Alles verloren? - Anne Karen - E-Book

Alles verloren? E-Book

Anne Karen

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Beschreibung

Es ist der ganz besondere Liebesroman, der unter die Haut geht. Alles ist zugleich so unheimlich und so romantisch wie nirgendwo sonst. Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen, Vampire und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen ziehen uns wie magisch in ihren Bann. Moonlight Romance bietet wohlige Schaudergefühle mit Gänsehauteffekt, geeignet, begeisternd für alle, deren Herz für Spannung, Spuk und Liebe schlägt. Immer wieder stellt sich die bange Frage: Gibt es für diese Phänomene eine natürliche Erklärung? Oder haben wir es wirklich mit Geistern und Gespenstern zu tun? Die Antworten darauf sind von Roman zu Roman unterschiedlich, manchmal auch mehrdeutig. Eben das macht die Lektüre so fantastisch... »Sie brauchen sich nicht zu verstecken!«, rief Gillian. »Ich weiß, dass Sie da sind. Ich habe Sie gehört.« Nichts passierte. Gillian Collins verlangte schneidend: »Ich will Sie sehen!« Hinter Zweigen und Blättern raschelte es in diesem Augenblick verdächtig. Verdrückt sich da jemand?, fragte sich die junge Frau. Das Gegenteil war der Fall. Es kam jemand zum Vorschein. Gillians Finger umschlossen den schweren Stein ganz fest. Ich bin keine leichte Beute!, dachte sie vibrierend. Ich weiß mich zu wehren. Schwärze tauchte zwischen den grünen Blättern auf. Jemand, der von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war, kam auf Gillian zu. Sie kniff die Augen zusammen, schluckte nervös und verbarg den scharfkantigen Stein hinter sich, damit man nicht gleich sehen konnte, dass sie bewaffnet war. Die Zweige zitterten immer stärker und wurden nach links und rechts zur Seite gedrückt. Gillians Spannung wuchs.

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Leseprobe: Intime Geschichten Nr. 23

Liebe nach Noten

Roman 1: Liebe nach Noten

Roman 2: Total peinlich

Roman 3: Völlig Hemmungslos

Moonlight Romance – 43 –

Alles verloren?

Anne Karen

»Sie brauchen sich nicht zu verstecken!«, rief Gillian. »Ich weiß, dass Sie da sind. Ich habe Sie gehört.« Nichts passierte. Gillian Collins verlangte schneidend: »Ich will Sie sehen!« Hinter Zweigen und Blättern raschelte es in diesem Augenblick verdächtig. Verdrückt sich da jemand?, fragte sich die junge Frau. Das Gegenteil war der Fall. Es kam jemand zum Vorschein. Gillians Finger umschlossen den schweren Stein ganz fest. Ich bin keine leichte Beute!, dachte sie vibrierend. Ich weiß mich zu wehren. Schwärze tauchte zwischen den grünen Blättern auf. Jemand, der von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war, kam auf Gillian zu. Sie kniff die Augen zusammen, schluckte nervös und verbarg den scharfkantigen Stein hinter sich, damit man nicht gleich sehen konnte, dass sie bewaffnet war. Die Zweige zitterten immer stärker und wurden nach links und rechts zur Seite gedrückt. Gillians Spannung wuchs. Mit wem werde ich es gleich zu tun kriegen?, ging es ihr durch den Kopf. Mit der Person, die schuld an Samuels derzeitigem Zustand ist? Plötzlich ging es sehr schnell. Zwei Schritte noch, und dann spie das Gebüsch eine schmale, hochgewachsene Gestalt aus. Gillian blickte in ein altes, faltenübersätes, verwittertes Gesicht.

»Wie können Menschen nur so grausam sein?«, sagte Gillian Collins mit belegter Stimme, während sie die üppige Hüftgold-Patientin, die einmal in der Woche in ihr kleines Massagestudio kam, versiert durchknetete. »Ich verstehe das nicht.«

»Das war damals ganz normal«, erklärte Diondra Flynn, eine stattliche Mittvierzigerin, der man ansah, wie sehr sie edle Pralinen, süße Sahnetorten und niedliche Marzipanfigürchen liebte.

