Alsternacht - Leo Hansen - E-Book

Alsternacht E-Book

Leo Hansen

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Beschreibung

Serienmorde in der Hansestadt Die Leichen von vier angesehenen Männern werden nackt und entstellt an beliebten Hamburger Orten entdeckt. Privatermittler Dr. Elias Hopp und Ex-Soldatin Janne Bakken suchen gemeinsam mit LKA-Profiler Zille fieberhaft nach dem Täter und den Motiven für die bizarre Mordserie. Die Spur führt zu einer Kaufmannsgilde mit dubiosen Geschäftsbeziehungen ins Ausland, doch ein entscheidendes Detail scheint noch im Verborgenen zu liegen …

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Leo Hansen, Jahrgang 1954, studierte Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der Universität Hamburg. Er arbeitete fünfzehn Jahre bei den Landesmedienanstalten in Hamburg und Thüringen und war verantwortlich für den nicht kommerziellen Rundfunk und das lokale Fernsehen. Anschließend war er in Marl und Wiesloch als Lehrer am Berufskolleg tätig und unterrichtete Medienpädagogik, Psychologie/Pädagogik und Politik. Er veröffentlichte zahlreiche medienpädagogische Fachartikel. Er hat drei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder und lebt heute mit seiner zweiten Frau in Neustadt in Holstein an der Ostsee.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Jean Luc Bohin/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Produktion: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-958-7

Originalausgabe

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Meiner Frau Ines

You want it darkerWe kill the flame

Leonard Cohen

1

Dienstag, 8.1.2019

Erwin Brievenbusch stand vor dem Spiegel. Er war zufrieden mit sich und der Welt. Die Geschäfte im letzten Jahr waren zwar nicht gut gelaufen, doch die Verhandlungen für neue Geschäftsfelder in Osteuropa standen vor dem Abschluss. Gleich würde er sich mit einem der Verhandlungsführer im Club treffen und den neuen Geschäftsplan präsentieren. Das Jahr 2019 würde ein gutes werden. Er betrachtete sich selbstgefällig im Spiegel. Für meine sechzig Jahre habe ich mich gut gehalten, dachte er. Er hielt drei Krawatten in der Hand und überlegte, welche am besten zu seinem Outfit passte.

»Sie sehen alle furchtbar aus«, hörte er seine Frau sagen. Sie stand mit einem Glas Champagner in der Hand im Türrahmen.

»Das würdest du bei jeder Krawatte sagen.«

»Stimmt.« Sie nahm einen Schluck. »Willst du in den Club?«

»Was mache ich denn seit fünf Jahren jeden Mittwoch?« Erwin Brievenbusch schüttelte den Kopf. »Der viele Champagner scheint dein Gedächtnis allmählich zu trüben.« Er entschied sich für die Pünktchenkrawatte.

»Im Club herrscht keine Krawattenpflicht. Und falls doch«, sie lachte glucksend, »würden sie dir mit dieser Krawatte den Einlass auf jeden Fall verwehren.«

Er drehte sich zu seiner Frau um. »Lass mich doch in Ruhe«, sagte er genervt.

»Du hast jetzt drei Tage Ruhe vor mir. Ich fahre bis Samstag nach Sylt. Zu Mathilde.«

»Schade.«

»Wieso?«

»Ich dachte, du würdest länger bleiben.« Erwin Brievenbusch blickte wieder in den Spiegel, sah, wie seine Frau ihm den Mittelfinger entgegenstreckte und dann aus seinem Blickfeld verschwand. Er grinste und band sich die gepunktete Krawatte um.

Wenige Minuten später stand er mit einer kleinen Aktentasche vor der Tür und winkte ein Taxi herbei. Er nahm auf dem Rücksitz Platz, und geräuschlos fädelte sich der Audi in den Hamburger Abendverkehr ein. Brievenbusch griff in seine Aktentasche und holte einen Ordner heraus, um sich ein letztes Mal mit den Zahlen auseinanderzusetzen. Er war so vertieft in die Notizen, dass er erst spät merkte, dass das Taxi nicht zum Alten Wall fuhr. Brievenbusch sprach den Fahrer an, erhielt jedoch keine Antwort. Auch als er laut und unmissverständlich darauf drang, ihn sofort zu seinem Ziel zu bringen, blieb der Fahrer stumm. Erst als er sein Handy zückte und hektisch auf die Tasten drückte, hörte er die spöttische Stimme des Fahrers.

»Sie können hier nicht telefonieren, der Wagen ist abgeschirmt.«

»Wo bringen Sie mich hin?« Brievenbuschs Stimme überschlug sich.

»Sie werden erwartet.«

Als der Audi an der nächsten Ampel stoppte, versuchte Brievenbusch, die Autotür zu öffnen, musste aber feststellen, dass sie verschlossen war. Jetzt überkam ihn Panik, und er schlug mit den Fäusten gegen die Fenster.

»Wenn Sie sich nicht ruhig verhalten, werde ich dafür sorgen, dass Sie ruhig sind.« Die Stimme des Fahrers hatte jetzt einen bedrohlichen Ton. »Im Übrigen sind wir gleich am Ziel.«

Brievenbusch schaute aus dem Fenster, konnte aber durch die getönten Scheiben nicht viel erkennen. Er vermutete, dass sie im Süden von Hamburg waren, war sich aber nicht sicher. Erst als sie von der Hauptstraße in einen Waldweg abbogen, wusste er, wo sie waren. »Der Alte ist doch tot.«

Nach etwa zweihundert Metern stoppte der Wagen vor einer alten Villa, aus der gedämpftes Licht drang.

»Der Alte schon«, sagte der Fahrer grinsend, stieg aus und zog Brievenbusch aus dem Wagen. Er führte ihn ins Haus, schob ihn unsanft ins Wohnzimmer und platzierte ihn in einen Sessel.

Brievenbusch ließ seinen Blick umherschweifen. Es hatte sich einiges geändert, doch die Atmosphäre war ebenso bedrückend wie vor fünfundzwanzig Jahren. Er hatte kaum eine Minute dort gesessen, als er eine Berührung auf seiner linken Schulter spürte. Er drehte leicht seinen Kopf. Er sah eine Hand mit rosa lackierten Fingernägeln und einen mit Diamanten besetzten Ring.

»Schön, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind«, hörte er eine zarte Stimme sagen. Dann spürte er den brennenden Schmerz des Elektroschockers an der rechten Halsseite. Brievenbusch wollte aufspringen, doch seine Beine und Arme versagten ihm die Hilfe. Er begann zu krampfen, alle Gliedmaßen zuckten, dann entwich jede Spannung aus seinem Körper. Den anschließenden Nadelstich in den Hals spürte er nicht.

Sie aß die Quiche Lorraine, die Victor gestern zubereitet hatte, und blickte auf den Mann im Sessel. Er war eine gute Wahl, dachte sie. Jetzt ließ er den Kopf hängen, der Oberkörper war zusammengesackt, und auch die Arme hingen schlaff herunter. Sie hatten ihn festbinden müssen, sonst wäre er aus dem Sessel gerutscht. Nachdem sie ihm die Spritze in die Vena jugularis externa, die äußere Halsvene, die senkrecht am Hals floss, injiziert hatte, hatte er noch einmal die Augen geöffnet. Doch er war zu schwach gewesen, um eine weitere Reaktion zu zeigen. Nach zehn Minuten waren die Vitalfunktionen endgültig erloschen. Er war gestorben.

Sie nippte an ihrem Chablis und lächelte versonnen. Alles war ganz schnell gegangen, ohne jedes Problem. Das fühlte sich gut an. Eigentlich betrachtete sie den Tod als einen furchtbaren Gesellen, dem man lieber nicht begegnen sollte. Doch im Moment empfand sie seine Gegenwart als angenehm. Sie blickte zu dem leblosen Erwin Brievenbusch. Sie war auf dem richtigen Weg. Sie spürte es. Zufrieden griff sie zum Telefon.

»Hallo.«

»Er ist hier.«

»Tot?«

»Ja.«

»Das ist gut.«

»Es lief alles wie geplant. Bislang.«

»Hatte er die Unterlagen dabei?«

Sie schaute auf die Aktentasche, die auf dem Tisch lag. »Victor bringt sie vorbei.«

»Er soll sie meiner Sekretärin geben. Und du erledige die nächsten Schritte.« Nach einer kurzen Pause folgte ein eindringliches »Es wird dir guttun. Du bist auf dem richtigen Weg. Befreie dich aus deinem Martyrium«.

»Ich bin bereit.«

Damit war das Gespräch beendet. Sie aß das letzte Stück Quiche. Sobald sie ihren Wein ausgetrunken hatte, würde der zweite, unangenehmere Teil des Plans beginnen.

Sie sah, wie Victor mit dem Rollstuhl ins Zimmer kam.

»Im Holzhaus ist alles vorbereitet.« Er blickte sie an. »Bist du wirklich bereit?«

Sie lächelte versonnen. »Es muss sein. Ich muss endlich meine Vergangenheit besiegen.«

2

Donnerstag, 10.1.2019

Knut Petersen lebte seit vierzig Jahren in dem kleinen Kapitänshaus in Övelgönne, direkt an der Elbe. Hier konnte er tagein, tagaus die großen Pötte beobachten, Containerschiffe, Kreuzfahrtschiffe und Tanker. Und manchmal kamen auch ein paar Windjammer vorbei. Das war besser als Fernsehen.

