Alphadrache (Alpha Band 5) - Sandra Henke - E-Book

Alphadrache (Alpha Band 5) E-Book

Sandra Henke

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Beschreibung

Nachdem der attraktive Schotte Liam in einen Werdrache verwandelt wurde, sucht er Hilfe bei den Gestaltwandlern der Dark Defence. Dort trifft er auf die Vampirin Rafaela. Sie spürt vom ersten Augenblick an eine starke Anziehungskraft, aber selbst ihresgleichen meiden sie, denn sie bringt jedem, den sie liebt, den Tod. Doch auch Liam entbrennt in Leidenschaft zu ihr, aber Liebe gehört gewiss nicht zu dem düsteren Plan, den er heimlich verfolgt. Mit dem größten und beeindruckendsten aller Fantasy-Wesen, dem Drachen findet Sandra Henkes erfolgreiche Alpha-Reihe ihren krönenden Abschluss!

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Sandra Henke

AlphaDRACHE

Alpha 5 – Das Finale

1. Auflage April 2014

Titelbild: Agnieszka Szuba

www.the-butterfly-within.com

©opyright 2014 by Sandra Henke

Lektorat: Franziska Köhler

Ebook-Erstellung: nimatypografik

ISBN: 978-3-944154-23-7

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

Genehmigung des Verlags gestattet.

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U-LINE

Eternal Love

U-line UG (haftungsbeschränkt)

Neudorf 6 | 64756 Mossautal

www.u-line-verlag.de

Inhalt

TEIL EINS

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

TEIL ZWEI

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

TEIL DREI

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

TEIL VIER

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreissig

TEIL FÜNF

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

TEIL SECHS

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Autorin

© Ricarda Ohligschläger/HerzgedankeFotografie

Sandra Henke lebt in der Nähe von Düsseldorf. Sie schreibt für mehrere große Verlagshäuser und gehört zu den beliebtesten Liebesroman- und Erotikautorinnen Deutschlands. Besonders mit ihren Spannungsromanen bei Heyne und der Alpha-Reihe bei Ubooks hat sie sich eine große Stammleserschaft erschrieben.

Ihre Bücher handeln zum Beispiel von dominanten Vampiren und Gestaltwandlern, romantischen Erziehungsspielen und Krimihelden, die undurchschaubar und genauso unwiderstehlich sind. Eine spannende Handlung liegt der Autorin ebenso am Herzen, wie ein starkes Knistern und eine abwechslungsreiche Erotik, die den Weg sexueller Selbstfindung erzählt.

TEIL EINS

«Ein Sturm zieht auf.»

The dark knight rises

Eins

Schottische Highlands/1889

Markerschütternd hallte Gillians Schrei durch die Talsenke, in die sie sich zurückgezogen hatten; tief in die Highlands, dorthin, wo seit einer Ewigkeit kein Mensch mehr gewesen war. Liams empfindliche Sinne nahmen den Geruch der Männer, die in dieser Unwirtlichkeit gejagt hatten, lediglich wie ein Jahrzehnte zurückliegendes Echo wahr. Kein anderes Tier hätte die Witterung überhaupt noch bemerkt. Aber wenn jemand so alt war wie er, dann waren Jahre wie Monate und Monate wie Tage und Tage wie Minuten.

Doch es gab Ausnahmen. Wie diese. Wenn das Leben brutal zuschlug, dehnte sich die Zeit auch für die ältesten Wesen unter der Sonne grausam aus.

Erneut schrie Gillian. Sie krümmte sich vor ihm auf dem feuchten Gras, die Fäuste auf den Bauch gedrückt. Ihre Schenkel waren nass, ihre Fruchtblase war geplatzt, aber sie machte sich nicht die Mühe, ihr Kleid hochzuschieben. Wozu auch?

Tränen rannen über ihre Wangen, während Liam sie verzweifelt zurückhielt. Wenn er Gillian zeigte, wie sehr er unter der Situation litt, würde es diese Hölle, die sie betreten hatten, als die Wehen einsetzten, für sie nur noch verschlimmern.

Gillian war so viel tapferer als er. Sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf, statt sie zu unterdrücken, wie er es tat, denn innerlich war er zerrissen. Liam war unsicher, ob sie das Richtige taten, ob er seine Rolle bis zum bitten Ende spielen konnte. Selbstverständlich hatte er schon getötet, aber das hier was etwas vollkommen anderes. Er war ein Jäger. Niemals brachte er etwas oder jemand Wehrloses um.

Gillian dagegen blieb eisern in ihrer Überzeugung. Sie hatte die Entscheidung getroffen, die sie in diese weit abgelegene Talsenke geführt hatte, damit niemand mitbekam, was sich jeden Augenblick zutragen würde.

Es würde Blut fließen.

Ein letzter Atem würde ausgehaucht werden.

Und Liams Herz würde brechen.

Gillian krampfte. Ihre Muskeln spannten sich an. Doch sie war zu erschöpft, um zu schreien. Sie riss ihren Mund weit auf, aber heraus drang nur ein Keuchen, als die Wehe abschwächte. Die nächste kündigte sich sofort an. Gillian presste eine Faust zwischen ihre Beine und schob mit der anderen ihr Leinengewand hoch, um ihren Bauch freizulegen.

Ihre Haut war gespenstisch blass, als wäre jegliches Leben aus ihr gewichen. Das Blut auf ihrem Unterleib schockierte ihn. Ihre Öffnung weitete sich noch etwas mehr. Kurz konnte Liam einen Blick auf grüne Schuppen erhaschen. Sie rührten etwas tief in ihm, etwas Warmes. Doch seine Bewegung gefror. Er hielt die Luft an und starrte auf das unnatürlich große Loch zwischen Gillians Schenkeln. Dann sah er nur noch rötlich-schleimige Flüssigkeit.

Die nächste Wehe raubte Gillian den Atem. Sie presste ihre Schenkel aneinander, ihre Lider flatterten, ihre Lippen wurden blutleer. Liam konnte sich nicht vorstellen, welche Qualen sie durchlitt, aber es musste die Hölle auf Erden sein. Sanft trommelten ihre Fäuste gegen den Bauch. Nachdem der Krampf locker gelassen hatte, wurde ein Streicheln daraus. Sie legte die Hände seitlich gegen die Wölbung. Mit vor Schmerz trübem Blick schaute sie zu ihm auf.

«Tu es!»

Schockiert stand er einige Sekunden lang einfach nur da, unfähig sich zu bewegen.

«Schneide mich auf.»

Instinktiv schüttelte er den Kopf. Ihm war speiübel.

«Ich kann nicht mehr.» Leise wimmerte sie. «Ich halte das nicht länger aus.»

Liam zitterte am ganzen Körper. Er kam sich so schrecklich schwach vor. Da lag diese Frau vor ihm, die er mehr liebte als sein eigenes Leben, und sie blieb selbstlos, während er egoistisch den Gedanken durchging, das Ding aus ihr herauszuschneiden und weiterzumachen wie bisher. Doch das würde sie ihm niemals verzeihen!

«Wir dürfen nicht länger warten. Sonst ist es zu spät.»

Er spürte mit jeder Faser, dass sie recht hatte. Die Geburt stand kurz bevor. Ihr Baby war reif, es würde jeden Moment herausrutschen und sie zerreißen. Dann wäre es zu spät.

Da eine neuerliche Wehe sie überrollte, schrie sie ihre Worte heraus: «Du hast es mir versprochen!»

Zögerlich holte er das Messer hervor. Seine Handfläche war so feucht, dass er sie erst am Hosenboden abwischen musste, um den Schaft festhalten zu können. Er fühlte sich wie ein Knabe und nicht wie der gestandene Mann, der er war. Egal, wie viele Jahrhunderte alt man war, nichts, absolut gar nichts, konnte einen auf diesen Horror vorbereiten.

«Ich liebe dich, Gillian.»

Ihm war es egal, dass er jämmerlich klang. Nichts war von dem stolzen Jäger übrig geblieben. Wo war das blutrünstige, skrupellose Monster, das er angeblich sein sollte? Ein Häufchen Elend, mehr war er nicht.

«Ich liebe dich so sehr.»

«Ich weiß», sagte sie sanft. Sie bemühte sich, zu lächeln, aber das Lächeln erreichte nur ihre rechte Gesichtshälfte, als wäre das Leben bereits dabei, aus ihr zu entweichen. «Tu es aus Liebe.»

