Zarathustra’s Vorrede.
1.
Als Zarathustra dreissig Jahr alt
war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in
das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit
und wurde dessen zehn Jahr nicht müde. Endlich aber verwandelte
sich sein Herz,—und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf,
trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also:
„Du grosses Gestirn! Was wäre
dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!
Zehn Jahre kamst du hier herauf
zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt
geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange.
Aber wir warteten deiner an jedem
Morgen, nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich
dafür.
Siehe! Ich bin meiner Weisheit
überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat,
ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken.
Ich möchte verschenken und
austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer
Thorheit und die Armen einmal ihres Reichthums froh geworden
sind.
Dazu muss ich in die Tiefe
steigen: wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer gehst und
noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn!
Ich muss, gleich dir, untergehen,
wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will.
So segne mich denn, du ruhiges
Auge, das ohne Neid auch ein allzugrosses Glück sehen kann!
Segne den Becher, welcher
überfliessen will, dass das Wasser golden aus ihm fliesse und
überallhin den Abglanz deiner Wonne trage!
Siehe! Dieser Becher will wieder
leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.“
—Also begann Zarathustra’s
Untergang.
2.
Zarathustra stieg allein das
Gebirge abwärts und Niemand begegnete ihm. Als er aber in die
Wälder kam, stand auf einmal ein Greis vor ihm, der seine heilige
Hütte verlassen hatte, um Wurzeln im Walde zu suchen. Und also
sprach der Greis zu Zarathustra:
Nicht fremd ist mir dieser
Wanderer: vor manchem Jahre gieng er hier vorbei. Zarathustra hiess
er; aber er hat sich verwandelt. Damals trugst du deine Asche zu
Berge: willst du heute dein Feuer in die Thäler tragen? Fürchtest
du nicht des Brandstifters Strafen?
Ja, ich erkenne Zarathustra. Rein
ist sein Auge, und an seinem Munde birgt sich kein Ekel. Geht er
nicht daher wie ein Tänzer?
Verwandelt ist Zarathustra, zum
Kind ward Zarathustra, ein Erwachter ist Zarathustra: was willst du
nun bei den Schlafenden?
Wie im Meere lebtest du in der
Einsamkeit, und das Meer trug dich. Wehe, du willst an’s Land
steigen? Wehe, du willst deinen Leib wieder selber schleppen?
Zarathustra antwortete: „Ich
liebe die Menschen.“
Warum, sagte der Heilige, gieng
ich doch in den Wald und die Einöde? War es nicht, weil ich die
Menschen allzu sehr liebte?
Jetzt liebe ich Gott: die
Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene
Sache. Liebe zum Menschen würde mich umbringen.
Zarathustra antwortete: „Was
sprach ich von Liebe! Ich bringe den Menschen ein Geschenk.“
Gieb ihnen Nichts, sagte der
Heilige. Nimm ihnen lieber Etwas ab und trage es mit ihnen—das wird
ihnen am wohlsten thun: wenn er dir nur wohlthut!
Und willst du ihnen geben, so
gieb nicht mehr, als ein Almosen, und lass sie noch darum
betteln!
„Nein, antwortete Zarathustra,
ich gebe kein Almosen. Dazu bin ich nicht arm genug.“
Der Heilige lachte über
Zarathustra und sprach also: So sieh zu, dass sie deine Schätze
annehmen! Sie sind misstrauisch gegen die Einsiedler und glauben
nicht, dass wir kommen, um zu schenken.
Unse Schritte klingen ihnen zu
einsam durch die Gassen. Und wie wenn sie Nachts in ihren Betten
einen Mann gehen hören, lange bevor die Sonne aufsteht, so fragen
sie sich wohl: wohin will der Dieb?
Gehe nicht zu den Menschen und
bleibe im Walde! Gehe lieber noch zu den Thieren! Warum willst du
nicht sein, wie ich,—ein Bär unter Bären, ein Vogel unter
Vögeln?
„Und was macht der Heilige im
Walde?“ fragte Zarathustra.
Der Heilige antwortete: Ich mache
Lieder und singe sie, und wenn ich Lieder mache, lache, weine und
brumme ich: also lobe ich Gott.
Mit Singen, Weinen, Lachen und
Brummen lobe ich den Gott, der mein Gott ist. Doch was bringst du
uns zum Geschenke?
Als Zarathustra diese Worte
gehört hatte, grüsste er den Heiligen und sprach: „Was hätte ich
euch zu geben! Aber lasst mich schnell davon, dass ich euch Nichts
nehme!“—Und so trennten sie sich von einander, der Greis und der
Mann, lachend, gleichwie zwei Knaben lachen.
Als Zarathustra aber allein war,
sprach er also zu seinem Herzen: „Sollte es denn möglich sein!
Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört,
dass Gott todt ist!“—
3.
Als Zarathustra in die Nächste
Stadt kam, die an den Wäldern liegt, fand er daselbst viel Volk
versammelt auf dem Markte: denn es war verheissen worden, das man
einen Seiltänzer sehen solle. Und Zarathustra sprach also zum
Volke:
Ich lehre euch den Übermenschen.
Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr
gethan, ihn zu überwinden?
„Alle Wesen bisher schufen etwas
über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein
und lieber noch zum Tiere zurückgehen, als den Menschen zu
überwinden?“
Was ist der Affe für den
Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas
soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine
schmerzliche Scham.
Ihr habt den Weg vom Wurme zum
Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr
Affen, und auch jetzt ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein
Affe.
Wer aber der Weiseste von euch
ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von
Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen
werden?
Seht, ich lehre euch den
Übermenschen!
Der Übermensch ist der Sinn der
Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!
Ich beschwöre euch, meine Brüder,
bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von
überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es
wissen oder nicht.
Verächter des Lebens sind es,
Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: so
mögen sie dahinfahren!
Einst war der Frevel an Gott der
grösste Frevel, aber Gott starb, und damit auch diese Frevelhaften.
An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die
Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten, als der Sinn der
Erde!
Einst blickte die Seele
verächtlich auf den Leib: und damals war diese Verachtung das
Höchste:—sie wollte ihn mager, grässlich, verhungert. So dachte sie
ihm und der Erde zu entschlüpfen.
Oh diese Seele war selbst noch
mager, grässlich und verhungert: und Grausamkeit war die Wollust
dieser Seele!
Aber auch ihr noch, meine Brüder,
sprecht mir: was kündet euer Leib von eurer Seele? Ist eure Seele
nicht Armuth und Schmutz und ein erbärmliches Behagen?
Wahrlich, ein schmutziger Strom
ist der Mensch. Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen
Strom aufnehmen zu können, ohne unrein zu werden.
Seht, ich lehre euch den
Übermenschen: der ist diess Meer, in ihm kann eure grosse
Verachtung untergehn.
Was ist das Grösste, das ihr
erleben könnt? Das ist die Stunde der grossen Verachtung. Die
Stunde, in der euch auch euer Glück zum Ekel wird und ebenso eure
Vernunft und eure Tugend.
