei etwas schief gegangen. Es habe noch etwas Unerledigtes gegeben. Seine Seele sei nicht bereit gewesen, ins Himmelreich einzugehen, und man habe sie zurückgeschickt und ihr Gelegenheit gegeben, ein Unrecht, das die vorangegangene Generation angerichtet habe, wieder gutzumachen. Selbstverständlich ergibt das keinen Sinn. Aber was ergibt schon einen Sinn?
Dem Hochgeachteten Rabbi war es mehr um die Zukunft als um die Vergangenheit des Kindes zu tun, und daher äußerte er weder gegenüber den Bewohnern des Schtetls noch im »Buch der Begebenheiten« eine offizielle Meinung zur Herkunft des Mädchens, sondern übernahm bis zur endgültigen Entscheidung, in wessen Haus es aufwachsen sollte, die Verantwortung für die Kleine. Er brachte sie in die Aufrechte Synagoge – denn nicht einmal ein Baby, so schwor er, sollte einen Fuß in die Wankelnde Synagoge setzen (wo immer die sich auch gerade befand) – und bereitete ihr eine behelfsmäßige Wiege im Thoraschrein, während die Männer in den langen schwarzen Gewändern lauthals Gebete intonierten. HEILIG, HEILIG, HEILIG IST DER HERR DER HIMMLISCHEN HEERSCHAREN! DIE GANZE WELT IST ERFÜLLT VON SEINER HERRLICHKEIT!
Seit mehr als zweihundert Jahren schrien die Gläubigen, die in die Aufrechte Synagoge gingen, ihre Gebete – seit jenem Tag, da der Ehrwürdige Rabbi erklärt hatte, dass unsere Gebete nichts anderes sind als die Hilfeschreie Ertrinkender, die um Rettung aus dem tiefen Meer der Spiritualität flehen.UND WENN UNSERE NOT SO GROSS IST, sagte er (er begann seine Sätze stets mit dem Wort »und«, als wären sie eine logische Fortsetzung seiner innersten Gedanken),SOLLTEN WIR DANN NICHT ENTSPRECHEND HANDELN? UND SOLLTEN WIR NICHT SCHREIEN WIE VERZWEIFELTE?Und so schrien sie denn, seit nunmehr über zweihundert Jahren. Und sie schrien auch jetzt, sodass das Baby kein Auge zutun konnte, und hingen – in der einen Hand das Gebetbuch, in der anderen das Seil – an den Flaschenzügen, die an ihren Gürteln befestigt waren, und die Kronen ihrer schwarzen Hüte streiften die Decke.UND WENN WIR DANACH STREBEN, GOTT NÄHER ZU SEIN, hatte der Ehrwürdige Rabbi geklärt,SOLLTEN WIR DANN NICHT ENTSPRECHEND HANDELN? UND SOLLTEN WIR NICHT ETWAS TUN, UM IHM NÄHER ZU SEIN?Das klang vernünftig. Am Vorabend von Jom Kippur, dem heiligsten Feiertag, kroch eine Fliege durch die Ritze unter der Synagogentür und begann die unter der Decke hängenden Gläubigen zu belästigen. Sie flog von einem Gesicht zum anderen, landete summend auf langen Nasen und kroch in behaarte Ohren.UND WENN DIES EINE PRÜFUNG IST, klärte der Ehrwürdige Rabbi in dem Versuch, seine Gemeinde zusammenzuhalten,SOLLTEN WIR UNS DANN NICHT BEMÜHEN, SIE ZU BESTEHEN? UND DAHER ERMAHNE ICH EUCH: EHER SOLLT IHR ZU BODEN FALLEN, ALS DASS IHR DAS HEILIGE BUCH FALLEN LASST!