Liam verfluchte dieses Balg in ihr. Kein Ton drang über seine Lippen, aber in Gedanken zählte er einen Fluch nach dem anderen auf, machte seinem Hass Luft und haderte noch immer mit sich. Er musste den Schaft mit beiden Händen halten, er bebte zu stark, dann hielt er die Klinge über ihren Bauch. Wenn er tief genug stach, würde er es erwischen und Gillian würde überleben. Fest presste er seine Lippen aufeinander. Er beobachtete die Bewegungen unter Gillians Haut. Die Kreatur bewegte sich in ihr, sie drängte heraus.

Über die Jahrhunderte hatten Gillian und er sich so gut kennengelernt, dass sie für den anderen wie ein offenes Buch waren. Deshalb ahnte sie wohl, was Liam vorhatte.

«Nicht mit dem Messer. Die Natur fordert ein natürliches Vorgehen.»

Aber die Klinge würde eine gewisse Distanz bewahren, was es ihm einfacher gemacht hätte. Er würde ohnehin in den natürlichen Prozess eingreifen,­ er korrigierte sie diesbezüglich jedoch nicht. Stattdessen tat er ihr den Gefallen. Selbstverständlich.

Seine Augen wurden feucht, als er die Hand in eine schuppige Klaue verwandelte. Seine andere Seite wehrte sich dagegen, er musste das Tier in sich herauszwingen, dies war keine Jagd. Seine Instinkte hatten in diesem Moment nichts Gefährliches an sich, sondern sie wollten Gillian beschützen. Sein Arm brannte, als würde Essigsäure hindurchfließen. Es kostete ihn viel Kraft, die längste und dickste Kralle über dem Schamhügel an ihren Köper zu halten.

Flehend schaute er sie an. Hätte sie in diesem Moment nur ein einziges Mal unsicher geblinzelt oder hätte sich seine Angst in ihren Augen gespiegelt, er hätte das Kind durch ihren Bauchnabel hindurch erstochen und sie in seine Arme gerissen. Lebend.

Doch sie zeigte keinerlei Anzeichen für Zweifel. Ihre Lippen formten ein stummes: «Bitte», während sie keuchend mit den Wehen rang.

Nun, da die Zeit gekommen war, konnte er seine Tränen nicht länger zurückhalten. Er heulte wie ein Schlosshund, hielt seine Hand jedoch ruhig. So behutsam wie möglich schlitzte er Gillians Bauch auf. Butterweich glitt seine Kralle durch ihre Haut. Der Schnitt schien ihr weitaus weniger wehzutun als die monströsen Krämpfe, die die Geburt einleiteten.

Durch den Kaiserschnitt kamen sie ihr zuvor. Damit Gillian ihr Kind ein einziges Mal sehen, es ein einziges Mal halten und küssen konnte. Während das Baby seinen ersten Atemzug tat, haucht die Mutter ihren letzten aus – so war es immer gewesen bei ihresgleichen und so würde es auch immer bleiben.

Gillian glaubte, dass der Nachwuchs die Energie der Mutter absorbierte, da die Geburt in menschlicher Form stattfand, aber der Säugling zwischen seiner menschlichen und tierischen hin und her wechselte, unfähig, die Kontrolle zu behalten. Liam allerdings vermutete, dass die Mütter bei den Geburten starben, damit die Anzahl der Werdrachen auf dem Erdball begrenzt und das Gleichgewicht auf der Welt nicht aus dem Lot geriet. Denn ihre Rasse war mächtig, gefährlich, überlegen!

Warum nur kam er sich in dieser Sekunde, da er sein Kind aus Gillians Bauchhöhle holte, es in ihre Arme legte und der Frau, die er liebte, beim Sterben zusah, wie das schwächste Wesen im ganzen Universum vor?

Plötzlich sprang er auf. Er reckte sein Gesicht dem Himmel zu und riss seinen Mund weit auf. Sein Brüllen klang nicht wie das eines Mannes. Der Drache in ihm weinte mit ihm. Feuer stob heraus und verbrannte die Innenseiten seiner Wange, weil er vergessen hatte, sie zu verwandeln.

Es fing an zu regnen. Jammernd fiel Liam neben Gillian auf die Knie. Er bettete ihren Kopf auf seinen Schoß, schirmte ihr Gesicht mit seinem Körper ab.

Noch konnte er sich nicht über die Geburt freuen. Er wollte Gillian! Jahrhunderte lang hatten sie zusammengelebt, zweisam in den Highlands. Er hatte nichts vermisst, keine Familie, keine Dorfgemeinschaft, kein Rudel oder einen Clan. Sie hatte ihm gereicht, sie allein, Gillian Cailleach MacLaman. Jetzt starb sie, ausgerechnet durch seine Hand, weil sie sich so sehr gewünscht hatte, ihr Baby wenigstens einmal zu sehen, bevor sie für immer ging, und sie bald zu alt gewesen wäre, um Nachwuchs zu zeugen.

Am liebsten hätte er das Balg zerschmettert. Es hatte seine Geliebte auf dem Gewissen! Aber es war zu kostbar. Denn schon lange hatte Liam keinen Werdrachen mehr getroffen. Außerdem machte der Säugling Gillian glücklich. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.

Eine Zeit lang blieb Liam im Regen sitzen. Immer wieder küsste er Gillians Stirn. Das Baby schrie, aber er kümmerte sich nicht darum. Wegen ihm hatte sie ihn verlassen. Am Ende hatte sie es mehr geliebt als ihn. Das hatte er bereits erkannt, als sie ihn darum bat, sie zu schwängern. Er hatte nur eingewilligt, weil sie ihn nicht mehr genauso bedingungslos geliebt hatte wie er sie. Ihr Mutterinstinkt hatte gesiegt. Er dagegen musste sich einreden, Verantwortung zu tragen und den Fortbestand ihrer Art zu sichern.

Unsicher nahm er das Kleine. Er konnte es kaum festhalten, weil es ständig das Aussehen wechselte. Es floss zwischen den Gestalten hin und her, sah ihn mal mit den Augen eines Menschen, mal mit denen eines Drachen an, aber immer las Liam Angst darin. Es fürchtete sich davor, von ihm getötet zu werden, es witterte seine Abneigung.

Erneut spürte Liam, wie etwas tief in ihm berührt wurde. Wärme glomm in seinem Brustkorb auf. Jetzt erkannte er, was es war. Der Instinkt des Vaters. Es war schließlich nicht nur Gillians Baby, sondern auch seins.

Ungelenkt drückte er es an sich. Als er über seine Wange strich, blieb es in der Form des menschlichen Babys. Es reagierte auf ihn. Das entlockte Liam ein Lächeln, doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Die Trauer übermannte ihn sofort wieder.

Es war nicht fair, dem Neugeborenen die Schuld an Gillians Tod zu geben. Es war ja nicht seine Entscheidung gewesen, ihr Leben für seins herzugeben. Dennoch blieb es ein Makel. Ein dunkler Fleck auf der Seele. Wie alle Werdrachen ihn trugen. Auch Liam, dessen Mutter vor vielen Jahrhunderten ihr Leben für ihn hergeschenkt hatte.

«Dich großzuziehen, ohne dass es auffällt oder du mich oder jemand anderen versehentlich tötest, wird eine schwere Aufgabe werden.»

Mit beiden Händen hielt Liam den Kleinen hoch. Seine Augen hatten das gleiche Grün wie das seiner Mutter: satt wie die Highlands. In Gedanken fügte Liam hinzu: Doch das Schwerste wird sein, dich lieben zu lernen, wie ich Gillian geliebt habe.

Zwei

Anchorage/Alaska/Juli dieses Jahres

Claw schreckte aus dem Schlaf auf. Von einer Sekunde zur anderen war er hellwach. Sein Herz pochte heftig. Normalerweise schlummerte er bis zum Morgengrauen tief und fest. Sein Timberwolf passte­ ja auf ihn auf. Die Instinkte seines Tieres nahmen die Umgebung wahr und weckten ihn, sollte Gefahr drohen, sodass Claw sorglos einnicken konnte.

Gefahr! Das war der Grund, warum er aufgewacht war. Claw fuhr seine Krallen aus.

