Allgemeine Rettungswissenschaft - Thomas Prescher - E-Book

Allgemeine Rettungswissenschaft E-Book

Thomas Prescher

0,0

Beschreibung

Die Rettungswissenschaft tritt als eine neue Disziplin an und fordert ihren Platz innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft. Das Buch nimmt eine erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen vor und trägt so entscheidend zur Identitätsbildung des jungen Faches bei. Es richtet sich an RettungswissenschaftlerInnen und Studierende, die eine tiefere Einsicht und eine kritische Reflexion der theoretischen Grundlagen und der praktischen Herausforderungen der Disziplin suchen. Es wird die Notwendigkeit beleuchtet, über die unmittelbare Anwendung von Wissen in der Notfallversorgung hinauszudenken und die Disziplin in einem breiteren, wissenschaftlich fundierten Rahmen echter Theoriebildung zu betrachten. So geht es darum, der zentralen Frage nachzugehen, was gute Forschung in der Rettungswissenschaft ist, welche Theoriebildungsprobleme identifiziert werden können und wie Wissen und Erkenntnis in dieser Disziplin möglich sind bzw. werden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 258

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung: Von der Handlungs- zur Reflexionswissenschaft »Rettungswissenschaft«

2 Erkenntnistheoretische Grundlagen: Rettungswissenschaft zwischen Theorie und Praxis sowie Erkenntnis und Wissen

2.1 Rettungswissenschaft zwischen normativen und deskriptiven Aussagen: Theorieverständnis gegen Subjektivität und objektivistischen Schein

2.2 Sprache, Wirklichkeit und Widerfahrnis: Korrespondenz von Handeln und Erkennen

2.3 Problem der Erkenntnis durch PraktikerInnen: Strukturelle Kopplung durch Sinn verhindert Erkenntnis

2.4 Probleme der Theoriebildung: Beobachtungsfehler sind Beurteilungsfehler sind Begründungsfehler

2.5 Theorien für Erklärung oder Voraussage von Beobachtungssätzen: Dreiebenen-Modell wissenschaftlicher Methode

3 Minimales Erkenntnismodell: Erkenntnistheoretische Grundfragen über das Erkennen von Wirklichkeit

3.1 Entwurf des minimalen Erkenntnismodells: Formallogische Kriterien der Erkenntnisproduktion

3.2 Logische Methoden (L

M

): Logische Propädeutik für Hinweise in Aussagenfehlern in der empirischen Rettungsforschung

3.3 Intersubjektivität und relative Objektivität (InSu

Kr

) zwischen epistemischem und ontologischem Sinn: »objektiv ist subjektiv« vs. »subjektiv ist objektiv«

3.4 Beobachtung und Erfahrung (B

E

): Quellen der Erkenntnis

3.5 Erkenntnisgrenze (E

G

): Sprachtheorie von Retten, Versorgen, Notfall, Krise und Gefahr

3.6 Erkenntnissubjekt (E

S

): »Sachliche bzw. ontische Modi« sowie »gesellschaftliche bzw. deontische Modi« des § 2a NotSanG, wenn Erkennen und Handeln in einem Beobachter zusammentreffen

3.7 Normativer Fehlschluss (N

F

): Der praktische Syllogismus als erkenntnistheoretischer Fehlschluss durch zu viel Praxisnähe

3.8 Zwischenfazit: Rettungswissenschaft und Homöostase, um reflexives Kontingenzbewusstsein zu entwickeln

4 Ontologien und Wahrheitstheorien: Perspektiven einer »Allgemeinen Rettungswissenschaft«

4.1 Ontologien: Wider dem ausschließlichen Methodenfetischismus und dem Empirismus

4.2 Realistische und holistische Ontologien: Integrative Perspektive auf ein intelligibles Ganzes

4.3 Ontologische Relationsthese: Jeder Gegenstand existiert durch ein Verhältnis zu anderen Dingen

4.4 Ontogenetik: Komplexitätstheoretische Annäherung an eine »Allgemeine Rettungswissenschaft« und ein erweitertes ontogenetisches Erkenntnismodell

4.5 Wahrheitstheorien: Kritische Konvergenz – dem Gegenstand gerecht werden

4.5.1 Korrespondenztheorie der Wahrheit

4.5.2 Kohärenztheorien der Wahrheit

4.5.3 Konvergenztheorie der Wahrheit

4.6 Zwischenfazit: Anfang einer »Allgemeinen Rettungswissenschaft« zwischen Erfahrung und Selbsttäuschung

5 Theorieprobleme im System Rettung und Rettungswissenschaft: Perspektiven einer systemtheoretisch-funktionalen Rettungstheorie

5.1 Systemtheorie als hermeneutischer Schlüssel: Pfadabhängige Emergenz, Metasysteme, strukturelle Kopplungen, Sinn, Sprache und Stabilität

5.2 Paradoxie im System: Systembildung und »Allgemeine Rettungswissenschaft« als Beobachter 3. Ordnung

5.3 »Draw a distinction«: Funktionale Selektion von Möglichkeiten der Systembildung

5.4 Zwischenfazit: Theorie und Praxis kontingenzsensibel diskursiv trennen

6 Schluss: Formulierung eines interdisziplinär anschlussfähigen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Konzepts

Literaturverzeichnis

Der Autor

© FH Münster/Wilfried Gerharz

Prof. Dr. habil. Thomas Prescher, Professur für Didaktik in den Gesundheitsberufen, FH Münster; INOB.