Doch die Fliege gab keine Ruhe und kitzelte einige an den kitzligsten Stellen. UND SO WIE GOTT ZU ABRAHAM SAGTE, ER SOLLE ISAAK DAS MESSER ZEIGEN, SO SAGT ER JETZT ZU UNS, DASS WIR UNS NICHT AM HINTERN KRATZEN SOLLEN, UND WENN ES GANZ UND
GAR UNUMGÄNGLICH IST, SO SOLLEN WIR AUF JEDEN FALL DIE LINKE HAND BENUTZEN! Die Hälfte der Gemeinde hielt sich an das, was der Rabbi erklärt hatte, und ließ lieber das Seil als das heilige Buch los. Dies waren die Vorfahren der Gemeinde der Aufrechten Synagoge. Zweihundert Jahre lang erkannte man ihre Mitglieder an einem vorgetäuschten Humpeln, mit dem sie sich selbst – oder vielmehr die anderen – daran erinnerten, wie sie die Prüfung bestanden hatten: indem sie dem geheiligten Wort den Vorzug gegeben hatten. (ENTSCHULDIGUNG, RABBI, ABER WELCHES WORT IST DAMIT DENN NUN EIGENTLICH GEMEINT? Der Ehrwürdige Rabbi zog seinem Schüler eins mit dem Thorastab über und sagte: UND WENN DU ES NÖTIG HAST ZU FRAGEN! …) Manche der Aufrechten gingen so weit, dass sie sich weigerten, überhaupt einen Fuß vor den anderen zu setzen, um so auf einen noch dramatischeren Sturz hinzuweisen. Was natürlich bedeutete, dass sie nicht zur Synagoge gehen konnten. WIR BETEN, INDEM WIR NICHT BETEN, sagten sie. WIR BEFOLGEN DAS GESETZ, INDEM WIR GEGEN ES VERSTOSSEN.
Diejenigen, die lieber das Gebetbuch als sich selbst fallen ließen, waren die Vorfahren der Gemeinde der Wankelnden Synagoge (wie sie von den Aufrechten genannt wurde). Sie befingerten die Fransen, die sie an die Manschetten ihrer Hemden genäht hatten, um sich selbst – oder vielmehr die anderen – daran zu erinnern, wie sie die Prüfung bestanden hatten: indem sie zu dem Schluss gekommen waren, dass die Schnüre immer am Körper getragen werden müssten, damit derGeistdes geheiligten Wortes stets gegenwärtig sei. (Entschuldigung, aber kann mir jemand sagen, was es mit diesem geheiligten Wort auf sich hat?Die anderen zuckten die Schultern und diskutierten weiter darüber, wie man dreizehn Knischesunter dreiundvierzig Leuten aufteilen könne.) Die Sitten der Wankler wandelten sich: Die Flaschenzüge wurden gegen Kissen eingetauscht, die hebräischen Gebetbücher gegen leichter verständliche jiddische, der Rabbi gegen einen von einer Gruppe geleiteten Gottesdienst mit Diskussionen, gefolgt – meist aber unterbrochen – von Essen, Trinken und Tratschen. Die Aufrechten sahen auf die Wankler herab, denn diese schienen bereit, jedes jüdische Gesetz für etwas aufzugeben, das sie lahm alsdie große und notwendige Versöhnung der Religion mit dem Lebenbezeichneten. Die Aufrechten bedachten sie mit allen möglichen Spottnamen und verhießen ihnen wegen ihres Drangs, sich in dieser Welt behaglich einzurichten, ewige Qualen in der nächsten Welt. Aber die Wankler waren wie Schmul, der Milchmann mit den chronischen Verdauungsproblemen: Sie gaben einen Scheiß darauf. Abgesehen von den seltenen Tagen, an denen die Aufrechten und die Wankler von verschiedenen Seiten versuchten, die Synagoge zu verschieben, um das Schtetl frommer oder weltlicher zu machen, ignorierten sie einander einfach.
Sechs Tage lang standen die Einwohner des Schtetls, Aufrechte wie Wankler, vor der Aufrechten Synagoge Schlange, um einen Blick auf meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter zu werfen. Viele kamen viele Male. Die Männer durften das Baby untersuchen, es berühren, zu ihm sprechen, ja es sogar im Arm halten. Frauen waren in der Aufrechten Synagoge selbstverständlich nicht zugelassen, denn der Ehrwürdige Rabbi hatte vor so langer Zeit erklärt: UND WIE SOLLEN WIR UNSEREN GEIST UND UNSER HERZ AUF GOTT RICHTEN, WENN JENER ANDERE TEIL UNS UNREINE GEDANKEN AN IHR WISST SCHON WAS EINGIBT?
