Alpträume in Norwegen - Max P. Becker - E-Book

Alpträume in Norwegen E-Book

Max P. Becker

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Beschreibung

Irgendwann in den 1920ern: Paul Anderson, seines Zeichens Privatdetektiv, reist unter der Tarnidentität Rick Fairwell nach Norwegen, um die Ermittlungen an einem obskuren Skiunfall aufzunehmen. Die Zugfahrt endet jedoch in einer Katastrophe, welche zahllose Menschenleben fordert und so nimmt das Unglück seinen Lauf. Zusammen mit der jungen Italienerin Matilde Visconti, die er unterwegs kennengelernt hat, gerät er immer weiter in ein undurchsichtiges Netz aus okkulten Andeutungen. Während Andersons Psyche unter der Belastung zunehmend bricht und den darunter schwelenden Wahnsinn freisetzt, holen ihn schließlich die Sünden seiner Vergangenheit ein. Max P. Beckers Erstlingswerk Alpträume in Norwegen ist ein rätselhafter Roman der düsteren Phantastik, welcher die Leser Stück für Stück der Realität entzieht, bis Mythen und Trauma miteinander verschmelzen und sich der Horror Stephen Kings mit David Lynchs fragmentarischem Erzählstil zu einem stimmigen Ganzen vereinigt. Die Identitäten der Protagonisten sind gesprungene Masken, die Wirklichkeit ein formbares Konstrukt: ihr Schicksal eine unentrinnbare Tragödie.

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Alpträume in Norwegen

Max P. Becker

Für Heinz und Nadia, die mit mir geträumt haben.

Er zog eine Schachtel Pall Mall aus der Tasche, sah sich nachdenklich das Emblem an – per aspera ad astra – und riß dann die Zellophanhülle ab. Er zündete sich eine an und schüttelte das Streichholz aus.

– Stephen King, „Brennen muss Salem“

Impressum

Copyright © Yellow King Productions Mario Weiß Neuöd - Gewerbepark 12a 92278 Illschwang E-Mail: [email protected] Web: www.yellow-king-productions.de

Autor: Max P. Becker Lektorat: Mario Weiß Cover: Detlef Klewer

Vorher

Da ich dies schreibe, bin ich am Ende meines inneren Haderns angekommen. Ich war nie allzu gut im Schreiben, bin eher jemand, der Geschriebenes in sich aufsaugt. Es sollte eine Geschichte über die Schrecken Norwegens werden, versetzt mit den Erfahrungen und der Vision eines Lebens, wie ich es zu führen wünsche. Es hätte ein glanzvoller Neuanfang werden können: Ich, der Schreibende, statt ich, der ewig Lesende.

Das ist also meine Geschichte, und während ich zu den ersten Seiten zurückblättere, finde ich einen bemerkenswerten Eintrag: „Ich werde meine eigene Kreation sein, in einer Welt aus Legenden greifbarster Natur!“

Dies hier stellt mein Scheitern dar. Ich dachte, die Welt sei ein mythischer Ort, an dem die Sünden keineswegs das größte Grauen darstellen. Eine Welt, in die ich flüchten könnte, ohne Sorgen zu haben, den Blick des Anderen auf mich zu ziehen. Aber eigentlich ist sie ein Ort, an dem wir uns durch die Schwere unserer Taten definieren, eine Last, die ich anderen kaum aufbürden möchte.

Bringen wir das Ganze endlich zu einem Abschluss, ist der gewählte Anfang doch jetzt schon vollends misslungen. Dem gleich genügt auch jenes Ende zweifelsfrei nicht mehr den Anforderungen einer erbaulichen Schauergeschichte. Alles ist wirr und zerfasert; das Feuer echter Erzählungen schwelt weit vor meiner Zeit. Im Gegensatz dazu bin ich in diesem Moment:

Der Revolver in meinen Händen glüht noch förmlich von der Hitze des letzten Schusses. Die Zugfahrt endet, und das Ende ist ein Klumpen Blei im Kopf meines Kontrahenten.