Thomas Prescher

Allgemeine Rettungswissenschaft

Sprachen und Signale einer Disziplin

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-045094-3

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-045095-0epub:ISBN 978-3-17-045096-7

Vorwort

Als Wissenschaftler, der wissenschafts- und erkenntnistheoretisch auf die Forschung der KollegInnen1 schaut, hat man es in vieler Hinsicht leicht. Ohne selbst etwas zu produzieren, d. h. zu forschen, kann man durch die Brille des Kritikers mit erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Überlegenheit auf das Werk der anderen schauen. Am schönsten und leichtesten sind dabei scheinbar negative Beispiele, die sozusagen das wissenschaftstheoretische Fettnäpfchen naturalistischer Fehlschlüsse und aussagenlogischer Abkürzungen mitgenommen haben, ohne darum zu wissen. Als Außenstehender kann man dann leicht der Besserwisser sein und das Haar in der Suppe bei den anderen suchen und finden. Doch, und das soll an dieser Stelle betont werden, muss sich der Erkenntnistheoretiker der Wahrheit stellen, dass die Forschung, die mit Engagement und Herzblut geführt wurde, immer noch bedeutungsvoller ist als jede Kritik. Das gilt es insbesondere vor dem Hintergrund der vielen engagierten WissenschaftlerInnen und PraxisforscherInnen zu betonen, die neben Beruf und ohne hochschulische Anbindung und Anstellung ihre Forschungsinteressen und -vorhaben vorantreiben und der wissenschaftlichen Gemeinschaft im Rahmen ihrer Publikationen zur Verfügung stellen und damit ein Feld bestellen, was zukünftig seine Früchte tragen wird.

Die Rettungswissenschaft ist eine neue Disziplin. Als KritikerInnen gilt es das Neue zu würdigen, denn das Neue braucht auch FreundInnen und UnterstützerInnen. Denn die Zunft, die Wissenschaftsgemeinschaft, reagiert oft ungnädig auf neue Talente, neue Zugänge, neue Disziplinen und neue Erkenntnisse. Während die altehrwürdigen WissenschaftlerInnen hinter den dicken Mauern der Universitäten bereits Gesagtes wieder und wieder durchkauen, wagen sich die RettungswissenschaftlerInnen hinter ihrer Deckung hervor. Sie wagen etwas, weil sie Beobachtetes hinterfragen, sich selbst darin reflektieren und am Kartenhaus aus Bürokratie, monodisziplinärer Selbstherrlichkeit und juristischer Flankenattacken rütteln. Der Preis, den sie zahlen, ist hoch. Sie müssen sich offenbaren, wenn sie Erkenntnisse in gereviewten Journals einreichen und »abblitzen«, weil die universitären KollegInnen vieles und anderes besser wissen und der eingereichte Beitrag einfach nicht dazu passt. Gabi Reinmann et al. (2010, S. 62) stellt treffend heraus, wie disziplingeleitet, willkürlich und interessengeleitet häufig Reviewverfahren in namhaften Kontexten sind.

Es gilt hier zu sagen, dass der vorliegende Band ein Tribut an all die ForscherInnen und ihre Ergebnisse ist, da außergewöhnliche Forschungen und unerwartete Daten mein Verständnis von der Kunst der Wissenschaft und Forschung herausgefordert haben. Sie haben mich angetrieben zu untersuchen, die »Sprachen und Signale« in der Disziplin wahrzunehmen, wie es Jürgen Henningsen (1980) in einem gleichnamigen inspirierenden Band für die Erziehungswissenschaft formuliert hat. Es geht hier darum, der Frage nachzugehen, was gute Forschung in der Rettungswissenschaft ist und wie Wissen und Erkenntnis möglich sind. Ich will keinen Hehl daraus machen, dass in meiner eigenen Forschung oftmals solche Betrachtungen zu kurz gekommen sind und sicher zahlreiche erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Schnitzer, Ecken und Kanten darin gefunden werden können. Die vielen Arbeiten der KollegInnen, auf die ich mich im vorliegenden Band beziehe, zeigen mir, dass der beste Forschende der ist, der hinausgeht und wirklich forscht und sich nicht in seinen Elfenbeinturm der Hochschule und Universität zurückzieht, um aus sicherer Distanz mit erhobenen Zeigefinger und gerümpfter Nase den Menschen draußen das Leben und die Wirklichkeit zu erklären, die er selbst nur aus Büchern kennt.

Endnoten

1In diesem Buch wird bei Pluralformen das »Binnen-I« oder die neutrale Form genutzt, um alle beziehen, nur die männliche Form gewählt wurde, so ist dies nicht geschlechtsspezifisch gemeint, sondern geschah ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1:

Beispiel Notarzt und Telenotarzt für drei Ebenen der wissenschaftlichen Methode (eigene Darstellung nach Schurz 2008, S. 31) 

49

Abb. 2:

Systemisches Forschungsmodell (eigene Darstellung) 

77

Abb. 3:

Rettung gem. DIN 13050 (eigene Darstellung) 

86

Abb. 4:

Versorgung (eigene Darstellung) 

89

Abb. 5:

Invasive heilkundliche Maßnahme – Notfall (eigene Darstellung) 

91

Abb. 6:

Invasive heilkundliche Maßnahme – Notfall (eigene Darstellung) 

92

Abb. 7:

Notwendig – Möglich (eigene Darstellung in Anlehnung an Seiffert 1985, S. 51) 

93

Abb. 8:

Notwendig – Möglich (eigene Darstellung in Anlehnung an Seiffert 1985, S. 51) 

94

Abb. 9:

Geboten – Erlaubt (eigene Darstellung in Anlehnung an Seiffert 1985, S. 47 ff.) 

96

Abb. 10:

Nicht Geboten – Nicht Erlaubt (eigene Darstellung in Anlehnung an Seiffert 1985, S. 52) 

98

Abb. 11:

Freigestellt – Darf (eigene Darstellung in Anlehnung an Seiffert 1985, S. 53 f.) 