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was
liegt an meinem Glücke! Es ist Armuth und Schmutz, und ein
erbärmliches Behagen. Aber mein Glück sollte das Dasein selber
rechtfertigen!“
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was
liegt an meiner Vernunft! Begehrt sie nach Wissen wie der Löwe nach
seiner Nahrung? Sie ist Armuth und Schmutz und ein erbärmliches
Behagen!“
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was
liegt an meiner Tugend! Noch hat sie mich nicht rasen gemacht. Wie
müde bin ich meines Guten und meines Bösen! Alles das ist Armuth
und Schmutz und ein erbärmliches Behagen!“
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was
liegt an meiner Gerechtigkeit! Ich sehe nicht, dass ich Gluth und
Kohle wäre. Aber der Gerechte ist Gluth und Kohle!“
Die Stunde, wo ihr sagt: „Was
liegt an meinem Mitleiden! Ist nicht Mitleid das Kreuz, an das Der
genagelt wird, der die Menschen liebt? Aber mein Mitleiden ist
keine Kreuzigung.“
Spracht ihr schon so? Schriet ihr
schon so? Ach, dass ich euch schon so schreien gehört hatte!
Nicht eure Sünde—eure
Genügsamkeit schreit gen Himmel, euer Geiz selbst in eurer Sünde
schreit gen Himmel!
Wo ist doch der Blitz, der euch
mit seiner Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft
werden müsstet?
Seht, ich lehre euch den
Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!—
Als Zarathustra so gesprochen
hatte, schrie Einer aus dem Volke: „Wir hörten nun genug von dem
Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!“ Und alles Volk lachte
über Zarathustra. Der Seiltänzer aber, welcher glaubte, dass das
Wort ihm gälte, machte sich an sein Werk.
4.
Zarathustra aber sahe das Volk an
und wunderte sich. Dann sprach er also:
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft
zwischen Thier und Übermensch,—ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein
gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein
gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.
Was gross ist am Menschen, das
ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden
kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang
ist.
Ich liebe Die, welche nicht zu
leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die
Hinübergehenden.
Ich liebe die grossen
Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der
Sehnsucht nach dem andern Ufer.
Ich liebe Die, welche nicht erst
hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu
sein: sondern die sich der Erde opfern, dass die Erde einst der
Übermenschen werde.
Ich liebe Den, welcher lebt,
damit er erkenne, und welcher erkennen will, damit einst der
Übermensch lebe. Und so will er seinen Untergang.
Ich liebe Den, welcher arbeitet
und erfindet, dass er dem Übermenschen das Haus baue und zu ihm
Erde, Thier und Pflanze vorbereite: denn so will er seinen
Untergang.
Ich liebe Den, welcher seine
Tugend liebt: denn Tugend ist Wille zum Untergang und ein Pfeil der
Sehnsucht.
Ich liebe Den, welcher nicht
einen Tropfen Geist für sich zurückbehält, sondern ganz der Geist
seiner Tugend sein will: so schreitet er als Geist über die
Brücke.
Ich liebe Den, welcher aus seiner
Tugend seinen Hang und sein Verhängniss macht: so will er um seiner
Tugend willen noch leben und nicht mehr leben.
Ich liebe Den, welcher nicht zu
viele Tugenden haben will. Eine Tugend ist mehr Tugend, als zwei,
weil sie mehr Knoten ist, an den sich das Verhängniss hängt.
Ich liebe Den, dessen Seele sich
verschwendet, der nicht Dank haben will und nicht zurückgiebt: denn
er schenkt immer und will sich nicht bewahren.
Ich liebe Den, welcher sich
schämt, wenn der Würfel zu seinem Glücke fällt und der dann fragt:
bin ich denn ein falscher Spieler?—denn er will zu Grunde
gehen.
Ich liebe Den, welcher goldne
Worte seinen Thaten voraus wirft und immer noch mehr hält, als er
verspricht: denn er will seinen Untergang.
Ich liebe Den, welcher die
Zukünftigen rechtfertigt und die Vergangenen erlöst: denn er will
an den Gegenwärtigen zu Grunde gehen.
Ich liebe Den, welcher seinen
Gott züchtigt, weil er seinen Gott liebt: denn er muss am Zorne
seines Gottes zu Grunde gehen.
Ich liebe Den, dessen Seele tief
ist auch in der Verwundung, und der an einem kleinen Erlebnisse zu
Grunde gehen kann: so geht er gerne über die Brücke.
Ich liebe Den, dessen Seele
übervoll ist, so dass er sich selber vergisst, und alle Dinge in
ihm sind: so werden alle Dinge sein Untergang.
Ich liebe Den, der freien Geistes
und freien Herzes ist: so ist sein Kopf nur das Eingeweide seines
Herzens, sein Herz aber treibt ihn zum Untergang.
Ich liebe alle Die, welche
schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die
über den Menschen hängt: sie verkündigen, dass der Blitz kommt, und
gehn als Verkündiger zu Grunde.
Seht, ich bin ein Verkündiger des
Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber
heisst Übermensch.—
5.
Als Zarathustra diese Worte
gesprochen hatte, sahe er wieder das Volk an und schwieg. „Da
stehen sie“, sprach er zu seinem Herzen, „da lachen sie: sie
verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren.
Muss man ihnen erst die Ohren
zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen hören. Muss man rasseln
gleich Pauken und Busspredigern? Oder glauben sie nur dem
Stammelnden?
Sie haben etwas, worauf sie stolz
sind. Wie nennen sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen
sie’s, es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten.
Drum hören sie ungern von sich
das Wort „Verachtung“. So will ich denn zu ihrem Stolze
reden.
So will ich ihnen vom
Verächtlichsten sprechen: das aber ist der letzte Mensch.“
Und also sprach Zarathustra zum
Volke:
Es ist an der Zeit, dass der
Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch
den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.
Noch ist sein Boden dazu reich
genug. Aber dieser Boden wird einst arm und zahm sein, und kein
hoher Baum wird mehr aus ihm wachsen können.
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der
Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen
hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu
schwirren!
Ich sage euch: man muss noch
Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.
Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der
Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Weit des
verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten
kann.
Seht! Ich zeige euch den letzten
Menschen.
„Was ist Liebe? Was ist
Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern“—so fragt der letzte
Mensch und blinzelt.
Die Erde ist dann klein geworden,
und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein
Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch
lebt am längsten.
„Wir haben das Glück
erfunden“—sagen die letzten Menschen und blinzeln.
Sie haben den Gegenden verlassen,
wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den
Nachbar und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.
Krankwerden und Misstrauen-haben
gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch
über Steine oder Menschen stolpert!
Ein wenig Gift ab und zu: das
macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen
Sterben.
Man arbeitet noch, denn Arbeit
ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt dass die Unterhaltung nicht
angreife.