Sie lag bäuchlings auf dem bequemen Massagebett und genoss Gillians fachkundige Behandlung. Herrlich war das. Angenehm und wunderbar entspannend. Wie immer plauderten sie dabei. Irgendein interessantes Thema fand sich jedes Mal.

»Jemanden lebendig einzumauern war normal?«, fragte die schlanke Masseurin.

Sie hatte ihr langes, dunkles Haar hochgesteckt und trug einen weißen Hosenanzug, in dem sie trotz seines schlichten Schnitts höchst attraktiv aussah.

»Die schöne Boglarka, die aus Ungarn nach Schottland gekommen war, war immerhin eine Hexe«, sagte die Patientin.

Gillian träufelte etwas muskelentspannendes Mandarinenöl in ihre Hand und verteilte es auf Diondra Flynns Rücken. »Das wurde behauptet«, erwiderte sie. »Aber gibt es denn Hexen?«

»Vor mehr als dreihundert Jahren war man davon überzeugt.«

»Boglarka hat doch nur geholfen.« Gillian attackierte gezielt die verhärteten Muskeln der Patientin.

»Und genau das wurde der hübschen Ungarin zum Verhängnis«, sagte Diondra Flynn, die recht erfolgreich mit Immobilien handelte. »Boglarka war eine weise Frau. Sie hatte ein umfassendes Wissen über Heilpflanzen und andere Gewächse. Ihr Rat war begehrt und geschätzt. Sie half bei Geburten, beriet Frauen in Fragen von Fruchtbarkeit und Empfängnisverhütung, kannte Kräuter, mit denen sich Geburten verhindern ließen, was den Herrschern, die gerne über mehr Untertanen regiert hätten, natürlich nicht gefiel.«

»Also ließen sie sie verhaften, grausam foltern und einmauern«, sagte die 25-jährige Masseurin angewidert.

»Man unterstellte ihr, mit dem Teufel im Bunde zu sein, weil sie sonst – nach damaliger Ansicht – unmöglich so vielfältige Fähigkeiten hätte besitzen können, und machte sie für schlechtes Wetter und die Missernten vergangener Jahre verantwortlich.«

»Die arme Frau.« Gillian knetete etwas fester und entlockte Diondra damit ein leises Stöhnen.

»Boglarka beteuerte bis zuletzt ihre Unschuld«, sagte die Patientin, »doch man glaubte ihr nicht. In dieser Zeit durfte sich keiner sicher fühlen. Es konnte jeden treffen. Die meisten Menschen waren ungebildet und dumm. Sie hatten Angst vor Geistern, Teufeln und Dämonen. Denen konnte man vieles einreden. Wollte man jemanden loswerden, brauchte man ihn nur der Hexerei zu bezichtigen – schon war er weg. Wenn eine Frau rote Haare hatte, besonders schön oder besonders hässlich war, war sie sofort verdächtig.«

»Entsetzlich.« Gillian beendete die Massage und Diondra ging unter die Dusche.

Als sie zurückkam, sagte sie, während sie sich anzog: »Diese Hexenverfolgungen forderten mehr Opfer als alle zur damaligen Zeit geführten Kriege zusammen.«

Gillian schüttelte den Kopf. »Unvorstellbar.« Sie seufzte. Es klang irgendwie erleichtert. »Was bin ich froh, nicht damals gelebt zu haben.«

Diondra Flynn zog die linke Augenbraue hoch. »Vielleicht haben Sie.«

Gillian sah sie irritiert an. »Wie meinen Sie das?«

Die Immobilienmaklerin zuckte mit den Achseln. »Na ja, Sie könnten ja schon einmal auf der Welt gewesen sein.«

»Das glaube ich nicht.« Für Gillian war so etwas absolut undenkbar.

»Schon mal was von Rückführung gehört?«, fragte die Patientin.