99

Abb. 12:

Gewissheitsfallen der Drei- und Zwei-Welten-Theorien (eigene Darstellung in Anlehnung an Treml 2010, S. 67 ff. und Arnold 2018, S. 33 ff.) 

105

Abb. 13:

Ontologien (eigene Darstellung in Anlehnung an Arnold 2018, S. 42 ff., Treml 2010, S. 93 ff.; Schaller 2012, S. 58) 

119

Abb. 14:

Beobachtungsverzerrung im ontologischen Naivismus (eigene Darstellung) 

121

Abb. 15:

Relationsmuster (Karafillidis 2018, S. 110) 

141

Abb. 16:

Modelle der Erkenntnis und Theorien der Wahrheit (eigene Darstellung in Anlehnung an Arnold 2018, S. 42 ff., Treml 2010, S. 93 ff.; Schaller 2012, S. 58) 

144

Abb. 17:

Funktionssysteme der Systemtheorie Luhmanns (eigene Darstellung) 

171

Abb. 18:

Wechselwirkungen des Gesundheitssystems und des Wissenschaftssystems (eigene Darstellung) 

172

1 Einleitung: Von der Handlungs- zur Reflexionswissenschaft »Rettungswissenschaft«

»Es gibt Systeme« (Luhmann 1984, S. 15). Wissenschaft ist solch ein System, welches sich als Funktionssystem neben anderen Funktionssystemen wie Militär, Wirtschaft, Religion u.a.m. ausdifferenziert hat. Ist Wissenschaft ein System, so die Prämisse, müsste geschlussfolgert werden, dann ist die Rettungswissenschaft auch ein System, wenn auch ein Subsystem. Die Frage ist, ob dies so sein kann und welcher Art System und welcher Art Wissenschaft diese Rettungswissenschaft ist.

Fügen WissenschaftlerInnen den Zusatz »Rettungs-« hinzu, um den Begriff Rettungswissenschaft zu kreieren, bezeichnen sie damit ihren Gegenstand, auf den sich die Wissenschaft bezieht. Sie bezeichnen damit aber gleichzeitig das Phänomen als ein Bündel von Maßnahmen und dafür erforderliche Bedingungen. Diese Bezeichnung wird dann immer wieder als Grundlage herangezogen, eigenen Beobachtungen Sinn zu verleihen und Phänomene ganz unterschiedlicher Art zu erklären. Aktuell verdichtet sich die Bezeichnung der Disziplin auf den Begriff »Rettung« in ganz unterschiedlichen Publikationen und Kontexten, womit andere Begriffe wie Notfallwissenschaft (vgl. DGNOW 2021) vielleicht eingeschlossen sind, weil sie dem Grunde nach den gleichen Gegenstand bezeichnen, nur eben dafür eine andere Begrifflichkeit verwenden, nämlich den Interessenbereich der Notfall- und Akutversorgung. Der Unterschied liegt dann eventuell darin, dass neben der präklinischen Notfallversorgung die ambulante und klinische Notfallversorgung als versorgungssektorenübergreifende, d. h. ganzheitliche und eher interprofessionelle Betrachtung angestrebt wird.

Das Problem mit beiden Begriffen ist, so Latour (2014, S. 10), dass mit der Begriffswahl eine Hypothese über die Natur der Maßnahmen und Bedingungen aufgestellt wird, als ob »rettungs-« oder »notfall-« als Zusatz zu einem Adjektiv wird, das eine materiale Eigenschaft wie ökologisch, plastisch, biologisch o. ä. hat. Der Begriff wird derart begrenzt, dass die Bedeutung dessen, was er sein kann oder könnte, völlig verloren geht. Im vorliegenden Band soll es daher darum gehen, das Verständnis innerhalb der verwendeten Sprache nachzuzeichnen und Bedeutungen entlang unterschiedlicher disziplinarer Signale herauszuarbeiten. Am Ende steht vielleicht eine neue Perspektive oder gar Neudefinition dessen, was sich unter der Disziplin Rettungswissenschaft verstehen lässt. Sie ist aber hier zunächst in ihrem Ausgangspunkt die Wissenschaft von »Rettung und Notfallversorgung« (Prescher et al. 2023, S. 17). Nach Latour (2014, S. 11) wäre diese Bezeichnung ausgezeichnet, wären da nicht die Worte »Rettung« und »Wissenschaft«, denn es ist nicht länger klar im Lichte einer wissenschaftstheoretischen Ausleuchtung über den Begriff Rettung etwas Bestimmtes zu bezeichnen, weil er sich bei näherer Betrachtung in einer gewissen Unbestimmtheit verflüchtigt.

System- und relationstheoretisch (▸ Kap. 3 und ▸ Kap. 5) erscheint der Gegenstand und die Disziplin das Versprechen einer »strengen«, »harten« o. ä. Rettungswissenschaft nicht einlösen zu können. Der Entwurf hier mag den einen oder anderen Leser irritieren, vielleicht auch aus seiner Tätigkeit im Rettungsdienst heraus verärgern, aber im Band kann kein anderer Schluss gezogen werden, als den Gegenstand und die Methoden, ihn zu untersuchen, zu verändern. Soll die Rettungswissenschaft nämlich einmal in das gelobte Land einer echten Wissenschaft mit Fachbereichen und Lehrstühlen an Universitäten und Hochschulen kommen, ist der Blick zu relationieren und systemisch zu weiten. Dazu ist der Blick zu schärfen, als welches Phänomen Rettung immer wieder postuliert wird, wenn es abwechselnd als Notfallversorgung, Präklinik, Außerklinik, Teilesystem der Gesundheitsversorgung usw. bezeichnet wird.