Rick Fairwell, seines Zeichens Schriftsteller und um seine eigene Fehlbarkeit ewig Wissender, lebt. Paul Anderson hingegen, ein schwacher Mann von geringem Interesse, der nicht selten darauf bedacht war, Teil einer zum Verderben verdammten Menschheit zu sein, stirbt. Er war mein Ebenbild und war es dennoch nicht. Er wollte mir zeigen, wie verdorben ich war, wie sehr ich ihm über all die Jahre das Leben zur Hölle gemacht hatte, indem ich ihm einredete, ein Mörder zu sein.

Der Neuanfang, die Verwandlung, die Metamorphose, die in Howard Wildes Roman „The Day‘s End“ Ausdruck findet, ist noch vollzogen worden.

Aus Fiktion wird Realität und aus Realität Fiktion!

Paul Anderson wird Rick Fairwell bleiben!

Hasan bin Al-Saud wird real. Seine Geschichte wird zur Wahrheit, und er beginnt zu leben! Jedoch spüre ich …, nein, weiß ich, mein Freund ist in Gefahr. Er wollte echten Schnee sehen! Ich muss ihm helfen. Das fragile Konstrukt, das sich um mich herum aufgebaut hat, könnte von seinem Leben abhängen. Denn wenn sowohl Paul als auch Rick tot wären … was wäre ich anderes als das fleischgewordene Nichts?!

Meine Entscheidung ist gefallen; Taten definieren mich. Mein Name ist Rick Fairwell, und der soll niemals sterben. Paul Anderson ist tot. Die letzten Worte haben es verewigt und bestimmt.

Mein Name ist Rick Fairwell – der Mörder aller Mörder.

1. Kapitel: Matilde

Der Verhörraum, in den sie Matilde geleitet hatten, besaß nicht einmal Strom, einzig Petroleumlampen, und sie fand, das sprach ein deutliches Urteil über die Situation. Ihre erste Zigarette beruhigte die Nerven, nach der zweiten wusste sie, dass es keine Schwierigkeiten geben würde. Vor ihr saßen zwei überarbeitete Norweger, strubbelige Bärte, zerzaustes Haar.

Hans flüsterte ihr zu, dass sie nur vorgaben, die Kontrolle zu haben. Dabei schien das Ausmaß des Unglücks derart verheerend, dass die psychischen und materiellen Schäden in einer Nacht kaum zu bewältigen waren.

Polizeiarbeit? Spurensicherung? Matilde schätzte, dass mehr Passagiere in jenem verhängnisvollen Zug gesessen haben mussten, als es Einwohner in Lom gab. Jeder von ihnen mit einer eigenen Geschichte des Alptraums. Dazu kam das Bahnpersonal. Nein, diese Tragödie, deren Startschuss sie selbst gegeben hatte, würde niemals zufriedenstellend aufgeklärt werden. Die letzte Station der Reise bestimmt jeder für sich. Dank Hans war sie sich sicher, ihr Reiseziel zu kennen. Das war sie ihm schuldig.

„Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“ Sie zog an ihrer Zigarette. Einer der Polizisten nahm für einen Moment den Bleistift von seinem Block und blickte auf. Der andere nickte. „Dieser Zug … die Menschen, die sich in ihm befanden … was geschieht mit ihnen? Nach den Vernehmungen?“

„God fru“, setzte der eine an und fuhr sich durch den Bart. Er schüttelte den Kopf und sagte: „Wir tun unser Bestes. Die Passagiere stammen aus allen Ländern der Welt. Wir schätzen, es gibt mindestens ein halbes Dutzend Tote, doppelt so viele Verletzte, einige von ihnen schwer. Das Feuer, die Notbremsung, die Schüsse. Dergleichen gab es noch nie in unserer Gegend.“ Er hob die Hände so, als solle sie ihm erklären, was zu tun war.

