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Zehn Jahre lang hat Martin Hafner sich in der Fremde aufgehalten und so für eine Tat gebüßt, die er nicht beging.
Doch nun kehrt er in die Berge zurück, von Heimweh und Sehnsucht nach seiner Liebsten getrieben. Entsetzt muss er jedoch feststellen, dass die schöne Ursel inzwischen verheiratet ist - ausgerechnet mit dem Mann, der Martins größter Feind war und ist ...
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Seitenzahl: 120
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Gottes Mühlen mahlen langsam
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Impressum
Gottes Mühlen mahlen langsam
Roman um die verbotene Sehnsucht einer verheirateten Frau
Von Monika Leitner
Vor zehn Jahre ist Martin Hafner nach einem Schusswechsel im Forst untergetaucht und hat irgendwo in der Fremde für eine Tat gebüßt, die er nicht beging. Jemand hat ihn damals böswillig in eine Falle gelockt.
Doch nun kehrt er in die Berge zurück, von Heimweh und Sehnsucht nach seiner Liebsten getrieben. Entsetzt muss er jedoch feststellen, dass die schöne Ursel inzwischen verheiratet ist – ausgerechnet mit dem Mann, der Martins größter Feind war und ist ...
Heute scheint endlich einmal die Sonne wieder, dachte die Hafnerin und lehnte den Reiserbesen gegen die Stadlwand.
Nachdenklich schaute sie zu den Tannen jenseits ihrer noch ungemähten Wiese hinüber. Von Sommer zu Sommer wurden die Bäume höher. Das Dorf drunten im Tal konnte sie schon seit Jahren nicht mehr sehen, und der blaue Streifen des Zirnersees wurde nach jedem Sommer schmaler. Zwei Jahre noch, vielleicht drei, dann sah sie nichts mehr vom Talboden, nur noch den Wald ringsum, die jenseitigen Hänge und die grauen Felsen.
»Der Himmel bleibt mir auch noch«, murmelte die Hafnerin und schaute zu den Wolken hinauf. Aber lange mochte sie nicht nach droben blicken. Warum auch? Der dort droben über den Wolken schaute ja auch nicht auf sie herunter. Würde er es sonst zulassen, dass sie sich da abschinden musste? Für nichts und wieder nichts und ohne alle Hoffnung ...
Die Hafnerin strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und starrte die Tannen drüben wieder an. Damals waren sie nicht größer als Christbäume gewesen, und von da heroben hatte man einen freien Blick auf das Dorf und den ganzen See gehabt.
Ja, damals ...
Geduckt kam ein schwarzhaariger Bursch aus den hohen Alpen-Frauenfarnen hinterm Haus, hastete um den Stadl herum und lehnte sich neben dem Reiserbesen an die Wand.
Die Hafnerin in ihrem Sinnen hatte die hastigen Schritte nicht gehört. Sie hörte auch das laute und stoßweise Atmen des Burschen nicht.
»Mutter ...!«
Der Atem der Bäuerin stockte. Sie wurde bleich und griff sich ans Herz.
Ein paar Herzschläge lang war sie unfähig, sich zu rühren. Schließlich wandte sie sich langsam um.
»Martin ...? Martin!«
Beim ersten Mal hatte es ungläubig geklungen, beim zweiten Mal wie ein Jubelschrei.
Die Frau breitete die Arme aus und eilte auf den fast Dreißigjährigen zu. Ein paar Schritte kam ihr Martin Hafner entgegen, drückte sie an sich und zog sie in den Schutz der Stadlwand.
»Bub – mein Bub ... Dass du noch lebst! Dass du wieder bei mir bist!« Mit tränenfeuchten Augen schaute sie ihn an, dann barg sie ihren Kopf an seiner Brust.
Martin Hafner streichelte ihr ergrautes Haar. Auch seine Augen waren nass. Doch sein wachsamer Blick suchte den nahen Waldrand ab.
»Wir müssen ins Haus, Mutter.«
»Ja, komm! Komm, Bub, damit dich nur ja keiner sieht.« Schon zog sie ihn auf die Haustür zu und führte ihn in die Stube. Drinnen wollte sie ihn umarmen und an sich ziehen.
»Wart ein bisserl, Mutter. Ich muss vorsichtig sein.« Mit ein paar weiten Sätzen war er wieder in der Diele, schlug die Haustür zu und schob den Riegel vor.
Die Hafnerin war auf einen Hocker gesunken. Als er zurück in die Stube kam, sprang sie auf. Einen Augenblick standen sie sich stumm gegenüber, dann sank ihr Kopf wieder an seine Brust. Erneut begann sie zu schluchzen.
