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Rote Lichter. Eine Berührung. Dunkelheit. Und Junas Leben wird sich für immer verändern. Gerade als die sechzehnjährige Juna denkt, dass ihr Leben kaum schlimmer werden könnte, gelangt sie über mysteriöse Lichter in eine fremde Welt - weit fernab von ihrer Heimat. Als ihr eröffnet wird welches Schicksal sie erwartet, bleibt ihr keine andere Wahl als dieses zu akzeptieren, denn vorher darf sie diese Welt nicht verlassen. Sie ahnt nicht, dass ihr Leben eine dramatische Wendung nehmen wird.
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Seitenzahl: 988
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An mein früheres Ich: Wir waren nie auf der Welt, um »everybody’s darling« zu sein.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Ihre Schwester war zu weit gegangen. Jeder ihrer Geschwister am Tisch wusste es.
Die Blicke gespannt auf sie gerichtet, warteten alle auf ihre Entscheidung. Es war nicht so, dass es ihr Wunsch war über ihre Schwester zu richten, doch das Gesetz verlangte es so. Und schließlich hatte sie sie gewarnt. Sie hatte sie oft zu ihrem eigenen Handeln getadelt, sie des Besseren belehrt und ihr erklärt, dass sie nicht einfach tun konnte, wie es ihr in den Sinn kam. Doch allein die Tatsache, dass sie an dem heutigen Treffen nicht anwesend war, zeigte ihr sowie ihren Brüdern und Schwestern, dass sie sich bereits in einem gefährlichen Stadium ihres eigenen unbegreiflichen Wahnsinns befand. Sie war unberechenbar in dem, was sie tat und ihr Handeln glich mittlerweile einer mörderischen Geistesgestörtheit, die sie und ihre Geschwister nicht mehr zu handhaben wussten.
»Wir müssen jetzt etwas tun, bevor sie uns alle in Gefahr bringt!«, sprach eine ihrer Schwestern und schlug so fest mit der Faust auf den Tisch, dass sie zusammen schrak.
Die Luft war erfüllt mit einer unbändigen Spannung.
»Wir können ihr Handeln nicht länger erdulden und du trägst die Verantwortung dafür! Sie verweigert unsere Zusammenkünfte, tötet ohne Skrupel und hat keinen Respekt vor den Gesetzen unserer Urahnen. Wenn wir sie weiter damit durchkommen lassen, wird das auch Konsequenzen für uns haben. Für alle von uns!«
»Ich weiß«, antwortete sie und biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte die Wut, die in der Stimme ihrer Schwester lag, nur zu gut nachvollziehen.
»Was wirst du jetzt tun, Ria?« Die Frage kam von ihrem Bruder, der sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand. So, wie sie die Obhut über ihre Schwester hatte, trug er die Verantwortung für sie.
Zwischen ihnen hatte stets eine enge und tiefe Verbundenheit geherrscht, doch das erste Mal seit langem, hatte sie das Gefühl, dass ihr Bruder ihr mit einer Art Unsicherheit begegnete. Unsicherheit und Vorsicht.
»Was bleibt mir denn übrig?«, fragte sie, jedoch mehr zu sich selbst, als in die Runde, in der sie saß. »Wenn ich sie aus ihrem derzeitigen Leben verbanne, wird sie in aller Ewigkeit im Exil leben. Wir werden jemand neuen finden müssen, der sich ihrer Aufgabe annimmt. Ich könnte ihr vorerst eine Lektion erteilen …« Nachdenklich sah sie auf die Tischplatte vor sich.
»Für eine Lektion ist es viel zu spät!«, schimpfte ihre Schwester erneut. »Du musst sie töten, bevor sie uns tötet!«
»Ich soll mein eigenes Blut umbringen?« Ria starrte sie fassungslos an. »Waren es nicht einst unsere Urahnen, die uns befahlen niemals Hand an eine unserer Schwestern und Brüder zu legen?«
»Richtig! Aber waren es nicht auch unsere Urahnen, die uns die Aufgabe erteilten über unsere Leben zu wachen und sie mit Bedacht und Güte zu führen? Du weißt genau, dass sie eine Waffe hat, mit der sie uns auslöschen kann!«
Die beiden Geschwister sahen sich über den Tisch hinweg unverwandt an. Sie beide hatten Recht, das wussten alle Anwesenden. Nichtsdestotrotz hatte ihre Schwester den Bogen überspannt und viele wertvolle Leben auf dem Gewissen, die auf unnötige Art und Weise zum Tode verurteilt worden waren.
»Du hast ja recht, aber …«, begann Ria erneut, doch sie wurde unterbrochen.