Man wird nicht mehr arm und
reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch
gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.
Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder
will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht
freiwillig in’s Irrenhaus.
„Ehemals war alle Welt
irre“—sagen die Feinsten und blinzeln.
Man ist klug und weiss Alles, was
geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch,
aber man versöhnt sich bald—sonst verdirbt es den Magen.
Man hat sein Lüstchen für den Tag
und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die
Gesundheit.
„Wir haben das Glück
erfunden“—sagen die letzten Menschen und blinzeln—
Und hier endete die erste Rede
Zarathustra’s, welche man auch „die Vorrede“ heisst: denn an dieser
Stelle unterbrach ihn das Geschrei und die Lust der Menge. „Gieb
uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra,—so riefen sie—mache
uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den
Übermenschen!“ Und alles Volk jubelte und schnalzte mit der Zunge.
Zarathustra aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen:
Sie verstehen mich nicht: ich bin
nicht den Mund für diese Ohren.
Zu lange wohl lebte ich im
Gebirge, zu viel horchte ich auf Bäche und Bäume: nun rede ich
ihnen gleich den Ziegenhirten.
Unbewegt ist meine Seele und hell
wie das Gebirge am Vormittag. Aber sie meinen, ich sei kalt und ein
Spötter in furchtbaren Spässen.
Und nun blicken sie mich an und
lachen: und indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in
ihrem Lachen.
6.
Da aber geschah Etwas, das jeden
Mund stumm und jedes Auge starr machte. Inzwischen nämlich hatte
der Seiltänzer sein Werk begonnen: er war aus einer kleiner Thür
hinausgetreten und gieng über das Seil, welches zwischen zwei
Thürmen gespannt war, also, dass es über dem Markte und dem Volke
hieng. Als er eben in der Mitte seines Weges war, öffnete sich die
kleine Thür noch einmal, und ein bunter Gesell, einem Possenreisser
gleich, sprang heraus und gieng mit schnellen Schritten dem Ersten
nach. „Vorwärts, Lahmfuss, rief seine fürchterliche Stimme,
vorwärts Faulthier, Schleichhändler, Bleichgesicht! Dass ich dich
nicht mit meiner Ferse kitzle! Was treibst du hier zwischen
Thürmen? In den Thurm gehörst du, einsperren sollte man dich, einem
Bessern, als du bist, sperrst du die freie Bahn!“—Und mit jedem
Worte kam er ihm näher und näher: als er aber nur noch einen
Schritt hinter ihm war, da geschah das Erschreckliche, das jeden
Mund stumm und jedes Auge starr machte:—er stiess ein Geschrei aus
wie ein Teufel und sprang über Den hinweg, der ihm im Wege war.
Dieser aber, als er so seinen Nebenbuhler siegen sah, verlor dabei
den Kopf und das Seil; er warf seine Stange weg und schoss
schneller als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in die
Tiefe. Der Markt und das Volk glich dem Meere, wenn der Sturm
hineinfährt: Alles floh aus einander und übereinander, und am
meisten dort, wo der Körper niederschlagen musste.
Zarathustra aber blieb stehen,
und gerade neben ihn fiel der Körper hin, übel zugerichtet und
zerbrochen, aber noch nicht todt. Nach einer Weile kam dem
Zerschmetterten das Bewusstsein zurück, und er sah Zarathustra
neben sich knieen. „Was machst du da? sagte er endlich, ich wusste
es lange, dass mir der Teufel ein Bein stellen werde. Nun schleppt
er mich zur Hölle: willst du’s ihm wehren?“
„Bei meiner Ehre, Freund,
antwortete Zarathustra, das giebt es Alles nicht, wovon du
sprichst: es giebt keinen Teufel und keine Hölle. Deine Seele wird
noch schneller todt sein als dein Leib: fürchte nun Nichts
mehr!“
Der Mann blickte misstrauisch
auf. „Wenn du die Wahrheit sprichst, sagte er dann, so verliere ich
Nichts, wenn ich das Leben verliere. Ich bin nicht viel mehr als
ein Thier, das man tanzen gelehrt hat, durch Schläge und schmale
Bissen.“
„Nicht doch, sprach Zarathustra;
du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist Nichts zu
verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu Grunde: dafür will ich
dich mit meinen Händen begraben.“
Als Zarathustra diess gesagt
hatte, antwortete der Sterbende nicht mehr; aber er bewegte die
Hand, wie als ob er die Hand Zarathustra’s zum Danke suche.—
7.
Inzwischen kam der Abend, und der
Markt barg sich in Dunkelheit: da verlief sich das Volk, denn
selbst Neugierde und Schrecken werden müde. Zarathustra aber sass
neben dem Todten auf der Erde und war in Gedanken versunken: so
vergass er die Zeit. Endlich aber wurde es Nacht, und ein kalter
Wind blies über den Einsamen. Da erhob sich Zarathustra und sagte
zu seinem Herzen:
Wahrlich, einen schönen Fischfang
that heute Zarathustra! Keinen Menschen fieng er, wohl aber einen
Leichnam.
Unheimlich ist das menschliche
Dasein und immer noch ohne Sinn: ein Possenreisser kann ihm zum
Verhängniss werden.
Ich will die Menschen den Sinn
ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der
dunklen Wolke Mensch.
Aber noch bin ich ihnen ferne,
und mein Sinn redet nicht zu ihren Sinnen. Eine Mitte bin ich noch
den Menschen zwischen einem Narren und einem Leichnam.
Dunkel ist die Nacht, dunkel sind
die Wege Zarathustra’s. Komm, du kalter und steifer Gefährte! Ich
trage dich dorthin, wo ich dich mit meinen Händen begrabe.
8.
Als Zarathustra diess zu seinem
Herzen gesagt hatte, lud er den Leichnam auf seinem Rücken und
machte sich auf den Weg. Und noch nicht war er hundert Schritte
gegangen, da schlich ein Mensch an ihn heran und flüsterte ihm in’s
Ohr—und siehe! Der, welcher redete, war der Possenreisser vom
Thurme. „Geh weg von dieser Stadt, oh Zarathustra, sprach er; es
hassen dich hier zu Viele. Es hassen dich die Guten und Gerechten
und sie nennen dich ihren Feind und Verächter; es hassen dich die
Gläubigen des rechten Glaubens, und sie nennen dich die Gefahr der
Menge. Dein Glück war es, dass man über dich lachte: und wahrlich,
du redetest gleich einem Possenreisser. Dein Glück war es, dass du
dich dem todten Hunde geselltest; als du dich so erniedrigtest,
hast du dich selber für heute errettet. Geh aber fort aus dieser
Stadt—oder morgen springe ich über dich hinweg, ein Lebendiger über
einen Todten.“ Und als er diess gesagt hatte, verschwand der
Mensch; Zarathustra aber gieng weiter durch die dunklen
Gassen.