Gillian nickte. »Ja. Aber ich halte nichts davon.«

Diondra Flynn lächelte. »Sie glauben nicht an Reinkarnation?«

»Nein.«

»Eineinhalb Milliarden Menschen tun es«, sagte die Maklerin. »Ich habe mich schon mal einer Rückführungstherapie unterzogen.«

Gillian Collins musterte sie, nun doch ein wenig neugierig. »Und? Was ist dabei herausgekommen?«

Diondra Flynn rümpfte die Nase. »Nichts Erfreuliches.« Sie senkte verlegen den Blick, als müsste sie sich für ihr früheres Leben schämen. »Ich habe schon mal als Trickbetrügerin gelebt und starb in einem irischen Kerker an der Ruhr.«

»Und das glauben Sie?«

Diondra Flynn legte ihrer Masseurin sanft die Hand auf den Arm und sagte lächelnd: »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, mein Kind.«

Gillian widersprach nicht, aber sie dachte: Das mag schon stimmen, ist sogar ziemlich sicher richtig, aber diese Rückführungen sind in meinen Augen esoterischer Humbug. Nachdem sich Diondra Flynn verabschiedet hatte, verließ Gillian ihr kleines Massagestudio, das zu einer gemütlichen Vier-Zimmer-Wohnung gehörte, die sie sich mit ihrem Bruder Samuel teilte. Sie nahm die Spangen aus ihrem Haar, schüttelte es mit einer anmutigen Kopfbewegung aus und zog sich um.

Samuel Collins war freier Journalist. Er schrieb für mehrere schottische Magazine, war ein Jahr älter als Gillian und passionierter Junggeselle.

»Es gibt Menschen, die taugen nicht für die Ehe«, pflegte er zu sagen. »Ich bin einer davon. Ewige Liebe. Ewige Treue. Immer mit derselben Frau zusammen sein. Das ist nichts für mich. Ich brauche Abwechslung, kann auf meine Freiheit nicht verzichten, will mich nicht bis an mein Lebensende an jemanden binden, für den ich im Grunde genommen vielleicht schon nach kurzer Zeit nichts mehr empfinde.«

Man kannte ihn in allen Kneipen, Pubs und Bars von Edinburgh, und da er ziemlich gut aussah, fiel es ihm nie schwer, einen hübschen Engel für die Nacht, aber nicht fürs Herz und schon gar nicht für alle Zeiten zu finden.

Am Abend dieses Tages brachte ihn Bernard Teepano nach Hause. Die beiden waren seit Jahren befreundet, und Bernard wäre auch gern Gillians Freund (und wenn möglich auch noch sehr viel mehr) gewesen, doch er war nicht so ganz ihr Fall, obwohl sie ihn fast noch hübscher fand als ihren Bruder, aber irgendetwas in ihr sperrte sich gegen ihn, ohne dass sie einen Grund dafür hätte nennen können.

Er war stets tipptopp gekleidet, hatte männlich-markante Züge, ein hübsches Grübchen am Kinn, und die Vokuhila-Frisur seines sandfarbenen Haares passte hervorragend zu ihm. Natürlich war Gillian freundlich und nett zu ihm, weil er ja Samuels Freund war, aber sie ermunterte ihn nie zu irgendwas und hielt ihn stets leicht unterkühlt auf Distanz.

Die beiden Männer rochen ziemlich intensiv nach Bier und Schnaps, hatten einiges geladen. Samuel allem Anschein nach um etliches mehr als Bernard.

Deshalb grinste er auch unentwegt und ließ einen dummen Spruch nach dem andern ab. Er plumpste schwer in einen Ledersessel und streckte die Beine weit von sich. »Mann, habe ich einen in der Krone.«

»Du darfst ihm seinen Zustand nicht übel nehmen, Gillian«, sagte Bernard Teepano, um sie milde zu stimmen.

»Tut sie nicht«, versicherte Samuel seinem Freund. Er richtete seine glasigen Augen auf Gillian. »Stimmt’s, Schwesterherz? Das tust du nicht.« Er sah wieder Bernard an. »Meine liebe Gillian hat nämlich ein Herz aus purem Gold. Jawohl. Sie ist ein echter Schatz. Verständnisvoll, tolerant, großzügig. Jede Wette, dass sie irgendwann mal heiliggesprochen wird. Das kann gar nicht ausbleiben.«

»Ihr seid hoffentlich nicht selbst mit dem Auto gefahren«, sagte Gillian streng.

»Natürlich nicht«, erwiderte Samuel. »Wo denkst du hin?«

»Wir haben ein Taxi genommen«, sagte Bernard.