Gibt es hier überhaupt ein Krankenhaus?, schoss es Matilde durch den Kopf. Und wenn ja, wie gut ist es ausgestattet?

„Wir können im Moment nicht viel mehr tun, als die Zeugen zu vernehmen.“ Sein Partner taxierte sie mit einem wenig überzeugten Blick. „Sie können uns helfen, den Hergang der Katastrophe aufzuklären. Alle Informationen können wichtig sein.“

Matilde inhalierte tief und entließ den Rauch, der ihre Züge verschleierte.

Auf ihren Reisen von ihrer toskanischen Heimatstadt Viareggio aus hatte sie viele Menschen getroffen, deren Bekanntschaft sie lieber gemisst hätte. Vor dem Großen Krieg, das berichtete man ihr, war man Höflichkeit und Integrität begegnet; danach verrauchte das Gas der Schützengräben in den Köpfen der Menschen allzu langsam. Sie stimmte dem zu. Deshalb war sie meistens allein unterwegs.

„Für eine junge Frau haben Sie ein ziemlich schweres Kaliber in Ihrem Gepäck …“

„Sie meinen mein Gewehr ‚John‘? Heutzutage lässt sich eine junge Frau nicht mehr alles gefallen.“ Sie zwinkerte. Neben ihr lächelte Hans über ihre Bemerkung, und ihr Herz schlug schneller. „Ich bin Jägerin und kam zur Pelzjagd nach Norwegen. Ich hatte gehört, hier gäbe es mehr als Bären und Wölfe und Hasen … Auch Trolle … und Riesen … und anderes … Dafür brauche ich ein großes Kaliber, finden Sie nicht?“

Die Männer ihr gegenüber wechselten Blicke, bis sie merkten, dass es sich um einen Scherz handeln musste.

Matilde lachte, ohne ihre Reaktionen aus den Augen zu lassen.

Einer der beiden setzte an: „Im Zug machten sie die Bekanntschaft mit einem Schweizer, der sich Ihnen als Hans Schmidt vorstellte …“

„Oh, ja.“ Sie zwang sich, gelassen zu wirken. „Auch er war bereits eine Weile unterwegs gewesen. Allerdings bekamen wir kaum die Gelegenheit, uns über seine Reisen auszutauschen, da er nach kurzer Zeit … wie soll ich sagen … indisponiert war.“ Ihre Gedanken drifteten ab zu ihrer ersten Begegnung mit Hans …

„God aften. Enslig? Schmidt. Hans Schmidt. Kan jeg holde selskap?“

Mit neugierigem Blick hatte sie sich am Bahnsteig umgedreht und eine schlanke Gestalt mit hochgekrempelten Hemdsärmeln gesehen. Draußen mussten minus zwölf Grad Celsius gewesen sein, und er lief leicht bekleidet herum! Matilde hatte es nicht fassen können und ihr Gegenüber interessiert betrachtet: Sein Haar war nach hinten gekämmt, seine Stirn in leicht arrogant anmutende Falten gelegt. Gepflegt, fast adrett und trotzdem mit einer bewundernswert intelligenten Ausstrahlung versehen, erschien er ihr wie die perfekte Reisebegleitung.

Der Polizist räusperte sich ungeduldig. Matilde drückte die zweite Zigarette im Aschenbecher aus und fuhr fort: „Er vertrug keinen Alkohol. Aber er entschuldigte sich für sein ungebührliches Verhalten, und ich war gewillt, ihm seinen Auftritt im Salonwagen zu verzeihen.“

Vor diesem Verhör riet Hans ihr, offen über die gemeinsam verbrachte Nacht zu sprechen. Keine Diskretion! Dafür war es zu schön mit dir, kleine Wildkatze. Eine romantische Nacht im Zug, deren unvorhersehbare Folgen letztlich zu einer Katastrophe geführt hatten. Das war es gewesen. Weitere Details führten zu mehr Fragen. Hans und Matilde, zwei einsame Reisende, zusammengeführt durch einen Zufall, einander entrissen durch ein Unglück. Allerdings bläute Hans ihr ein, das eigene Schicksal sei keinesfalls Frage des Zufalls, sondern eine Frage der Wahl und Matildes Wahl war längst getroffen.