»Nichts aber! Du hast eine Entscheidung zu treffen, zu unser aller Wohl. Und ich gebe dir den Rat den richtigen Schritt zu wählen, denn solltest du es nicht tun, wirst du die Verantwortung für alle weiteren Geschehnisse tragen. Weißt du, mich verwundert deine Haltung ein wenig. Dein Volk gehört zu den egoistischsten und skrupellosesten Leben, die ich je gesehen habe und dennoch ist ihre Herrin so eine gutherzige Person wie du.«
Jetzt war sie zu weit gegangen. Erbost erhob sich Ria von ihrem Platz und schlug nun selbst mit voller Kraft auf den Tisch. Neben ihr zuckten ihre Geschwister erschrocken zurück.
»Das ist nicht wahr! Sie sind ein gutes Volk! Sie sind noch jung, das ist richtig, aber sie lernen dazu! Ich erinnere dich nur zu gern daran, dass wir selbst einmal wie sie waren und hat man uns nicht auch eine Chance gegeben? Meines mag noch nicht so weit sein wie deines, aber wir sind auf einem guten Weg!«
Ihre Schwester betrachtete sie verächtlich. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, doch ein kleiner Funken von Kränkung schlich sich trotzdem in ihre Brust.
»Ich werde ihr Einhalt gebieten. Ich verspreche es euch. Ihr seid meine Brüder und Schwestern und ich liebe euch. Ich werde euch beweisen, dass es keiner Tötung bedarf, um sie zu stoppen. Ich werde einen Weg finden, sie aufzuhalten und ihrem Wahn ein Ende zu setzen. Bis dahin bitte ich euch noch um Geduld. Ich weiß, dass es schwierig ist und das Handeln gefordert ist, aber ich bitte euch inständig mir zu vertrauen.«
Sie blickte in die Runde und alle anwesenden Gesichter. Ihre Geschwister schwiegen still, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend.
Sie vertrauten ihr, das spürte sie, jedoch war sie sich im Klaren darüber, dass es das letzte Mal war, dass sie ihr dieses Vertrauen entgegen bringen würden. Sie wusste nicht was passieren würde, wenn sie tatsächlich versagen sollte. Doch darüber wollte sie nicht nachdenken. Noch nicht.
Als sie sich voneinander trennten und den Raum verließen, überlegte sie bereits wie sie vorgehen sollte, um ihre Schwester aufzuhalten, als ihr Bruder sie festhielt.
»Warte!«
»Was ist?« Sie musste sich beeilen, um schnellstmöglich erste wichtige Schritte einzuleiten. Der Druck auf ihren Schultern war zu groß, als das sie eine weitere Sekunde hier verschwenden konnte. »Ich muss wirklich zurück. Und du ebenfalls.«
»Ich weiß, ich weiß. Ich wollte dir nur sagen, dass …« Er zögerte und ließ sie los. »Wenn du Hilfe benötigst oder dich beraten willst, dann stehe ich dir jederzeit zur Verfügung. Du musst mir bloß ein kurzes Signal geben und ich werde da sein.«
»Das weiß ich sehr zu schätzen.«
»Ich meine es wirklich ernst. Du solltest deine Aufgabe nicht unterschätzen.«
»Auch dessen bin ich mir bewusst.«
Sie wandte sich bereits zum Gehen, als sie wieder den Handgriff ihres Bruders an ihrem Arm spürte. »Was ist denn noch?« Als sie ihrem Bruder in die Augen sah, erstarrte sie.
»Bitte, Ria. Pass auf dich auf. Wenn du nur einen Fehler machst, könnte das in einer Katastrophe ausarten. Nicht nur für dich.«
»Ich werde nicht zulassen, dass euch etwas geschieht.«
»Darum geht es mir nicht. Also schon, aber … sie ist unberechenbar. Es wird immer schlimmer von Mal zu Mal. Du weißt nicht, in welchem Wahn sie dieses Mal wütet und welche Ausmaße ihr unnatürliches Verhalten auslösen wird.«
»Das kann niemand von uns vorhersehen, aber ich danke dir für dein Mitgefühl. Glaube mir, ich werde dich um Hilfe bitten, wenn sie nötig sein wird. Bitte lass mich jedoch fürs Erste versuchen, das alleine in den Griff zu bekommen.«
Ihre Antwort war ihm nicht genug, das konnte sie sehen, doch nach einem kurzen Zögern nickte er zumindest.
Sie schätzte das Angebot ihres Bruders wirklich sehr, doch sie musste es alleine schaffen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, konnte ihr Bruder ihr nicht helfen und das wusste sie, wie auch er. Vielleicht würde sie sich einen Rat bei ihm einholen, doch sie war es, die ihr Leben hierfür geben musste. Sie würde ihren Körper und Geist opfern, nicht er.
Ein letzter Atemzug und Ria befand sich wieder in ihrem Reich, ihrer Welt und das, was sie als ihre Heimat bezeichnete.
Ein ungefährer Plan baute sich in ihrem Kopf zusammen, eine Idee, wie sie ihre Schwester überwältigen konnte und dann hatte sie den ersten Schritt bereits in ihren Händen. Wie einen Gegenstand, den sie nur noch betätigen musste, um damit eine Kettenreaktion von Ereignissen auszulösen.