Samuel griente. »Weil wir verantwortungsbewusst und vernünftig sind.«

»Vernünftig.« Gillian wackelte zweifelnd mit dem Kopf.

Ihr Bruder nickte. »Ja. Und verantwortungsbewusst.« Er legte die Handflächen aufeinander, als wollte er beten, und wünschte sich von seiner Schwester eine Tasse Kaffee – schwarz wie die Nacht, süß wie die Liebe und heiß wie die Hölle.

Gillian richtete ihren fragenden Blick auf Bernard. Der hob abwehrend die Hände, schüttelte den Kopf und sagte: »Für mich nicht. Vielen Dank.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Schon spät. Ich mache mich dann vom Acker, Leute.«

Er zeigte auf Samuel und empfahl ihm, so bald wie möglich zu Bett zu gehen. Dann ließ er den Freund mit dessen Schwester allein.

Samuel bekam seinen Kaffee und verbrannte sich prompt die Zunge. »Heiß«, zischte er.

Gillian zog unschuldig die Schultern hoch. »Wie die Hölle. So wolltest du ihn doch.«

Er stellte die Tasse ab. »Hölle. Ja. Gutes Stichwort. Dazu fällt mir etwas ein, das ich heute gehört habe. Wenn du dich zu mir setzt, erzähle ich es dir.«

Gillian nahm ihm gegenüber Platz, obgleich sie kein besonderes Interesse an irgendwelchen verrückten Schauergeschichten hatte.

»Hast du schon mal von Cullrose gehört?«, erkundigte sich ihr Bruder.

Sie schlug die langen, makellosen Beine übereinander und strich ihr Kleid über den Schenkeln glatt. »Nein.«

»Das ist ein kleines, verschlafenes Nest in der Nähe von Inverness«, erklärte Samuel. »Ungefähr drei Autostunden von hier.«

»Okay. Und?«

»Man sagt, in Cullrose wäre die Zeit stehen geblieben.«

»Solche Orte gibt es wohl überall auf der Welt«, erwiderte Gillian.

»Wir trafen in der Montgomery Street in einem zurzeit ziemlich angesagten Pub einen steinalten Mann«, erzählte Samuel. »Krummer Rücken. Langes, schlohweißes Haar. Bleigraue Augen. Nachtschwarz gekleidet. Fast ein bisschen unheimlich. Man hätte ihn für einen Magier halten können, der es mit Hilfe geheimer Zauberkünste geschafft hatte, aus der Vergangenheit in unsere Zeit zu gelangen.«

»Und dann ausgerechnet in dieses Lokal in der Montgomery Street?«, meinte Gillian mit unüberhörbarer Skepsis.

»Warum nicht?«

»Hat deine Story auch eine Pointe?«, erkundigte sich Gillian nüchtern.

»Kann man wohl sagen. Und was für eine.«

»Dann lass mal hören«, verlangte Gillian. »Und vergiss deinen Kaffee nicht. Der müsste inzwischen trinkbar sein.«

Samuel probierte ihn. Diesmal wesentlich vorsichtiger. Und dann trank er einen Schluck nach dem andern, während er seine düstere Geschichte erzählte.

»Der alte Mann sprach von einer schwarzen Kapelle auf einem Hügel bei Cullrose. Von einem unheimlichen Schandfleck, um den sich viele geheimnisvolle Geschichten ranken. Von einem Mahnmal des Bösen. Ein Feuer hat die Kapelle vor langer Zeit nach einem Blitzschlag völlig zerstört, und danach sollen sich Grauen, Unheil und tödliche Gefahren in die Geisterruine eingenistet haben.«

Gillian musste unwillkürlich an ihre Unterhaltung mit Diondra Flynn denken. An die Schrecknisse vergangener Tage. An die bedauernswerte Boglarka aus Ungarn, die man lebendig eingemauert hatte, weil sie zu viel Gutes getan und man sie deshalb für eine Hexe gehalten hatte.

»Ich nehme an, du wirst über diese schwarze Kapelle schreiben«, sagte sie.