Das Haus hatte er von seinem einzigen Onkel geerbt, der kinderlos geblieben war. Knut Petersen hatte auch keine Kinder, wo sollten die auch leben in dem kleinen Haus? Dafür hatte er einen Hund. Einen Mittelschnauzer mit starker Persönlichkeit, trotzdem sehr anhänglich und ein guter Wachhund. Fiete war sein dritter Schnauzer. Er hatte heute, am 10. Januar, Geburtstag. Zehn Jahre wurde er alt, war aber immer noch sehr lebhaft. Er liebte ausgedehnte Spaziergänge am Strand, und den hatten Knut und Fiete vor der Haustür. Feiner Sandstrand, um den so manches Ostseebad die Hamburger beneidete.

Jeden Morgen um sechs klingelte der Wecker. Knut Petersen hatte sich an den täglichen Morgenspaziergang gewöhnt und ihn schätzen gelernt. Um diese Zeit hatten er und Fiete den Strand fast für sich allein, mal abgesehen von den wenigen Nachbarn, die ebenfalls mit ihren Hunden unterwegs waren. Knut Petersen reckte und streckte sich. Heute würde er wohl kaum jemanden treffen, es war kalt, und es hatte in der Nacht geregnet und geschneit. Er zog sich warm an, schlurfte in die Küche, aß einen halben Apfel und trank ein Glas Milch.

Dann trat er mit Fiete vor die Tür. Övelgönne schlief noch, in der Ferne hörte er eine Schiffstute und den Arbeitslärm vom Containerhafen. Die Lichter vom gegenüberliegenden Ufer waren nur schemenhaft zu erkennen, es lag leichter Nebel über der Elbe. Knut Petersen setzte die Mütze auf und zog die Kapuze seiner Windjacke fest über den Kopf, der Wind war eisig, zudem hatte es wieder zu schneien begonnen. Sie gingen bei der Strandperle, der ehemaligen Altonaer Trinkhalle, an den Strand.

»Los, Fiete, guck mal, ob das Wasser noch da ist.«

Das ließ der Hund sich nicht zweimal sagen. Fiete schoss wie immer runter zur Elbe und kam ein paar Minuten später mit einem großen, nassen Ast im Maul zurück.

»Mensch, Fiete, der ist doch viel zu groß zum Stöckchenwerfenspiel.«

Knut Petersen tat dem Hund dennoch den Gefallen, aber nach zwei Würfen verloren beide die Lust an diesem Spiel, und so trotteten sie nebeneinanderher Richtung Alter Schwede, dem ältesten Großfindling Deutschlands. Der wog satte zweihundertsiebzehn Tonnen und hatte im Jahr 2000 unterhalb von Schröders Park seinen neuen Platz am Elbstrand bekommen, nachdem er ein Jahr zuvor aus der Elbe gehoben worden war. Um die Jahreswende herum hatten Unbekannte dem Findling eine goldene Oberfläche verpasst, die inzwischen allerdings wieder verblasst war. Jetzt zierten ihn auch ein paar dämliche Graffitis. Knut Petersen konnte diese Verschandelung des Alten Schweden nicht verstehen, schließlich war er ein Naturdenkmal.

Das Bellen von Fiete riss ihn aus seinen Gedanken. Er war inzwischen unterhalb des Hans-Leip-Ufers, und der Findling war schon zu sehen. In dem Moment rannten zwei weitere Hunde bellend an ihm vorbei, und von der Uferstraße lösten sich zwei Gestalten.

»Sehe ich richtig? Jacky und Tom? Wer hat euch denn aus dem Bett getrieben?«

Aber statt einer Antwort bekam er nur ein leises »Moin« zu hören.

»Scheißkälte«, fluchte Jacky.

»Hättest auch eine dickere Jacke anziehen können.«

Für diese Bemerkung bekam Knut Petersen nur einen bösen Blick.

»Flocke und Anton scheint die Kälte ja nichts auszumachen.«

»Ich weiß auch nicht, warum die immer noch so laut kläffen«, brummte Tom. »Komm, wir gucken mal.«

Am Alten Schweden erwarteten sie drei aufgeregte Hunde, die wild herumrannten und offenbar den Findling anbellten.

Jacky ging näher heran. »Mensch, da sitzt einer. Flocke, komm sofort her.«

Inzwischen waren auch die beiden anderen näher gekommen und nahmen ihre Hunde an die Leine.

»Das ist ja ein nackter Mann.« Tom starrte ihn ungläubig an. Und fuhr mit hysterischer Stimme fort: »Ach du Scheiße, der hat ja keinen Schwanz mehr.«

»Wie eklig.« Jacky war kreidebleich und stützte sich auf die kleine Hinweistafel.

Knut Petersen ging näher an den Mann heran. »Der ist tot, mausetot.« Dann schaute er die beiden Jugendlichen an. »Wir müssen die Polizei benachrichtigen.«

Jacky und Tom zückten gleichzeitig ihre Smartphones.

»Ich mach das«, sagte Tom und holte tief Luft.

»Okay«, erwiderte Jacky leise. Sie blickte wieder zu dem Toten. »Nackter Mann ohne Schwanz vor goldenem Schweden. Das ist der Hammer«, murmelte sie leise. Dann machte sie ein Foto.

3

Freitag, 11.1.2019

Das Licht gab keinen Hinweis auf die Tageszeit. Grauer Himmel, leichter Schneeregen. Typisches Hamburger Wetter. Aber das spielte keine Rolle. Dr. Elias Hopp liebte diese Stadt mit ihren zweitausend Brücken und vielen Fleeten, mit ihren unterschiedlichen Quartieren und Menschen, mit dem Hafen und den Spelunken bei jedem Wetter. Aber vor allem liebte er diese Stadt, weil er hier das gefunden hatte, was es in seiner Heimat im Libanon nicht gab. Ein meist friedliches Zusammenleben der Menschen, ohne Hass, ohne Gewalt. Auch wenn die Zeiten in Deutschland rauer wurden, eine rechtsnationale Partei in alle Parlamente eingezogen war, der rechte Mob auf die Straße ging und unverhohlen rassistische und antisemitische Parolen grölte. Dennoch fühlte er sich hier sicher, kein Vergleich zum Libanon oder zu anderen Ländern in der Welt.

Elias schaute auf die Tageszeitung, die vor ihm lag. Sie war von gestern. Die Titelstory war ein Mord am Elbstrand. Ein ehrwürdiger Hamburger Kaufmann war nackt am Alten Schweden gefunden worden. Das Foto war unscharf. Erkennen ließ sich eigentlich nichts. Aber das wirkte ja besonders authentisch. Er hatte gestern schon davon in den Nachrichten gehört. Elias legte die Zeitung auf den Nebentisch und schaute aus dem Fenster.

Nach zwei Monaten saß er mal wieder im »Café au Lait« in der Poststraße. Diese ehemalige Molkerei mit ihrer original erhaltenen gefliesten Jugendstildecke sah in der Tat aus wie ein französisches Café aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts. Hier kehrte er seit seiner Studentenzeit ein, das französische Flair des Cafés gehörte zu den wenigen positiven Dingen, die er mit seiner Heimat verband. Aber eigentlich war der Libanon nicht seine Heimat, sondern die seiner Mutter. Er war erst fünf gewesen, als sie das Land verlassen mussten, und er wusste nicht, ob die Erinnerungen seine eigenen waren oder sich aus den Erzählungen seiner Mutter speisten. Das würde er nun auch nicht mehr erfahren, wie so vieles. Seine Mutter war seit über einem Jahr tot. »Herzversagen«, hatte auf dem Totenschein gestanden, in Wahrheit war sie aus Kummer gestorben.

Paul, den er schon seit Jahren kannte, inzwischen Maître d’Hôtel des Cafés, unterbrach ihn in seinen Gedanken, als er den Latte macchiato brachte. »Wie immer mit der doppelten Portion Espresso.«

»Sehr aufmerksam«, erwiderte Elias mit einem Lächeln und nahm einen Schluck. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass diese Portion letztes Jahr noch ein normaler Latte war.«

Paul, der seinen Job mit einer Mischung aus französischer Überheblichkeit und Hamburger Schnodderigkeit ausführte, zog die rechte Augenbraue hoch. »Vielleicht solltest du weniger in der Vergangenheit leben. Bestell dir demnächst einfach einen Latte macchiato mit der dreifachen Portion Espresso.«

Mit einer eleganten Drehung kehrte Paul ihm den Rücken und wandte sich dem Nachbartisch zu.

Man konnte von ihm halten, was man wollte, aber ihm war es zu verdanken, dass das Café zu einem beliebten Treffpunkt vor allem gut betuchter Hamburger geworden war, was sich in der Höhe der Preise widerspiegelte. Er war einfach ein besonderer Typ. Einzig die miserable Akustik der alten Molkerei war ein Minuspunkt, und Elias fragte sich jedes Mal, warum das Servicepersonal bei dieser Lautstärke nicht taub wurde. Einen Vorteil hatte dieser Lärm jedoch: Hier ließen sich wirklich konspirative Treffen abhalten, denn aufgrund der Lautstärke konnte man kaum sein Gegenüber verstehen, geschweige denn die Tischnachbarn.

Allerdings war das letzte konspirative Treffen vor eben genau zwei Monaten anders verlaufen als geplant. Paul hatte seinerzeit nicht nur dafür gesorgt, dass er wie jetzt an seinem Lieblingstisch in der Nische neben dem Eingang saß, sondern auch dafür, dass die zwei Tische neben ihm unbesetzt blieben. Zudem hielt er geschickt den Eingangsbereich frei, wo sich normalerweise immer eine kleine Schlange bildete, wenn Gäste auf frei werdende Tische warteten.