Es sollte nicht lange dauern und Ria würde jeden ihrer Schritte gewaltig bereuen.
1.
Es gab nicht vieles, das Juna zu bedauern hatte. Natürlich, die roten Sneakers passten nicht zu ihrem lilafarbenen Oberteil, ihr brünettes Haar hätte etwas gepflegter sein können und auf den Rippen hatte sie so wenig, wie die Äste eines Baumes im Winter Blätter trugen.
Für eine Sechzehnjährige wie Juna waren das nie größere Probleme gewesen, schon gar nicht, weil sie sich nicht gerne mit anderen Mädchen in ihrem Alter verglich, doch es gab einen Moment in ihrem Leben, ab dem sie dies tat. Der Moment manifestierte sich zwischen den Worten »Junas Mutter ist eine Hure« und »Juna ist so hässlich und dumm, dass ich mich ekle neben ihr zu sitzen«.
Die Situation war ganz simpel wie auch unverständlich. Juna hatte am Vorabend die Weihnachtsfeier ihrer Klasse eher verlassen und vergessen, dass sie für den Ordnungsdienst eingeteilt gewesen war. Demzufolge war die Arbeit an einigen ihrer Mitschüler hängen geblieben und nun fand sie sich vor der Tür ihres Klassenzimmers wieder, in dem achtzig Prozent ihrer Klasse saßen und sich gerade den Mund über sie - und seltsamerweise auch über ihre Mutter - zerrissen.
Auch wenn ihr der Zusammenhang zur Weihnachtsfeier noch vollkommen schleierhaft war, wusste Juna eines ganz genau: Ab heute war sie nicht länger ein Teil dieser Klasse. Von heute an würde sich alles verändern.
Es war nicht so, dass Juna zu den beliebten Schülern gehört hatte, doch sie war akzeptiert worden und hatte sich mit den Meisten außerordentlich gut verstanden. Sie war gern zur Schule gegangen und bezweifelte in jenem Moment, dass sie es jemals wieder tun würde.
Ihr Herz schlug so schnell, dass ihr übel wie auch schwindelig wurde und sie kurz überlegte auf dem Absatz kehrt zu machen. So hart die Kränkungen über sie auch waren, war das nicht einmal das Schlimmste an ihren Worten. Viel härter trafen sie die Ausdrucksweisen, mit denen sie über ihre Mutter sprachen.
Als sich Juna umdrehte, stieß sie so hart gegen Anja, dass ihr sofort sämtliches Blut in den Kopf schoss. Entsetzt erwiderte diese Junas ängstlichen Blick.
»Oh mein Gott, was ist los? Ist etwas passiert? Du siehst schrecklich aus!«
»Ich muss los«, murmelte Juna und wollte sich an ihrer Freundin vorbei drängeln, doch diese stellte sich ihr wie eine Mauer in den Weg.
»Juna, was ist los?« Anjas Blick war durchbohrend.
»Mir geht es nicht gut. Ich glaube, ich werde mich krank melden.« Und dann nie wiederkommen, hätte sie am liebsten noch hinzugefügt.
Anja runzelte die Stirn und sah zum Klassenzimmer hinüber. »Was haben sie gesagt?«
»Wenn du den genauen Wortlaut wissen willst, frag sie am besten selbst. Ich habe scheinbar etwas ganz Schreckliches getan.«
»Ist es wegen der Weihnachtsfeier?«
»Es scheint so …«
»Ach Juna, wenn du jetzt wegläufst, gibst du ihnen doch genau das, was sie wollen.«
»Das ist mir lieber, als mit Menschen in einem Raum zusammen zu sitzen, die hinter meinem Rücken schlecht über mich sprechen.«
»Juna, in dieser Klasse spricht jeder über jeden. Ich glaube, du wirst im näheren Umkreis keine einzige Klasse finden, in der nicht hinter dem Rücken anderer gesprochen wird. Komm, ich begleite dich hinein. Du wirst schon sehen, alles wird sich schnell wieder beruhigen.«
Anja war ein groß gewachsenes Mädchen mit hübschen braunen Locken. Für sie war es nie ein Problem gewesen, sich gegen andere zu behaupten oder gut bei anderen anzukommen, doch Juna war da ganz anders. Schon alleine der Gedanke, jetzt mit einem ihrer Klassenkameraden zu sprechen, brachte ihr Blut in Wallung.
Als sie den Raum gemeinsam betraten, herrschte abrupt vollkommene Stille. Die Gruppe Mädchen und Jungs, die sich zusammen um den vordersten Tisch versammelt hatten, warf ihr einen abschätzigen Blick zu und setzten sich stillschweigend auf ihre Plätze.