Am Thore der Stadt begegneten ihm
die Todtengräber: sie leuchteten ihm mit der Fackel in’s Gesicht,
erkannten Zarathustra und spotteten sehr über ihn. „Zarathustra
trägt den todten Hund davon: brav, dass Zarathustra zum
Todtengräber wurde! Denn unsere Hände sind zu reinlich für diesen
Braten. Will Zarathustra wohl dem Teufel seinen Bissen stehlen? Nun
wohlan! Und gut Glück zur Mahlzeit! Wenn nur nicht der Teufel ein
besserer Dieb ist, als Zarathustra! —er stiehlt die Beide, er
frisst sie Beide!“ Und sie lachten mit einander und steckten die
Köpfe zusammen.
Zarathustra sagte dazu kein Wort
und gieng seines Weges. Als er zwei Stunden gegangen war, an
Wäldern und Sümpfen vorbei, da hatte er zu viel das hungrige Geheul
der Wölfe gehört, und ihm selber kam der Hunger. So blieb er an
einem einsamen Hause stehn, in dem ein Licht brannte.
Der Hunger überfällt mich, sagte
Zarathustra, wie ein Räuber. In Wäldern und Sümpfen überfällt mich
mein Hunger und in tiefer Nacht.
Wunderliche Launen hat mein
Hunger. Oft kommt er mir erst nach der Mahlzeit, und heute kam er
den ganzen Tag nicht: wo weilte er doch?
Und damit schlug Zarathustra an
das Thor des Hauses. Ein alter Mann erschien; er trug das Licht und
fragte: „Wer kommt zu mir und zu meinem schlimmen Schlafe?“
„Ein Lebendiger und ein Todter,
sagte Zarathustra. Gebt mir zu essen und zu trinken, ich vergass es
am Tage. Der, welcher den Hungrigen speiset, erquickt seine eigene
Seele: so spricht die Weisheit.“
Der Alte gieng fort, kam aber
gleich zurück und bot Zarathustra Brod und Wein. „Eine böse Gegend
ist’s für Hungernde, sagte er; darum wohne ich hier. Thier und
Mensch kommen zu mir, dem Einsiedler. Aber heisse auch deinen
Gefährten essen und trinken, er ist müder als du.“ Zarathustra
antwortete: „Todt ist mein Gefährte, ich werde ihn schwerlich dazu
überreden.“ „Das geht mich Nichts an, sagte der Alte mürrisch; wer
an meinem Hause anklopft, muss auch nehmen, was ich ihm biete. Esst
und gehabt euch wohl!“—
Darauf gieng Zarathustra wieder
zwei Stunden und vertraute dem Wege und dem Lichte der Sterne: denn
er war ein gewohnter Nachtgänger und liebte es, allem Schlafenden
in’s Gesicht zu sehn. Als aber der Morgen graute, fand sich
Zarathustra in einem tiefen Walde, und kein Weg zeigte sich ihm
mehr. Da legte er den Todten in einen hohlen Baum sich zu
Häupten—denn er wollte ihn vor den Wölfen schützen—und sich selber
auf den Boden und das Moos. Und alsbald schlief er ein, müden
Leibes, aber mit einer unbewegten Seele.
8.
Lange schlief Zarathustra, und
nicht nur die Morgenröthe gieng über sein Antlitz, sondern auch der
Vormittag. Endlich aber that sein Auge sich auf: verwundert sah
Zarathustra in den Wald und die Stille, verwundert sah er in sich
hinein. Dann erhob er sich schnell, wie ein Seefahrer, der mit
Einem Male Land sieht, und jauchzte: denn er sah eine neue
Wahrheit. Und also redete er dann zu seinem Herzen:
Ein Licht gieng mir auf:
Gefährten brauche ich und lebendige,—nicht todte Gefährten und
Leichname, die ich mit mir trage, wohin ich will.
Sondern lebendige Gefährten
brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen—und
dorthin, wo ich will.
Ein Licht gieng mir auf: nicht
zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten! Nicht soll
Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden!
Viele wegzulocken von der
Heerde—dazu kam ich. Zürnen soll mir Volk und Heerde: Räuber will
Zarathustra den Hirten heissen.
Hirten sage ich, aber sie nennen
sich die Guten und Gerechten. Hirten sage ich: aber sie nennen sich
die Gläubigen des rechten Glaubens.
Siehe die Guten und Gerechten!
Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der
Werthe, den Brecher, den Verbrecher:—das aber ist der
Schaffende.
Siehe die Gläubigen aller
Glauben! Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln
der Werthe, den Brecher, den Verbrecher:—das aber ist der
Schaffende.
Gefährten sucht der Schaffende
und nicht Leichname, und auch nicht Heerden und Gläubige. Die
Mitschaffenden sucht der Schaffende, Die, welche neue Werthe auf
neue Tafeln schreiben.
Gefährten sucht der Schaffende,
und Miterntende: denn Alles steht bei ihm reif zur Ernte. Aber ihm
fehlen die hundert Sicheln: so rauft er Ähren aus und ist
ärgerlich.
Gefährten sucht der Schaffende,
und solche, die ihre Sicheln zu wetzen wissen. Vernichter wird man
sie heissen und Verächter des Guten und Bösen. Aber die Erntenden
sind es und die Feiernden.
Mitschaffende sucht Zarathustra,
Miterntende und Mitfeiernde sucht Zarathustra: was hat er mit
Heerden und Hirten und Leichnamen zu schaffen!
Und du, mein erster Gefährte,
gehab dich wohl! Gut begrub ich dich in deinem hohlen Baume, gut
barg ich dich vor den Wölfen.
Aber ich scheide von dir, die
Zeit ist um. Zwischen Morgenröthe und Morgenröthe kam mir eine neue
Wahrheit.
Nicht Hirt soll ich sein, nicht
Todtengräber. Nicht reden einmal will ich wieder mit dem Volke; zum
letzten Male sprach ich zu einem Todten.
Den Schaffenden, den Erntenden,
den Feiernden will ich mich zugesellen: den Regenbogen will ich
ihnen zeigen und alle die Treppen des Übermenschen.
Den Einsiedlern werde ich mein
Lied singen und den Zweisiedlern; und wer noch Ohren hat für
Unerhörtes, dem will ich sein Herz schwer machen mit meinem
Glücke.
Zu meinem Ziele will ich, ich
gehe meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen werde ich
hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang!
10.
Diess hatte Zarathustra zu seinem
Herzen gesprochen, als die Sonne im Mittag stand: da blickte er
fragend in die Höhe—denn er hörte über sich den scharfen Ruf eines
Vogels. Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft,
und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern
einer Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt.
„Es sind meine Thiere!“ sagte
Zarathustra und freute sich von Herzen.
„Das stolzeste Thier unter der
Sonne und das klügste Thier unter der Sonne—sie sind ausgezogen auf
Kundschaft.