„Wie spielte sich der Abend ab? Sie befanden sich also in ihrer Kabine?“

Sie rieb sich die Stelle am Hals, wo Hans sie vor wenigen Stunden noch innig geküsst hatte. „Er … verschwand. Sie wissen, wie Männer manchmal zu Frauen sind. Haben sie einmal bekommen, was sie wollen, verlieren sie ihr Interesse. Hans besaß wenigstens den Anstand, zurückzukommen, um sich zu verabschieden.“

„Und was geschah dann?“ Der Stift hatte auf dem Block innegehalten und zog nun einen Schlussstrich für den letzten Akt.

Matilde seufzte. „Ein Doktor, ein höchst merkwürdiger Mensch namens Nordgren, drang in meine Kabine ein und fing eine Auseinandersetzung mit Hans Schmidt an. Wie gut sie sich kannten, kann ich nicht sagen. Ich fürchtete um sein Leben und nahm mein Gewehr aus dem Gepäck. Der Pazzo rang es mir ab, und dabei löste sich im Handgemenge ein Schuss. Hans schrie auf, während er zu Boden ging, und überall war Blut und Rauch. Das hat weitere Passagiere angelockt. Nordgren muss durchgedreht sein. Er nahm mich als Geisel. Er schrie, dass ich ihm gehöre, und wenn Hans sterben sollte, sei das allein meine Schuld. Vollkommen übergeschnappt schleifte er mich durch den Zug, bis ich befreit werden konnte.“

„Von …?“

„Ich kenne seinen Namen nicht.“

Der Bleistift zog einen Strich und begann eine letzte Zeile. „Und Sie haben ihn erschossen? Den Doktor?“

„Hätten Sie nicht?“

Zum ersten Mal wirkte ihr Gegenüber verblüfft. Stirnrunzelnd blickte er zur Seite. „Nein. Ich denke nicht.“

„Ich bin durch brennende Gänge geflohen, habe Menschen sterben sehen. Ein Mädchen humpelte mir entgegen, ehe sie tot zusammenbrach. Verhaften Sie mich, wenn Sie es für richtig halten. Ich nehme es Ihnen nicht übel. Ich bereue nichts.“

Der eine lehnte sich zurück und schlug mit dem Stift im Takt auf den Block. Eine Weile sprach niemand.

„Ich glaube Ihnen. Wie ich die Lage einschätze, fällt es schwer, Ihnen ein Vergehen nachzuweisen. Sie haben einen Menschen getötet, ja, aber es ist augenscheinlich, dass auf diese Weise andere Leben gerettet wurden.“

Ihre Hände verkrampften sich in ihrem Schoß; der Mund zuckte unmerklich. Diese Art kalter Freude kannte sie noch nicht lange. Sie verbarg die Erleichterung.

Geschafft! Verdammt nochmal, sie hatte es mit Hans’ Hilfe geschafft!

Sie nickte.

„Wir werden weitere Zeugen zu Rate ziehen und die Ermittlungen fortsetzen. Bis dahin besteht keine Veranlassung, Sie festzuhalten. Sie sollten jedoch in Lom bleiben, bis wir Ihnen mitteilen, dass wir Sie nicht mehr brauchen.“

„Mein Gepäck? Und das von Signore Schmidt?“

„Sie dürfen Ihr Gepäck natürlich an sich nehmen. Es wurde durchsucht und nichts konfisziert. Das des Verstorbenen ist in der Obhut unserer Behörde.“

„Ausgezeichnet!“ Sie erhob sich. „Gentlemen?“

Auch die Polizisten standen auf. „Sie waren uns eine außerordentliche Hilfe. Genießen Sie Ihren weiteren Aufenthalt, soweit es die Umstände ermöglichen.“

Sie verließ den Raum und ermahnte sich, nicht vor Erleichterung loszuschreien.