»Ja, wein dich aus, Mutter. Wein dich erst einmal aus.«
Er legte den Arm um ihre Schultern. Mit der freien Linken streichelte er ihre Wange.
Doch schon nach den ersten Minuten der Wiedersehensfreude stieg ein bitteres Gefühl in ihm auf. Ja, er war bei ihr, aber vor keinem anderen Menschen im Tal durfte er sich zeigen. Jeder hielt ihn für einen Mörder.
»Damals, Bub«, flüsterte die Hafnerin, »nachdem ich in der Kammer drüben den Zettel unter meinem Kopfkissen gefunden hab, auf dem weiter nix gestanden ist als ›Ich leb‹, Mutter', damals hab ich lange gehofft, dass es in der Nacht einmal an den Fensterladen pochen würde. Aber es ist still geblieben in all den Nächten – zehn Jahre lang und länger. Und irgendwann ist die Hoffnung, dich noch einmal wiederzusehen, in mir gestorben.«
»Jetzt bin ich ja da, Mutter.«
»Und ich lass' dich nimmer fort, Bub. Ich lasse dich nimmer fort ...«
Ihre Tränen rannen über seine Hand. Er spürte, dass sie an allen Gliedern zitterte. Was musste sie gelitten haben!
»Zwei Tage und zwei Nächte lang hab ich dich für tot halten müssen«, wisperte die Hafnerin. »Hab glauben müssen, was der Grenzer zu Protokoll gegeben hat; dass er dich am Arm getroffen hätt', dass du aus dem Fels in die Höllbachklamm gestürzt wärest und dass dich der reißende Bach in den Höllschlund gerissen hätt'. Und alles ist Lüge gewesen. Alles Lüge! Warum hat der Grenzer nur gelogen?«
»Er hat net gelogen, Mutter. Aber seine Kugel hat mir den Arm nur geritzt. Und im Höllenschlund drinnen ist es gar net so grausig, wie es von draußen ausschaut. Drinnen beruhigt es sich schnell. Es gibt eine große Höhle und viele Gänge dort im Berg. Ich hab mich aus der Flut auf das Gefels ziehen können, bin zwei Tage und zwei Nächte lang durch die unterirdischen Gänge geirrt, bis ich endlich aus dem Berg herausgefunden habe.«
»Du hättest net nur den Zettel unters Kissen legen dürfen, Martin, als ich drunten bei der Gendarmerie hab aussagen müssen. Warum nur hast du net gewartet, bis ich wieder heroben gewesen bin?«
»Es wär' zu gefährlich gewesen. Ich musste verschwinden, Mutter.«
»Und all die Jahre hast du im Bayerischen drüben gesteckt?«
»Nur die erste Zeit, dann bin ich weiter nach Norden bis ins Ruhrgebiet hinauf. Aber dort kennst du dich eh net aus. Ich erzähle dir später einmal, wo und wie ich mich durchgeschlagen habe, zuerst ohne Papiere, dann mit falschen. Viel wichtiger ist mir, zu hören, ob auch du daran glaubst, dass ich der Mörder des Guggenbichler bin.«
Die Hafnerin presste die Wange an seine Brust.
»Ich hab es net glauben können, Martin. Keine Sekunde lang. Auch net, als mir der Gendarm drunten gesagt hat, der Guggenbichler wär' mit den Worten gestorben: ›Lasst den Hafner net aus; er ist es gewesen‹. Ich hab es trotzdem net glauben können, Bub. Ich kenne dich doch!«
»Ich danke dir, Mutter. Jetzt ist mir wohler.«
Die Hafnerin schaute aus ihren tränenfeuchten Augen zu ihm auf.
»Hast du denn gezweifelt, Martin? An deiner eigenen Mutter?«
»Ich hab an allem gezweifelt – an mir, an Gott und der Welt.« Er fuhr sich über die Stirn und starrte in den Herrgottswinkel.
»Bittschön, Martin, erzähl mir, wie das damals mit dem Förster gewesen ist droben am Berg.«
»Lass uns hinauf in meine Kammer gehen, Mutter. Es könnt' einer vorbeikommen und durchs Fenster schauen. Ich muss mit allem rechnen.«
***
Wenig später saßen sie in der Dachkammer auf den beiden schmalen Schemeln. Die Hafnerin hatte sich inzwischen ein wenig gefangen, doch Martin war noch weher ums Herz geworden als drunten in der Stube.