1763 kam man zu einem Kompromiss, der allen recht vernünftig erschien: Den Frauen wurde erlaubt, in einem engen, feuchten Raum unter einem eigens eingebauten Glasboden zu beten. Es dauerte jedoch nicht lange, und die Männer wandten den Blick von dem geheiligten Buch und warfen ihn auf den Chor der Ausschnitte unter ihnen. Schwarze Hosen waren mit einem Mal körpernah geschnitten, und es gab mehr Gebaumel und Gerempel denn je, alsjener andere Teilsich in Phantasien vonihr wisst schon waserging.HEILIG, HEILIG, HEILIG IST DER HERR DER HIMMLISCHEN HEERSCHAREN! DIE GANZE WELT IST ERFÜLLT VON SEINER HERRLICHKEIT!
Der Ehrwürdige Rabbi machte diese beunruhigende Entwicklung zum Gegenstand einer seiner zahlreichen Nachmittagspredigten.UND WIR ALLE SOLLTEN JENES ÜBERAUS BEDEUTSAME BIBLISCHE GLEICHNIS KENNEN, DAS DIE VOLLENDUNG VON HIMMEL UND HÖLLE BESCHREIBT. UND WIE WIR ALLE WISSEN ODER WISSEN SOLLTEN, SCHUF DER HERR AM ZWEITEN TAG DIE GEGENSÄTZLICHEN REICHE DES HIMMELS UND DER HÖLLE, WOHIN WIR UND DIE WANKLER – MÖGEN SIE NICHTS ALS WARME KLEIDUNG MITNEHMEN – ERHOBEN BEZIEHUNGSWEISE VERDAMMT WERDEN. UND ABER WIR DÜRFEN NICHT DEN NÄCHSTEN UND DRITTEN TAG VERGESSEN, ALS GOTT SAH, DASS DER HIMMEL NICHT SO HIMMLISCH UND DIE HÖLLE NICHT SO HÖLLISCH WAR, WIE ER SIE SICH GEWÜNSCHT HATTE. UND WIR KÖNNEN DEN UNBEDEUTENDEREN UND SCHWIERIGER ZU FINDENDEN TEXTEN ENTNEHMEN, DASS ER, DER VATER DER VÄTER DER VÄTER, DEN VORHANG ZWISCHEN DEN BEIDEN REICHEN ÖFFNETE, AUF DASS DIE SELIGEN UND DIE VERDAMMTEN EINANDER SEHEN KÖNNTEN. UND WIE ER GEHOFFT HATTE, ERFREUTEN SICH DIE SELIGEN AN DEN QUALEN DERVERDAMMTEN, UND IHRE EIGENE FREUDE WURDE ANGESICHTS DES SCHMERZES UMSO GRÖSSER. UND DIE VERDAMMTEN SAHEN DIE SELIGEN, UND SIE SAHEN, WIE DIESE SCHINKEN UND HUMMERASSEN, UND SIE SAHEN, WAS DIESE IN DIE HINTERN VON MENSTRUIERENDEN SCHICKSEN STECKTEN, UND IHR EIGENER SCHMERZ WURDE NOCH GRÖSSER. UND GOTT SAH, DASS DAS BESSER WAR. DOCH DER REIZ DES FENSTERS WURDE ZU GROSS, UND ANSTATT DIE FREUDEN DES HIMMELS ZU GENIESSEN, LIESSEN SICH DIE SELIGEN VON DEN QUALEN DER HÖLLE FASZINIEREN, UND ANSTATT UNTER DEN QUALEN DER HÖLLE ZU LEIDEN, ERFREUTEN SICH DIE VERDAMMTEN AN DEN NACHEMPFUNDENEN FREUDEN DES HIMMELS. UND IM LAUF DER ZEIT KAM ES ZU EINEM AUSGLEICH: SIE STARRTEN FORTWÄHREND EINANDER AN, SIE STARRTEN FORTWÄHREND SICH SELBST AN, UND DAS FENSTER WURDE ZU EINEM SPIEGEL, VON DEM WEDER DIE SELIGEN NOCH DIE VERDAMMTEN LASSEN KONNTEN ODER WOLLTEN, UND DARUM SCHLOSS GOTT DEN VORHANG, DARUM SCHLOSS ER DIE VERBINDUNG ZWISCHEN DEN BEIDEN REICHEN, UND SO MÜSSEN WIR, ANGESICHTS DIESES ALLZU VERFÜHRERISCHEN FENSTERS, DEN VORHANG ZWISCHEN DEM REICH DER MÄNNER UND DEM REICH DER FRAUEN SCHLIESSEN.