So hatte Elias freie Sicht auf den Eingang und durch das Seitenfenster auch auf den Bürgersteig gehabt. Er hatte seine Verabredung auf keinen Fall verpassen wollen. Wolf Lebe, ein Aussteiger aus der Reichsbürgerszene, war seines Wissens ein scheuer Typ, und Elias war sehr an seinen Insiderkenntnissen interessiert gewesen, um seinen Rechercheauftrag abschließen zu können.

Aber Wolf Lebe war nur bis zur Tür des Cafés gekommen und dort tot zusammengebrochen. Verantwortlich dafür war eine Kugel, die ihn in den Hinterkopf traf. Viele hatten das nicht mitbekommen. Elias aber hatte alles von seinem Platz aus genau beobachten können und war somit ausgiebig von der Polizei befragt worden.

Er schilderte, was er gesehen hatte, verschwieg allerdings, dass er mit Lebe verabredet gewesen war, und so ließen sie schließlich von ihm ab. Auch Paul erzählte nichts, schmollte allerdings. Er habe ihn in Lebensgefahr gebracht. Und so ganz unrecht hatte Paul ja auch nicht. Jedenfalls hatten sie beschlossen, dass er das Café eine Zeit lang meiden und zudem Paul eine kleine Gefälligkeit erweisen sollte.

Wieder wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Diesmal war aber nicht Paul für die Ablenkung verantwortlich, sondern die junge Frau, die ein paar Tische entfernt von ihm saß. Sie hatte braune, halblange Haare, die von hellen Strähnen durchzogen waren. Ihr Teint war blass, obwohl sie dezent geschminkt war. Sie trug Jeans, einen dunklen Rollkragenpullover und Turnschuhe. Sie machte einen eher zurückhaltenden Eindruck auf Elias, wodurch ihr unbeherrscht gebrülltes »Fick dich«, ehe sie ihr Smartphone wütend auf den Tisch geknallt hatte, nachträglich besonders überraschend wirkte.

Als die junge Frau merkte, dass plötzlich viele Augenpaare auf sie gerichtet waren, lief sie rot an und murmelte eine eher leise und somit nicht hörbare Entschuldigung, dann vergrub sie ihren Kopf hinter einer Zeitschrift.

Elias schmunzelte und blickte zu Paul, der ebenfalls grinste. Anschließend sah Elias, wie Paul hinter dem Tresen verschwand und kurze Zeit später mit einer Schokoladentarte auf die junge Frau zuging. Sein Räuspern ließ sie aufblicken.

Er stellte die Tarte vor sie und sagte: »Schokolade macht glücklich. Geht aufs Haus.« Und so schnell, wie er aufgetaucht war, wandte er sich wieder den anderen Gästen zu.

Die junge Frau blickte sich um, ein verlegenes Lächeln umspielte ihre Lippen, und dann nahm sie den ersten Bissen von der Schokoladentarte. Elias ließ seinen Blick weiter durch den Saal des Cafés gleiten und blieb bei einem älteren Herrn hängen. Klassisches blaues Jackett mit goldschimmernden Messingknöpfen, weißes Hemd mit Haifischkragen, geziert mit einer Fliege und Manschettenknöpfen. Und auf dem Stuhl neben ihm lag eine Prinz-Heinrich-Mütze. Es hatte etwas sehr Vornehmes, wie er die Bouillabaisse aß, eine der vielen köstlichen Spezialitäten des Cafés. Fast unsichtbar winkte er den Kellner herbei. Er blickte kurz auf, bestellte offenbar ein zweites Glas Weißwein und aß dann weiter.

Im hinteren Teil saß an einem größeren Tisch eine Gruppe von jüngeren Leuten, lässig, aber teuer gekleidet. Typische Hipster, die auch das Café für sich entdeckt hatten. Oder vielleicht die FDP-Fraktion aus dem nicht weit entfernten Rathaus. Elias lächelte. Eine Partei, überflüssig wie ein Kropf.

Er blickte auf seine Uhr. In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Café. Herein kam eine schlanke, sportliche junge Frau. Sie stellte den Regenschirm in den Schirmständer, nahm ihre nasse Mütze vom Kopf und fuhr sich mit der anderen Hand durch das kurze, dunkle Haar. Eine elegante Erscheinung mit einem kleinen Kratzer auf der Stirn.

4

Freitag, 11.1.2019

Janne Bakken gab Gas und überholte die beiden Wohnmobile, die bei dem Regen recht langsam fuhren. Die A 7 war glücklicherweise an diesem Tag nicht besonders befahren. Sie war auf dem Rückweg von dem Häuschen an der Schlei, in dem ihre Mutter aufgewachsen war. Diesmal hatte sie sich nicht gut erholt. Ihre Gedanken hatten sich zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigt. Es war noch eine gute Stunde bis zur Ausfahrt Hamburg-Othmarschen und dann zwanzig Minuten bis zu ihrer Wohnung auf St. Pauli.

Sie schaute auf die Uhr. Um halb drei könnte sie zu Hause sein, dann hätte sie noch zweieinhalb Stunden Zeit, sich für das Bewerbungsgespräch zurechtzumachen. Vor vier Wochen hatte sie in einem Artikel des »Spiegels«, den sie zufälligerweise beim Arzt gelesen hatte, einiges über Dr. Elias Hopp und seine Arbeit erfahren. Er war privater Ermittler und unterstützte häufig die Polizei bei der Beschaffung von Informationen. Und darin war er wohl ziemlich gut. So hatte er dazu beigetragen, diverse Korruptionsaffären in der deutschen Wirtschaft aufzudecken, und, sein letzter Coup, der Aufhänger für den Artikel war, ein rechtsradikales Netzwerk auffliegen lassen, das bis in die Geheimdienste und die Polizei hineinreichte. Janne hatte zudem herausgefunden, dass er früher als Polizeireporter und Journalist tätig gewesen war und sich dann irgendwann selbstständig gemacht hatte. Nun suchte er jemanden, der ihn bei seiner Arbeit unterstützte. Und so hatte Janne eine Initiativbewerbung an ihn geschickt. Sie schaute auf ihre Uhr. Es wird knapp, dachte sie und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.

Um Viertel vor drei stellte sie ihren alten Volvo 245 in der Tiefgarage beim Penny-Markt in der Königstraße ab. Den Koffer ließ sie im Auto und schulterte nur ihren Rucksack mit den Bewerbungsunterlagen und dem Laptop. Sie überquerte die doppelspurige Straße, ging am Boardinghouse St. Pauli vorbei und bog in die Trommelstraße ein. Inzwischen regnete es Bindfäden, und Janne zog die Kapuze ihrer Regenjacke tief ins Gesicht. Viel sah sie nicht, und so war es nicht verwunderlich, dass sie die drei Typen, die aus dem Holsteneck kamen, eine Kneipe, die sie auch manchmal besuchte, erst bemerkte, als sie gegen einen der Männer lief.

»Eh, pass doch auf, du blöde Tussi.«

Janne blickte auf und sah in das aufgedunsene Gesicht eines etwa dreißigjährigen blonden Mannes. »Was?«, blaffte sie ungehalten. »Verpisst euch.«

»Jetzt wird sie auch noch frech«, blökte es ihr undeutlich entgegen.

»Und seit wann duzen wir uns, du alte Schlampe?« Zwei stahlblaue Augen schauten sie abfällig an.

»Müssen dir wohl ein paar Manieren beibringen, Schätzchen«, zischte der dritte Mann, rülpste und schwankte leicht mit dem Oberkörper.

Plötzlich spürte sie den Adrenalinstoß in ihrem Körper, und sie war sofort hellwach. Blitzschnell musterte sie die drei und schätzte ihre Chancen ab. Auf den mit den blauen Augen musste sie achtgeben, das war wohl der Anführer. Die beiden anderen hatten viel Alkohol im Blut. Janne trat einen Schritt zurück, damit die drei sie nicht umkreisen konnten, stellte ihren Rucksack ab und tänzelte auf der Stelle. »Jungs, es regnet, ich werde nass und will nach Hause. Also geht mir aus dem Weg. Wäre besser für euch.«

»Sie droht uns«, grölte der Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht und klopfte sich lachend auf die Schenkel.

»Hilfe, ich habe Angst.«

»Jetzt bekommen wir Schläge.«

Die beiden anderen lachten nun auch. Die drei bauten sich in einer Reihe vor Janne auf. Darauf hatte sie gewartet. Ihre rechte, zur Faust geballte Hand schnellte vor und versetzte dem links stehenden Anführer einen Schlag an die Schläfe, woraufhin dieser bewusstlos zusammensackte. Dann drehte sie sich blitzschnell zum Blondschopf und streckte diesen mit einem Sidekick nieder. Ihre Ferse traf ihn mit voller Wucht auf den Solarplexus. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der dritte Mann ungestüm auf sie losging. Sie sprang zur Seite, weswegen sein Schwinger nur ihre Stirn streifte. Der fast ungebremste Schwung ließ ihn ins Straucheln geraten, und Janne schlug ihm sofort die Beine weg. Er landete bäuchlings in der großen Pfütze und prallte mit dem Kopf gegen den Fahrradständer. Die Beule würde groß werden.

Janne schaute auf die drei am Boden liegenden, wimmernden Männer. Knapp fünfzehn Sekunden, dachte sie zufrieden. Nicht schlecht, aber ihre Gegner waren auch untrainiert und überheblich. Sie nahm ihren Rucksack und machte sich auf den Weg in die Lange Straße.