Es ist der Blick zu schärfen, wie wichtig es innerhalb der Disziplin ist, sich von anderen Realitätsbereichen wie Pflege, Medizin oder Sozialer Arbeit abzugrenzen. Denn: Es gibt eine Wirklichkeit als rettungsdienstlichen Kontext, in dem »nicht rettungsdienstliche« Aktivitäten i. e. S. stattfinden. Dieser Wirklichkeitsbereich kann nicht einfach ausgeklammert werden, weil er einen Ausschnitt markiert, der residuale Dimensionen rettungsdienstlicher Wirklichkeit beinhaltet, die nicht einfach von anderen Disziplinen wie der Soziologie, Psychologie oder Sozialen Arbeit untersucht werden können. Wenn überhaupt, dann bräuchte es spezialisierte RettungswissenschaftlerInnen als »RettungssoziologInnen« oder »RettungspsychologInnen«, »RettungsingenieurInnen« und »RettungstechnikerInnen« u. a.

Die Herausforderung für die Betrachtungen im Band kann darin gesehen werden, dass die Rettungswissenschaft aktuell das, was sie unter Rettung und Notfallversorgung fasst, sehr effektiv ins Zentrum ihrer Bemühungen stellt. Vieles, was in der Sphäre der Rettung geschieht, wird beschrieben und kommentiert, sodass es den BetrachterInnen ganz natürlich wird, ihre Annahme zu treffen, worum es geht, wenn es um einen Notfall und »Blaulicht« geht. Der hier vorgestellte Ansatz hält diese getroffenen Annahmen nicht für selbstverständlich, und es wird der Gedanke verfolgt, dass Rettung und Notfallversorgung zwar als etwas Spezifisches konzipiert werden kann, die soziale Konstitution der Gesellschaft aber eine andere Perspektive nahelegt. In dieser Perspektive ist die Rettungswissenschaft nicht einfach die »Wissenschaft vom Retten«, sondern eine »Wissenschaft des Sozialen«, da unzählige Bezüge, Beziehungen, Abhängigkeiten oder Kausalitäten beobachtbar sind. Diese gehören nicht unmittelbar zum Retten im Duktus von Blut, Schweiß und Thrill, sondern sind von einer Art Relationstyp, der sich nicht unmittelbar auf ein Retten bezieht, sondern den Fokus auf Theorie und Theoriebildung legt, wie Brydges und Batt (2023, S. 89) darlegen.

Eine so verstandene Rettungswissenschaft bezieht sich auf einen weitergefassten Begriff von Rettung und Notfallversorgung im Kontext eines theoretischen und konzeptionellen Bezugsrahmens. Diese Perspektive ist dabei nicht beliebig oder willkürlich, sondern grundlagentheoretisch, bspw. mit der Ontologie (Seinslehre) (▸ Kap. 4), der Systemtheorie (▸ Kap. 5), der Phänomenologie (▸ Kap. 5) oder dem kritischen Rationalismus (▸ Kap. 3), begründet und damit feldtheoretisch geweitet. Alle diese wissenschaftstheoretischen Paradigmen spielen für den folgenden Gedankengang eine große Rolle. Dafür ist der Hinweis zu formulieren, dass diese nicht friktionsfrei zu verknüpfen sind, da sie je ein spezifisches Erkenntnisinteresse und ein anderes Verständnis des zu Erkennenden voraussetzen. Sie sollen daher eher eklektizistisch verstanden aufgegriffen und miteinander verbunden werden. Eklektizismus wird mit Formen der hermeneutischen Erörterung im Zusammenhang betrachtet, wobei es sich hier um eine Methode der experimentellen und kombinatorischen Denkweise zur Vergegenwärtigung und Vergewisserung eines Gegenstands handelt (vgl. Prescher 2017, S. 33).

Rettung ist so gesehen nicht länger eine durch Gesetz und DIN bestimmbare Eigenschaft, sondern ein Feld unterschiedlicher Gemengelagen mit ganz unterschiedlichen und neuen Verbindungen, bei denen Rettung zum Plural ganz verschiedener Assoziationen wird. Rettung ist dabei kein vordergründig sichtbares Phänomen, auch keines, das im Rahmen einer Postulatswissenschaft konstruiert werden müsse.

Die politische Zukunft des Rettungssystems ist dabei unabhängig von der Rettungswissenschaft zu denken, weshalb es auch nicht die Aufgabe zu sein braucht, rettungswissenschaftlich die Ideale des Rettens und der Notfallversorgung zu begründen. Vielmehr ist es erkenntnisstiftend den Spuren im Feld nachzugehen, den Strukturmomenten durch Beobachtung und Analyse zu Sichtbarkeit zu verhelfen und den Gegenstand Rettung mit einem Blick des Anfängers zu untersuchen. In diesem Sinne können die Karten immer wieder neu gemischt werden, wodurch der Blick offengehalten wird und neue Denkrichtungen in die Disziplin Einzug halten. Unter der Hauptüberschrift, dem Dach Rettungswissenschaft, können dann Subdisziplinen begründet werden, wie vielleicht eine »Kritische Rettungswissenschaft« oder eine »Allgemeine Rettungswissenschaft«. Diese Denkart macht ein Dreifaches:

1.

Sie erweitert das Untersuchungsobjekt um vielfältige Bezüge.

2.

Sie behauptet, dass die AkteurInnen – die häufig aus der Praxis des Rettungsdienstes kommen und gleichzeitig die Praxis forschend beobachten – Schwierigkeiten mit dieser Öffnung haben, da mit Blick auf die invasiven heilkundlichen Maßnahmen die Illusion benötigt wird, für etwas Besonderes exklusiv zuständig zu sein, weil dies den Kern ihrer Professionalisierungsbemühungen auszumachen scheint.

3.

Sie berücksichtigt, dass alle Einwände, die gegen die Darstellungen und Assoziationen kommen werden, ein deutlicher Hinweis darauf sind, dass die AkteurInnen aus der Praxis davon ausgehen, dass sie recht haben und die hier dargestellten Denk- und Gedankenmodelle falsch seien.