Er hätte niemals zustimmen sollen, im Nostalgia Playhouse zu übernachten. Die Vampire waren ihre Verbündeten innerhalb der Dark Defense und Kristobal sein Freund. Trotzdem traute er dem ganzen Hokuspokus nicht. Die Zauberei machte seinen Wolf nervös. Er wusste nicht, ob er seinen eigenen Augen, seinen eigenen Ohren trauen durfte.

Die dunkle Gesellschaft entwickelte magische Fähigkeiten, die ihm unheimlich waren. Da Adamo zum Beispiel Stimmen aus der Vergangenheit und der Zukunft vernehmen konnte, wenn auch noch unter großer Anstrengung, würde er vielleicht eines Tages mitbekommen, welche Liebesschwüre er, Claw, seiner Gefährtin beim Liebesspiel ins Ohr geflüstert hatte, wie er «Mehr!» stöhnte, wenn sie ihn leckte, und er, der große Alphawolf, beinahe schnurrte wie Lynx, das Luchskätzchen. Alle würden ihn auslachen!

Und jetzt die Sache mit Rafaela, ausgerechnet mit ihr. Claw mochte­ Kristobals Beraterin. Dennoch, sie konnte sich zu einem Problem entwickeln.

Claw vernahm ein Knistern. Angestrengt lauschte er. Etwas oder jemand im Theater schlief ebenso wenig wie er.

Nach der Mitternachtsshow hätten sie nach Hause gehen sollen. Er hatte das Angebot des Alphavampirs, das erste Mal in seinem Reich zu übernachten, nur angenommen, weil Tala ihn darum ­gebeten hatte.

Tala!

Aufgeregt tastete er nach seiner Geliebten. Doch er fand die andere Betthälfte leer vor. Alarmiert setzte er sich auf. Er rief ihren Namen, zuerst leise, um die anderen nicht zu wecken, dann lauter. Verzweifelt heulte er dröhnend, wie nur ein Alphawolf es vermochte.

Keine Antwort. Nicht von Tala. Nicht von anderen Werwölfen. Canis machte aus Liebe zu Mila oft die Nacht zum Tag und war vermutlich mit ihr ausgeflogen. Aber zumindest von Rufus wusste Claw, dass er im Dachgeschoss bei Lynx schlief. Nicht einmal einer der Vampire kam hereingestürzt, um nachzuschauen, weshalb er sein Wolfsgeheul von sich gegeben hatte.

Sein Timberwolf winselte. Dass niemand aus dem Rudel ihm antwortete, verletzte ihn. Er fühlte sich einsam. Allein gelassen. Selbst von Tala.

Aber nein, sie würde ihm das niemals antun! Beunruhigt setzte sich Claw auf die Bettkante. Sein Puls raste immer schneller. Er blinzelte, um in der Dunkelheit etwas sehen zu können. Ein schwacher Lichtschein drang durch die Ritze unter der Tür. Seltsamerweise flackerte er.

Plötzlich roch er es. Feuer! Warum hatte sein Tier es nicht früher gewittert? Was war nur los mit ihm? Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Er kam sich vor wie in Watte gepackt. Alles war merkwürdig distanziert. Die Gerüche drangen kaum zu ihm durch, die Geräusche klangen gedämpft und sein Wolf schien nicht er selbst zu sein. Waren die Vampire mit ihrer Teufelskunst daran schuld? Hatten sie ihn verhext?

Claw sprang auf, rannte zur Zimmertür und riss sie auf. Der Gang war verwaist. Hohe Flammen schlugen aus dem Schlafreich von Kristobal und Nanouk. Dort hielten sie sich bestimmt nicht mehr auf. Das gesamte Nostalgia Playhouse war leer, das witterte er. Wo waren alle hin?

«Claaaw!»

Seine Nackenhaare stellten sich auf. Tala.

«Claaaaaaaaaaaaaaw.»

Sein Timberwolf schoss an die Oberfläche. Warum hatte er sie nicht gewittert? Das alles stank bis zum Himmel. Es machte ihn wütend, aber er fürchtete sich auch. Er hatte nichts mehr im Griff, und wenn er eines nicht abkonnte, dann dass das Schicksal ihn herumschleuderte wie in einer Waschtrommel.

Er verwandelte sich in sein Tier und schoss den Korridor entlang. Feuer bremste ihn aus. Die Treppe stand in Flammen. Warum mussten die Blutsauger auch alles mit Teppich auslegen?

Um sich noch besser anschleichen zu können, dachte er mürrisch. Wo waren sie nur? Sie ließen das Theater nie aus den Augen. Nie!

Sein Wolf scheute zurück, doch Claw zwang ihn, sich dem Hindernis zu stellen. Er nahm Anlauf. Blitzschnell rannte er die ersten Stufen hinab, sprang so hoch er konnte und machte einen langen Satz über den Brand hinweg. Die Glut versengte ihm das Fell an den Läufen und dem Bauch, aber er scherte sich nicht darum. Für Tala würde er sogar durch die Hölle gehen!

Im Erdgeschoss bemerkte er überall Brandherde. Was hatte das zu bedeuten? Es gab nicht eine Quelle, sondern viele. Das Feuer musste gelegt worden sein! Feuerteufel wären jedoch niemals an Caine und Caleb, den menschlichen Helfern der dunklen Lords und Ladys, vorbeigekommen. Die glatzköpfigen Muskelberge sahen zwar auf den ersten Blick aus wie eine Kreuzung aus dem Marshmallow Man und Humpty Dumpty, aber nicht einmal der Alphaluchs Luca hatte sie überlisten können, als er sich ins Theater einschleichen wollte, weil er glaubte, Camille vor der Dark Defence retten zu müssen.

Tala, wo hielt sie sich nur auf?

Die plüschige Einrichtung brannte wie Zunder. Flammen leckten an den zahlreichen Samtvorhängen und Wandteppichen, sie fraßen sich von Raum zu Raum. Die Läufer boten hervorragende Lunten. Wände aus Hitze schoben sich immer näher an Claw heran.

«Hilfe mir, Claaaw!»

Sie befand sich auf jeden Fall noch im Gebäude. Warum floh sie nicht? War sie von den Flammen eingekesselt?

Als er glaubte, sie entdeckt zu haben, stellte sich die Situation als viel schlimmer heraus. Sie war eingesperrt in dem Zimmer, in dem das Zubehör für die Zaubershow aufbewahrt wurde – Kostüme und Holzbauten, die lichterloh brennen würden, wenn sich das Feuer erst zu ihnen vorgearbeitet hatte. Die Flammen fraßen bereits an der Tür. Die Mauern glühten auf unnatürliche Weise.

Claw musste husten. Der Rauch legte sich schwer auf seine Lungen. Er verwandelte sich wieder in einen Mann.

«Bist du da drin?»

Keine Antwort.

«Tala, sag etwas.»

Bitte, fügte er in Gedanken hinzu.

Nichts.

Hatte er sich geirrt? Hielt sie sich gar nicht in dem Zimmer auf? Claw fragte sich, ob sie ohnmächtig geworden war. Die Hitze und die Rauchentwicklung zerrten auch an seinen Kräften.

«Talaaa!»

Er ballte die Hände zu Fäusten. Kopfschmerz plagte ihn, er punktierte seinen Schädel von innen. Wie Nadelstiche stach er von hinten in seine Augäpfel.

Ängstlich schaute sich Claw um. Das Feuer kroch von allen Seiten näher. Niemand war geblieben, um ihm und seiner Gefährtin zu helfen. Alle schienen das sinkende Schiff längst verlassen zu haben. Wie Ratten, die sich nur darum kümmern, ihre eigene Haut zu retten, waren sie geflohen.

Der Zusammenhalt der Dark Defence brach in dieser Nacht auseinander. Und nicht nur vom Playhouse würde nur noch Asche übrig bleiben, sondern auch vom Werwolf-Rudel.

Claw, auf sich allein gestellt, blieb nichts anderes übrig, als seine meistgehasste Gestalt anzunehmen. Während er weiterhin Talas Namen brüllte, aus Hilflosigkeit und um das Prasseln des Feuers zu übertönen, verwandelte er sich in einen Wolf, stoppte jedoch frühzeitig, ignorierte, dass sich die menschliche Haut schmerzhaft über den massigen Oberkörper seinen Werwolfs spannte, und wurde zu einem unnatürlichen Mischwesen – einem Monster!