Ihre Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung lag im fünften Stock und bot einen wunderbaren Blick über die Dächer von St. Pauli. Von dem kleinen französischen Balkon aus konnte man im Sommer das Treiben auf dem Hein-Köllisch-Platz beobachten und den Sonnenuntergang genießen. Janne hatte die Wohnung mit Hilfe ihres ehemaligen Chefs Miroslav Eschenbrosch bekommen, für den sie als Personenschützerin gearbeitet hatte. Sie lag nicht im schönsten Stadtteil Hamburgs, und ein wenig größer hätte sie auch sein können, aber auch vor drei Jahren war es schon nicht einfach, überhaupt eine bezahlbare Wohnung in Hamburg zu finden. Deshalb war sie froh über ihre Wohnung, und langweilig war es in diesem Viertel auch nicht, wie sie gerade wieder einmal selbst erfahren hatte.

Janne stand vor dem Spiegel in ihrem Badezimmer und sah erst jetzt, dass sie einen Kratzer auf der Stirn hatte, der auch leicht blutete. Sie desinfizierte die kleine Wunde. Dann zog sie sich aus und stieg in die Dusche. Während das heiße Wasser über ihren Körper lief, hoffte sie, dass es die Wut über diese drei Kerle wegspülen würde. Sie war aber auch wütend auf sich. Hatte sie nicht überreagiert? Sie hätte auch weglaufen können. Doch das war offensichtlich keine Option für sie. Die Automatismen ihrer Nahkampfausbildung hatten sie daran gehindert. Wurde sie angegriffen, waren die Gefahrenabschätzung und die folgende Reaktion unmittelbar aufeinander abgestimmt. Hatte sie eine Chance oder war Angriff die einzige Möglichkeit, schlug sie zu. War die Chance zu gering und es gab einen Fluchtweg, zog sie sich zurück. Im Fall der drei betrunkenen Männer war die Abschätzung eindeutig und blitzschnell erledigt gewesen, so wie der Kampf. Die Frage war nur, warum sie sich nicht im Alltag auch in solchen Situationen zurückziehen konnte. Schließlich hätte sie die Männer auch schwerer verletzen können.

Sie wechselte abrupt vom warmen zum kalten Wasser. Diese Schocktherapie wirkte. Sie schnappte nach Luft. Und nach einer Minute war ihr Kopf frei. Janne stieg aus der Dusche, trocknete sich ab. Dann ging sie ins Wohnzimmer und schob ihre Lieblings-CD von Jan Garbarek in den Player. »Rites«. Die elegischen Klänge des Saxofons waren die richtige Begleitung für die Kleiderwahl.

Sie drehte die Anlage auf und begab sich ins Schlafzimmer. Noch sechzig Minuten bis zum Bewerbungsgespräch. Die Unterwäsche war schnell angezogen. Nachdem sie dann diverse Röcke, Hosen, Blusen, Blazer, hohe Schuhe, flache Schuhe, Sneakers und Stiefel in allerlei Kombinationen anprobiert hatte, sah das Zimmer zwar aus wie nach einem Orkan, aber Janne stand stolz vor dem Spiegel und betrachtete ihr favorisiertes Outfit: Bootcut-Lederhose, kombiniert mit einem grauen, legeren Pulli und einem schwarzen Blazer. Dazu die schwarzen Stiefeletten mit den flachen Absätzen. Jetzt musste sie sich nur noch dezent schminken, ihren Kratzer bearbeiten, und dann konnte sie los.

Um Punkt achtzehn Uhr stand Janne vor dem »Café au Lait« in der Poststraße. Sie klappte den Regenschirm zusammen und betrat das Café. Ein Schwall von Stimmen schwappte ihr entgegen. Sie stellte den Regenschirm in den Schirmständer, nahm ihre Mütze vom Kopf und fuhr sich mit der anderen Hand durch die Haare.

In dem Moment kam ein etwa fünfzigjähriger Kellner auf sie zu und sagte mit manierierter Stimme: »Ah, Sie sind bestimmt Mademoiselle Bakken. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«

Überrascht schaute Janne zum Kellner, zog aber bereitwillig den Mantel aus, den dieser beflissen entgegennahm. Dabei sagte er leise: »Sie müssen nicht denken, dass das ganze Café Ihren Namen kennt.« Er lachte kurz auf. »Ich bin neben Elias, also Dr. Hopp, der Einzige.« Er blickte zu Elias Hopp. »Dort drüben, der Herr mit den buschigen Augenbrauen und dem Dreitagebart, das ist er. Wenn ich Sie zu ihm bringen darf.« Sagte es und ging die fünf Schritte zu dem Tisch.

Janne folgte ihm. Elias Hopp stand auf, gab Janne die Hand. »Wie Sie sicherlich schon von Paul wissen«, er schaute ihn grinsend an, »bin ich Elias Hopp. Ich freue mich, dass Sie kommen konnten.«

»Janne Bakken«, erwiderte sie charmant. »Ich freue mich, dass Sie mich eingeladen haben.«

Paul zog den freien Stuhl zurück und bedeutete Janne, sich zu setzen. »Was darf ich Ihnen denn bringen? Ich könnte da einen –«

»Minze-Ingwer-Tee empfehlen?«, fiel Janne ihm lächelnd ins Wort.

»Genau das wollte ich gerade sagen. Selbstverständlich frisch aufgegossen.«

5

Freitag, 11.1.2019

Die Frau saß in dem ausladenden Ohrensessel mit Blümchenmuster, in dem ihre Mutter oft gesessen hatte. Sie hatte in dem Wohnzimmer nach dem Tod ihres Vaters einiges verändert, nur die Bücherregale zierten immer noch die Wände. Die alten Teppiche hatte sie entfernt, sodass jetzt das Eichen-Fischgrätparkett seine wohlige Wärme entfalten konnte, vor allem wenn das Licht durch die bodentiefen Fenster den Raum flutete. Mitten im Raum präsentierte sich eine graue Sitzlandschaft mit einem raffinierten Modulsystem. Bunte Kissen mit Mustern aus den siebziger Jahren verliehen der Couch etwas Verspieltes, unterstrichen aber zugleich ihre Dominanz.

Die Frau saß gerne in dem Ohrensessel und blickte auf das Wohnzimmer. Es war der einzige Raum, den sie renoviert hatte. Diesen Raum hatte sie verändern müssen. Der Ort, an dem ihr Vater die ihm wohlgesinnten Männer empfangen hatte. Männer, die ihr Angst gemacht hatten. Männer, die nach wie vor in ihren Träumen auftauchten. Der Gedanke daran ließ sie erschaudern.

Alle anderen Ideen, das große Haus vom Mief vor allem ihres Vaters zu befreien, waren in den Anfängen stecken geblieben. Ihr hatte einfach die Kraft gefehlt. Erst in den letzten Wochen hatte sich das Gefühl eingestellt, dass wieder ein wenig Energie in sie geflossen war.

Sie hatte Kontakt zu Victor aufgenommen. Sie kannten sich seit Kindertagen, und er war der Einzige, der sie so akzeptierte, wie sie nun einmal war. Nie hatte er nach Gründen für ihre depressiven Stimmungen und plötzlichen Angstattacken gefragt, nie hatte er ihr Vorwürfe gemacht, wenn sie wochenlang abgetaucht war. Früher nicht, heute nicht. Er hielt bedingungslos zu ihr. Sie waren kein Paar, aber sie waren Seelenverwandte, und das unsichtbare Band zwischen ihnen war unabhängig von Zeit, Ort und Umständen. Victor war sofort gekommen, als sie ihn um Hilfe gebeten hatte. Und auch jetzt hatte er nicht gefragt, warum sie tat, was sie tun musste. Er wusste es sowieso.

Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hing weiter ihren Gedanken nach. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie trotz aller Widrigkeiten und psychischen Probleme stark gewesen. Sie hatte ihr Abitur auf einer Privatschule gemacht und sich dem Wunsch ihres Vaters widersetzt, Betriebswirtschaft zu studieren, um die Werkzeug- und Maschinenfabrik zu übernehmen. Stattdessen hatte sie sich für Französisch und Kunstgeschichte entschieden, was auf völliges Unverständnis bei ihrem Vater gestoßen war. Er hatte sogar damit gedroht, sie zu enterben, sie dann aber doch in Ruhe studieren lassen, allerdings ohne sie finanziell zu unterstützen. Das war seine kleine Rache gewesen, nur wusste er nicht, dass ihre Mutter ihr ein Konto eingerichtet hatte, auf das sie, als sie volljährig wurde, zugreifen konnte.

Sie hatte also alle Freiheiten gehabt, doch die beste Phase in ihrem Leben hielt nicht lange an. Ihre depressiven Stimmungen nahmen wieder zu und damit auch der Tablettenkonsum. Ihr Studium brachte sie dennoch mit vielen Unterbrechungen zu Ende. Seitdem arbeitete sie immer mal wieder für einen Verlag als Lektorin für französischsprachige Literatur. Sie brauchte das Geld nicht. Als ihr Vater mit achtzig Jahren starb, erbte sie eine florierende Firma. Aber sie brauchte eine Beschäftigung.

Das Lächeln war aus dem Gesicht der Frau verschwunden. Sie blickte lange auf den Bildband, der neben ihr auf dem kleinen Teakholztisch lag. Es waren Fotografien von Robert Capa, einem der berühmtesten Fotografen des 20. Jahrhunderts, der vor allem als Kriegsfotograf bekannt geworden war. Ihre Mutter liebte diesen Bildband, der nicht nur die Kriegsfotos Capas enthielt, sondern auch viele Künstlerporträts. Auch sie selbst hatte in letzter Zeit oft in diesem Band geblättert und war immer wieder bei einem Foto hängen geblieben.