Dies sind jedoch alles nur Hinweise darauf, dass die Disziplin gegenwärtig eher präfaktisch und vor allem prärelational auf ihre Gegenstände schaut (▸ Kap. 3 und ▸ Kap. 5). Es fehlt ein Konzept für die Disziplin, diese metafaktisch und relational aufzustellen. Latour (2014, S. 28 f.) stellt deutlich heraus, wie wichtig eine relationale Perspektive ist:

»In den meisten gewöhnlichen Fällen, beispielsweise bei Situationen, die sich nur langsam ändern, ist der prärelativistische Rahmen vollkommen angemessen, und ein festgelegter Bezugsrahmen kann eine Aktion ohne allzu viel Verzerrung registrieren. Doch wenn die Dinge sich beschleunigen, die Innovationen sich vermehren und die Entitäten sich vervielfältigen, man aber trotzdem darauf beharrt, einen absoluten Bezugsrahmen beizubehalten, erhält man sehr schnell Daten, die hoffnungslos verworren sind. Hier muss eine relativistische Lösung entwickelt werden, um sich zwischen verschiedenen Bezugsrahmen hin und her zu bewegen und eine Art von Kommensurabilität zwischen Spuren aus verschiedenen Bezugsrahmen zu gewährleisten, die sich mit ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit und Beschleunigung bewegen.«

Es soll damit nicht darum gehen, darzulegen, dass die vielen motivierten KollegInnen und die Zunft falsch liegen. Es soll vielmehr darum gehen, das Augenmerk auf den Kern der Disziplin zu legen, der eben in der eigenen Wissenschaftlichkeit liegt und nicht darin, wie im Rettungsdienst gerettet wird. Dies ist wichtig, um den Hinweisen einer Pflegewissenschaft in der eigenen Disziplin vorauszueilen und diese Hinweise von Anfang an aufzugreifen. Oder anders formuliert: Es schlicht besser zu machen. Der Pflegewissenschaft wird nämlich durch Moers et al. (2011) eher eine spärliche Theoriebildung vorgeworfen. Eine Hypothese kann darin gesehen werden, dass das professionelle Selbstverständnis vieler PflegewissenschaftlerInnen sich im Wesentlichen aus ihrer »Nähe zum Bett« speist und entsprechende Pflegemodelle oder Pflegetheorien auch eher Praxistheorien sind, d. h. im engeren Sinne mehr Praxis als Theorie. Oder wie Weniger (1952, S. 55) formuliert, praktische Theorien aus der Praxis für die Praxis. Der Theoriediskurs erfolgt dabei vor dem Hintergrund einer Versorgungs- und Pflegepraxis. Sicher kann dies als maßgebliches Zentrum einer anwendungsorientierten Forschung gesehen werden, jedoch gilt es zu bedenken, dass dies eine Disziplinbildung innerhalb der Universitäts- und Hochschullandschaft erschwert.

Eine erkenntnistheoretische Betrachtung und Reflexion der gegenwärtigen Rettungswissenschaft mit ihren Sprachen und Signalen »[...] hätte ihre Aufgabe erfüllt, wenn sie den Leser in den Stand setzte, [diese Ergebnisse und Erkenntnisse, Anm. d. Verf.] besser zu befragen, besser zu lesen und besser zu bedenken.« (Ricoeur 1973, S. 175). Und so sollte es auch in einer Rettungswissenschaft nicht ausschließlich um die Generierung von rettungsspezifischem Wissen gehen, wie es beispielsweise in der »Studie über Erwartungen, Einstellungen und Erfahrungen mit Leitstellen der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr« (EXPECT, Trautmann & Ballé 2022) erfolgt. Vielmehr sollte solche Art Forschung mit echter Theoriebildung, mit Theoriediskurs und theoretischer Generalisierung einhergehen. Neuweg (2011, S. 42) hat es sehr treffend formuliert:

»Es geht um das Wecken von Neugierde, um den Aufbau von Wahrheitsliebe, um die Schulung präzisen Denkens, um die Grundlegung maximaler Skrupel gegenüber allen Versuchen, das Komplexe durch Meinung, Gewohnheit, unzulässige Verallgemeinerung, Unschärfe einfach zu machen.«

Dass Rettungswissenschaft ein Konglomerat von Vielem ist, zeigt schon der Begriff Rettungswissenschaften als Plural, der im Namen der Deutschen Gesellschaft für Rettungswissenschaften verwendet wird (vgl. https://www.dgre.org/). Dabei kann einerseits Rettungswissenschaft als ein theoretisches Dach verstanden werden, das im Sinne einer Theoriebildung ganz unterschiedliche Forschungen und Paradigmen bündelt. Rettungswissenschaft kann aber auch als Theoriebezug verstanden werden, in dem eine Theorievielfalt kontingenter Möglichkeiten ihren Ausdruck findet. So lassen sich Grundpositionen, Theorieansätze, Perspektiven oder Richtungen und Trends ausmachen, die sichtbar werden lassen, dass der Grundbestand dessen, was dazu gehört und was nicht, nicht eindeutig abgrenzbar ist. Die Bezüge der Disziplinen zu Pädagogik, Wirtschaftswissenschaft, Medizin, Organisationsforschung, Psychologie usw. sind fließend.

Sicher ist dabei, dass es kein gemeinsames Fundament einer theoretischen Position geben wird, sondern dass es eine Vielzahl theoretischer Konzeptionen geben wird, die sich entsprechend der Forschungsschwerpunkte und -felder erst ausdifferenzieren müssen. Insgesamt ist zu beobachten, dass allgemein in der Wissenschaft die Tendenz zur Theoriedifferenzierung zunimmt, indem die eigentliche Wissenschaft, in unserem Fall wäre das die Rettungswissenschaft, um eine Reihe von Attributen ergänzt wird. Solche Begriffe sind humanistische, systemtheoretische, feministische, technokratische, ökologische, konstruktivistische, phänomenologische, kritische, psychoanalytische, neo-institutionelle, kybernetische, organisationale, allgemeine u. v. m., die die jeweilige Wissenschaft in ihrem paradigmatischen Kern charakterisieren.