Man leitete Wasser aus dem Brod in den Keller, und in die Rückwand der Synagoge wurde ein Loch, so groß wie ein Hühnerei, gebohrt, durch das immer nur eine Frau lediglich den Thoraschrein und die Füße der baumelnden Männer sehen konnte, an denen zu allem Übel manchmal auch noch Scheiße klebte.
Durch dieses Loch sahen die Frauen des Schtetls – eine nach der anderen – meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter. Viele waren – vielleicht weil das Neugeborene so erwachsen wirkende Gesichtszüge hatte – überzeugt, dass dieses Kind böse war und das Zeichen des Teufels trug. Wahrscheinlicher ist aber, dass ihre gemischten Gefühle von dem Loch selbst hervorgerufen wurden. Aus dieser Entfernung – die Handflächen gegen die Wand, das Auge an ein fehlendes Ei gepresst – konnten sie ihre mütterlichen Gefühle nicht entwickeln. Das Loch war so klein, dass sie nicht einmal das ganze Baby sehen konnten, und so mussten sie eine mentale Collage aus ihren verschiedenen Eindrücken zusammenstellen: die Finger einer Hand am Ende eines Arms, der wiederum an einer Schulter saß … Sie begannen, das kleine Mädchen für seine Unerkennbarkeit zu hassen, für seine Unerreichbarkeit, für die Tatsache, dass es aus so vielen verschiedenen Teilen bestand.
Am siebten Tag bezahlte der Hochgeachtete Rabbi vier Hühnerviertel und eine Hand voll blauer Katzenaugenmurmeln für eine Anzeige, die in Simon T.s Wochenblatt erschien und in der stand, im Schtetl sei, man wisse nicht genau, warum, ein Baby erschienen, und es sei sehr schön und gutartig und keineswegs übel riechend, und er, der Hochgeachtete Rabbi, habe aus Sorge um das Kind und sich selbst beschlossen, es einem rechtschaffenen Mann zu übergeben, der willens sei, es an Tochters statt anzunehmen.
Am nächsten Morgen fand er unter der Eingangstür der Aufrechten-Synagoge zweiundfünfzig Zettel, aufgefächert wie der gespreizte Schwanz eines Pfaus.
Von Peschel S., dem Hersteller von allerlei Nippes aus Kupferdraht, der erst vor zwei Monaten seine Frau im Pogrom der Zerrissenen Kleider verloren hatte: Wenn schon nicht
für das Mädchen, dann für mich. Ich bin ein rechtschaffener Mann, und auf gewisse Dinge habe ich ein Anrecht.
Von dem einsamen Kerzenzieher Mordechai C., dessen Hände in Handschuhen aus Wachs steckten, das nie mehr abgewaschen werden konnte: Ich bin den ganzen Tag so einsam in meiner Werkstatt. Nach mir wird es keinen Kerzenzieher mehr geben. Erscheint das nicht irgendwie vernünftig?
Von dem arbeitslosen Wankler Lumpl W., der an Passah ruhte, nicht weil es den religiösen Geboten entsprach, sondern weil er dachte: Warum sollte diese Nacht anders sein als die anderen?: Ich bin nicht der großartigste Mensch, den es je gab, aber ich wäre ein guter Vater, und das weißt du auch.
Von dem toten Philosophen Pinchas T., dem in der Mühle ein Balken auf den Kopf gefallen war: Wirf sie wieder ins Wasser und lass sie bei mir sein.