Capa hatte es im August 1944 in Chartres aufgenommen. Es zeigte eine große, durch eine Kopfsteinpflasterstraße gehende Menschenmenge. Alle Menschen, ob Frauen, Männer oder Kinder, blickten auf eine Frau mit einem Baby im Arm. Es schien die Mutter zu sein, die angespannt und verängstigt auf ihr Kind schaute. Sie trug ein Kleid und darüber einen hellen Mantel. Auf ihrer Stirn hatte sie Kreise, und ihr Kopf war kahl geschoren. Was war mit dieser Frau geschehen? Offensichtlich wurde sie durch die Straßen getrieben.

Die Frau legte den Bildband zur Seite und schloss die Augen. Doch sie sah nach wie vor das Foto. Nur erwachte es jetzt wiederholt zum Leben, und aus der Frau mit dem Kind wurde ihre Großmutter, die bespuckt und zum Ortsausgang getrieben wurde.

Ein Handyklingeln riss sie aus ihren Gedanken und Bildern. Es gab nicht viele Menschen, die ihre Telefonnummer kannten. Sie atmete tief durch.

»Ja?«

»Ich wollte dich beglückwünschen.«

»Danke.«

»Das war ein mutiger und wichtiger Schritt.«

»Ich spüre auch ein wenig Energie.« Langsam war sie wieder bei sich.

»Das ist gut. Nutze sie für dich und den Prozess deiner Genesung.«

Es entstand eine kurze Pause.

»Das sagst du so einfach. Die Alpträume und Flashbacks sind nicht verschwunden.«

»Blicke in dich hinein, blicke zurück und blicke nach vorn. Du wirst merken, dass du mit der neu gewonnenen Energie zu mehr fähig bist. Und je mehr du handelst, umso stärker verblassen die dich belastenden Bilder aus der Vergangenheit.«

»Endgültig?«

»Ein Prozess ist immer ein Vorgang, bei dem sich etwas entwickelt. Mal schneller, mal langsamer. Auch Rückschläge gehören dazu.« Es entstand eine kurze Pause.

»Aber in letzter Konsequenz führen sie bei entsprechender Planung und Steuerung zum Ziel, zu deinem Ziel. Genesung und Befriedung deiner selbst. Ich habe neue Informationen für dich.«

6

Freitag, 11.1.2019

Auf der Rückfahrt nach Hause ging Elias das Gespräch mit Janne Marie Bakken nicht aus dem Kopf. Es war ein angenehmes Gespräch gewesen, und die junge Frau machte einen kompetenten und, so fand er, für ihr Alter sehr reflektierten Eindruck. Aber brauchte er Unterstützung für seine Arbeit? Er war sich nicht sicher. Und so beschloss er, eine abschließende Bewertung und Entscheidung mit seinem Freund Zille morgen nach dem Fußball zu besprechen. Jetzt wollte er sein neues Sofa, eine Ottomane, die er sich vor einer Woche gekauft hatte, einweihen und den Abend einläuten.

Die Ottomane sollte sein neuer Entspannungsplatz werden, deshalb war es mit freier Sicht auf den Reprint eines Gemäldes von Akil Ahmad ausgerichtet, einem jungen syrischen Künstler, der zurzeit in Beirut arbeitete. In seine Bilder flossen immer wieder Elemente der Kalligrafie ein, dieser wunderbaren arabischen Schreibkunst, die Elias so liebte.

Er legte sich auf die Ottomane und richtete seinen Blick auf das Bild, das ihn mit seinen blauen, geschwungen kalligrafischen Pinselstrichen auf graubraunem Grund in eine andere Welt entführte. Er versank in den verschlungenen Windungen der Zeichen und Muster und landete entweder im Land seiner Träume oder im Krieg. Das hing ganz von seiner Stimmung und seinen Gedanken ab. Jetzt konnte er die Farben und Motive des Bildes mit vielen neuen Eindrücken im Kopf von einer entspannten Position und aus neuer Perspektive auf sich wirken lassen. Diesmal sprangen ihm vor allem die unterschiedlichen Blautöne sowie die gelben Punkte im Geflecht der Kalligrafien entgegen. Sonnige Lichter oder Blitze von Raketen? Elias schloss die Augen und sah verschwommene Bilder aus seiner Kindheit. Er auf dem Schoß der Mutter, im Arm seines Vaters, spielende Kinder. Dann hektische Bewegungen, laufende Menschen, schreiende Kinder. Lichter und Blitze im Wechsel ohne klare Konturen wirbelten durcheinander.

Er öffnete die Augen. Dieses Gedankenkarussell trug nicht zu seiner Entspannung bei. Er setzte sich auf, blickte aus dem Fenster und sah die kahlen Bäume, deren Äste im Wind hin und her wogten. Er würde diese Erinnerungsfetzen nicht mehr klarer kriegen. Leider hatte er über seine Flashbacks nie mit seiner Mutter geredet. Genauso wenig wie über seinen leiblichen Vater, der auf der Flucht aus dem Libanon ums Leben kam. Fünf Jahre war Elias erst gewesen, als sie sich 1976 nach den Massakern von Damur und Karantina auf den Weg Richtung Beirut gemacht hatten. Für maronitische Christen war es zu gefährlich geworden, hatte ihm seine Mutter gesagt.

Und dennoch musste Elias den Tod seines Vaters mitansehen. Seine Mutter und er waren bei einer Rast während der Flucht aus dem Bus gestiegen, während die meisten Männer im Bus geblieben waren, und hatten sich mit einer Gruppe anderer Frauen und Kinder weiter entfernt, um ihre Notdurft zu verrichten. Und als sie dann gerade wieder zurückkehren wollten, sahen sie die Blitze am Himmel. Die Mütter warfen sich über die Kinder und lagen auf dem Boden, als zwei Raketen im Bus einschlugen. Elias hatte unter der Jacke seiner Mutter hervorgelugt und den Einschlag gesehen. Den Tod seines Vaters.

Elias stand auf, ging zum Sideboard und schenkte sich einen Brandy ein. Er nahm einen Schluck und betrachtete versonnen ein Foto seiner Mutter, das auf dem Sideboard stand. Das alles ist jetzt zweiundvierzig Jahre her, Rafqa, sagte Elias im Stillen zu seiner Mutter und prostete ihr zu.

Irgendwie hatten sie sich nach Beirut durchgeschlagen und in einer maronitischen Kirche Unterschlupf gefunden. Dort trafen sie Sören Hopp, einen deutschen Botschaftsangehörigen, der sie mit nach Hamburg nahm, drei Jahre später seine Mutter, Rebekka Massih, heiratete und ihn adoptierte. Seitdem lebte er in diesem Haus. Doch auch seinen Adoptivvater hatte Elias inzwischen verloren. Bald nach der Heirat war Sören Hopp wieder in den Auslandsdienst geschickt worden. Fünf Jahre ging das gut, dann kam er bei einem Anschlag in Äthiopien wohl ums Leben. Seine Leiche war jedoch bis heute nie gefunden worden.

Bevor er sich weiter in seinen dunklen Gedanken verlieren konnte, bekam Elias eine Nachricht auf sein Smartphone. Habe einen Job für dich. Ganz aktuell und brisant. In einer Stunde bei Bobby Reich. CM.

Elias lächelte und trank seinen Brandy aus.

7

Samstag, 12.1.2019

»Zille, zu mir!«

Heiner Zillinski lupfte den Ball gefühlvoll über die beiden Abwehrspieler Richtung Elias Hopp, der auf der rechten Außenbahn seinem Gegenspieler davonlief, um den Ball aus spitzem Winkel volley auf das Tor zu schießen. Das war jedenfalls der Plan. Leider geriet er beim Schussversuch so stark in Rückenlage, dass er den Ball senkrecht an die Hallendecke drosch, sodass der beim Herunterfallen von einer Menge Putz begleitet wurde.

»Hätte ja klappen können«, sagte Elias achselzuckend. »Und dann wäre es das Tor des Monats gewesen.«

»Sei froh, dass nicht die ganze Decke runtergekommen ist«, entgegnete Zille lachend und lief auf Elias zu. »Lass uns nach dem Spiel noch was trinken.«

Elias schaute ihn fragend an. »Machen wir doch immer.«

»Aber nicht bei dir zu Hause.«

Kriminalhauptkommissar Heiner Zillinski, der von allen Zille genannt wurde, war seit über fünfundzwanzig Jahren im Polizeidienst und seit über fünfunddreißig Jahren mit Elias befreundet. Sie hatten gemeinsam das Gymnasium besucht und auch nach dem Abitur den Kontakt aufrechterhalten. Beide waren nach ihrem Studium wieder in Hamburg sesshaft geworden und hatten ihre Freundschaft intensiviert. Fußball und die Begeisterung für das Wandern hatten sie viel Zeit miteinander verbringen lassen, wenn es der Job zugelassen hatte. Zille hatte schnell Karriere beim LKA gemacht, diverse Sonderkommissionen geleitet und sich zum operativen Fallanalytiker ausbilden lassen. Eine Tätigkeit, der er inzwischen hauptsächlich nachging. Spezielles Know-how hatte er sich zudem bei einem halbjährigen Lehrgang in der FBI-Schule in Quantico angeeignet. Von dort hatte er auch die Vorliebe für Burger aller Art mitgebracht.

Jetzt saßen die beiden Männer in Elias Hopps Haus im Albertiweg in Klein Flottbek. Ein Gang durch dieses Haus war wie eine Reise durch den Orient in den Okzident. Möbel aus Zedernholz, dekorativ verziert mit Mosaiken, dominierten Flur, Schlaf-, Ess- und Wohnzimmer. Paravents mit geometrischen Mustern aus Gittern und Linien sowie lederbezogene Puffs vervollständigten die Einrichtung. Und all das kombiniert mit vielen Accessoires aus dem Orient. Die Küche – ein Kulturschock. Ein altes Büfett aus Eiche, die Spüle aus Naturstein, und auch die übrigen Schränke waren rustikal im Eichenfurnier gehalten. Das kleinbürgerliche Deutschland ließ grüßen.