Sein alter Gefährte Dante hatte durch ein indianisches Ritual diese Form angenommen, war auf ewig darin stecken geblieben und dem Wahnsinn verfallen. Das drohte auch dem Alpha, aber er wollte mit Tala reden können, um sie zu lokalisieren, sobald sie ihm antwortete, und gleichzeitig die Kräfte seiner menschlichen und tierischen Seite nutzen.

Ohne Rücksicht auf Verbrennungen hieb er seine Krallen in die brennende Tür. Immer und immer wieder. Obwohl er sich schlapp fühlte, mobilisierte er die letzten Kraftreserven. Bald war kein Fell mehr an seiner Klaue. Der Anblick des rohen Fleischs erinnerte ihn an Canis, der bei dem ersten Feuer im Theater zu einem Großteil verbrannte. Noch immer sah seine Haut wächserner aus, aber immerhin war er wieder vollkommen hergestellt. Das war der Moment gewesen, in dem er Milas Herz endgültig erobert hatte.

Claw bekam einen Hustenanfall. Er war so heftig, dass er ihn in die Knie zwang. Von Krämpfen gepeinigt hielt er sich den Bauch, dann klopfte er auf seinen Brustkorb, als würde das helfen, besser Luft zu bekommen. Er konnte kaum noch atmen. Es schien, als hätte sich Ruß auf seine Atemwege gelegt und blockierte sie nun. Aber so war es nicht. Das Feuer fraß den Sauerstoff um ihn herum auf. Es nährte sich davon, wuchs und stahl es Claw.

Putz rieselte von der Decke. Besorgt sah er auf. Wahrscheinlich würde sie bald einstürzen. Das Theater war alt und heruntergekommen.

Er versuchte, aufzustehen. Ihm wurde schwindelig. Er fiel hin. Verfluchte seinen Kreislauf. Mühsam drückte er sich hoch, um dann doch wieder zusammenzuklappen. Geräusche drangen aus dem Zimmer hinter der Tür zu ihm. Er war Tala so nah und konnte ihr doch nicht helfen. Sie würden sterben. Getrennt von einander. Wenn er sie wenigstens im Moment des Todes in den Armen halten könnte, wenn er sie küssen und ihr ein letztes Mal zuflüstern könnte,­ wie sehr er sie liebte!

Seine Augen wurden feucht. Claw musste sich übergeben. Er bemerkte, dass seine Klauen wieder Männerhände waren. Wann hatte er sich zurückverwandelt? In der Menschengestalt hatte er verloren.

Plötzlich brach etwas durch das Nostalgia Playhouse. Etwas ­Großes. Zuerst konnte Claw es nur hören. Dann, als er sah, was durch die Feuerbrunst stob, ohne dass es ihm etwas ausmachte, riss er die Augen auf.

Ein Drache. Imposant, atemberaubend und Angst einflößend. Hatte er etwa die Brände gelegt? War er gekommen, um Claw mit seinem heißen Odem den Rest zu geben?

Dass es sich um einen Werdrachen handelte, witterte Claw. Dieses Wesen roch erdig, noch erdiger als ein Werwolf, als wäre er aus der ältesten Bodenschicht gestiegen. Bei jedem Schritt, den er näherkam, bebte alles. Sein massiger Körper teilte das brennende Gebäude, das nur wenig höher war als er, in zwei Hälften. Seine nacht­blauen Schuppen schienen wie ein feuerbeständiger Schutzpanzer zu wirken.

Gegenüber seinen Klauen sahen die, die Claw in der Lage war zu formen, wie die eines Säuglings aus. Instinktiv wich er zurück. Doch weit kam er nicht. Die Feuerwand war beängstigend nah. Außerdem konnte er Tala nicht dieser Kreatur überlassen. Beherzt wollte er wieder zurückkriechen, aber der Drache gab ein so durchdringendes Brüllen von sich, dass Claw befürchtete, seine Trommelfelle würden platzen.

Zu seiner Überraschung drehte sich der Werdrache um. Claw hoffte­ schon, er würde einfach wieder gehen, aber das tat er nicht. Stattdessen schwang das Wesen seinen massigen Schwanz gegen die Tür, vor der Claw zusammengebrochen war. Er brach problemlos durch die Wand des Abstellraums, in dem sich Tala aufhielt. Die halbe Decke stürzte dabei ein. Wie durch ein Wunder – wahrscheinlicher schien, dass der Drache mehr Feingefühl besaß, als sein massiger Körper vermuten ließ – blieb der Teil, in dem die Halbindianerin in Menschengestalt lag, intakt. Doch das brennende Interieur vom Obergeschoss steckte sofort die Kostüme neben ihr in Brand. Binnen Sekunden standen auch die Gegenstände, die in den Vorstellungen zum Einsatz kamen, in Flammen.

Als sich das Maul des Drachen mit Zähnen so groß wie die des Urhais Megalodon Tala näherte, stieß Claw einen Schrei aus. Mit seinen letzten Kräften rappelte er sich hoch. Frischluft kam durch die Schneise, die die Kreatur ins Theater gegraben hatte. Tief sog Claw den Sauerstoff in die Lungen. Dieser nährte allerdings auch den Brand. Sie mussten so schnell wie möglich fliehen.

Behutsam zog der Drache Tala zwischen den Flammen heraus und legte sie Claw zu Füßen. Er breitete seine beschuppten Schwingen aus, hielt sie über den Alphawolf und seine Gefährtin und schaute zur Straße, wobei er ein einziges Mal schnaubte.

Claw verstand die Aufforderung. Er hob Tala auf. Noch immer nicht wieder bei vollen Kräften trottete er mühsam durch die Schneise. Rechts und links loderten die Flammen meterhoch. Hinter ihm krachte das Theater Stück für Stück zusammen. Unter dem schützenden Flügel des Drachen brachte er seine Geliebte ins Freie.

Als sie in Sicherheit waren, legte er sie vorsichtig auf ein Stück Rasen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Sie atmete noch. Mit dem Prasseln und Knacken des Feuers im Rücken strich er über ihre Stirn. Er küsste ihre Wangen, ihre Nase und ihren Mund. Da öffnete sie die Augen.

Mit einem Danke auf den Lippen schaute Claw zu ihrem Retter auf. Doch über ihm war nur der Himmel, der in dieser Nacht dasselbe­ Blau hatte, wie die Schuppen des –

Claw schreckte aus dem Angsttraum auf. Von einer Sekunde zur anderen war er hellwach. Sein Herz pochte heftig. Sein Wolf hatte drohend geknurrt.

Erstarrt blieb Claw liegen. Er lauschte, hörte aber nur das gleichmäßige Atmen von Tala neben ihm. Sie schlief. Aufgeregt schnupperte er. Da war kein Rauch. Kein Anzeichen von Gefahr. Das Nostalgia Playhouse war auch nicht verwaist, denn er hörte Rufus und Lynx auf dem Dachboden herumtoben, ein erotisches Vorspiel, wie er von Nanouk wusste, die die beiden einmal dabei erwischt hatte.

Mit beiden Handflächen wischte sich Claw übers Gesicht. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Vor wem oder was hatte sein Tier ihn also gewarnt? Es schien fast so, als meinte es den Traum an sich.

Was hatte er überhaupt zu bedeuten? Befürchtete er, Claw, etwa, ein stärkerer Gestaltwandler könnte ihm Tala abspenstig machen? Nein, Eifersucht war nicht der Auslöser gewesen. Schließlich hatte sich die unbekannte Kreatur nicht gegen ihn gewandt oder nur Tala gerettet, sondern sie beide.

Noch immer spürte Claw den kalten Griff der Einsamkeit um sein Herz. Zerknirscht fragte er sich, warum sich alle von ihm abgewandt hatten. Ahnte sein Wolf, dass in der Dark Defence etwas im Busch war, und teilte es ihm auf diese Weise mit? Er spürte einen Stich im Brustkorb. Niemand war ihnen zur Hilfe gekommen – außer dem Fremden!

Was für ein beschissener Albtraum!, dachte Claw. Drachen existieren doch nicht einmal.

Er hätte niemals zustimmen sollen, im Nostalgia Playhouse zu übernachten. Der Hokuspokus der Vampire machte sein Tier nervös. Das hatte er jetzt davon! An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Eng schmiegte er sich an Tala, legte beschützend nicht nur den Arm über sie, sondern auch ein Bein. Wäre der Werdrache nicht gewesen … Aber es war ja nur ein Traum!