Hans grinste sein selbstverliebtes Grinsen.

„Ich habe dich stolz gemacht, oder, Hans?“, sagte sie, doch beim Anblick des weißen Leichentuchs aus Schnee fiel ihr ein, dass sie mit einem Toten sprach.

*

Der Bahnsteig ist nicht vom Schnee freigeräumt worden. Und der Schnee liegt hoch, fast dreißig Zentimeter, an einigen Verwehungen sogar über hundertfünfzig Zentimeter. Es schneit weiter … dicke Flocken sinken langsam zu Boden. Der Wind hat nachgelassen; übrig bleibt ein eiskalter Lufthauch. Das Thermometer am Bahnhof verkündet minus sechsundzwanzig Grad Celsius. Die Gebäude in Lom sind eingekleidet in Weiß und erinnern unwillkürlich an ein winterliches Postkartenidyll. Dick und schwer lastet der Schnee auf den Dächern.

Schnee … frostig … glitzernd … magisch.

Erst gegen halb zehn wird die Morgendämmerung einsetzen.

Schnee … eisig … schimmernd … wunderschön.

Ich muss unwillkürlich an Lillehammer denken, wo wir bei ähnlichem Wetter zu Beginn unserer unseligen Reise Kohle und Wasser aufgenommen haben. Das war, bevor es über Otta nach Lom gehen sollte. Wir … das heißt: mein arabischer Freund Hasan bin Al-Saud und ich. Mir kommt in den Sinn, wie ich in Lillehammer verschlafen aus dem Fenster unseres Abteils das Treiben draußen beobachtete. Koffer und Pakete, Karren und Kisten, die in eifrigem Tempo an Bord geschafft wurden; Passagiere, die einstiegen; mit einer galanten Hand halfen Gentlemen den Damen in den Zug. Lichter tanzten zu den raunenden Stimmen, Händler mit Bauchladen patrouillierten auf den Bahnsteigen: „Brauchen Sie Tabak? Eine Zeitung? Erdnüsse? Bonbons? Lakritze? Nervennahrung!“

Hasan …

Der Mond verbirgt sein bleiches Antlitz hinter den Wolken, wie eine Frau ihr Gesicht hinter einem Schleier verbirgt. Den Schleier, den ich mir auch vor Matildes Gesicht vorstelle, wenn ich mir ihre Situation vor Augen führe. Zart verhüllte Gleichgültigkeit, gespielte und echte Betroffenheit in ihrer Stimme. Die Mörderin windet sich am Haken und zerreißt dabei das fadenscheinige Kleid von Moralempfinden.

Wenn sie es klug anstellt, werden die Polizisten sie laufen lassen, diese Schafe. Wenn nicht, habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Bedauern schleicht sich in meine Gedanken, bis ich wieder an jenes weiße Stück Papier denke, das mein Schicksal besiegeln könnte. Mich vergessen die Polizisten im Chaos zu befragen. Für sie existiere ich nicht.

Neben mir fährt eine Kutsche mit den Toten wie ein apokalyptisches Zeichen. In Leinen gewickelt … die stummen Zeugen des Unglücks. Von allen Schmerzen irdischen Seins befreit, treten sie ihre letzte Reise an – mit demselben Ziel, das auch ich verfolge. Und unter ihnen ist Hans Schmidt, dieser Bastard! Die feuchte Kälte erstickt meine Wut. Ich sehne mir einen Whiskey herbei, verwerfe den Gedanken aber augenblicklich. Ich mache keine Fehler mehr in meinem Leben. Der eine hat gereicht.