Der Hochgeachtete Rabbi war überaus erfahren in allen großen, extragroßen und extra-extragroßen Fragen des jüdischen Glaubens und imstande, auf die entlegensten und unentzifferbarsten Texte zurückzugreifen, um scheinbar unlösbare religiöse Probleme zu lösen, doch er wusste kaum etwas über das Leben selbst, und daher – weil diese Art der Geburt eines Babys in keiner Schrift erwähnt wurde, weil er niemand um Rat fragen konnte (wie würde es denn aussehen, wenn er, der Quell allen Rates, jemanden um Rat fragen würde?), weil das Baby dem Leben entsprang, weil es das Leben selbst war – wusste er nicht, was er tun sollte. SIE SIND ALLESAMT RECHTSCHAFFENE MÄNNER, dachte er. ALLESAMT VIELLEICHT EIN BISSCHEN UNTER DEM DURCHSCHNITT, ABER IM GRUNDE IHRES HERZENS ERTRÄGLICH. WER IST AM WENIGSTEN UNWÜRDIG?
DIE BESTE ENTSCHEIDUNG IST KEINE ENTSCHEIDUNG, beschloss er, legte die Zettel in den Thoraschrein undschwor, meine Ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter – und in gewissem Sinne also mich – dem Verfasser des ersten Briefes zu geben, nach dem sie greifen sollte. Doch sie griff nach keinem der Zettel. Sie beachtete sie überhaupt nicht. Zwei Tage lang rührte sie sich nicht. Sie weinte nicht und öffnete den Mund nicht einmal, um zu trinken. Die Männer mit den schwarzen Hüten hingen weiterhin an den Flaschenzügen und schrien ihre Gebete(HEILIG,HEILIG,HEILIG…), sie baumelten weiterhin über dem verpflanzten Brod, umklammerten das heilige Buch fester als das Seil und beteten, dass einer ihre Gebete erhörte, bis der gute Gefilte-Fisch-Händler Bitzl Bitzl R. mitten im frühen Spätgottesdienst rief, was alle anderen dachten:DIESER GESTANK IST UNERTRÄGLICH!WIE KANN ICH SO TUN,ALS WÄRE ICH NAHE BEI GOTT,WENN ICH DAS GEFÜHL HABE,ALS WÄRE ICH NAHE AM SCHEISSHAUS!
Der Hochgeachtete Rabbi, der diese Meinung teilte, hielt im Gebet inne. Er ließ sich auf den Glasboden hinab und öffnete den Thoraschrein. Ein unglaublich entsetzlicher Gestank breitete sich aus, ein alles einhüllender, unmöglich zu ignorierender, unmenschlicher und unentschuldbarer Gestank von unerhörter Widerwärtigkeit. Er quoll aus dem Thoraschrein, strich durch die Synagoge, strömte durch alle Straßen, alle Gassen des Schtetls, kroch in jedes Schlafzimmer und unter jedes Kissen – wobei er lange genug in die Nasen der Schlafenden eindrang, um ihren Träumen eine andere Wendung zu geben, bevor er sie mit dem nächsten Schnarcher wieder verließ – und ergoss sich schließlich in den Brod.
Das Baby war vollkommen stumm und reglos. Der Hochgeachtete Rabbi stellte die Wiege auf den Boden, zog einen tropfnassen Zettel heraus und rief: WIE ES SCHEINT, HAT DAS KIND JANKEL ZU SEINEM VATER ERWÄHLT!
Wir würden in guten Händen sein.
Lieber Jonathan,
ich sehne, dass dieser Brief gut wird. Wie du weißt, bin ich nicht erstklassig mit Englisch. In Russisch sind meine Ideen abnorm gut formuliert, aber meine zweite Sprache ist nicht so unerreicht. Ich habe die Dinge eingesetzt, die du mir geraten hast, und ich habe das Wörterbuch, das du mir geschickt hast, erschöpft, wie du es mir auch geraten hast, wenn meine Wörter zu klein oder zu unanständig waren. Wenn du nicht glücklich bist mit dem, was ich gemacht habe, befehle ich dir, es mir zurückzuschicken. Ich werde fortfahren, mich damit zu bemühen, bis du besänftigt bist.