Drei

Kotzebue/Alaska/Juli dieses Jahres

«Du bist wie der Typ in den Hollywoodfilmen mit dem pickeligen Gesicht und den viel zu großen Klamotten, die um seinen knochigen Körper schlackern. Der, der einen zu kleinen Schwanz hat, um ein Mädchen zu finden, und immer in die Scheiße tritt, mitten rein, und deshalb stinkt und keine Freunde findet.»

Matt Jerkins war extra in das verhasste Kotzebue gekommen, um seiner Mutter persönlich den Artikel im Magazin Wahre übernatürliche Phänomene (WüP) mit seiner Fotostrecke zu zeigen, die, auf denen sich die beiden Gestaltwandler verwandeln, der eine in einen Wolf und der andere in einen Luchs – und dann musste er sich das anhören.

Er hatte Sekt mitgebracht, um zu feiern, und hielt die ganze Zeit sein Handy in der Hand, damit die Produzenten der Talkshows ihn jederzeit erreichen konnten, um ihn einzuladen. Doch niemand rief an. Keine E-Mail-Nachfragen für Abdrucke in weiteren Zeitschriften trafen ein. Keine Gratulation per SMS vom Chefredakteur von WüP und der Bitte um schnellen Nachschub für das vielfache Honorar.

Stolz, aber auch mit einem Hauch von Verzweiflung, zeigte er den Fotobericht Typen, die er in einer nach Fisch stinkenden Kneipe traf, als er die Enttäuschung hinunterspülen wollte. Doch nicht einmal das klappte. Er flüchtete, bevor er sich mit Alkohol betäubt hatte.

«Das haste mit Photoshop gemacht, ne? So was kann mein Kleiner auch. Der macht aus Sonny, unserer Katze, und Bono, unserem Mops eine ‹Matze›. Oder auch ‹Kops›, wie du es nennen willst.»

«WüP, ist das nicht dieses Drecksmagazin, das erfundenen Kram über Yetis und so bringt? Wer glaubt denn so ’n Schwachsinn? Das lesen doch nur Idioten.»

«Ist dir das nicht peinlich? Ich meine, damit Kohle zu machen. Du verkaufst doch Lügen. Du verarschst die Leute. Nee, das finde ich echt beknackt von dir.»

Matt war aus der Pisskneipe geflohen. Nicht etwa zu seiner ständig meckernden Mutter, sondern nach Hause.

Er war für die Fotos mit einem lächerlichen Honorar abgespeist worden, aber er hatte das Angebot trotzdem angenommen, weil er fest daran glaubte, dass der große Durchbruch bevorstand. Seine Entdeckung war schließlich nichts weniger als eine Sensation!

Nun fuhr er mit seiner alten Klapperkiste vom Kotzebuesund im Nordwesten Alaskas zurück in den Süden. Es dauerte eine halbe Stange Zigaretten lang, bis er Anchorage erreichte. Dort überfiel ihn schlagartig die alte Angst. Sie war der eigentliche Grund gewesen, warum er in dieses verhasste 3600-Seelen-Nest zu seiner verhassten Mutter geflüchtet war. Er hatte eine Weile untertauchen wollen. Jetzt war er zurück aus der Versenkung.

Kaum hatte er sein Auto geparkt, schaute er sich ständig um. Heiß-kalte Schauer rieselten über seinen Rücken. Er bekam eine Gänsehaut, die fast schmerzhaft war. Er war und blieb eben ein Feigling.

Hinter jedem Wagen, jeder Häuserecke vermutete er einen von ihnen – einen Werwolf oder einen Werluchs. Bisher hatten sie ihn in Ruhe gelassen, aber vielleicht lasen sie die WüP auch nicht. Wer wusste schließlich besser als sie, dass die Berichte in dem Schundblatt erfunden und die Fotos Fakes waren, wenn nicht sie?

Eines Tages würden sie bestimmt darauf aufmerksam werden, dass er sie im Wald mit seiner Kamera mitten in ihrer Verwandlung abgeschossen und die Bilder verkauft hatte, das war so sicher, wie das Amen in der Kirche. Denn es stimmte, was seine Mutter sagte: Er trat immer in die Scheiße. Alles, was er anfasste, ging schief. Selbst, wenn er die Entdeckung des Jahrhunderts machte und Beweise vorlegte, glaubte ihm niemand.

Während er zu dem Haus schlich, in dem sich sein Apartment befand, war er bemüht, sich nicht allzu auffällig zu verhalten. Dennoch­ huschte sein Blick hin und her. Er ertappte sich dabei, wie er sich duckte, als er an einer dunklen Gasse vorbeieilte, als würde jeden Moment eine der Kreaturen herausspringen und ihn die ewige Finsternis zerren.

Immerhin täte sich dann endlich etwas. Denn es war schlimmer, dass rein gar nichts geschah. Die Welt drehte sich weiter, Menschen starben, Babys wurden geboren und er wurde immer noch belächelte. Er blieb arm, verkannt und einsam.

In den ersten Tagen nach der Veröffentlichung war er noch hoch erhobenen Hauptes durch die Stadt gegangen. Er hatte erwartet, von Lesern, ja, sogar von Fans, angesprochen und um ein Autogramm auf dem Fotoartikel gebeten zu werden. Ständig rieb er seine Handflächen an der Hose ab, damit er keine Schweißhände hatte, wenn jemand ihm gratulieren wollte. Die Leute um ihn herum guckten, weil er sie erwartungsvoll angrinste. Doch sie machten nur einen noch größeren Bogen um ihn, als sie es ohnehin schon taten.

Das Lächeln verschwand mit der Zeit. Es wich Enttäuschung und schließlich Furcht. Er hatte damit gerechnet, dass sein neu gewonnener Bekanntheitsgrad, seine Berühmtheit, ihn vor einem Racheakt der beiden Werwesen bewahren würde. Aber da er wider Erwarten nicht in der Öffentlichkeit stand, war er schutzlos. Nackt. Hilflos. Er hatte keine Familie, die hinter ihm stand, keine Freunde, die ihn beschützten, und kein Geld, um sich einen Bodyguard zu leisten. Wie immer war er allein.

Matt kam sich vor wie der Loser der Nation, wie eine wandelnde Zielscheibe. Ängstlich huschte er ins Treppenhaus. Er wollte nicht auf den Aufzug warten, darum rannte er die Stufen hoch, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.

Früher hätte er das sogar geglaubt. Doch er hatte mit eigenen Augen gesehen, dass die Gestaltwandler für einander eingestanden hatten. Sie kämpften zusammen, Seite an Seite gegen diesen schrecklichen Montalbán. Nun wusste Matt nicht, was er davon halten sollte. Er war durcheinander. Diese Typen waren keine instinktgesteuerten Bestien, keine blutrünstigen Monster, aber auch keine Menschen. Oder doch? Waren sie von allem ein bisschen? Jedenfalls waren sie Verbündete, vielleicht sogar Freunde. Und wen hatte er? Niemanden.

Seufzend schloss er die Wohnungstür auf. Er warf sie rasch hinter sich zu und griff zu dem Kanister auf der Kommode, um mit dem verbliebenen Schluck Milch darin das Schluchzen in seiner Kehle hinunterzuspülen.

Ein Rascheln drang aus der Küche zu ihm. Matts Bewegung gefror. War eine Ratte den Abfluss heraufgekrochen?

Bildete er sich die Schritte im Badezimmer nur ein? So musste es sein, denn es brannte kein Licht, und wer konnte schon im Dunkeln sehen, außer einer Katze? Zitternd setzte er den Flaschenhals an den Mund und trank. Oder einem Werkater vielleicht.

Abermals stockte er, die Flüssigkeit noch in den Wangen. Die Furcht kroch seine Wirbelsäule hinauf, legte sich um seinen Hals und zog sich zu wie eine Schlinge. Er musste hier raus! Bisher hatte er sein Apartment als sichere Festung betrachtet, jetzt war es zu einer Falle geworden.

Plötzlich bemerkte er einen Schatten hinter sich. Er blockierte den Ausgang. Außerdem war die Milch sauer. Matt spuckte sie in hohem Bogen aus.

Entsetzt fuhr er herum. Er spürte einen Stich im Oberarm. Vor Schreck ließ er den Kanister fallen. Die Milch ergoss sich über seine abgewetzten Schuhe. Ungläubig betrachtete er den kurzen Pfeil, der in ihm steckte. Ihm wurde schwindelig.