Nichts hatte sich in seiner gemütlichen Kammer verändert. Alles war peinlich sauber geputzt, das Bett frisch bezogen und das Oberbett ein wenig zurückgeschlagen – so wie früher an jedem Abend. Er hatte immer nur darunter schlüpfen brauchen. Die Mutter musste doch bis zuletzt auf seine Heimkehr gewartet haben, an jedem Tag und in jeder Nacht.
»Bittschön, Martin, erzähl, wie das damals gewesen ist«, drängte die alte Bäuerin nochmals.
Ja, wie war das damals gewesen ...
Nachzudenken brauchte er nicht. An die entscheidende Stunde seines Lebens hatte er ja ständig denken müssen, all die Jahre hindurch.
»Ich hab beim Tristensteig droben den Stutzen geschultert und mir grad das erlegte Böckl aufbuckeln wollen, Mutter, da hat der Guggenbichler mich angerufen. Am Klang hab ich gehört, dass er mehr als zehn Schritt hinter mir gestanden ist, und die Nacht ist net allzu hell gewesen. So hab ich, statt die Pratzen zu heben, den Sprung in die dichten Latschen gewagt. Und kaum bin ich drinnen gelegen, da hat es auch schon gekracht. Zuerst hab ich gedacht, der Guggenbichler hätt' auf mich geschossen. Aber er hat selber laut aufgestöhnt. Und gar net weit neben mir ist einer mit Geschnaufe durch die Latschen davon. Ich ...«
»Du hättest auch gleich davonrennen müssen, Bub«, unterbrach ihn die Hafnerin.
»Jetzt sprechen nur die Sorge und der lange Gram aus dir, Mutter. Wie hätt' ich denn fortlaufen können? Bei dem Geröchel und Gestöhne des todwunden Guggenbichlers hab ich selbst den Mordschützen schnell vergessen und nur an Hilfe gedacht. Der Guggenbichler freilich, der hat noch im Todeskampf auf mich anlegen wollen und mich angeknurrt: ›Dich, du Lump, nehm‹ ich mit'. Aber er ist ja schon viel zu schwach gewesen. Die Büchse ist ihm aus den Händen geglitten, und dann ist sein Röcheln immer leiser geworden. Ich hab sein Hemd in Fetzen gerissen und die Wunde notdürftig verbunden. Und allweil hab ich auf ihn eingeredet, dass ich es net gewesen bin, sondern ein anderer auf ihn geschossen hat.«
Martin Hafner strich sich eine widerspenstige Haarsträhne zurück.
»Wie viel Zeit dabei vergangen ist? Ich weiß es net. Plötzlich sind die beiden Grenzer dagewesen. Und der Guggenbichler hat im letzten Aufbäumen herausgepresst: Lasst den Hafner net aus; er ist es gewesen ...«
»So, wie es mir der Gendarm drunten wiedergegeben hat«, murmelte die Hafnerin.
»Ja, Mutter. Und nach den letzten Worten des Guggenbichlers, da hab ich nix anderes mehr denken können als: Fort! Fort über die Grenze, damit sie dich net ins Gefängnis stecken für eine Tat, die du net begangen hast. Ich bin mit einem Riesensatz in die Latschen hinein und zur Höllbachklamm hinübergehetzt. Einer der Grenzer ist mir nach. Und was im Fels über der Klamm passiert ist, hat er später wahrheitsgemäß zu Protokoll gegeben.«
Die Hafnerin streichelte die Hand ihres Sohnes.
»Zwei Tage und zwei Nächte lang hab ich das Bild vor mir gesehen, Bub, wie es dich aus dem Fels in den Wildbach und in den Höllschlund gerissen hat ...« Sie weinte leise vor sich hin. »Erst dein Zettel hat mich von der Qual erlöst.«
»Gelitten hast du dann trotzdem noch, Mutter; mehr als zehn Jahre lang. Und nur deshalb, weil ich damals den größten Fehler meines Lebens begangen habe.« Er griff nach ihrer Hand. »Mutter, ich hätt' auch nach den Worten des Guggenbichlers net fortlaufen dürfen. Es ist eine Kurzschlussreaktion gewesen. Ganz schnell hätt' ich aufgeklärt, dass die Todeskugel net aus meinem alten Stutzen gekommen ist. Die Spuren des Schützen hätten sie mit meiner Hilfe in den Latschen auch entdeckt. Ein paar Monate wegen Wilderei – mehr wär' für mich net drin gewesen. Aber das ist mir alles erst eingefallen, als ich schon im Bayerischen drüben herumgeirrt bin und meinen Stutzen längst nimmer gehabt habe. Da hab ich mich nimmer stellen können. Es hätt' mir keiner mehr geglaubt.«
Martin Hafner starrte durch das kleine Giebelfenster.