Erkunden wollen sie, ob
Zarathustra noch lebe. Wahrlich, lebe ich noch?
Gefährlicher fand ich’s unter
Menschen als unter Thieren, gefährlicher Wege geht Zarathustra.
Mögen mich meine Thiere führen!“
Als Zarathustra diess gesagt
hatte, gedachte er der Worte des Heiligen im Walde, seufzte und
sprach also zu seinem Herzen:
Möchte ich klüger sein! Möchte
ich klug von Grund aus sein, gleich meiner Schlange!
Aber Unmögliches bitte ich da: so
bitte ich denn meinen Stolz, dass er immer mit meiner Klugheit
gehe!
Und wenn mich einst meine
Klugheit verlässt:—ach, sie liebt es, davonzufliegen!—möge mein
Stolz dann noch mit meiner Thorheit fliegen!
—Also begann Zarathustra’s
Untergang.
Die Reden Zarathustra’s
Von den drei Verwandlungen
Drei Verwandlungen nenne ich euch
des Geistes: wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das
Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.
Vieles Schwere giebt es dem
Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt:
nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.
Was ist schwer? so fragt der
tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will
gut beladen sein.
Was ist das Schwerste, ihr
Helden? so fragt der tragsame Geist, dass ich es auf mich nehme und
meiner Stärke froh werde.
Ist es nicht das: sich
erniedrigen, um seinem Hochmuth wehe zu thun? Seine Thorheit
leuchten lassen, um seiner Weisheit zu spotten?
Oder ist es das: von unserer
Sache scheiden, wenn sie ihren Sieg feiert? Auf hohe Berge steigen,
um den Versucher zu versuchen?
Oder ist es das: sich von Eicheln
und Gras der Erkenntniss nähren und um der Wahrheit willen an der
Seele Hunger leiden?
Oder ist es das: krank sein und
die Tröster heimschicken und mit Tauben Freundschaft schliessen,
die niemals hören, was du willst?
Oder ist es das: in schmutziges
Wasser steigen, wenn es das Wasser der Wahrheit ist, und kalte
Frösche und heisse Kröten nicht von sich weisen?
Oder ist es das: Die lieben, die
uns verachten, und dem Gespenste die Hand reichen, wenn es uns
fürchten machen will?
Alles diess Schwerste nimmt der
tragsame Geist auf sich: dem Kameele gleich, das beladen in die
Wüste eilt, also eilt er in seine Wüste.
Aber in der einsamsten Wüste
geschieht die zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist,
Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen
Wüste.
Seinen letzten Herrn sucht er
sich hier: feind will er ihm werden und seinem letzten Gotte, um
Sieg will er mit dem grossen Drachen ringen.
Welches ist der grosse Drache,
den der Geist nicht mehr Herr und Gott heissen mag? „Du-sollst“
heisst der grosse Drache. Aber der Geist des Löwen sagt „Ich
will“.
„Du-sollst“ liegt ihm am Wege,
goldfunkelnd, ein Schuppenthier, und auf jeder Schuppe glänzt
golden „Du-sollst!“
Tausendjährige Werthe glänzen an
diesen Schuppen, und also spricht der mächtigste aller Drachen
„aller Werth der Dinge—der glänzt an mir.“
„Aller Werth ward schon
geschaffen, und aller geschaffene Werth—das bin ich. Wahrlich, es
soll kein „Ich will“ mehr geben!“ Also spricht der Drache.
Meine Brüder, wozu bedarf es des
Löwen im Geiste? Was genügt nicht das lastbare Thier, das entsagt
und ehrfürchtig ist?
Neue Werthe schaffen—das vermag
auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem
Schaffen—das vermag die Macht des Löwen.
Freiheit sich schaffen und ein
heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder bedarf es
des Löwen.
Recht sich nehmen zu neuen
Werthen—das ist das furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und
ehrfürchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm und eines
raubenden Thieres Sache.
Als sein Heiligstes liebte er
einst das „Du-sollst“: nun muss er Wahn und Willkür auch noch im
Heiligsten finden, dass er sich Freiheit raube von seiner Liebe:
des Löwen bedarf es zu diesem Raube.
Aber sagt, meine Brüder, was
vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss
der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?
Unschuld ist das Kind und
Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad,
eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
Ja, zum Spiele des Schaffens,
meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen
will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der
Weltverlorene.
Drei Verwandlungen nannte ich
euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele ward, und zum Löwen das
Kameel, und der Löwe zuletzt zum Kinde. —
Also sprach Zarathustra. Und
damals weilte er in der Stadt, welche genannt wird: die bunte
Kuh.
Von den Lehrstühlen der
Tugend
Man rühmte Zarathustra einen
Weisen, der gut vom Schlafe und von der Tugend zu reden wisse: sehr
werde er geehrt und gelohnt dafür, und alle Jünglinge sässen vor
seinem Lehrstuhle. Zu ihm gieng Zarathustra, und mit allen
Jünglingen sass er vor seinem Lehrstuhle. Und also sprach der
Weise:
Ehre und Scham vor dem Schlafe!
Das ist das Erste! Und Allen aus dem Wege gehn, die schlecht
schlafen und Nachts wachen!
Schamhaft ist noch der Dieb vor
dem Schlafe: stets stiehlt er sich leise durch die Nacht. Schamlos
aber ist der Wächter der Nacht, schamlos trägt er sein Horn.
Keine geringe Kunst ist schlafen:
es thut schon Noth, den ganzen Tag darauf hin zu wachen.
Zehn Mal musst du des Tages dich
selber überwinden: das macht eine gute Müdigkeit und ist Mohn der
Seele.
Zehn Mal musst du dich wieder dir
selber versöhnen; denn Überwindung ist Bitterniss, und schlecht
schläft der Unversöhnte.
Zehn Wahrheiten musst du des
Tages finden: sonst suchst du noch des Nachts nach Wahrheit, und
deine Seele blieb hungrig.
Zehn Mal musst du lachen am Tage
und heiter sein: sonst stört dich der Magen in der Nacht, dieser
Vater der Trübsal.
Wenige wissen das: aber man muss
alle Tugenden haben, um gut zu schlafen. Werde ich falsch Zeugniss
reden? Werde ich ehebrechen?
Werde ich mich gelüsten lassen
meines Nächsten Magd? Das Alles vertrüge sich schlecht mit gutem
Schlafe.
Und selbst wenn man alle Tugenden
hat, muss man sich noch auf Eins verstehn: selber die Tugenden zur
rechten Zeit schlafen schicken.
Dass sie sich nicht mit einander
zanken, die artigen Weiblein! Und über dich, du
Unglückseliger!
Friede mit Gott und dem Nachbar:
so will es der gute Schlaf. Und Friede auch noch mit des Nachbars
Teufel! Sonst geht er bei dir des Nachts um.
Ehre der Obrigkeit und Gehorsam,
und auch der krummen Obrigkeit! So will es der gute Schlaf. Was
kann ich dafür, dass die Macht gerne auf krummen Beinen
Wandelt?