Seine Angreifer verbargen sich noch immer im Dunkeln.

Bevor Matt Jerkins das Betäubungsgeschoss herausziehen konnte, wurde ihm Schwarz vor Augen. Wie ein von einem unsichtbaren Jäger erlegter Bock fiel er zu Boden.

Vier

Schottische Highlands/Oktober des vergangenen Jahres

VON: Dr. Alice Bishop

AN: Geschäftsführung der FightForPeace LLP.

BETREFF: Zwischenbericht – Ein Meilenstein!

Es ist geglückt. Endlich! Heute haben wir den entscheidenden Durchbruch gefeiert.

Wie Sie anhand meiner vorangegangenen Berichte wissen, liegen langwierige Versuchsreihen hinter uns. Wir mussten zahlreiche Rückschläge einstecken und bedauerliche Verluste hinnehmen. Ich weiß, dass Ihr Vertrauen in meine wissenschaftlichen Fähigkeiten nahezu erschöpft ist. Umso glücklicher bin ich, Ihnen heute mitteilen zu können, dass wir erfolgreich waren!

Ausschlaggebend war die natürliche Basis, die uns Objekt Zero lieferte. Künstliche Desoxyribonukleinsäurestränge herzustellen, scheiterte. Aber sobald uns die Urform vorlag, waren wir in der Lage, diese zu klonen und den Probanden zu implantieren. In-vitro-Züchtungen dagegen sind nicht möglich. Man muss den Probanden die DNS direkt in die Hypophyse spritzen, nicht ins Rückenmark, wie wir zuerst dachten. Letzteres führte lediglich zu exorbitanten Deformierungen, aber keiner Verschmelzung oder Wandlung. Die Objekte litten große Schmerzen und krepierten jämmerlich.

Was genau in den Körpern der Probanden vorgeht, untersuchen wir noch. Die Hormondrüse ist unter anderem für das Wachstum und den Stoffwechsel zuständig, daher gehen wir bisher davon aus, dass die DNS von Objekt Zero die Hormonausschüttung extrem anregt und den Metabolismus auf Hochtouren laufen lässt. Wir haben den Motor einer Vespa in den eines Düsenjets verwandelt, das entspricht genau Ihrer Zielvorgabe. Wie Sie sehen, habe ich Ihr Vertrauen verdient.

Nicht jeder Organismus ist stark genug, um die Synthese zu überleben. Eine Unterstützung durch Medikamente und aufbauende Mittel führte nur zu Missbildungen. Wir mussten die Objekte entsorgen. Noch erlaubt die Natur keinen Eingriff in die Synthese, doch wir haben sie bereits überlistet – wir werden es auch noch schaffen, sie zu beherrschen.

Das Wunder ist vollbracht! Eine neue Ära bricht an.

Fünf

Anchorage/Alaska/Juli dieses Jahres

In manchen Situationen wünschte sich Kristobal, seinen Wolf doch nicht getötet zu haben. Rudimentär war er zwar noch in ihm vorhanden, aber offenbar nicht genug von seinen Instinkten, um zu wittern, was in Claw vorging.

Seit er mit Tala im Nostalgia Playhouse übernachtet hatte, verhielt er sich merkwürdig. Etwas schien ihn zu bedrücken, aber er wollte nicht darüber sprechen, murmelte nur kryptische Entschuldigungen und schob sein Verhalten auf einen Albtraum. Eine Ausrede, so vermutete Kristobal, und hakte nicht weiter nach. Der Alphawolf war nun mal kein redseliger Typ, das akzeptierte er als sein Freund. Wenn er loswerden wollte, was ihn quälte, würde er von selbst zu ihm kommen. Wahrscheinlich hatte er sich schon Tala anvertraut. Nanouk war für ihn, Kristobal, ja auch die engste Vertraute.

Er konnte nur eins für ihn tun: Claw den Rücken frei halten, bis er wieder zu sich fand. Aus diesem Grund, und weil dieses Stadtviertel sein Revier war, trat er aus dem Theater hinaus in die Nacht und stellte sich schützend vor Claw und Luca. Sie waren gerade erst angekommen, um zu besprechen, wie sie weiter mit den netten, aber lästigen Fans umgehen sollten.

In dem scheußlichen Magazin Wahre übernatürliche Phänomene war nichts echt. Nicht Journalisten hatten die Informationen recherchiert und die Texte verfasst, sondern Honorarschreiber hatten sie sich ausgedacht. Die Fotos waren so schlecht retuschiert, dass sich Kristobal fragte, wer die Zeitschrift kaufte und an deren Wahrheitsgehalt glaubte. Aber vielleicht, so hatte er beim ersten Durchblättern gehofft, ging es den Lesern gar nicht darum, ob das, was sie lasen, echt war oder nicht, sondern sie wollten sich nur unterhalten lassen wie bei einem Roman.

Doch dann waren die ersten Fans aufgetaucht. Warum sie den Alpha­wolf und den Alphaluchs ausgerechnet im Nostalgia Playhouse gesucht hatten, wusste er nicht. Er vermutete, ein WüP-Leser hatte Claw und Luca in den Straßen von Anchorage wiedererkannt, war ihnen zum Theater gefolgt und hatte im Internet verbreitet, wo sich die beiden berühmtesten Gestaltwandler der Welt aufhielten.

Zum Glück waren sie nicht allzu berühmt. Hin und wieder pilgerten ein paar junge Leute – Cosplayer und solche, die auch als Wookiee oder ähnliches verkleidet Conventions besuchten, oder Frauen, die hofften, je nach Alter entweder ihren eigenen Jacob Black oder Vincent aus «Die Schöne und das Biest» zu finden –, nach Anchorage, um herauszufinden, ob etwas an der Sache dran war und um ein Autogramm zu bitten. Harmlos in ihrem Verhalten, aber trotzdem gefährlich, denn auf keinen Fall durften neue Details die Glut anfeuern. Im Gegenteil, sie musste erstickt werden, weshalb sich Claw und Luca so selten wie möglich zeigten.

Dumm nur, dass der Fremde, der sich gerade dem Theater näherte, sie bereits erspäht hatte. Kristobal versuchte, sie mit seinem Körper zu verdecken, aber es war zu spät. Wie ein Schutzschild schirmte er seine Freunde ab.

Der Mann hatte eine Statur, wie Kristobal sie erst bekommen hatte, nachdem er seinen rudimentären Werwolf ein letztes Mal an die Oberfläche gelockt und sich halb verwandelt hatte, damals, um Jarek, seinen ehemaligen Freund und nun Erzfeind gewaltsam zu vertreiben. Das Tier in ihm hatte sich daraufhin nie wieder vollkommen in ihm zurückgezogen, sodass er muskulöser aussah als die restlichen Vampire.

Der Unbekannte war groß gewachsen mit breiten Schultern wie ein Linebacker beim American Football oder ein Schwergewichtsboxer. Aber er sah nicht danach aus, als hätte er bereits viele Kämpfe ausgefochten, sondern er hatte weiche Gesichtszüge. Einige Strähnen­ seines kurzen dunklen Haares hingen ihm in die Stirn. Er trat so fest auf, als hätte er Gewichte in den Schuhsohlen. Ob sich unter seinem weiten langärmeligen Shirt allerdings Muskeln verbargen, konnte Kristobal nicht sagen. Mit der passenden Kleidung konnte er die Frauen sicherlich reihenweise flachlegen. Doch augenscheinlich gab er sich lieber bedeckt. Wie die Dark Defence. Bedeutete das nicht, dass er ebenso ein Geheimnis hütete? Geheimnisse bedeuteten immer Ärger.

«Wir haben geschlossen.»

In einer theatralischen Geste zupfte Kristobal an den Ärmeln seines Rüschenhemds. Er hatte es extra angezogen, um Nanouk zu ärgern. Sie mochte nicht, wenn er das kitschige Vampir-Klischee erfüllte. Aber er brachte sie nun mal gerne auf die Palme. Denn wenn sie so richtig in Fahrt war, heizte sie ihm beim Liebesspiel noch mehr ein als sonst. Die Werwölfin hatte Feuer im Blut! Bei dem Gedanken regte sich etwas in seiner Hose.

«Die Zaubervorstellungen finden immer erst ab Mitternacht statt.»

«Ich will nicht zu dir, sondern zu ihnen», sagte der Hüne mit einem Akzent, den die Frauen bestimmt attraktiv fanden.