»Wie – wie hat die Ursel das damals alles aufgenommen, Mutter? Sie hat ja wirklich glauben müssen, dass ich der Mörder ihres Vaters bin. Es ist meine größte Qual gewesen in der ganzen Zeit ...«
Die Hafnerin schwieg und schaute an ihrem Sohn vorbei.
»Bittschön, Mutter, red endlich! Hat mich die Ursel verdammt? Du wirst dir doch denken können, wie mich das interessiert.«
»Ich weiß es net, Martin. Die Leut' in Innerbrunn drunten sind so zu mir gewesen, dass ich nach der Vernehmung nimmer ins Dorf hinuntergegangen bin. Nur der alte Ortler-Lenzl aus der Waldhütte hat zu mir gehalten und mir das Nötigste vom Krämer alle paar Wochen heraufgebracht. Die Ursel hab ich in all den Jahren net ein einziges Mal gesehen.«
»Und was aus ihr geworden ist, weißt du auch net?«
Endlich schaffte es die Hafnerin, ihn anzublicken.
»Im dritten Jahr nach der damaligen Nacht hat die Guggenbichler-Ursel den Haidegger-Georg geheiratet.«
Sie sah, dass Martin zusammenzuckte und dann resigniert den Kopf hängen ließ.
»Ob sie damals geglaubt hat, dass du auf ihren Vater hättest anlegen können, das weiß ich wirklich net. So oder so – für das Madl werden die ersten Jahre net leichter gewesen sein als für dich und für mich. Und dass sie eines Tages geheiratet hat, die Ursel, das wirst du ihr net verdenken dürfen. Immerhin hat sie glauben müssen, dass es dich nimmer gibt.«
»Und dass ich der Mordschütz' gewesen bin, das wird sie schon auch geglaubt haben ...« Martin Hafners Stimme vibrierte. Er schlug die Hände vors Gesicht.
Traurig schaute die Hafnerin auf seine zuckenden Schultern. Ja, auch die Sehnsucht nach ihr, seiner Mutter, hatte ihn heimgetrieben. Aber peinigender war wohl die Sehnsucht nach seiner Jugendliebe gewesen, nach der Ursel, die in ihm den Mörder ihres Vaters sehen und glauben musste, der Himmel habe ihn durch den Sturz in den Höllschlund für die ruchlose Tat gestraft.
Dass sie beides seit jener Schreckensnacht glaubte, dass es gar nicht anders sein konnte – der Martin hatte es gewusst und dennoch auf die Ursel gehofft während all der Jahre in der Fremde.
Absurdes Leben, grausames Schicksal ...!
Die Hafnerin schwieg. Was sollte sie auch sagen? Trost konnte sie ihrem Buben in dieser Sache nicht geben.
Trost ... Trost und Hoffnung ... Gab es beides überhaupt noch für ihn und für sie selbst?
Nach dem ersten Aufwallen der Gefühle war der Hafnerin mittlerweile klargeworden, dass der Martin nicht lange würde im Haus bleiben können.
Entdeckte man ihn, schleppte man ihn ins Gefängnis. Und wenn er dort wieder herauskam, war er ein gebrochener Mann. Und sie selber, sie war dann schon lange nimmer ...
Endlich nahm Martin Hafner die Hände vom Gesicht.
»Ich bin müd', Mutter, schrecklich müd'. Mit dem Zug bin ich von Dortmund bis Rosenheim gefahren. Von da hab ich mich nur bei Nacht zu Fuß weitergetraut. Vier Nächte hab ich gebraucht bis zu meinem alten Versteck im Höllschlund droben. Zu dir da herunter hab ich auch erst bei Nacht gewollt. Aber plötzlich hat es mich nimmer gehalten. Die Sehnsucht hat mich abgetrieben. Nur der eine Wunsch ist noch in mir gewesen: Mein Heimatl ein einziges Mal im hellen Sonnenschein zu sehen. Jetzt lass mich schlafen, Mutter, bis es finstert. Dann sehen wir weiter, gelt?«
Die Hafnerin streichelte sein immer noch so widerspenstiges schwarzes Haar.
»Soll ich dir vorher net geschwind ein bisserl was zum Essen richten, Bub?«, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.
»Nach dem Aufwachen, Mutter. Jetzt bekäm' ich net einen Bissen hinunter.«
Noch einmal drückte sie seinen Kopf an ihre Brust, dann stand sie auf.
»Ich bet' drunten für dich.«