Sie machten es sich am massiven Holzesstisch in der Wohnküche bequem. Die Burger lagen vor ihnen, und das Bier stand im Kühlschrank. Elias sah, wie Zilles Blick amüsiert über die Einrichtung schweifte.

»Ich werde mich von dieser Küche trennen. Gefallen hat sie mir nie. Aber meine Mutter hat sie geliebt. Sie war für sie so typisch deutsch. Und sie liebte Deutschland.«

Zille holte zwei Bier aus dem Kühlschrank. »Ich wurde mal aus Quantico zu einem Mordfall in ein Landhaus in Virginia gerufen und sollte dort bei der Morduntersuchung helfen. Dieses Landhaus hatte mindestens fünfzehn Zimmer, zwei Küchen mit Vorratsräumen, so groß wie dein Ess- und Wohnzimmer zusammen. Das Untergeschoss war im Landhaus-, teilweise Kolonialstil eingerichtet, schwere Möbel, alle aus Eiche, Braun- und Beigetöne dominierten. Im Obergeschoss dann eine andere Welt. Alles war viel offener, Wände hell gestrichen. Möbel im Shabby Chic, aber modern.« Er öffnete sich ein Bier. »Es waren zwei Welten, doch in ihr lebten drei, zeitweise sogar vier Generationen jahrelang harmonisch zusammen. Bis die jüngste Generation nach dem Tod des Urgroßvaters das Untergeschoss modernisieren ließ. Zwei Wochen später hat der Großvater seinen Enkel, dessen Frau und schließlich sich selbst erschossen.« Er prostete Elias zu. »Das Leben in zwei Welten war wohl entspannter.«

Dann machte er sich über den Trüffelburger her. Für Elias blieb der Honey-B.-Burger.

»Ich habe Informationen über deine Bewerberin. Wie war das Treffen mit ihr?«, fragte Zille mit vollem Mund.

»Interessant, eher bemerkenswert und unerwartet. Und zwar auf die Person bezogen. Sie war charmant distanziert, von ihren Fähigkeiten überzeugt, ohne arrogant zu sein. Sie machte den Eindruck einer Frau, die weiß, wann sie wie zu agieren hat.« Elias nahm einen Schluck Bier und ein paar Pommes.

»Du hast mir ja ihre Mail weitergeleitet, da hab ich mal ein wenig in speziellen Datenbanken recherchiert und meine Kontakte nach Norwegen bemüht. Janne Bakken hat von Geburt an die deutsche und norwegische Staatsangehörigkeit und konnte damit bei den Jegertroppen eine Ausbildung beginnen. Das ist eine ausschließlich weibliche Spezialeinheit der norwegischen Armee, die für Überwachungs- und Aufklärungsmissionen ausgebildet wird, in Krisengebieten. Die Ausbildung ist umfangreich und hart, sie kann mit verschiedenen Waffen umgehen, hat unterschiedliche Kampftechniken und Häuserkampf trainiert, kann Operationen planen, Fallschirmspringen, und wenn es sein muss, fliegt sie auch einen Heli.« Zille nahm einen großen Biss vom Burger und spülte Bier hinterher.

»Ist sie eine weibliche Navy Seal?« Man sah Elias sein Erstaunen an.

»Sie ist eine Überlebenskünstlerin«, Zille schob sich den Rest des Burgers in den Mund, »schlägt sich allein durch die Wildnis mit schwerem Gepäck, und das manchmal tagelang ohne Schlaf und Essen.« Er verzog das Gesicht. »Das wäre nichts für mich.« Er ging zum Kühlschrank und holte noch zwei Bier. »Isst du deinen Burger nicht?«

Elias schüttelte den Kopf. »Die Pommes reichen mir, kannst ihn essen.«

Das ließ sich Zille nicht zweimal sagen. Er nahm sich den Burger und stellte die Biere auf den Tisch.

»Wo lässt du eigentlich die Kohlenhydrate und das ganze Fett, Zille?«

»Im Gegensatz zu dir treibe ich ja auch mindestens dreimal die Woche Sport. Ich brauche die Kohlenhydrate«, lachte er und biss in den Honey-B.-Burger. »Ich liebe diese karamellisierten Zwiebeln, und die Honig-Erdnuss-Mayo ist auch der Hit.«

»Zu dumm nur, dass die Hälfte gerade auf deiner Hose gelandet ist.« Elias reichte ihm grinsend eine Serviette.

Zille wischte sich die Hose sauber. »Aber was wirklich interessant oder, wie sagtest du …?«

»Bemerkenswert.«

»Genau, bemerkenswert an dieser Janne Bakken ist, ist, dass sie alle Prüfungen im Rahmen der Ausbildung mit Bravour bestanden hat, aber dennoch nicht Mitglied bei den Jegertroppen wurde.«

Elias guckte ungläubig.

»Warum«, fuhr Zille fort, »konnte oder wollte mein Kontakt mir nicht sagen. Er ließ sich nur noch zu der Bemerkung hinreißen, dass sie eine toughe Frau sei, die sich nichts gefallen lasse.« Zille hob seine Flasche. »Ich finde, es spricht alles dafür, mit ihr zusammenzuarbeiten. Prost!«

Sie stießen an und nahmen einen großen Schluck.

»Ich habe auch Informationen für dich«, sagte Elias.

»Aaah.« Zille stellte seine Flasche Bier auf den Tisch.

»Das heißt, eigentlich mehr ein paar Fragen.«

»Jetzt machst du mich neugierig.«

»Ich habe mich heute Nachmittag mit Constantin Mügge getroffen …«

»Dem Typen von diesem investigativen Magazin?«

»Ja, von ›Lumen‹. Ich soll für ihn im Mordfall des Toten vom Alten Schweden recherchieren.«

Zille lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schmunzelte. »Und schreiben.«

Elias nickte. »Wenn es eine gute Story ist.«

»War klar. Ich habe dem Staatsanwalt gleich gesagt, dass er die Presse nicht lange an der Nase herumführen kann. Nimmst du den Auftrag an?«

»Hört sich interessant an. Außerdem zahlt er gut.«

»Und kennt deine Kontakte zur Polizei.«

Elias zuckte mit den Schultern. »Bist du in den Fall involviert?«

»Kriminalhauptkommissar Pöppelmann leitet die Soko«, sagte Zille, und Elias hörte ihm seine Skepsis an. »Ich soll ihn auf Wunsch von Staatsanwalt Dürkopp als Fallanalytiker unterstützen.« Zille machte eine kurze Pause. »Und falls nötig, dich als Informationsbeschaffer einbinden.«

»Wie komm ich zu der Ehre?«

»Er hat deine Unterstützung bei der Aufdeckung des rechtsradikalen Netzwerks nicht vergessen.«

Elias lächelte. »Warst du am aktuellen Tatort?«

»Sicher.«

»Und gibt es schon erste Erkenntnisse?« Elias blickte Zille neugierig an. »Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.«

»Okay, ich binde dich in den Fall mit ein. Aber unter einer Bedingung.« Und jetzt machte Zille ein ernstes Gesicht. »Du legst dir eine Mitarbeiterin zu. Ich glaube nämlich, dass der Fall es in sich hat.«

Elias nickte. »Mach ich.«

»Hast du noch ein Bier?«

8

Montag, 14.1.2019

Janne war von Elias’ Anruf geweckt worden. Er hatte sie aus einem bizarren Traum mit fliegenden Fäusten und brutalen Tritten gerissen. Die Schweißperlen standen ihr noch auf der Stirn. Es war eine Weile her, dass sie fast jede Nacht zwei- bis dreimal schweißgebadet aufgewacht war. Zumeist hatten Dämonen und Monster sie verfolgt. Diese Alpträume suchten sie glücklicherweise nicht mehr heim. Ihre zweijährige Weltreise hatte ihr andere Bilder geschenkt und sie nach Bhutan ins Kloster Tamshing geführt. Fast ein halbes Jahr hatte sie dort verbracht, war zur Ruhe gekommen und hatte mit Hilfe regelmäßiger Meditationen gelernt, ihren Geist zu beobachten und zu verstehen. Sie hatte emotionale Stabilität und Gelassenheit gefunden, einen Weg in ihr Inneres und einen gesunden Schlaf. Doch offensichtlich hatte etwas sie getriggert und ihr den unangenehmen Traum beschert.

Janne dachte nach, und ihr fiel nur die Schlägerei vor dem Holsteneck von vor zwei Tagen ein. Eigentlich nichts Besonderes, sie hatte sich verteidigt, niemand war wirklich zu Schaden gekommen. Sie grinste. Anders als damals, als sie Malte Sandvik, den Kommandanten der norwegischen Spezialeinheit, verprügelt hatte, weil er ihre Freundin Liv Hauge erniedrigt hatte. Diesem Arschloch hatte sie die Nase und zwei Rippen gebrochen. Das bereute sie nicht. Doch dass sie deshalb nicht in die Jegertroppen übernommen worden war, das bedauerte sie heute noch. Sie war die Beste im Jahrgang gewesen und wie geschaffen für den Job. Leider ohne offiziellen Abschluss. Hoffentlich war der Traum kein schlechtes Omen. Sie war nämlich abergläubisch.

Janne sprang aus dem Bett und spürte ihre Muskeln. Das gestrige Training im Dojo machte sich bemerkbar. Aber sonntags war ein guter Tag, da waren im Dojo nicht so viele Leute. Sie sollte in einer Stunde bei Elias Hopp sein, der ihr eben mitgeteilt hatte, dass er sie bei einem möglichen Fall dabeihaben wollte. Damit war sie wohl eingestellt.