Es war das schlimmste Gefühl, das Juna bis dahin je gefühlt hatte. Sie spürte einen dicken Kloß in ihrer Kehle anschwellen und betete innerlich zu einem Gott, an den sie nie geglaubt hatte, dass sie nicht in Tränen ausbrechen würde.
Sie konnte es einfach nicht verstehen. Sie, Juna, war das netteste und harmoniebedürftigste Wesen auf diesem großen blauen Planeten. Warum verhielten sich ihre Klassenkameraden so? War sie wirklich wegen einer simplen Weihnachtsfeier in diese Situation geraten? Das konnte unmöglich deren Ernst sein!
Anja winkte Juna zu sich heran, denn sie stand immer noch in der Tür.
»Bleib ganz ruhig, du wirst sehen, alles wird sich schnell beruhigen«, flüsterte sie ihrer Freundin zu, doch Juna konnte sie kaum verstehen, denn das Surren ihres Herzens dröhnte in ihren Ohren wie ein lästiges Insekt.
Und Anja hatte Unrecht.
Nichts sollte sich bessern.
Tino, einer ihrer Lieblingsbanknachbarn in Deutsch, hörte auf mit ihr zu sprechen und ignorierte sie fortan. Egal was sie sagte, selbst wenn sie ihm eine Frage stellte, bekam sie keine Antwort.
Sobald sie den Raum betrat, wurde es still um sie herum. Im Sportunterricht hörte sie das Tuscheln hinter sich auf der Bank und selbst die Lehrer schienen sie noch mehr als sonst auf dem Kieker zu haben. Immer wieder wurde sie ermahnt, dass sich ihre Mitarbeitsnote verschlechtern würde, wenn sie weiterhin so abwesend sei, als hätten sie sich mit ihren Mitschülern gegen sie verschworen.
Für Juna war es das sinnbildliche Durchleben der Hölle und sie hatte keine Ahnung, wie sie diese Tortur überstehen sollte. Zudem trug die Situation nicht im Geringsten zu ihrem Selbstwertgefühl bei, das sowieso schon immer nur niedrigschwellig vorhanden gewesen war.
»Lass den Kopf nicht hängen. Irgendwann ist das alles vergessen«, versuchte Anja sie in einer Pause zu trösten, doch ihre Bemühungen Juna aufzumuntern, prallten an ihr ab wie an einer Betonwand. »Irgendwann wird ihnen schon langweilig und dann werden alle darüber lachen, als wäre alles nur ein schlechter Scherz gewesen.«
Anja hatte leicht reden, denn sie befand sich nicht an Junas Stelle. Juna war sich nicht mal sicher, ob ihre Freundin die Situation ernsthaft verstand.
»Ich habe das Gefühl, dass sie das nie vergessen werden. Vermutlich wird mich das mein gesamtes Leben verfolgen. Ich traue mich ja nicht mal mehr alleine auf die Mädchentoilette zu gehen, weil ich Angst habe, einen von ihnen über den Weg zu laufen. Und die Jungs sind auch nicht besser. Diese Vollidioten denken sie wären unglaublich toll! Nicht mal die Lehrer bekommen mit, wie sie mich behandeln.«
»Vielleicht solltest du mit einem von ihnen darüber sprechen. Also mit einem Lehrer, meine ich«, schlug Anja vor, doch Juna funkelte sie böse an.
»Bist du verrückt? Damit sie mich alle noch mehr hassen? Nein, danke. Ich fühle mich so schon verloren. Manchmal glaube ich …, dass es besser wäre, wenn ich einfach verschwinden würde.« Diesen Gedanken hatte sie seit dem Vorfall immer wieder und sie gewann den Eindruck, dass er mit jedem Tag, der verging, anschwoll wie ein großes Geschwür, das irgendwann zu platzen drohte.
Es war nicht so, dass Juna vorgehabt hätte sich das Leben zu nehmen, aber sie fragte sich zunehmend, was der Sinn ihres Lebens war.
Ihre Ethik-Lehrerin hatte einmal zu ihnen gesagt, dass sich Menschen die Frage nach dem Sinn des Lebens nur dann stellten, wenn sie ihre Existenz anzweifelten. Wenn sie nicht mehr leben wollten. Juna wollte leben, aber nicht unter diesen Umständen.
Als die Weihnachtsferien anbrachen, hatte Juna die intensive Hoffnung, dass die freie Zeit ausreichen würde, um Gras über die ganze Sache wachsen zu lassen, doch sie war nicht genug. Während sich ihre Klassenkameraden im neuen Jahr um den Hals fielen und mit freudiger Erregtheit von ihren Ferien erzählten, war Juna die Einzige, die stumm und allein auf ihrem Platz saß. Es trug nicht gerade zu ihrem Vorteil bei, dass Anja nach der freien Zeit für mehrere Tage krank war. Als sie die gehässigen Blicke der anderen auf sich spürte, wurde ihr das umso klarer.