Der soll mir immer der beste Hirt
heissen, der sein Schaf auf die grünste Aue führt: so verträgt es
sich mit dem gutem Schlafe.
Viel Ehren will ich nicht, noch
grosse Schätze: das entzündet die Milz. Aber schlecht schläft es
sich ohne einen guten Namen und einen kleinen Schatz.
Eine kleine Gesellschaft ist mir
willkommener als eine böse: doch muss sie gehn und kommen zur
rechten Zeit. So verträgt es sich mit gutem Schlafe.
Sehr gefallen mir auch die
Geistig-Armen: sie fördern den Schlaf. Selig sind die, sonderlich,
wenn man ihnen immer Recht giebt.
Also läuft der Tag dem
Tugendsamen. Kommt nun die Nacht, so hüte ich mich wohl, den Schlaf
zu rufen! Nicht will er gerufen sein, der Schlaf, der der Herr der
Tugenden ist!
Sondern ich denke, was ich des
Tages gethan und gedacht. Wiederkäuend frage ich mich, geduldsam
gleich einer Kuh: welches waren doch deine zehn
Überwindungen?
Und welches waren die zehn
Versöhnungen und die zehn Wahrheiten und die zehn Gelächter, mit
denen sich mein Herz gütlich that?
Solcherlei erwägend und gewiegt
von vierzig Gedanken, überfällt mich auf einmal der Schlaf, der
Ungerufne, der Herr der Tugenden.
Der Schlaf klopft mir auf meine
Auge: da wird es schwer. Der Schlaf berührt mir den Mund: da bleibt
er offen.
Wahrlich, auf weichen Sohlen
kommt er mir, der liebste der Diebe, und stiehlt mir meine
Gedanken: dumm stehe ich da wie dieser Lehrstuhl.
Aber nicht lange mehr stehe ich
dann: da liege ich schon.—
Als Zarathustra den Weisen also
sprechen hörte, lachte er bei sich im Herzen: denn ihm war dabei
ein Licht aufgegangen. Und also sprach er zu seinem Herzen:
Ein Narr ist mir dieser Weise da
mit seinen vierzig Gedanken: aber ich glaube, dass er sich wohl auf
das Schlafen versteht.
Glücklich schon, wer in der Nähe
dieses Weisen wohnt! Solch ein Schlaf steckt an, noch durch eine
dicke Wand hindurch steckt er an.
Ein Zauber wohnt selbst in seinem
Lehrstuhle. Und nicht vergebens sassen die Jünglinge vor dem
Prediger der Tugend.
Seine Weisheit heisst: wachen, um
gut zu schlafen. Und wahrlich, hätte das Leben keinen Sinn und
müsste ich Unsinn wählen, so wäre auch mir diess der
wählenswürdigste Unsinn.
Jetzo verstehe ich klar, was
einst man vor Allem suchte, wenn man Lehrer der Tugend suchte.
Guten Schlaf suchte man sich und mohnblumige Tugenden dazu!
Allen diesen gelobten Weisen der
Lehrstühle war Weisheit der Schlaf ohne Träume: sie kannten keinen
bessern Sinn des Lebens.
Auch noch heute wohl giebt es
Einige, wie diesen Prediger der Tugend, und nicht immer so
Ehrliche: aber ihre Zeit ist um. Und nicht mehr lange stehen sie
noch: da liegen sie schon.
Selig sind diese Schläfrigen:
denn sie sollen bald einnicken.—
Also sprach Zarathustra.
Von den Hinterweltlern
Einst warf auch Zarathustra
seinen Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern.
Eines leidenden und zerquälten Gottes Werk schien mir da die
Welt.
Traum schien mir da die Welt und
Dichtung eines Gottes; farbiger Rauch vor den Augen eines göttlich
Unzufriednen.
Gut und böse und Lust und Leid
und Ich und Du—farbiger Rauch dünkte mich’s vor schöpferischen
Augen. Wegsehn wollte der Schöpfer von sich,—da schuf er die
Welt.
Trunkne Lust ist’s dem Leidenden,
wegzusehn von seinem Leiden und sich zu verlieren. Trunkne Lust Und
Selbst-sich-Verlieren dünkte mich einst die Welt.
Diese Welt, die ewig
unvollkommene, eines ewigen Widerspruches Abbild und unvollkommnes
Abbild—eine trunkne Lust ihrem unvollkommnen Schöpfer:—also dünkte
mich einst die Welt.
Also warf auch ich einst meinen
Wahn jenseits des Menschen, gleich allen Hinterweltlern. Jenseits
des Menschen in Wahrheit?
Ach, ihr Brüder, dieser Gott, den
ich schuf, war Menschen-Werk und -Wahnsinn, gleich allen
Göttern!
Mensch war er, und nur ein armes
Stück Mensch und Ich: aus der eigenen Asche und Gluth kam es mir,
dieses Gespenst, und wahrlich! Nicht kam es mir von Jenseits!
Was geschah, meine Brüder? Ich
überwand mich, den Leidenden, ich trug meine eigne Asche zu Berge,
eine hellere Flamme erfand ich mir. Und siehe! Da wich das Gespenst
von mir!
Leiden wäre es mir jetzt und Qual
dem Genesenen, solche Gespenster zu glauben: Leiden wäre es mir
jetzt und Erniedrigung. Also rede ich zu den Hinterweltlern.
Leiden war’s und Unvermögen—das
schuf alle Hinterwelten; und jener kurze Wahnsinn des Glücks, den
nur der Leidendste erfährt.
Müdigkeit, die mit Einem Sprunge
zum Letzten will, mit einem Todessprunge, eine arme unwissende
Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will: die schuf alle Götter
und Hinterwelten.
Glaubt es mir, meine Brüder! Der
Leib war’s, der am Leibe verzweifelte,—der tastete mit den Fingern
des bethörten Geistes an die letzten Wände.
Glaubt es mir, meine Brüder! Der
Leib war’s, der an der Erde verzweifelte,—der hörte den Bauch des
Seins zu sich reden.
Und da wollte er mit dem Kopfe
durch die letzten Wände, und nicht nur mit dem Kopfe,—hinüber zu
„jener Welt“.
Aber „jene Welt“ ist gut
verborgen vor dem Menschen, jene entmenschte unmenschliche Welt,
die ein himmlisches Nichts ist; und der Bauch des Seins redet gar
nicht zum Menschen, es sei denn als Mensch.
Wahrlich, schwer zu beweisen ist
alles Sein und schwer zum Reden zu bringen. Sagt mir, ihr Brüder,
ist nicht das Wunderlichste aller Dinge noch am besten
bewiesen?
Ja, diess Ich und des Ich’s
Widerspruch und Wirrsal redet noch am redlichsten von seinem Sein,
dieses schaffende, wollende, werthende Ich, welches das Maass und
der Werth der Dinge ist.