In weniger als zehn Minuten war sie geschminkt und angezogen, trank ein Mango-Lassi und machte sich auf den Weg zum Auto. Auf der Königstraße entschied sie, nicht durch Ottensen, sondern über die Elbchaussee in den Hamburger Westen zu fahren. Vorbei am Heine-Park, am Gourmetrestaurant Le Canard und an einigen prachtvollen Villen passierte sie die Remise Halbmond, ein Architekturjuwel Hamburgs. Vor dem Generalkonsulat der Volksrepublik China bog sie rechts in die Parkstraße ein. Die zweite Straße links war der Albertiweg, im Haus Nummer 17 wohnte Elias Hopp.

Janne hielt direkt vor der Garagenausfahrt und hupte zweimal. So hatten sie es ausgemacht. Elias Hopp kam aus dem roten Backsteinhaus, das aufgrund seiner Schlichtheit ein wenig aus dem Rahmen fiel. Er trug einen hellen Trenchcoat, einen passenden hellgrauen Stetson Fedora aus Filz und eine schwarze Krawatte mit weißen Pünktchen. Seine Lederaktentasche hing ihm über die rechte Schulter. In der rechten Hand balancierte er zwei Kaffeebecher, in der anderen eine Brötchentüte. Janne öffnete ihm die Beifahrertür und nahm das Tablett entgegen.

»Dachte, wir frühstücken auf der Fahrt«, sagte er beim Einsteigen. »Es geht auf die Uhlenhorst, Hofweg 53.« Elias sah Jannes fragenden Blick. »Das hat historische Gründe, dass man in Hamburg nicht in Uhlenhorst, sondern auf der Uhlenhorst wohnt.« Er holte ein Croissant aus der Tüte. »Wenn nicht so viel Verkehr ist, schaffen wir es in dreißig Minuten. Auch eins?« Er hielt ihr die Tüte hin.

Janne lehnte dankend ab, nahm einen Schluck Kaffee und wollte losfahren.

»Moment.« Elias hielt einen Moment inne. »In Norwegen duzt man sich üblicherweise, oder?«

Janne nickte.

Er reichte Janne die Hand. »Elias.«

Diese ergriff sie ein wenig verwirrt, erwiderte aber lächelnd: »Janne.«

Elias hielt ihre Hand fest. »Und in Hamburg stellt man per Handschlag gute Leute ein.«

Aus Jannes Lächeln wurde jetzt ein Lachen. »Auch eine gute Sitte.«

»Kommen wir zur Arbeit. Wir haben nämlich einen Job.« Elias nahm ein Foto aus der Aktentasche und zeigte es Janne.

»Das kenne ich nur mit Balken vor den Augen und bis zum Bauchnabel.«

»Die Presse hat ausnahmsweise einmal ein wenig Pietät gezeigt. Das ist das Original-Smartphone-Foto vom toten Erwin Brievenbusch. Und das kursiert seit Tagen im Netz.«

Janne schüttelte den Kopf. »Ein Toter ohne Schwanz. Wer hat das Foto gemacht?«

»Eine der beiden Teenager, die beim Fund der Leiche dabei waren. Aber sie schwört, dass sie es nicht ins Netz gestellt hat. Sie habe es nur ihrer besten Freundin geschickt.«

»Und die?«

»Hat es nur ihrer WhatsApp-Gruppe ›Beste Freundinnen‹ geschickt.«

»Und wie viele waren das?«

»Dreiunddreißig.« Elias steckte das Foto wieder in die Tasche, während Janne losfuhr. »Aus den einschlägigen sozialen Netzwerken ist es inzwischen aufgrund massiver Intervention wieder verschwunden. Aber natürlich existiert es weiter in WhatsApp-Gruppen und anderen Chats.«

»Von wem hast du das Foto?«

»Von einem Freund, Heiner Zillinski. Der arbeitet beim LKA, ist Profiler und in den Fall involviert. Klar ist, dass Brievenbusch ermordet wurde. Allerdings nicht am Elbstrand.« Elias trank einen Schluck Kaffee. »Viel mehr konnten sie am Fundort aber nicht feststellen. Zum einen haben Regen und Schnee die meisten Spuren verwischt, und mögliche restliche Spuren wurden von den Hunden der drei Spaziergänger, die den Toten gefunden haben, vernichtet. Der Tatort war also völlig kontaminiert.«

»Was ist unsere Aufgabe? Sollen wir für die Polizei arbeiten?

»In erster Linie sollen wir im Auftrag von ›Lumen‹ für einen oder mehrere Artikel recherchieren und mehr über Brievenbusch herausfinden. Der kommt aus einer angesehenen Hamburger Kaufmannsfamilie, ist aber nicht ganz unumstritten. Es gibt Gerüchte: unsaubere Geschäftsmethoden, Kontakt zur Unterwelt, Spielschulden.«

Janne fuhr gerade am Altonaer Balkon vorbei und dann auf die Palmaille. »Was hat er beruflich gemacht?«

»Mit Futterweizen gehandelt.«

»Und sieht die Polizei einen Zusammenhang zwischen seinem Tod und seiner beruflichen Tätigkeit?«

»Die schließen nichts aus.«

»Bei den Gerüchten kein Wunder.«

»Zumal das Fehlen des Glieds bei einem Toten ja schon ungewöhnlich ist.«

»Ist ihm der Schwanz bei Bewusstsein …?«, fragte Janne entsetzt.

»Nein, nein, das ist post mortem geschehen. Erste Untersuchungen haben ergeben, dass er eine Überdosis Natriumpentothal bekommen hat, nachdem er mit einem Elektroschocker ruhiggestellt wurde.«

Janne bremste abrupt und hupte einen Radfahrer an. »Die Radfahrer in Hamburg fahren wie die Irren«, fluchte sie. »Und wie lange war er schon tot, als man ihn fand?«

»Schwierig zu sagen. Die Rechtsmedizinerin hat sich nach der ersten Obduktion auf mindestens zwanzig Stunden festgelegt.

»Ging es nicht genauer?«

Elias biss in sein Croissant und redete mit vollem Mund weiter. »Die Totenflecken haben sich auf dem Rücken und in den seitlichen Lagen gebildet. Weder durch den Transport noch durch Drehen der Leiche auf den Bauch haben sich diese verlagert. Dieses Phänomen tritt erst nach zwölf Stunden ein. Außerdem waren sie schon ineinandergeflossen. Wegdrücken ließen sich die Totenflecken aber noch, wenn auch nur teilweise und mit erheblichem Druck. Und das weist darauf hin«, für Elias fort, »dass der Tod vor mindestens zwanzig, aber höchstens sechsunddreißig Stunden nach Auffinden der Leiche eingetreten sein muss.«

»Dann wäre Brievenbusch zwischen vierzehn Uhr am Dienstag und zwei Uhr am Mittwoch gestorben«, rechnete Janne vor.

»Davon müssen wir ausgehen, zumindest solange die Rechtsmedizinerin keine weiteren Hinweise findet.«

Sie fuhren eine Weile schweigend weiter.

»Zille, also Zillinski, vermutet«, fuhr Elias schließlich fort, »dass es sich um einen Racheakt handelt. Entmannung als symbolischer Akt. Ein Mann ohne Penis hat keine Macht, ist kraftlos, unfruchtbar, kein Mann mehr.

»Rache für eine Vergewaltigung?«

»Möglich. Oder ein anderer Vergeltungsakt oder starker Hass.« Elias strich sich die Croissantkrümel von der Hose.

»Das Motiv ist also völlig unklar?«

»So ist es. Und die Umstände des Mordes eben auch. Es gibt keine verwertbaren Spuren. Und das macht die Sache für ›Lumen‹ so interessant. Je mehr wir über Brievenbusch wissen, umso klarer vielleicht das Motiv.« Elias hielt kurz inne. »Und da Brievenbusch eine prominente Persönlichkeit mit einem weitverzweigten Netzwerk ist beziehungsweise war, muss die Polizei, aber auch die Presse, sehr vorsichtig sein.«

»Druck aus der Politik?«

Elias zuckte mit den Schultern. »Er hat viele einflussreiche Freunde. Fahr am besten über die Kennedybrücke und dann an der Alster lang. So kommen wir am besten zum Hofweg. Frau Brievenbusch hat sich zu einem Interview bereit erklärt.«

9

Montag, 14.1.2019

Alma Brievenbusch empfing Elias und Janne in ihrer riesigen Altbauwohnung im zweiten Stock. Schon die dreiflügelige Eingangstür mit dem Rundbogen als Oberlicht war beeindruckend.

»Erwarten Sie jetzt keine trauernde Witwe, das Spiel spiele ich nicht.«

Mit einem Glas Champagner in der Hand führte sie die beiden ins Wohnzimmer. Sie zeigte auf eine weiße Ledercouch, die dominant in der Mitte des mindestens vierzig Quadratmeter großen Zimmers stand. Sie selbst nahm in einem hellgrauen Clubsessel Platz. Sie hob ihr Glas.