In Juna wuchs der Wunsch, dass allen etwas Furchtbares widerfahren sollte. Es brauchte nichts Großes sein, ihr reichte es schon, wenn einer ihrer Klassenkameraden einen Anranzer von einem der Lehrer bekam oder sich vor der Klasse blamierte.
Wenn sie jedoch Leute wie Emilia oder David hörte, die sich hinter ihrem Rücken über sie lustig machten und ihr fiese Spitznamen gaben, dann wünschte sie sich mehr als nur eine kleine Blamage vor den anderen. Sie wünschte sich, dass ihnen etwas zustieß, dass sie einen Unfall hatten oder von jemanden, den sie liebten zurückgewiesen wurden.
Eigentlich wollte sie so nicht denken. So war sie nicht. Aber umso mehr Zeit verging, desto wütender wurde sie und ihre Selbstzweifel stiegen ins Unermessliche. Und egal wie viel Zeit auch ins Land zog, es änderte sich nichts.
Schließlich gelangte sie an den Punkt, an dem sie vermutete, dass die Weihnachtsfeier nicht das ausschlaggebende Ereignis gewesen sein konnte, warum sie so gehasst wurde. Es musste noch mehr dahinter stecken.
Vielleicht lag es daran, dass sie zu ruhig war. Sie war schon immer ein schüchternes Mädchen gewesen, das nicht viel aus sich gemacht hatte und ihrer eigenen Traumwelt hinterher gesponnen hatte. Ihrer Traumwelt aus Videospielen und Büchern. Doch selbst das war in ihren Augen kein Grund jemanden zu ignorieren und hinter ihrem Rücken schlecht über sie zu sprechen.
Die Situation begann sich im Frühling zu verschlimmern, als sie eine ausgedrückte Packung abgelaufenes Apfelmus auf ihrem Tisch vorfand. Der übelriechende Brei hatte sich bis auf ihren Stuhl verteilt und tropfte verloren auf den Fußboden. Ihr Rucksack und einer der Hefter hatten ebenfalls etwas abbekommen.
Sie gab sich alle Mühe nicht zu weinen und wischte in aller Ruhe alles weg, während sie hinter sich das Kichern einiger Mädchen hörte. Anja stürzte zu ihr, als sie das Dilemma bemerkt hatte und half ihr, so gut es ging, den Dreck zu beseitigen.
Es war die einzige Situation, in der ihr jemand so etwas antat, doch der Schmerz saß tief und fraß sich ganz langsam in ihren Körper, bis in ihre Seele.
Manchmal verkroch sich Juna in die hinterste Ecke des Schulhofes und drückte ihren Schal ins Gesicht, um still zu weinen, doch es war nicht einfach, die verweinten roten Augen vor den anderen zu verbergen. Ihr Magen verkrampfte sich jeden Morgen vor dem Aufstehen und obwohl nie wieder etwas Derartiges geschah, fürchtete sie sich jeden Tag davor, die anderen über sich sprechen zu hören. Die Hoffnung, dass sie sich irgendwann daran gewöhnen würde, versiegte.
Nach einigen Monaten gab es immerhin einen Lichtblick an den sich Juna klammern konnte: Die Sommerferien. Sechs Wochen, in denen sie ihre Mitschüler nicht mehr sehen und hören musste und vielleicht würde nach dieser Zeit einiges in Vergessenheit geraten sein. Nicht, dass sie ernsthaft daran geglaubt hätte, aber es war immerhin eine weitere Chance, an die sie sich klammern konnte. Und sie war bereit jede einzelne von ihnen zu ergreifen.
Einen Tag vor den Ferien schien der Lichtblick noch heller zu sein, als sie angenommen hatte. Am Morgen wurde sie von einer ihrer Mitschülerinnen gegrüßt. Jemand hatte sie beachtet.
Guten Morgen, Juna.
Es fühlte sich schöner an, als alles andere, was sie je in ihrem Leben gehört hatte. Am liebsten wäre sie dem Mädchen um den Hals gefallen, aber sie wusste, dass sie ihre Euphorie zügeln musste.
»Jemand hat mich gegrüßt«, schrie sie fast, als sie in der hintersten Bankreihe zu Anja stürzte.
»Wer?«
»Bethany!«
»Oho, schau mal einer an! Ich habe dir doch gesagt, dass es aufwärts geht.«
»Ja, aber das hat schließlich auch fast sieben Monate gedauert«, meinte Juna etwas zweifelnd.
Anja lächelte ihrer Freundin zu. »Geht es dir damit jetzt besser?«
»Und wie!«
Das Gefühl, wieder ein Teil dieser Klassengemeinschaft zu werden, war so überwältigend und erschütternd zugleich. Eigentlich war sie sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich dabei war wieder dazu zu gehören, aber es fühlte sich zumindest so an.