Eigentlich hätte Kristobal froh sein sollen, nicht von diesem leidigen Reporter und seiner Kamera abgeschossen worden zu seiner, aber er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Er war der einzige der Alphas, der gerne im Mittelpunkt stand, aber ausgerechnet ihn übersahen die Fans.

«Ich bin sie und sie sind ich.»

«Dann bist du auch einer von ihnen?»

Kristobal lächelte süffisant. «Ich habe auch Haare auf den Zähnen, das ja.»

«Das meinte ich nicht, sondern …»

«Ja?»

«Kannst du auch … deine Gestalt ändern?»

«Ich kann alles sein, was ich will. Ich bin schließlich der Star der Zaubershow.»

Während er aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm, dass Claw ihn anblinzelte, hörte er hinter sich ein Schnauben. Beides ignorierte­ der Alphavampir.

«Ich habe gehört, dass sich früher in den Veranstaltungen ein Mann in einen Wolf verwandelt hat.»

Pavel. Sein Fell hatte die Farbe der Tapete in einem Raucherhaushalt. Der zwielichtige Tundrawolf verschwand, nachdem Kristobal ­Jarek verscheucht hatte. War auch besser für ihn, dachte der Alphavampir und strich über seine langen schwarzen Haare, die ein schwarzes Samtband im Nacken zusammenhielt.

«Es ranken sich viele Gerüchte um unsere Vorstellung. Das beweist nur, wie gut wir die Zauberkunst verstehen.»

«Was ist mit echter Magie?» Der Fremde kniff die Augen zusammen und legte den Kopf leicht schräg. Er schien mit einem Mal aufmerksamer als zuvor. «Könnt ihr die auch?»

«Wer sagt, dass wir Hokuspokus betreiben?»

Kristobal ließ die Andeutung in der Luft hängen. Tatsächlich entwickelten die Vampire übersinnliche Fähigkeiten, doch davon durfte niemand erfahren. Es fiel ihm schwer, sich zurückzuhalten. So gerne hätte er den Menschen gezeigt, zu was sie unter gewissen Umständen fähig waren. Denn das war er auch einmal gewesen, ein Mensch, dann ein Werwolf und nun ein Lord der Dunkelheit.

Unsanft stieß Claw ihn in die Seite. «Klappern gehört zum Handwerk. Zauberei funktioniert nur, wenn das Publikum daran glaubt, und das erreicht man durch schnöde Worte.»

«Und wenn der Star der Show eins kann, dann ist das Reden schwingen», sagte eine Stimme, die das ‹r› rollte, als hätte er eine heiße Kartoffel im Mund.

Kristobal warf Luca einen finsteren Blick zu und sah dann wieder den Unbekannten an. «Also kannst du auch mit mir sprechen. Oder noch besser, du verschwindest besser sofort wieder, bevor sich meine»,­ er malte Anführungsstriche in die Luft, um zu verschleiern, dass er die Wahrheit sagte, denn er besaß telekinetische Fähigkeiten, «Magie benutze, um dich gegen meinen Escalade zu schleudern.»

«Im Moment redet er sich wohl eher um Kopf und Kragen», sagte Claw zu Luca.

Unbeeindruckt blieb der Fremde, wo er war.

«Mein Name ist Liam.»

«Es war nett, dich kennenzulernen, Liam, und jetzt würde ich dich gerne von hinten sehen.» Kristobal machte mit beiden Händen eine Geste, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen.

«Schade, ich habe mich wohl getäuscht.» Liam drehte sich halb um, blieb dann aber doch stehen. «Seit dem Sommer letzten Jahres habe ich nach jemandem gesucht, der wie ich ist.»

«Groß, breitschultrig und gut aussehend? Du hast uns gefunden, aber wir nehmen nicht jeden in unsere Clique auf.»

«Ich habe die Fotos in diesem Magazin gesehen.»

«Natürlich. Was sonst?»

«Man schickte mich zu euch.»

Bestimmt andere Para-Fans. Früher glaubte Kristobal, die Mitglieder der Dark Defence wären Freaks, doch inzwischen wusste er es besser. Menschen taten weitaus merkwürdigere Dinge, als sich in ein Tier zu verwandeln, zum Beispiel der Zeitschrift Wahre übersinnliche Phänomene Glauben schenken.

«Ihr seid meine letzte Hoffnung.»

«Wenn du versuchst, den Verstand zu verlieren, bist du bei uns genau richtig. Geh heim! Das ist gesünder für dich.»

«Ich habe kein Zuhause.»

Schnuppernd trat Luca vor. «Er riecht nicht menschlich, jedenfalls nicht nur.»

«Du solltest deine feline Neugier zügeln», murmelte Kristobal, «und auch dein Mundwerk.»

«Er riecht feucht und fast so alt wie die Erde selbst.»

Luca wich zurück und, ohne es sehen zu können, wettete Kristobal, dass sich die Nackenhaare des Kuders aufstellten.

«So sieht er aber nicht aus, Kumpel.» Während sich der dunkle Lord über das Kinn rieb, musterte er den Fremden vom Scheitel bis zur Sohle. «Eher wie um die dreißig.»

Liam straffte seine Schultern und blickte dem Alphavampir direkt in die Augen. Er zeigte keinerlei Furcht vor ihm, nicht einmal ein unsicheres Blinzeln. Kristobal ahnte, dass er nicht so harmlos war, wie er sich gab. Liams durchschnittliche Kleidung – ein langärmeliges petrolfarbenes T-Shirt, Blue Jeans und graue Turnschuhe – kam ihm immer mehr wie eine Tarnung vor. Wenn man herumlief wie die meisten Menschen, konnte man in der Masse untertauchen und weckte keinen Verdacht. Das Werwolfrudel lebte nach dieser Regel.

«Ich sagte doch, ich bin wie ihr.» Liam hielt ihm seine Hand­flächen hin, dann ließ er die Arme hängen, als wäre er plötzlich erschöpft. «Und auch wieder nicht. Ich habe euch nicht gesucht, weil ich mich gemeinsam mit euch fotografieren lassen möchte, sondern um jemanden kennenzulernen, der mehr Erfahrung hat, der mir helfen kann, damit zurechtzukommen, und von dem ich lernen kann, es zu kontrollieren.»

«Wer bist du?» Als Luca vortrat, streckte Kristobal den Arm aus, um ihn zu bremsen. «Oder sollte ich fragen, was?»

«Ich bin ein», Liam prüfte, ob ein ungebetener Zuhörer in der Nähe war, und senkte seine Stimme, «Werdrache.»

«Ein Draco?», sagte Claw schrill.

Was war nur los mit ihm? Kristobal spürte, wie sich der Alphawolf neben ihm anspannte. Fragend schaute er ihn an, doch dieser wich seinem Blick aus.

Liam war zwar Schotte, aber Kristobal musste dennoch an die nordische Mythologie denken. Darin symbolisierte der Nidhögg das Böse. Er schädigte den Weltenbaum und trank das Blut der Toten. Keine sonderlich beruhigende Assoziation.

Gekünstelt lachte Kristobal. «Drachen gehören ins Reich der ­Märchen, Sagen und Legenden. Willst du uns verarschen? Geh heim. Du hast es versucht und deinen Spaß –»

«Nein!», fiel Claw ihm ins Wort. «Lass ihn sprechen.»

Dass sich der Alphawolf für den Fremden aussprach, überraschte Kristobal. Ausgerechnet Claw, der sich am meisten für die Geheimhaltung der Dark Defence einsetzte, der die Zügel stets eng hielt und allen Fremden höchst skeptisch gegenübertrat. Also musste Kristobal die Position einnehmen, die normalerweise Claw ausfüllte. Breitbeinig stellte er sich vor Liam hin und verschränkte die Arme.

«Gestaltwandler existieren nicht.»

«Die Fotos von diesem Reporter beweisen das Gegenteil.»

Während der ganzen Diskussion stand Liam mit beiden Füßen fest auf dem Boden, das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine verteilt. Hoch gewachsen und kräftig wirkte er unerschütterlich. Er erinnerte Kristobal an einen Mammutbaum, den nicht einmal der stärkste Sturm entwurzeln konnte.

«Sie sind gefälscht.»

«Das befürchtete ich zuerst. Doch jetzt, wo ich vor euch stehe, weiß ich, dass sie echt sind. Mein Tier sagt es mir.»