Ich habe in den Umschlag die Dinge geschoben, die du gebeten hast, und auch nicht die Postkarten von Lutsk, die Volkszählungshefte von den sechs Dörfer von vor dem Krieg und die Fotos zurückgehalten, die du mich gemahnt hast, aus sicheren Begründigungen zu behalten. Das war eine sehr, sehr, sehr gute Sache, nicht? Ich muss kleine Brötchen schlucken für das, was dir im Zug geschehen ist. Ich weiß, wie bedeutend die Schachtel für dich und für uns beide war und wie ihr Inhalt nicht ersetzlich ist. Stehlen ist eine bösartige Sache, aber eine Sache, die Menschen, die in einem Zug aus der Ukraine sitzen, sehr wiederholt passiert. Da dir der Name von dem Wächter, der die Schachtel gestehlen hat, nicht auf der Zunge liegt, wird es sehr unmöglich sein, sie wieder zu verlangen, und darum musst du wohl zugeben, dass sie für immer weg ist. Aber bitte lass deine Erfahrung in der Ukraine nicht die Art beschmutzen, wie du die Ukraine siehst, denn sie soll für dich eine total wunderschöne frühmalige Sowjetrepublik sein.
Dies ist meine Gelegenheit, meinen Dank zu äußern, dass duauf unserer Reise so wohlmütig und stoisch mit mir warst. Du hattest vielleicht mit einem Dolmetscher mit mehr Fähigkeiten gerechnet, aber ich bin sicher, dass ich eine mittelmäßige Arbeit gemacht habe. Ich muss ein kleines Brötchen schlucken, weil wir Augustine nicht gefunden haben, aber du weißt, wie hart es war. Wenn wir mehr Tage gehabt hätten, hätten wir sie vielleicht entdeckt. Wir hätten die sechs Dörfer erforschen und viele Menschen verhören können. Wir hätten jeden Stein umdrehen können. Aber das alles haben wir ja schon so viele Male gesagt.
Danke für das Duplikat von dem Foto von Augustine mit ihrer Familie. Ich habe ohne Ende daran gedacht, was du über das Verlieben in sie gesagt hast. In Wirklichkeit habe ich es nicht ergründet, als du es in der Ukraine gesagt hast. Aber ich bin sicher, dass ich es jetzt ergründe. Ich sehe sie einmal an, wenn es Morgen ist, und einmal, bevor ich Schnarcher mache, und bei jedem Mal sehe ich etwas Neues, irgendeine Art, wie ihr Haar Schatten macht oder wie ihre Lippen die Winkel halten.
Ich bin so glücklich, dass du befriedigt warst über den ersten Teil, den ich dir geschickt habe. Du musst wissen, dass ich die Berichtigungen gemacht habe, die du mir befohlen hast. Ich entschuldige die letzte Zeile darüber, dass du ein sehr verwöhnter Jude bist. Sie ist jetzt verändert, und es steht da: »Ich will nicht zehn Stunden zu einer hässlichen Stadt fahren, um einen verwöhnten Juden zu bekümmern.« Ich habe den ersten Teil über mich ausgedehnt und das Wort »Neger« über Bord geworfen, wie du mir befohlen hast, obwohl es wahr ist, dass ich auf sie stehe. Es macht mich glücklich, dass du den Satz genossen hast: »Eines Tages wirst du für mich Dinge tun, die du hasst. Das bedeutet es, eine Familie zu sein.« Ich muss dich aber fragen: Was ist eine Binsenweisheit?
Ich habe über das nachgedacht, was du mir geschrieben hast, dass ich den Teil über meine Großmutter ausgedehnter machen soll. Weil du darüber so ernst warst, habe ich die Teile hineingetan, die du mir geschickt hast. Ich kann nicht sagen, dass ich darüber gebrütet habe, aber ich kann sagen, dass ich gern ein Mensch wäre, der über solche Dinge brütet. Sie waren sehr schön, Jonathan, und ich hatte das Gefühl, dass sie wahr waren.
Und ich bin verpflichtet, einen Dank dafür zu äußern, dass du nicht die Wahrheit erwähnt hast, dass ich nicht so groß bin. Ich dachte, ich würde bedeutender sein, wenn ich groß bin.
Ich habe gestrebt, den nächsten Teil so zu machen, wie du es mir befohlen hast, und dabei im Kopf das nach vorn zu stellen, was du mich gemahnt hast. Ich habe auch probiert, nicht so offenbar oder unmäßig feinfühlig zu sein, wie du es mir gezeigt hast. Zu dem Geld, das du mir geschickt hast, muss ich sagen, dass ich das auch schreiben würde, wenn dieses Geld nicht da wäre. Es ist eine totale Ehre für mich, für einen Schriftsteller zu schreiben, besonders wenn er ein amerikanischer Schriftsteller ist wie Ernest Hemingway oder du.