Der vorliegende Beitrag einer Allgemeinen Rettungswissenschaft versucht genau dieser Vielfalt Rechnung zu tragen und als metatheoretische Klärung die gegenwärtigen Sprachen und Signale greifbar zu machen. Dies geschieht nicht als eine fertige Theoriekonzeption, die für alle Ewigkeit in Stein gemeißelt ist, sondern als Ausdruck einer Zeit, um die gegenwärtige Disziplin- und Theoriebildung nachvollziehbar, greifbar und damit bestimmbar zu machen. In 20 Jahren wird diese Betrachtung eher ein historisches Zeitdokument sein, dass die Genese in der Rückschau sichtbar macht, um vielleicht darauf aufbauend eine andere Idee des Allgemeinen zu formulieren und zu manifestieren. Sichtbar wird damit aber auch, dass die eigentliche Theoriebildung noch ganz am Anfang steht, womit die Einladung und Aufforderung verbunden sein soll, jenseits eines naturalistischen Paradigmas positivistischer Forschungsprovenienz metatheoretisch die eigenen Forschungsvorhaben zu reflektieren und wissenschafts- sowie erkenntnistheoretisch rückzubinden, um stärker aus der Theorie heraus zu forschen und darüber die Theoriegenese zu forcieren. Diese Rückbindung erscheint nötig, da nach Essler & Martinez (1983, S. 9) unter Theorie »[...] eine Gesamtheit von Aussagen, die ein Gegenstandsbereich hinsichtlich bestimmter Strukturen beschreibt« verstanden wird. D. h., es macht einen Unterschied, ob ein Forscher psychoanalytisch an einen Untersuchungsgegenstand herangeht oder bildungstheoretisch bzw. i. e. S. systemisch-konstruktivistisch, da der eigentliche Gegenstand damit objektsprachlich völlig unterschiedlich beobachtet und interpretiert werden kann, wie das z. B. in Bezug auf die Themen »Nachhaltige Entwicklung« und »Bildung« ohne Probleme dargelegt werden kann:

So kann einmal mit Hilfe eines systemisch-konstruktivistischen Verständnisses herausgearbeitet werden, dass durch pädagogisches Handeln innerhalb von Organisationen ein positiver Beitrag zur Nachhaltigen Entwicklung in und von Organisationen ermöglicht werden kann (vgl. Prescher 2019a).

Mit einer psychoanalytisch-sozialpsychologischen Brille kann dagegen das Nachhaltigkeitsdogma, bei dem alles im Mantel der nachhaltigen Entwicklung marketingmäßig »verkauft« wird, innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation herausgearbeitet und aufgezeigt werden, warum wir lassen, was wir tun sollten, d. h. warum eine wirkliche auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Transformation ausbleibt (vgl. Prescher 2019b).

In der Literatur lassen sich in diesem Sinne zwei Theorie- bzw. Wissenschaftsverständnisse ausmachen. Zum einen kursiert das Verständnis von Wissenschaft als Handlungswissenschaft und zum anderen als Reflexionswissenschaft (vgl. Stein 2017, S. 19). Die Rettungswissenschaft als gegenwärtig dominierende Handlungswissenschaft ist davon geprägt, dass die Wissenschaft mit ihren Bemühungen um Theorie einer wie auch immer gearteten Praxis zu dienen habe, d. h. die Erkenntnisse für rettungsdienstliche Praxis nützlich sein müssen. Dies wird darin sichtbar, dass viele der rettungswissenschaftlichen Beiträge, z. B. der ersten drei Foren der Deutschen Gesellschaft für Rettungswissenschaften, ganz unterschiedliche Probleme aufgreifen, thematisieren und neben einer rein deskriptiven Darstellung offensichtlich nach Lösungsperspektiven für die Probleme suchen. Themen sind z. B. das »Erlernen heilkundlicher Maßnahmen durch NotfallsanitäterInnen – Herausforderungen und Lösungsansätze für eine hohe Handlungskompetenz« (Flientje 2022) oder »Grenzüberschreitender Rettungsdienst – trotz offener Grenzen ein Arbeitsumfeld mit Barrieren« (Konrad 2022) u.a.m.

Wissenschaftliche Theoriebildung folgt in diesem Sinne praktischen Zwecken. RettungswissenschaftlerInnen scheinen daraus auch ihr wissenschaftliches Selbstverständnis abzuleiten (▸ Kap. 3). Sie verstehen Rettungswissenschaft als eine auf die Praxis bezogene Handlungswissenschaft. Sie wird damit als angewandte Wissenschaft konstituiert, indem sie professionelle Expertise für die Praxis entwickelt und vermittelt. Die damit zusammenhängende Theorieproduktion kann als eine praktische Theorie um der Praxis willen beschrieben werden (vgl. Bollnow 1978, S. 155). Daraus ergibt sich die Implikation, dass die Störungen der Praxis gleichzeitig die Voraussetzung für die Entwicklung einer Rettungswissenschaft sind, da die KollegInnen wissenschaftlich beobachtend dort innehalten, wo Schwierigkeiten auftauchen. Sie verharren an dieser Stelle, wenden sich wissenschaftlich der Praxis zu, um diese zu beschreiben und verbessernd Einfluss zu nehmen. Leider verselbstständigt sich dieses Bemühen, weil die Verwertbarkeit der Theorie für die Praxis vor der Praxis selbst legitimiert werden muss: Anschlussfähig ist, was verwertbar ist. Verwertbar ist, was in der Sprache der Praxis verständlich ist. Verstehen ist dabei keine rein kognitive und logische Operation von Gehirnen als Erkenntnis, sondern von möglichen auf die Erkenntnisse bezogenen Anschlusshandlungen. Die Theorie sieht sich so Vermittlungsproblemen ausgesetzt (vgl. Budde et al. 2013, S. 32), da Theorieverständnisse mit Praxisverständnissen kollidieren, was nicht zuletzt durch sehr fachhochschulische und daher eher praxisorientierte Akademisierungstendenzen im Feld der Rettung begünstigt wird.