Ich erreiche das Krankenhaus. Endlich Wärme, die mich umarmt. Umherirrende Patienten in den Fluren, Hasans Zimmer trägt die Nummer 019. Ich öffne die Tür, trete ein, beuge mich über meinen schwer verwundeten Freund, ergreife seine Hand. Ein Flüstern: „Paul.“ Habe ich das wirklich gehört? Jedoch verrät nichts außer einem Zucken seiner Lider, dass er noch am Leben ist. Er träumt.

„Sag nichts, Hasan. Ich bin es. Rick. Paul ist nicht hier, alter Junge. Du musst stark sein. Das Schlimmste hast du bereits hinter dir. Lass mich auf der Zielgeraden nicht im Stich.“ Ich spüre, wie meine Augen feucht werden, da ich sehe, dass mein einst so stolzer Kamerad wie ein Gelähmter in das Weiß der Bettlaken gehüllt ist. Er wollte echten Schnee sehen. Er sollte jetzt draußen sein und sich darüber freuen. Stattdessen verwandelt sich alles in einen Alptraum. Ich schlucke. Als ich seine Hand etwas fester drücke, blinzelt er.

„…“ Seine Augenlider flattern; er hustet.

„Ja? – Sprich, Hasan, bitte!“

„…“, beginnt er von neuem. Bevor sich unsere Blicke treffen können, fallen die Lider wie Jalousien herunter. Mein Freund ist wieder in das Land der Träume eingetaucht, wo zumindest sein Körper frei von Schmerz ist. Mich ängstigt der Gedanke, dass Hasan durch den Einschuss tatsächlich querschnittsgelähmt sein könnte. Könnte ihm dann überhaupt noch jemand helfen?

„Ich wünsche dir viel Glück, alter Junge!“ Ich drücke seine Hand ein letztes Mal. Nie gab es einen endgültigeren Beweis, dass Hasan real ist, und dafür bin ich dankbar. Ich wende mich um und gehe. Werde ich wahnsinnig? Vielleicht. Aber welches Genie trug nicht den Schatten einer gesunden Portion Wahnsinn? Friedrich Nietzsche, Edgar Allan Poe, Howard Wilde … Genie und Wahnsinn. Ist das eine ohne das andere überhaupt vorstellbar? Und wo verläuft die Grenze?

„Ich wandle auf ihren Spuren“, stelle ich fest und verlasse das Zimmer. Ich muss laut gesprochen haben, denn ein Arzt schaut mich verblüfft an, sagt jedoch kein Wort.

Nachdem ich mir einen Schlitten organisiert habe, denke ich erneut über mein altes Laster nach: das Trinken. Es kostete Hasan und mich viel Kraft, damit aufzuhören. Aber wenn die Zeit gekommen war, erneut schwach zu werden, dann jetzt. „Ich brauche den Alkohol!“ Aber die Polizei …, fiepst die Stimme namens Feigheit in meinem Kopf. „Scheiß drauf“, murmle ich, während ich in das Gefährt einsteige. Auf der Fahrt inmitten der unbarmherzigen Kälte verfalle ich in Starre. Unser Weg führt durch eine tief verschneite Landschaft. Weiß und blauschimmernd. Weiß und nochmal weiß. Mit Schnee bedeckte Tannen, Kiefern und Fichten. Rentiere kreuzen den Weg. Auch ein Elch zeigt sich, das stolze Geweih in die Luft gereckt, horchend, die Nüstern geweitet. Einige Kolkraben jagen einander und begleiten uns mit anklagendem Krächzen. Der Elch wendet das Haupt, danach verschwindet er in der Ferne.

Die Lodge selbst liegt in einem Kiefernwald, und man hat von dort angeblich „den Ausblick des Winters“. Vermutlich hat hier einst Frau Holle persönlich gelebt und mit dem Ausschütteln ihrer Kissen die Welt gezuckert.