Und wo ich vom Schreiben schreibe: »Oft kommt der Anfang der Welt« war ein sehr erhebender Anfang. Es gab Teile, die ich nicht verstanden habe, aber ich denke, dass das so ist, weil sie sehr jüdisch sind und nur ein Jude etwas verstehen kann, das so jüdisch ist. Ist das der Grund, warum ihr glaubt, dass Gott euch gewählt hat, weil nur ihr die Witze verstehen könnt, die ihr über euch macht? Ich habe eine kleine Frage über diesen Teil, und die ist, ob du weißt, dass viele Namen, die du dort schreibst, keine wahren ukrainischen Namen sind? Jankel ist ein Name, von dem ich gehört habe, und Hannah auch, aber die anderen sind sehr seltsam. Hast du sie ausgedacht? Es gab viele Ungeschicktheiten wie dieses, das muss ich dir sagen. Bist du da ein witziger Schriftsteller oder ein uninformierter?
Ich habe nicht mehr beleuchtende Bemerkungen, denn ich muss erst mehr von dem Roman sehen, damit ich leuchten kann. Für jetzt musst du wissen, dass ich hingerissen bin. Ich will dir sagen, dass ich vielleicht sogar dann, wenn du mir mehr gegeben hast, nicht viele intelligente Dinge äußern kann, aber vielleicht kann ich von irgendeinem trotzdemen Nutzen sein. Wenn ich etwas sehr Unterbeleuchtetes denke, könnte ich es dir schreiben, und dann könntest du mich beleuchtet machen. Du hast mich über so viel davon klar gemacht, dass ich sicher bin, dass ich sehr glücklich sein werde, den Rest zu lesen, und ich denke größer von dir, wenn das überhaupt möglich ist. Ach ja, was ist Cunnilingus?
Und jetzt zu den bisschen privaten Sachen. (Du kannst ja entschließen, diesen Teil nicht zu lesen, wenn er dich zu einem gelangweilten Menschen macht. Ich würde das verstehen, aber bitte schreib es mir nicht.) Großvater ist ungesund. Er ist für ganz in unser Haus gezogen. Er ruht mit Sammy Davis jr. jr. auf Klein-Igors Bett, und Klein-Igor ruht auf dem Sofa. Das nervt Klein-Igor nicht, denn er ist ein sehr guter Junge, der viel mehr versteht als alle denken. Ich habe die Meinung, dass es die Melancholie ist, die Großvater ungesund und blind macht, obwohl er natürlich nicht echt blind ist. Er ist viel ungesunder geworden, seit wir von Lutsk zurück sind. Wie du weißt, war er sehr zu Boden geschlagen wegen Augustine, mehr als du und ich. Es ist hart, mit Vater nicht über Großvaters Melancholie zu sprechen, denn wir haben beide gesehen, als er weinte. Letzte Nacht hockten wir am Tisch in der Küche. Wir aßen schwarzes Brot und machten Unterhaltung über Sport, da kam ein Geräusch von über uns. Klein-Igors Zimmer ist über uns. Ich war sicher, dass es das Weinen von Großvater war, und Vater war auch sicher. Es gab auch einen leisen Rap von der Decke. (Normal ist Rap ausgezeichnet, zum Beispiel, wenn die von der Dnepropetrowsk Crew, die alle taub sind, rappen, aber von diesem Rap, der von über uns kam, war ich nicht froh.) Wir haben uns so hart bemüht, es nicht zu beachten. Das Geräusch weckte Klein-Igor aus seiner Ruhe, und er kam in die Küche. »Hallo, Tollpatsch«, sagte Vater, weil Klein-Igor wieder gefallen ist und sein Auge blau gemacht hat, diesmal das linke. »Ich will auch schwarzes Brot essen«, sagte Klein-Igor und sah Vater nicht an. Obwohl er erst dreizehn, fast vierzehn ist, ist er sehr schlau. (Du bist der einzige Mensch, zu dem ich diese Bemerkung mache. Bitte bemerke es nicht zu einem anderen Menschen.)