»Auch.«

»Was noch?«

»Das wirst du gleich erfahren.« Samuel leerte zuerst seine Tasse. Dann fuhr er fort: »Auf dem Kapellenhügel soll es spuken.«

Gillian lächelte ungläubig. »Was du nicht sagst.«

Samuel winkte ab. »Es stört mich nicht, wenn du dich darüber lustig machst«, brummte er. »Denn ich bin felsenfest davon überzeugt, dass etwas an dieser Geschichte dran ist. Immerhin gibt es in ganz Cullrose kaum jemanden, der sich auf den Hügel wagt. Warum wohl? Das muss doch irgendeinen triftigen Grund haben, oder?«

Gillian schwieg. Einem Betrunkenen kann man viel erzählen, dachte sie. Der glaubt einem alles, solange sein Geist vom Alkohol umnebelt ist.

»Ich habe vor, nach Cullrose zu fahren«, eröffnete Samuel seiner Schwester.

»Du wirst mit einem Bericht zurückkommen, der sich gut verkaufen lässt.«

Samuel schüttelte den Kopf. »Darum geht es mir diesmal nicht. Oder, sagen wir: Nicht nur. Der sonderbare Alte hat von einem Schatz gesprochen, der sich auf dem Hügel befinden soll. In der Ruine. Darunter. In ihrer Nähe. Irgendwo.«

»Du willst dich auf Schatzsuche begeben?«

»Ich stelle mir das recht spannend vor«, sagte Samuel. »Möchtest du mitkommen?«

Gillian lachte. »Nie im Leben.«

»Du hast doch nicht etwa Angst.«

»Wovor denn?«

»Nun ja, der Schatz wird angeblich von bösen Geistern bewacht.«

Gillian nahm die leere Kaffeetasse in die Hand. »Ich bin sicher, dass es in Cullrose weder einen Schatz noch böse Geister gibt. Aber du wirst daraus einige spannende Storys fabrizieren und in diversen Magazinen unseres Landes unterbringen. Darin bist du ja ein wahrer Meister – wenn du nüchtern bist.«

Samuel stemmte sich ächzend aus dem Sessel hoch. Er schwankte ein wenig, zeigte auf seine schöne Schwester und sagte: »Ich halte mein Angebot auch dann noch aufrecht, wenn der Alkoholdunst sich verflüchtigt hat.« Er tippte sich grüßend an die Stirn. »Und nun empfehle ich mich und begebe mich zur Ruhe. Gehab dich wohl, meine Liebe.«

*

Tags darauf war Samuel zwar ein wenig verkatert, aber nüchtern, und noch immer willens, nach Cullrose zu fahren. Er packte gleich nach dem gemeinsamen Frühstück mit Gillian seine Siebensachen, verstaute sie im Wagen, einem weißen Skoda Superb, und sagt: »Letzte Chance, mitzukommen.«

Gillian umarmte ihn. »Fahr vorsichtig.«

Er lächelte. »Tu ich doch immer.«

»Und ruf mich an, wenn du da bist.«

»Geht klar.«

»Viel Spaß bei der Geisterjagd.«

Samuel schüttelte den Kopf. »Nicht Geisterjagd. Schatzsuche.«

»Hoffentlich bist du nicht allzu sehr enttäuscht, wenn du ihn nicht findest.«

Samuel schmunzelte. »Ich würde es überleben, gehe aber davon aus, dass ich nicht mit leeren Händen zurückkommen werde.«

Gillian legte ihm amüsiert die Hand auf die Schulter. »Du bist ein unverbesserlicher Optimist.«

»Du hättest diesen alten Mann reden hören sollen«, sagte Samuel ernst. »Der war sowas von überzeugt von dem, was er sagte. Und gruselig war er obendrein. Und mysteriös. Und … Ob du es glaubst oder nicht, er verschwand von einer Sekunde zur andern.«

»Willst du mir etwa weismachen, er hätte sich vor deinen Augen in Luft aufgelöst?«

»Nun, nicht direkt vor meinen Augen, aber immerhin … Ich habe mich nur ganz kurz umgedreht, und als ich mich ihm wieder zuwenden wollte, war er nicht mehr da. Das war schon ziemlich seltsam, eigenartig – und irritierend.«

»Du warst angeheitert«, gab Gillian zu bedenken.