Die Wissenschaft wirft sich sprichwörtlich der Praxis an den Hals, verliert dabei den Bezug zu einer Begründungsebene, sich selbst in ihrem Dasein unabhängig von der Praxis wahrzunehmen. Anstatt sich instrumentalisieren zu lassen, bietet es sich an, dass sich die Wissenschaft in ihrer Theorie- und Erkenntnisproduktion auf den alten Grundsatz der Freiheit von Forschung und Lehre, wie es in den Hochschulgesetzen niedergeschrieben steht, zu besinnen. Forschung und Wissenschaft darf demnach eigenen Zwecken folgen und dient dabei ganz im Sinne von Luhmann (1992, S. 170) dem Differenzcode von wahr und unwahr im Medium der Wahrheit. Wahrheit ist dabei das, was verifizierbar, falsifizierbar und intersubjektiv nachvollziehbar ist.

Der Differenzcode verweist auf ein Schema der Beobachtung 3. Ordnung. D. h., der Beobachter 1. Ordnung kann etwas wissen, ohne es zu wissen. Der Beobachter 2. Ordnung kann dieses Wissen explizieren und systematisieren. Der Beobachter 3. Ordnung schaut auf den Beobachter 1. und 2. Ordnung und vollzieht nach, wie sie zu ihrem Wissen und ihren Kategorien kommen. Es handelt sich hierbei um eine Reflexion der Reflexion und insofern bietet es sich an, auch eine Rettungswissenschaft von der allzu unmittelbaren Praxis zu lösen und im Sinne einer Reflexionswissenschaft das Verhalten der Wissenschaft und die Beobachtungen zu beobachten. Nicht der Verwertungszusammenhang ist erfolgsentscheidend, sondern die Freiheit, eigenen Theoriedispositionen und -optionen zu folgen, um dem Denken und der Erkenntnis den nötigen Raum zu geben. Oder um es mit anderen Worten zu sagen: »Die Arbeit an einer supertheoretischen Begriffsabstimmung wird häufig unterschätzt.« (Luhmann 1992, S. 389 f.). Und darum geht es hier in Bezug auf ein Begriffsverständnis Rettungswissenschaft und der Entwicklung von Rettungstheorie.

In der Wissenschaftstheorie werden dafür die drei Konzepte Ontologie, Epistemologie und Methodologie unterschieden. Die Ontologie fragt als Seinslehre nach dem Wesen einer Wirklichkeit. Es geht um die Struktur und Beschaffenheit der Gegenstände. Die Epistemologie fragt danach, wo das Wissen über diese Wirklichkeit herkommt und wie es gewonnen wird. Die Produktion von Wissen ist an Bedingungen geknüpft. Die Methodologie fragt dementsprechend nach den dafür notwendigen Mitteln (vgl. Pühretmayser & Puller 2011). Deutlich muss dabei gemacht werden, dass hier ein Umweg beschritten werden muss, der ein Denken und Nachdenken erfordert. Dies hat den Preis, dass die Anhaltspunkte der Greifbarkeit, Fasslichkeit und Anschaulichkeit weniger werden. Oder, um es mit den Worten von Treml (2010, S. 24) zu sagen, es werden durch das Theoretisieren scheinbare Kontingenzunterbrecher in erkenntnistheoretisch erzeugte weitere Kontingenz aufgelöst. Ein solches Vorhaben mag sich dem Vorwurf von Sinnlosigkeit ausliefern, eröffnet aber neue Perspektiven und neue Ein- und Ansichten, die mit Pragmatismus allein nicht zu erkennen und nicht auszuleuchten wären.

Der Band konzentriert sich dazu auf ein paar ausgewählte theoretische Probleme im rettungswissenschaftlichen Denken und in der Theoriebildung im Zusammenhang mit einer empirischen und evidenzbasierten Rettungsforschung. Dabei wird in Anlehnung an Treml (2010, S. 7) auf ein Verständnis von Theorie rekurriert, »[...] das Theorie als Zurückdenken auf die im Denken in Anspruch genommenen allgemeinen Voraussetzungen versteht.« Ziel ist es, mit gängigen Kategorien des philosophischen Denkens exemplarisch spürend herauszuarbeiten, wie gegenwärtig Erkenntnisse in der Rettungswissenschaft in ihrer starken Orientierung auf ihre Praxis, dessen Kern eine eigenständige Rettung und Notfallversorgung mit invasiven heilkundlichen Maßnahmen ist, entstehen. Dazu werden im Beitrag unterschiedliche Erkenntnis- und Interpretationsprobleme bei Beobachtungssätzen, d. h. wissenschaftlichen Aussagen, herausgearbeitet und die Fragestellungen verfolgt:

1.

Wie kann der Ontologie-Epistemologie-Nexus der gegenwärtigen Rettungswissenschaft beschrieben werden?

2.

Welche gegenwärtigen ontologischen Grundannahmen bestimmen die Wissens- und Erkenntnisproduktion und damit das Theorie‍(-bildungs-)‌verständnis in der Disziplin?

3.

Welche Theoriebildungsprobleme lassen sich identifizieren?