«Und wer hat dich zu einem», Kristobal legte einen spöttischen Ton an den Tag, um ihn zu verunsichern, «Gestaltwandler gemacht?»

«Dr. Alice Bishop.»

Liam hatte ohne zu zögern geantwortet. Entweder hatte er sich gut vorbereitet und seine Geschichte von vorne bis hinten durchdacht, bevor er sie gesucht hatte, oder – sie entsprach der Wahrheit.

«Sie hat dich gebissen?»

«Nein, operiert. Ich weiß nicht genau, was sie gemacht hat …»

«Natürlich nicht.»

«Ich bin kein Wissenschaftler. Sie hat mir Drachen-DNA injiziert, direkt in die Hypophyse, sodass mein Körper sich mit ihr verbunden hat.»

«Und die hat sie woher?»

«Was weiß ich? Sie hat mich in meiner Heimat Schottland entführt und in ein Labor in der kanadischen Wildnis gebracht. Bitte», seine Stimme klang nicht mehr so fest wie bisher, «ich zerbreche daran, wenn ihr mir nicht helft, damit klarzukommen.»

«Nette Märchenstunde. Wir haben uns alle amüsiert.» Kristobal tat, als würde er das Interesse verlieren, und zupfte an seinem Samtjackett herum.

«Ich habe Angst, aufzufallen. Ich habe Angst, jemandem versehentlich wehzutun. Ich fürchte mich davor, gefangen und zurück in dieses Labor gebracht zu werden. Aber vor allen Dingen habe ich Angst, verrückt zu werden. Da ist etwas in mir, das vorher noch nicht da war, etwas, das fremd und dennoch ein Teil von mir ist, ein zweites Ich, tierisch, übernatürlich und gewaltig.»

«Lass ihn eintreten, damit er uns in Ruhe seine Geschichte erzählen kann.» Claw klang nicht überzeugt von seinem eigenen Vorschlag.

Verdutzt schaute Kristobal ihn an. Dann schüttelte er den Kopf. «Ich kann das nicht verantworten.»

«Auch ich bin unsicher», sagte Luca. «Er ist nicht ausschließlich menschlich, das wittert mein Luchs. Aber ein Drache? Ich weiß nicht. Das kann ich nicht bestätigen, ich habe schließlich noch keinen­ getroffen.»

«Das erinnert mich an Dante. Vielleicht sind das erste Anzeichen einer Krankheit.»

Größenwahn, dachte Kristobal, ein Lindwurm, also wirklich!

Plötzlich schwang die Eingangstür des Theaters weiter auf. Mit der stolzen Haltung einer Kriegerin trat Rafaela auf die Straße. Sie schwebte fast über den Bürgersteig, als sie Liam umrundete und ihn von allen Seiten und von oben bis unten musterte. Ihr schiefergrauer Mantel flatterte um ihre langen, schlanken Beine. Die Sohlen ihrer anthrazitfarbenen Stiefel klackten auf dem Gehweg.

«Er soll einen Beweis bringen.»

Kristobal nickte seiner Beraterin zu und fragte sich, warum er nicht selbst darauf gekommen war. Alles, an das er hatte denken können, war, Liam so schnell wie möglich wieder in die Wüste zu schicken. Nicht nur, weil er ein Fremder war, sondern weil er vom ersten Moment an gespürt hatte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Und nun hatte der undurchsichtige Typ gleich zwei Befürworter gefunden: Claw, der eigentlich immer gegen alles war, und Rafaela, deren Augen interessiert funkelten, obwohl gerade sie sich von allen Männern der Welt fernhalten musste. Vielleicht jedoch war das eine Möglichkeit, Liam wieder loszuwerden. Er musste nur Raffa, seine Geheimwaffe, auf ihn loslassen. Kristobals Mundwinkel zuckten. Es war immer von Vorteil, einen Plan B in der Hinterhand zu haben.

Liam zögerte. «Das geht nicht.»

«Wusste ich es doch.»

«Nicht hier.»

«Natürlich nicht. Drachen sind ja viel zu …», abfällig schnaubend deutete Kristobal die Größe eines Hauses an.

«Aber ich könnte meine Hand verwandeln.»

«Nicht einmal den ganzen Arm? Mon dieu!»

Rafaelas Haare waren wellenförmig zu Cornrows geflochten. Im Nacken ergossen sich die offenen Enden in wasserstoffblonden ­Locken über ihre Schultern. Sanft berührte sie seinen Arm.

«Gib ihm eine Chance.»

Jeder andere wäre zurückgezuckt, doch der Alphavampir wollte sie nicht noch mehr verletzen. Er schätzte sie, weil sie weniger egozentrisch war als die anderen dunklen Lords und auch als Mila. Sie blieb stets cool und reagierte besonnen. Doch diese vier Worte hatten aus ihrem Mund für ihre Verhältnisse geradezu leidenschaftlich geklungen. Seine Besorgnis wuchs. Doch er tat ihr den Gefallen, denn sie hatte in diesen Tagen nicht gerade viel Freude.

Er deutete eine Verneigung an. «Möge die Show beginnen. Befreie den Tatzelwurm.»

Obwohl Kristobal nicht wusste, ob er das wirklich wollte. In westlichen und orientalischen Schöpfungsmythen war der Drache menschenfeindlich, das Sinnbild des Teufels, ein Ungeheuer, das nur Chaos, Schrecken und Vernichtung brachte. Aber wir sind ja keine Menschen mehr, sondern Gestaltwandler, beruhigte er sich. Doch das stimmte nicht. Ein Teil von ihnen war es immer noch und würde es immer bleiben.

«Kein Fabelwesen», Liams Augen schienen mit einem Mal giftgrüne Funken zu sprühen, «sondern eine der ältesten Kreaturen, die existieren.»

Das hörte sich nicht an, als würde Liam mit seinem Schicksal hadern,­ wie er behauptet hatte. Hoffentlich hielt er sich nicht heimlich für den südamerikanischen Gott Quetzalcoatl, der laut Mythos die Form der gefiederten Schlange Amphithere annehmen konnte. Para-Fans, die sie suchten, waren wie Fliegen – lästig, aber nicht weiter schlimm. Ein Para-Fan jedoch, der sich für ein unbesiegbares Wesen hielt, war für die Dark Defence gefährlich.

Kristobals Augen weiteten sich, als Liam die rechte Hand hochhielt und die Luft darum zu flimmern anfing wie Hitze auf Asphalt. Das Flirren wurde so stark, dass es wirkte, als würde die Haut schmelzen. Sie schien sich zu verformen, wurde größer und breiter. Da begriff Kristobal, dass alles, was er sah, wirklich geschah.

Wahrhaftige Magie! Seine Alarmsirenen schrillten.

Wie aus dem Nichts tauchten Schuppen auf, die zuerst Fleischfarben waren und schließlich dunkelblau schillerten. Gleichzeitig wuchsen die Fingernägel. Sie wurden länger, dicker und wölbten sich, bis sie kleine spitze Dolchen waren.

Nach wenigen Sekunden hörte das Sirren auf. Der Spuk war vorbei, doch das Resultat blieb. Während sich Liam mit der menschlichen Hand die Schweißperlen von der Stirn wischte, präsentierte er die schuppige und bewegte spielerisch die Hornkrallen. Als er sie Kristobal hinhielt, meinte dieser zu registrieren, dass Liam den Mittelfinger etwas länger gestreckt hielt als die anderen Finger, aber das mochte er sich auch einbilden.

Rafaela neben ihm stieß den Atem aus. Sie musste ihn die ganze Zeit angehalten haben. Für seinen Geschmack war sie etwas zu beeindruckt. Sie schien ihren ansonst so kühlen Kopf zu verlieren. Jede andere Frau hätte er sicherheitshalber ins Theater geschickt, um sie vor diesem Kerl zu beschützen. Aber bei Raffa brauchte er sich keine Sorgen machen. Eher noch musste er Liam vor ihr in Sicherheit bringen.

«Du bist es», flüsterte Claw ehrfürchtig. Da der Alphavampir ihn Stirn runzelnd betrachtete, zuckte er mit den Achseln. «Ich meinte, er ist wahrhaftig ein Draco.»

«Oder ein Werkrokodil, ein Agame, ein Tannenzapfentier, eine Schlange …» Kristobal gab einen verächtlichen Laut von sich. «Ein paar Schuppen machen noch keinen Lindwurm.»