Kurz vor Ende der letzten Stunde waren die meisten der Schüler bereits in Aufbruchstimmung. Auch Juna konnte es kaum erwarten den deprimierenden Hallen dieses Gebäudes zu entkommen und alles, was in den letzten Monaten passiert war, aus dem Gedächtnis zu streichen. Zumindest hatte sie sechs Wochen Zeit, alles in Vergessenheit geraten zu lassen.
Synchron mit ihren Mitschülern packte sie ihre Unterlagen in den Rucksack, als ein kleiner zusammengefalteter Zettel aus einem ihrer Hefter glitt. Mit einem tiefen Stirnrunzeln griff sie danach, noch überlegend, was er dort zu suchen hatte. Als sie ihn öffnete und las, blieb die Zeit um sie herum stehen.
Auch nachdem bereits alle gegangen waren, blieb sie auf ihrem Platz sitzen. Stumm. Zitternd. Von unendlicher Schwäche und Müdigkeit überwältigt.
Irgendwann tippte ihr Anja vorsichtig auf die Schulter. »Wollen wir langsam gehen?«
Junas Blick war wie versteinert, als sie ihrer Freundin das kleine Stück Papier zeigte.
»Du bist scheiße, ich hoffe du stirbst!«
»In dieser Welt gibt es nicht viel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ich wüsste nicht, wofür ich kämpfen sollte. Obwohl, warte. Wenn ich für etwas kämpfen müsste, dann wäre es die Beseitigung von Geschöpfen wie Emilia und David. Ich würde mich dafür einsetzen, dass niemand mehr von anderen Menschen gemobbt wird. Dafür sorgen, dass es Gerechtigkeit in dieser Welt gibt und jeder das verdient, was ihm zusteht. Dass denjenigen mit gutem Herzen Glück widerfährt und sie nicht dafür kämpfen müssen, Anerkennung zu erhalten oder akzeptiert zu werden. Aber weißt du, was das Problem ist? Das Problem ist, dass ich nicht genug Mut aufbringe, irgendetwas gegen solche Menschen zu tun und deshalb wird sich nichts ändern. Es würde sich nie etwas ändern, wenn alle Menschen so wären wie ich. Mit mir kann man keine Kriege gewinnen oder Schlachten bestreiten, denn ich fürchte mich zu sehr davor mich anderen zu stellen und das zu vertreten, an das ich glaube. Ich habe Angst vor Ablehnung und Hass und den Konsequenzen, die mit einem offenherzigen Handeln einhergehen würden. Ich sehne mich danach etwas Aufmerksamkeit zu erhalten, ohne belächelt zu werden. Etwas Freundlichkeit zu spüren, ohne im nächsten Augenblick die Stimmen hinter meinem Rücken zu hören. Doch nichts davon werde ich erhalten, denn für solche wie mich gibt es in dieser Gesellschaft keinen Platz. Es gibt keinen Ort, an dem ich ganz Ich sein kann.«
Als sie Enter drückte, ploppte der erbärmlichste und zugleich bemitleidenswerteste Text auf dem schmalen Bildschirm auf, den sie je gelesen hatte. Es war zu spät, um ihn zurück aus den Tiefen des Internets zu holen, denn in jenem Augenblick fraßen sich ihre Zeilen immer weiter in das Netzwerk, sodass sie auch noch Jahrzehnte später zu finden sein würden.
Mit einem langen Seufzen legte sie ihren Kopf auf den Schreibtisch und blickte auf die nach Kleber stinkende Tischplatte. Warum hatte sie nicht noch ein paar Mal über den Text gelesen? Für gewöhnlich entschied sie sich ihn gründlich zu analysieren, bevor sie ihn in dieser Welt sich selbst überließ. Doch eigentlich war es egal, wer die Nachricht finden würde.
Nachdem sie den Zettel mit den bedrohlichen Worten mehrmals gelesen hatte, den ihr einer ihrer Mitschüler zugesteckt haben musste, hatte sie jegliche Hoffnung an das Gute verloren. Sie wollte sich nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, warum man sie nicht mochte. An jenem Tag, im letzten Jahr, war sie zu dem einsamen Opfer ihrer Klasse erklärt worden und es gab nichts, das sie dagegen tun konnte.
Kurz bevor sie nach Hause gekommen war, hatte sie einen so schrecklichen und erschütternden Gedanken gehabt, dass sie für mehrere Minuten apathisch im Treppenhaus stehen geblieben war und auf das rostige Geländer gestarrt hatte. Wenn ihr nun in den Sommerferien etwas zustoßen würde, wäre das wirklich so schlimm?
Ihre Finger bewegten sich unbewusst über die Einkerbungen der Tischplatte, während sie erneut darüber nachdachte. Sie fühlte sich so elendig, dass sie nie wieder diese Wohnung verlassen wollte. Und zu allem Überfluss hatte sie einen ihrer emotionalen Ausbrüche gehabt und diesen der gesamten Welt auf einem goldenen Tablett serviert. Insbesondere eine bestimmte Person durfte davon nichts erfahren und als ihr dies bewusst wurde, stieg ihr blanke Panik in den Nacken.