Und diess redlichste Sein, das
Ich—das redet vom Leibe, und es will noch den Leib, selbst wenn es
dichtet und schwärmt und mit zerbrochnen Flügeln flattert.
Immer redlicher lernt es reden,
das Ich: und je mehr es lernt, um so mehr findet es Worte und Ehren
für Leib und Erde.
Einen neuen Stolz lehrte mich
mein Ich, den lehre ich die Menschen:—nicht mehr den Kopf in den
Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern frei ihn zu tragen,
einen Erden-Kopf, der der Erde Sinn schafft!
Einen neuen Willen lehre ich die
Menschen: diesen Weg wollen, den blindlings der Mensch gegangen,
und gut ihn heissen und nicht mehr von ihm bei Seite schleichen,
gleich den Kranken und Absterbenden!
Kranke und Absterbende waren es,
die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische und die
erlösenden Blutstropfen: aber auch noch diese süssen und düstern
Gifte nahmen sie von Leib und Erde!
Ihrem Elende wollten sie
entlaufen, und die Sterne waren ihnen zu weit. Da seufzten sie: „Oh
dass es doch himmlische Wege gäbe, sich in ein andres Sein und
Glück zu schleichen!“—da erfanden sie sich ihre Schliche und
blutigen Tränklein!
Ihrem Leibe und dieser Erde nun
entrückt wähnten sie sich, diese Undankbaren. Doch wem dankten sie
ihrer Entrückung Krampf und Wonne? Ihrem Leibe und dieser
Erde.
Milde ist Zarathustra den
Kranken. Wahrlich, er zürnt nicht ihren Arten des Trostes und
Undanks. Mögen sie Genesende werden und Überwindende und einen
höheren Leib sich schaffen!
Nicht auch zürnt Zarathustra dem
Genesenden, wenn er zärtlich nach seinem Wahne blickt und
Mitternachts um das Grab seines Gottes schleicht: aber Krankheit
und kranker Leib bleiben mir auch seine Thränen noch.
Vieles krankhafte Volk gab es
immer unter Denen, welche dichten und gottsüchtig sind; wüthend
hassen sie den Erkennenden und jene jüngste der Tugenden, welche
heisst: Redlichkeit.
Rückwärts blicken sie immer nach
dunklen Zeiten: da freilich war Wahn und Glaube ein ander Ding;
Raserei der Vernunft war Gottähnlichkeit, und Zweifel Sünde.
Allzugut kenne ich diese
Gottähnlichen: sie wollen, dass an sie geglaubt werde, und Zweifel
Sünde sei. Allzugut weiss ich auch, woran sie selber am besten
glauben.
Wahrlich nicht an Hinterwelten
und erlösende Blutstropfen: sondern an den Leib glauben auch sie am
besten, und ihr eigener Leib ist ihnen ihr Ding an sich.
Aber ein krankhaftes Ding ist er
ihnen: und gerne möchten sie aus der Haut fahren. Darum horchen sie
nach den Predigern des Todes und predigen selber
Hinterwelten.
Hört mir lieber, meine Brüder,
auf die Stimme des gesunden Leibes: eine redlichere und reinere
Simme ist diess.
Redlicher redet und reiner der
gesunde Leib, der vollkommne und rechtwinklige: und er redet vom
Sinn der Erde.
Also sprach Zarathustra.
Von den Verächtern des
Leibes
Den Verächtern des Leibes will
ich mein Wort sagen. Nicht umlernen und umlehren sollen sie mir,
sondern nur ihrem eignen Leibe Lebewohl sagen—und also stumm
werden.
„Leib bin ich und Seele“ —so
redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder
reden?
Aber der Erwachte, der Wissende
sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele
ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.
Der Leib ist eine grosse
Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden,
eine Heerde und ein Hirt.
Werkzeug deines Leibes ist auch
deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du „Geist“ nennst, ein
kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.
„Ich“ sagst du und bist stolz auf
diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben
willst,—dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich,
aber thut Ich.
Was der Sinn fühlt, was der Geist
erkennt, das hat niemals in sich sein Ende. Aber Sinn und Geist
möchten dich überreden, sie seien aller Dinge Ende: so eitel sind
sie.
Werk- und Spielzeuge sind Sinn
und Geist: hinter ihnen liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht
auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des
Geistes.
Immer horcht das Selbst und
sucht: es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und
ist auch des Ich’s Beherrscher.
Hinter deinen Gedanken und
Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein
unbekannter Weiser—der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er,
dein Leib ist er.
Es ist mehr Vernunft in deinem
Leibe, als in deiner besten Weisheit. Und wer weiss denn, wozu dein
Leib gerade deine beste Weisheit nöthig hat?
Dein Selbst lacht über dein Ich
und seine stolzen Sprünge. „Was sind mir diese Sprünge und Flüge
des Gedankens? sagt es sich. Ein Umweg zu meinem Zwecke. Ich bin
das Gängelband des Ich’s und der Einbläser seiner Begriffe.“
Das Selbst sagt zum Ich: „hier
fühle Schmerz!“ Und da leidet es und denkt nach, wie es nicht mehr
leide—und dazu eben soll es denken.
Das Selbst sagt zum Ich: „hier
fühle Lust!“ Da freut es sich und denkt nach, wie es noch oft sich
freue—und dazu eben soll es denken.
Den Verächtern des Leibes will
ich ein Wort sagen. Dass sie verachten, das macht ihr Achten. Was
ist es, das Achten und Verachten und Werth und Willen schuf?
Das schaffende Selbst schuf sich
Achten und Verachten, es schuf sich Lust und Weh. Der schaffende
Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens.
Noch in eurer Thorheit und
Verachtung, ihr Verächter des Leibes, dient ihr eurem Selbst. Ich
sage euch: euer Selbst selber will sterben und kehrt sich vom Leben
ab.
Nicht mehr vermag es das, was es
am liebsten wilI:—über sich hinaus zu schaffen. Das will es am
liebsten, das ist seine ganze Inbrunst.
Aber zu spät ward es ihm jetzt
dafür:—so will euer Selbst untergehn, ihr Verächter des
Leibes.
Untergehn will euer Selbst, und
darum wurdet ihr zu Verächtern des Leibes! Denn nicht mehr vermögt
ihr über euch hinaus zu schaffen.
Und darum zürnt ihr nun dem Leben
und der Erde. Ein ungewusster Neid ist im scheelen Blick eurer
Verachtung.
Ich gehe nicht euren Weg, ihr
Verächter des Leibes! Ihr seid mir keine Brücken zum
Übermenschen!—
Also sprach Zarathustra.
Von den Freuden- und
Leidenschaften
Mein Bruder, wenn du eine Tugend
hast, und es deine Tugend ist, so hast du sie mit Niemandem
gemeinsam.
Freilich, du willst sie bei Namen
nennen und liebkosen; du willst sie am Ohre zupfen und Kurzweil mit
ihr treiben.