»Kann ich Ihnen auch was zum Trinken anbieten? Ich brauche das für meinen Kreislauf.«

Elias lächelte. »Wir wollen nicht lange stören. Wie ich schon am Telefon sagte, beabsichtigen wir, einen Artikel über Ihren Mann zu schreiben, der vor dem Hintergrund seines tragischen Todes natürlich einer besonders gründlichen Recherche bedarf.«

»Ja, der Tod meines Mannes ist in vielerlei Hinsicht tragisch. Natürlich ist es auch ein Verlust für mich, aber in unseren Kreisen ist Trauer eher ein Zeichen von Schwäche.« Alma Brievenbusch nippte an ihrem Glas. »Kommt mir ganz gelegen. Die Geschäfte müssen ja weitergehen.«

»Sicher.« Janne blickte sich im Raum um. »Hatte Ihr Mann Feinde?«

»Nicht dass ich wüsste. Konkurrenten ja, aber keine Feinde.«

»Ist das nicht ungewöhnlich?«

»Wir sind ja nicht im Wilden Westen.« Frau Brievenbusch schenkte sich ein weiteres Glas Champagner ein. »Mein Mann war ein ehrbarer Kaufmann, hart in der Sache, fair im Umgang. Das können Sie auch seine Kollegen aus der GffH fragen.«

»Die Gesellschaft für freien Handel«, ergriff Elias das Wort.

»Genau.«

»Dürfte ich mal Ihre Toilette benutzen, Frau Brievenbusch?«

»Sicher. Bei der Wohnungstür und dann auf der rechten Seite.«

Elias blickte Janne irritiert hinterher, wandte sich dann aber wieder Frau Brievenbusch zu. »Wie liefen die Geschäfte Ihres Mannes?«

»Na ja, hätten besser laufen können, zumindest im letzten Jahr. Aber mein Mann war optimistisch und zudem gerade in Verhandlungen mit einigen Firmen aus Osteuropa.«

»Worum ging es dabei?«

»Wahrscheinlich um neue Absatzmärkte. Genaueres ist mir aber nicht bekannt.«

»Wissen Sie denn, mit wem er verhandelt hat?«

Mehr konnte Janne nicht verstehen. Sie bog hinter dem Zimmer rechts in den langen Flur und lief zunächst an der Küche vorbei. Die nächste Tür war geschlossen, doch auf der gegenüberliegenden Seite konnte sie durch die Tür ein paar aufgeschlagene Aktenordner sehen. Janne zögerte kurz, bevor sie das Zimmer betrat. Es handelte sich offensichtlich um ein Arbeitszimmer. Der Einrichtung und den Fotos auf dem Schreibtisch nach zu urteilen, war es das Zimmer von Erwin Brievenbusch gewesen.

Janne schritt zum Schreibtisch und schoss ein paar Fotos mit ihrem Smartphone. Die aufgeschlagenen Akten, ein paar Notizen und einige Prospekte von Landwirtschaftsmaschinen. Dann machte sie noch ein paar Fotos vom Zimmer, das sie anschließend Richtung Toilette verließ. Auf dem Rückweg blieb sie vor der einzig geschlossenen Tür stehen. Sie lauschte und konnte hören, dass Elias und Frau Brievenbusch noch im Gespräch waren.

Janne öffnete kurz entschlossen die Tür und war im Schlafzimmer. Sie roch das schwere Frauenparfüm, das ihr neben der Alkoholfahne von Frau Brievenbusch schon an der Wohnungstür aufgefallen war. Sie kannte es. »Alien« von Mugler. Ihre Mutter hat es benutzt, dieses nach Patschuli und süßen Gourmand-Noten duftende Parfüm. Und sie konnte es nicht ausstehen. Ihr fiel außerdem sofort auf, dass dies kein Schlafzimmer von Eheleuten war. Nichts erinnerte an Erwin Brievenbusch. Sie blickte sich um. Auf dem Schminktisch lag eine Einladung zum Schneepolo in St. Moritz mit einigen handschriftlichen Anmerkungen versehen. Wieder machte Janne ein paar weitere Fotos, auch von den Kleidern und anderen Gegenständen, die verteilt im Zimmer herumlagen.

Auf einem Sessel entdeckte sie einen Laptop, der unter einigen Nachthemden hervorschimmerte. Janne überlegte nicht lange, schob die Nachthemden beiseite, steckte einen Stick mit einem Passwörter umgehenden Programm in den Laptop, haute einige Tastenkombinationen in die Tastatur und drückte dann die Enter-Taste. Sie hatte ihn noch nie verwendet, doch ihre Freundin Liv Hauge hatte ihr versichert, dass das Programm nicht nur funktioniere, sondern auch alles ganz schnell gehe. Sie lauschte an der Tür und hörte immer noch die Stimmen aus dem Wohnzimmer. Dann machte es »pling«, und die Kopie der Festplatte war abgeschlossen. Sie entfernte den Stick und verließ das Zimmer.

Im Wohnzimmer setzte sie sich mit einem verlegenen Lächeln wieder neben Elias, der noch einige Fragen an Alma Brievenbusch richtete, bevor er und Janne sich verabschiedeten. Vor dem Haus blieben sie einen kurzen Moment auf dem Bürgersteig stehen und blickten dem Treiben auf dem Hofweg zu.

»Ich wollte noch ins Literaturhauscafé. Die haben einen empfehlenswerten Mittagstisch, und mit etwas Glück stehen auch Mezze auf der Karte.«

Janne blickte auf ihre Armbanduhr. »Wenn ich mich beeile, kann ich noch zum Training. Zurzeit ist einer der WingTsun-Großmeister im Budokan hier in Hamburg, der mir ein paar Privatstunden gibt. Ein anderes Mal, wobei die Mezze schon verlockend wären.«

»Machst du das schon lange?«

»Als Jugendliche habe ich mit Kung-Fu begonnen. Bei den Jegertroppen stand Krav Maga im Ausbildungsplan. Insofern hatte ich schon einige Übung, als ich vor zwei Jahren mit WingTsun anfing. Ich übe für den fünften Meister-Grad.«

Elias nickte anerkennend. »Ich mache Jiu Jitsu, bin aber von Meistergraden noch weit entfernt. Gut, dann gehst du zum Training und ich zum Essen.«

Janne kramte den Autoschlüssel aus ihrer Tasche und grinste. »Ist doch eine gute Arbeitsteilung.«

Elias setzte sich den Fedora auf den Kopf, ging einige Schritte, drehte sich dann aber noch einmal um. »Du warst ziemlich lange auf der Toilette.«

»Ich konnte mich nicht entscheiden, auf welche ich gehen sollte.«

»Wir sehen uns heute Abend.«

10

Montag, 14.1.2019

Seit einer halben Stunde stand er nun mit seinem dunkelgrünen Golf vor dem Haus im Hofweg 53. Er hatte sich eine gute Stunde verspätet, aber das musste ja niemand erfahren, schon gar nicht sein cholerischer Chef. Er wusste sowieso nicht, warum er beobachten sollte, wer bei der Witwe des Toten vom Elbstrand ein und aus ging. Bislang war nichts geschehen. Es waren noch nicht einmal Menschen am Eingang vorbeigelaufen. Aber auch egal. Er bekam Geld für den Auftrag, alles andere interessierte ihn nicht.

Bio, so nannte ihn sein Chef, lehnte sich bequem im Fahrersitz zurück. Er kontrollierte noch einmal die Fotokamera, dann schnappte er sich sein Smartphone und schrieb eine Nachricht. Er sollte sich in regelmäßigen Abständen melden. Bio betrachtete das als reine Schikane seines Chefs, aber dieser Typ war ein Kontrollfreak. Traute niemandem.

Nichts los. Keiner kommt. Keiner geht.

Eine Antwort kam prompt. Halte trotzdem die Augen offen.

Bio betrachtete das gegenüberliegende Haus. Es handelte sich um ein Jugendstilensemble aus drei zusammenhängenden Häusern mit drei Eingängen und einer Wagenauffahrt für das Mittelhaus. Nummer 53 war das rechte Haus. Er stand gegenüber vom Mittelhaus und konnte somit nicht direkt in den Eingang von Nummer 53 sehen. Dafür sah er den Brunnen vor der Nummer 49. Er fragte sich, warum man einen Brunnen direkt an die Straße setzte. So konnte doch jeder, der vorbeikam, vom Wasser trinken. Na ja, dachte Bio, vielleicht war das ja auch Absicht. Aber er brauchte sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen, er würde sich nie eine Wohnung in solch einem Prachtbau leisten können.

In dem Moment fuhr ein silbergrauer Porsche 911 in die Einfahrt und hielt vor dem Mittelhaus. Bio schnappte sich seine Kamera. Ein junger Mann um die fünfundzwanzig stieg aus, knallte die Beifahrertür zu und lief, ohne sich umzublicken, auf den Hauseingang zu. Dort blieb er kurz stehen, drehte sich um und zeigte den gestreckten Mittelfinger in Richtung Porsche. Bio drückte auf den Auslöser, schwenkte die Kamera zur Seite und schoss noch ein paar Fotos vom wegfahrenden Porsche. Als er wieder zum Hauseingang blickte, war der junge Mann verschwunden.

Bio schaute sich die Fotos an. Die vom Stinkefinger fand er ganz gelungen. Man konnte gut das Gesicht des Jünglings erkennen, und das Kennzeichen vom Porsche war auch zu lesen. Er legte die Kamera beiseite und sah dann, wie sich die Haustür bei Nummer 53 öffnete. Nach ein paar Augenblicken zeigten sich eine junge Frau und ein älterer Mann auf dem Bürgersteig. Sie taten Bio den Gefallen und unterhielten sich noch eine Weile, was ihm Gelegenheit gab, einige Fotos zu machen. Dann gingen die beiden auseinander. Die junge Frau stieg in einen Volvo, was Bio ebenfalls auf einem Foto festhielt. Dann kehrte wieder Ruhe ein. Bio blickte auf seine Uhr. In einer Stunde würde er abgelöst. Die Fotos schickte er schon mal in die Zentrale.

Donnerstag, 8. März 2018