Sofort setzte sie sich kerzengerade auf und blickte auf die schwarzen Buchstaben vor sich. Irgendwo musste es diese Schaltfläche geben, dass sie die Nachricht für die Öffentlichkeit unzugänglich machen konnte. Zumindest fürs Erste. Sie teilte gerne ihre gefühlvollen Gedanken mit der Außenwelt, niemand wusste, wer sie war, aber hin und wieder kam es vor, dass ihre flinken Finger schneller waren als ihr Kopf.
Als sie die Schaltfläche gefunden und betätigt hatte, fühlte sie sich etwas erleichterter. Nicht, dass es keine Möglichkeit gegeben hätte, diese Zeilen trotzdem zu lesen, aber ihre in Selbstmitleid badenden Ergüsse sollten fürs Erste nur von auserwählten Personen gelesen werden.
»Jetzt sag mir nicht, du wirst immer noch gemobbt«, schrieb SRFan89 in einem aufploppendem Chatfenster, das für alle frei zugänglich war.
Fuck, durchfuhr es Juna. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass jemand so schnell darauf reagieren würde. Und ausgerechnet er hatte die Nachricht noch gelesen.
SRFan89 war dafür bekannt, dass er alles kommentieren und ausdiskutieren musste. Dafür war Juna nicht bereit, physisch wie auch emotional.
»Wenn du die Wahrheit wissen möchtest, ja.«
»Und du glaubst dein Selbstmitleid wird dir helfen?«
Juna spürte wie ihr purpurfarbene Röte in die Wangen stieg und sie von einer inneren Hitze übermannt wurde.
»Bei aller Liebe, Juna-Maus, du kannst dich sehr gut ausdrücken. Warum gibst du diesen Leuten nicht mal Konter? Ich weiß wirklich nicht, was dein Problem ist.«
Ihre Finger schwebten geduldig über die Tasten. »Weil ich zu viel Angst davor habe. Ich kann sowas anderen nicht direkt ins Gesicht sagen. Allein der Gedanke daran bereitet mir Bauchschmerzen.«
»Hallo Juna-Maus. Ich finde deinen Text sehr schön geschrieben. Vielleicht hilft es dir einen Brief an deine Mitschüler zu schreiben«, schaltete sich Purzelbaum3 ein, jemand den Juna noch nicht kannte.
»Na klar, Purzelbaum3. Das ist die bescheuertste Idee, von der ich je gehört habe. Dann kann sie sich ja gleich nackt vor ihre Klasse stellen und ihre Nachricht laut vortragen.«
»Aber Schreiben scheint etwas zu sein, das ihr leichter von der Hand geht, als anderen Menschen direkt etwas verbal mitzuteilen. Ich finde, sie sollte ihre Stärke nutzen.«
Wer auch immer dieser Purzelbaum3 war, er verstand es Juna aufzumuntern. Sie lehnte sich sachte in ihrem Stuhl zurück und beobachtete das Geschehen.
»Wow, ich bin wirklich kurz davor, dir deine scheiß Idee abzukaufen. Ist das dein Ernst?«, fragte SRFan89.
»Natürlich ist es das.«
»Tja Purzelfreak, dann hast du scheinbar nicht viele soziale Kontakte. Damit würde sie sich ja direkt ins Aus schießen, wenn sie da nicht sowieso schon ist. Sie wird jetzt seit über einem halben Jahr gemobbt!«
Juna spürte, wie sich ihr Kiefer vor Ärger anspannte. Hatte der Typ denn gar kein Feingefühl?
»Du scheinbar auch nicht, wenn das deine Art und Weise ist, so mit anderen Menschen zu sprechen«, antwortete Purzelbaum3.
»Ich sage nur wie es ist und ich schreibe es gerne nochmal: Ein Brief würde das Ganze nur noch verschlimmern. Wie sieht das denn aus? Weil die kleine Juna-Maus zu viel Angst hat, schreibt sie einen peinlichen Brief und bittet um Frieden. Sorry, Juna-Maus, aber du bist alt genug (16 oder?), um deinen Mund aufzumachen und dich zu verteidigen!«
»Schonmal daran gedacht, dass es auch Menschen gibt, die etwas introvertierter sind?«
»Ja, daran habe ich gedacht! Aber auch solche Menschen müssen sich hin und wieder überwinden!«
»Richtig! Und ein Weg sich zu überwinden, wäre einen Brief zu verfassen und ihre Gefühle zu offenbaren«, hielt Purzelbaum3 fest.