2 Erkenntnistheoretische Grundlagen: Rettungswissenschaft zwischen Theorie und Praxis sowie Erkenntnis und Wissen

2.1 Rettungswissenschaft zwischen normativen und deskriptiven Aussagen: Theorieverständnis gegen Subjektivität und objektivistischen Schein

Theorieverständnisse lassen sich mit Habermas (1971, S. 146 ff.) historisch in zwei Aspekte unterscheiden: Zum einem wurde Theorie als Ethos angesehen, bei dem sich Erkenntnis auf übergeordnete (kosmologische) Ideen einstellt und sich von einem zu unmittelbaren alltäglichen Lebensweltinteresse löst. Theorie als die Formulierung von Ideen ist dabei in der philosophischen Tradition dennoch lebenspraktisch, als die geordnete Bewegung innerhalb des Kosmos zur Maxime wird. Theorie entspricht hier einem kosmologischen Ideal, das sich dem Philosophen offenbart. Jedoch hat diese Denkweise, die sich in der Antike etabliert hatte, unterschiedliche Brüche, die zu einem anderen Verständnis von Theorie führten. Theorie hat daher zum anderen die Funktion der Kritik, so der Autor (ebd., S. 148 f.), zur »[...] Formierung eines besonnenen und aufgeklärten Habitus [...] eine strukturierte Wirklichkeit in theoretischer Einstellung zu beschreiben«.

Diese Zweiteilung erscheint erkenntnistheoretisch insofern relevant, als das Theoriemodell 1 mit der ethischen Orientierung allzu oft dazu führe, dass Forschung mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse und daher normativen Aussagen praktiziert werde. Das Theoriemodell 2 führe demgegenüber im Sinne einer Positivismuskritik in den Fehlschluss, als empirisch-analytischer Zugriff auf die Wirklichkeit mit ihren deskriptiven Aussagen in eine Selbstüberschätzung des erkenntnistheoretischen Aussagegehalts zu münden. Das Problem in diesen Theorieverständnissen kann darin gesehen werden, dass sie einer rein sinnstiftenden Subjektivität folgen und sich vorrangig an Handlungsproblemen der primären Lebenswelt orientieren.

Die Theorieverständnisse sind hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit dabei als objektivistisch angelegt, wobei die eigentliche Subjektivität mit einer aufgesetzten wissenschaftlichen Objektivität kaschiert wird. Psychologisch ließe sich hier von Defektkaschierung sprechen, wobei aus dem Auge verloren wird, dass eine Theorie vom eigentlichen Begriffsverständnis her den Anspruch hat »unpraktisch« zu sein, wie der Autor (ebd., S. 151) formuliert. Die Kritik an dem Scheinobjektivismus ist dabei nicht die Infragestellung einer überhaupt praktizierbaren Objektivität, sondern, dass Erkenntnisinteressen verschleiert werden und nicht ins Bewusstsein gelangen. Eine theoretische Aussage, die sich naiv auf einen praktischen Sachverhalt bezieht, kann so als ontologischer Naivismus und Naturalismus (▸ Kap. 4) beschrieben werden. »Sie unterstellt die Beziehung zwischen empirischen Größen, die in theoretischen Aussagen dargestellt werden, als ein An-Sich-Seiendes; zugleich unterschlägt sie den transzendentalen Rahmen, innerhalb dessen sich der Sinn solcher Aussagen erst bildet.« (ebd., S. 155). Die Form wissenschaftlicher Texte und Aussagen nimmt einen objektivistischen Schein ein, der bei näherer erkenntnistheoretischer Betrachtung keinen Bestand hat.

In der Wissenschaftstheorie gibt es die sogenannte »Fehlbarkeitslehre« (Fallibilismus), bei der Popper (1987, S. 44 ff.) den Begriff des klassischen Wissens in Relation zur Wahrheitssuche in der Wissenschaft setzt. Der klassische Wissensbegriff geht davon aus, dass ein Sachverhalt wahr ist. Dies meint, dass eine Gewissheit über den Wahrheitsgehalt vorliegt und dafür hinreichende Gründe angeführt werden können. Problematisch ist daran jedoch das Wissenschaftsverständnis selbst, das der Autor in Anlehnung an Kant, Newton oder Einstein begründet. Problematisch ist, dass Wissen in der Naturwissenschaft nicht aus der Natur heraus extrahiert wird und diese abbildet, sondern dass Wissen als Produkt des Verstandes in Form von Naturgesetzen erfunden wird. Damit wandelt sich der Wissensbegriff, da die zugrundeliegenden Theorien eher Schöpfungen des Verstandes sind. Wissen ist damit nicht mehr wahr, es ist ungewiss und die Gründe wechseln, wenn eine neue Theorie eine alte Theorie ablöst. »Wir müssen uns mit Vermutungswissen begnügen.« (ebd., S. 49).

Der Autor stellt damit nicht die Wissenschaft, insbesondere im Sinne des Positivismus, oder die Erkenntnisfähigkeit in Frage, sondern sieht darin die Notwendigkeit, achtsam gegenüber wissenschaftlichen Dogmen zu sein, die in »Wahrheit« haltlos sind. Er mahnt zu einer wissenschaftlichen Bescheidenheit, Wahrheit nicht als absolut zu sehen. Der Autor fordert zu einer Wissenschaft auf, die kritisch mit sich selbst und ihren Erkenntnissen umgeht. Wissenschaft, so die Schlussfolgerung, ist ein Weg, der darauf abzielt, der Wahrheit näher zu kommen. Jedes Wissen ist zunächst nur als eine Hypothese über die Wirklichkeit anzusehen. Jede Hypothese ist kritisch zu prüfen. Dies braucht ein Verständnis dessen, was Wissenschaft, mithin Rettungswissenschaft, ist.