Und siehe! Nun hast du ihren
Namen mit dem Volke gemeinsam und bist Volk und Heerde geworden mit
deiner Tugend!
Besser thätest du, zu sagen:
„unaussprechbar ist und namenlos, was meiner Seele Qual und Süsse
macht und auch noch der Hunger meiner Eingeweide ist.“
Deine Tugend sei zu hoch für die
Vertraulichkeit der Namen: und musst du von ihr reden, so schäme
dich nicht, von ihr zu stammeln.
So sprich und stammle: „Das ist
mein Gutes, das liebe ich, so gefällt es mir ganz, so allein will
ich das Gute.
Nicht will ich es als eines
Gottes Gesetz, nicht will ich es als eine Menschen-Satzung und
-Nothdurft: kein Wegweiser sei es mir für Über-Erden und
Paradiese.
Eine irdische Tugend ist es, die
ich liebe: wenig Klugheit ist darin und am wenigsten die Vernunft
Aller.
Aber dieser Vogel baute bei mir
sich das Nest: darum liebe und herze ich ihn,—nun sitze er bei mir
auf seinen goldnen Eiern.“
So sollst du stammeln und deine
Tugend loben.
Einst hattest du Leidenschaften
und nanntest sie böse. Aber jetzt hast du nur noch deine Tugenden:
die wuchsen aus deinen Leidenschaften.
Du legtest dein höchstes Ziel
diesen Leidenschaften an’s Herz: da wurden sie deine Tugenden und
Freudenschaften.
Und ob du aus dem Geschlechte der
Jähzornigen wärest oder aus dem der Wollüstigen oder der
Glaubens-Wüthigen oder der Rachsüchtigen:
Am Ende wurden alle deine
Leidenschaften zu Tugenden und alle deine Teufel zu Engeln.
Einst hattest du wilde Hunde in
deinem Keller: aber am Ende verwandelten sie sich zu Vögeln und
lieblichen Sängerinnen.
Aus deinen Giften brautest du dir
deinen Balsam; deine Kuh Trübsal melktest du, —nun trinkst du die
süsse Milch ihres Euters.
Und nichts Böses wächst mehr
fürderhin aus dir, es sei denn das Böse, das aus dem Kampfe deiner
Tugenden wächst.
Mein Bruder, wenn du Glück hast,
so hast du Eine Tugend und nicht mehr: so gehst du leichter über
die Brücke.
Auszeichnend ist es, viele
Tugenden zu haben, aber ein schweres Loos; und Mancher gieng in die
Wüste und tödtete sich, weil er müde war, Schlacht und Schlachtfeld
von Tugenden zu sein.
Mein Bruder, ist Krieg und
Schlacht böse? Aber nothwendig ist diess Böse, nothwendig ist der
Neid und das Misstrauen und die Verleumdung unter deinen
Tugenden.
Siehe, wie jede deiner Tugenden
begehrlich ist nach dem Höchsten: sie will deinen ganzen Geist,
dass er ihr Herold sei, sie will deine ganze Kraft in Zorn, Hass
und Liebe.
Eifersüchtig ist jede Tugend auf
die andre, und ein furchtbares Ding ist Eifersucht. Auch Tugenden
können an der Eifersucht zu Grunde gehn.
Wen die Flamme der Eifersucht
umringt, der wendet zuletzt, gleich dem Scorpione, gegen sich
selber den vergifteten Stachel.
Ach, mein Bruder, sahst du noch
nie eine Tugend sich selber verleumden und erstechen?
Der Mensch ist Etwas, das
überwunden werden muss: und darum sollst du deine Tugenden
lieben,—denn du wirst an ihnen zu Grunde gehn.—
Also sprach Zarathustra.
Vom bleichen Verbrecher
Ihr wollt nicht tödten, ihr
Richter und Opferer, bevor das Thier nicht genickt hat? Seht, der
bleiche Verbrecher hat genickt: aus seinem Auge redet die grosse
Verachtung.
„Mein Ich ist Etwas, das
überwunden werden soll: mein Ich ist mir die grosse Verachtung des
Menschen“ : so redet es aus diesem Auge.
Dass er sich selber richtete, war
sein höchster Augenblick: lasst den Erhabenen nicht wieder zurück
in sein Niederes!
Es giebt keine Erlösung für Den,
der so an sich selber leidet, es sei denn der schnelle Tod.
Euer Tödten, ihr Richter, soll
ein Mitleid sein und keine Rache. Und indem ihr tödtet, seht zu,
dass ihr selber das Leben rechtfertiget!
Es ist nicht genug, dass ihr euch
mit Dem versöhnt, den ihr tödtet. Eure Traurigkeit sei Liebe zum
Übermenschen: so rechtfertigt ihr euer Noch-Leben!
„Feind“ sollt ihr sagen, aber
nicht „Bösewicht“; „Kranker“ sollt ihr sagen, aber nicht „Schuft“;
„Thor“ sollt ihr sagen, aber nicht „Sünder“.
Und du, rother Richter, wenn du
laut sagen wolltest, was du Alles schon in Gedanken gethan hast: so
würde Jedermann schreien: „Weg mit diesem Unflath und
Giftwurm!“
Aber ein Anderes ist der Gedanke,
ein Anderes die That, ein Anderes das Bild der That. Das Rad des
Grundes rollt nicht zwischen ihnen.
Ein Bild machte diesen bleichen
Menschen bleich. Gleichwüchsig war er seiner That, als er sie that:
aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie gethan war.
Immer sah er sich nun als Einer
That Thäter. Wahnsinn heisse ich diess: die Ausnahme verkehrte sich
ihm zum Wesen.
Der Strich bannt die Henne; der
Streich, den er führte, bannte seine arme Vernunft—den Wahnsinn
nach der That heisse ich diess.
Hört, ihr Richter! Einen anderen
Wahnsinn giebt es noch: und der ist vor der That. Ach, ihr krocht
mir nicht tief genug in diese Seele!
So spricht der rothe Richter:
„was mordete doch dieser Verbrecher? Er wollte rauben.“ Aber ich
sage euch: seine Seele wollte Blut, nicht Raub: er dürstete nach
dem Glück des Messers!
Seine arme Vernunft aber begriff
diesen Wahnsinn nicht und überredete ihn. „Was liegt an Blut!
sprach sie; willst du nicht zum Mindesten einen Raub dabei machen?
Eine Rache nehmen?“
Und er horchte auf seine arme
Vernunft: wie Blei lag ihre Rede auf ihm,—da raubte er, als er
mordete. Er wollte sich nicht seines Wahnsinns schämen.
Und nun wieder liegt das Blei
seiner Schuld auf ihm, und wieder ist seine arme Vernunft so steif,
so gelähmt, so schwer.
Wenn er nur den Kopf schütteln
könnte, so würde seine Last herabrollen: aber wer schüttelt diesen
Kopf?