»Na ja, aber nicht so sehr, dass …« Samuel unterbrach sich. »Ach, was soll’s? Du glaubst mir ja doch nicht. Wenn ich mit den Taschen voller Goldmünzen, Perlen und Juwelen zurückkomme, werde ich darauf bestehen, dass du Abbitte leistest.«

»Das werde ich dann gerne tun. Aber ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird.«

Samuel zog die dunklen Augenbrauen hoch und hob belehrend die Hand. »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt, meine Liebe.«

Da war der Spruch schon wieder. Gestern war er von Diondra Flynn gekommen, heute von Samuel. Gillian war dennoch nicht bereit, an Teufel, Hexen und Dämonen zu glauben. Und an verborgene, vergessene, von Geistern bewachte Schätze. Ihr Bruder stieg in seinen Wagen und fuhr los.

Zu Mittag läutete das Telefon. »Gut gelandet?«, erkundigte sich Gillian.

»Gelandet?«, fragte am andern Ende Bernard Teepano.

Sie sagte: »Oh, entschuldige. Ich dachte, es wäre Samuel.«

»Ist er nach Cullrose gefahren?«

Gillian lachte. »Nichts konnte ihn davon abhalten.«

»Er ist irre. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb ich ihn so mag. Ich wollte mich bloß erkundigen, wie es ihm geht. Er hatte ja gestern einiges geladen.«

»Es geht ihm schon wieder gut«, sagte Gillian. »Darf ich dich was fragen, Bernard?«

»Klar.«

»Was hältst du von der Cullrose-Sache?«

»Wenn ich ehrlich sein soll … Nichts«, antwortete Bernard Teepano. »Aber Samuel wird etwas daraus machen, davon können wir ausgehen. Er beherrscht die Kunst des Aufbauschens wie kein anderer.«

Wenige Minuten nachdem Gillian aufgelegt hatte, meldete sich ihr Bruder aus Cullrose. »Hier gibt es nur ein einziges unscheinbares Hotel«, berichtete er. »Es nennt sich ›Dark Inn‹. Von purem Luxus weit entfernt, aber sauber. Chester Frazer, der Besitzer, ist sehr nett. Er würde dir gefallen. Sieht gut aus, ist so alt wie ich, eine große, stattliche Erscheinung. Offener, ehrlicher Blick. Gute Manieren.«

»Du klingst wie ein Heiratsvermittler«, warf Gillian amüsiert ein.

»Ich bin zurzeit der einzige Gast im ›Dark Inn‹«, fuhr Samuel fort. »Ist nicht viel los in diesem winzigen Kaff. Keine Menschen auf der Straße. Auf dem Geisterhügel die schwarze Kapellenruine …« Er lachte. »Hier könnte man glatt einen Schauerroman ansiedeln.«

»Wie war die Fahrt?«, erkundigte sich Gillian.

»Im Großen und Ganzen problemlos«, gab Samuel Auskunft. »Nur kurz vor Perth gab es einen kleinen Stau. Der hat sich aber rasch aufgelöst, und dann ging es zügig weiter.«

Gillian lächelte verschmitzt. Leider konnte er es nicht sehen. »Falls du den Schatz findest, musst du mir davon was abgeben«, sagte sie, ohne dass es ihr damit ernst gewesen wäre. »Sonst verpfeife ich dich.«

Samuel ging lachend darauf ein. »So eine bist du also.«

»Ja, so eine bin ich.«

»Nun, zu deiner Information, Schwesterherz, ich habe nicht vor, den Fund – sollte es dazu kommen – zu verheimlichen. Wenn ich tatsächlich auf einen Schatz stoße, werde ich ihn selbstverständlich abliefern, wie es sich gehört, und nur den dafür gesetzlich vorgesehenen Finderlohn annehmen.«

Gillian zog den Spaß durch. »Dann will ich davon die Hälfte«, forderte sie gespielt energisch.

»Ich sehe zwar nicht ein, wofür, weil du der ganzen Angelegenheit ja ziemlich skeptisch gegenüberstehst«, erwiderte Samuel, »aber okay. Wir machen Halbe-Halbe.«