»Sorry, aber ich halte davon überhaupt nichts. Sie ist doch kein kleines Kind. Ich kenne die Kids von heute, ich bin Lehrer der SEKII und weiß, wie die ticken und wie übel sie anderen zuspielen können. Es gibt nur zwei Wege dem zu entkommen. Entweder sie überwindet sich und wehrt sich endlich gegen diese kleinen Arschlöcher oder sie zieht den Schwanz ein und sieht zu, dass sie die Schule wechselt. Anders wird sie da nicht mehr raus kommen.«
»Du weißt wirklich, wie man andere aufbaut, oder? Ich bin eben fast vom Stuhl gekippt, als ich gelesen habe, dass du Lehrer sein sollst. Mein Beileid an deine Klasse.«
»Ich sage nur die Wahrheit und wenn Juna-Maus sie nicht verträgt, dann ist das ihr Problem.«
Juna schaltete den Monitor aus und abrupt wurde der Bildschirm vor ihr pechschwarz. Sie konnte diese Diskussion nicht länger mitansehen. Außerdem kam sie sich furchtbar blöd vor. Für ihren Text, den sie so offenherzig formuliert hatte, und für ihr Verhalten in der Schule. Sie bemerkte das trockene Kratzen in ihrem Hals und erhob sich.
Sie beschloss das Ganze für einen Moment zu vergessen. Solange der Bildschirm dunkel war, konnte sie nichts mehr lesen und wenn sie nichts mehr lesen konnte, würde sie weiteren Peinlichkeiten fürs Erste entkommen können. Es war quasi so, als hätte sie nie etwas geschrieben. Vielleicht würde sie einfach nie wieder das Internet benutzen.
Schlurfend schleppte sie sich durch den Flur in die Küche. Am Küchentisch saß Jasper und kicherte leise vor sich hin.
Sie versuchte ihn gar nicht weiter zu beachten, aber es gestaltete sich schwerer, als sie annahm. Überhaupt war es eine Kunst ihrem jüngeren Bruder aus dem Weg zu gehen, denn er war überall dort, wo sie war. Manchmal glaubte sie, dass sie eine Art magnetische Anziehungskraft auf ihn hatte.
»So was Bescheuertes habe ich noch nie gesehen«, lachte er lauthals und krümmte sich auf seinem Stuhl.
Juna nahm sich eine Flasche Saft aus dem Kühlschrank und wollte sofort wieder gehen.
»Juna! Juna! Schau mal, das musst du dir ansehen!«
»Ich habe keine Lust, Jas«, sagte sie grimmig, aber ihr Bruder ließ nicht locker.
»Ich schwöre dir, wenn du es dir nicht ansiehst, dann wirst du es dein Leben lang bereuen. Das Video wird im Netz gerade so gefeiert! Ich habe es mir schon acht Mal angesehen.« Er hielt ihr den kleinen Bildschirm seines Smartphones vor die Nase und sah sie erwartungsvoll an. Seine hellen Augen strahlten sie förmlich an, als sie mit einem Seufzen auf Play drückte.
Es war eines dieser typischen Katzenvideos, das ein Oh-wie-süß-Gefühl auslösen sollten. In diesem trug eine Katze eine Pilotenbrille auf dem Kopf. Als sie zum Sprung von der Couch ansetzte, hatte jemand das Video in Slowmotion bearbeitet, sodass es aussah, als würde sie fliegen.
Juna konnte dem nichts abgewinnen. Sie fand Katzen toll, aber warum musste man einem Tier eine Brille aufsetzen?
Ihr Bruder brach erneut in schallendes Gelächter aus, als die Katze das Fensterbrett verfehlte und wie ein Sack Kartoffeln zur Erde fiel.
»Schön«, kommentierte sie knapp und verließ die Küche.
»Hey warte!« Jasper folgte ihr. »Findest du das gar nicht lustig?«
»Doch.«
»Und warum lachst du dann nicht?«
»Mir ist nicht nach Lachen zumute.«
»Warum nicht?«
»Das erkläre ich dir ein anderes Mal.«
Jasper ließ nicht locker und steckte sein Smartphone in seine Hosentasche. »Es sind Sommerferien! Wollen wir raus gehen? Wir könnten Soul Rain nachspielen.«
»Nein danke, ich passe.« Allein der Gedanke draußen erwischt zu wervden, wie sie mit ihrem kleinen Bruder ein Videospiel nachäffte, ließ ihr einen Schauder über den Rücken jagen. Außerdem durfte niemand erfahren, wie kindisch sie sich hin und wieder verhielt.
»Warum denn nicht? Du darfst dir auch aussuchen, wer du sein willst.«
»Jas, es tut mir leid. Vielleicht ein anderes Mal.«
»Wollen wir dann wenigstens an der Konsole Soul Rain zocken?« Damit meinte er eher seiner Schwester dabei zuzusehen, wie sie spielte und jeden ihrer Schritte zu kommentieren.
Juna blieb stehen und Jasper lief mit voller Wucht gegen sie.
Als sie sich zu ihm umdrehte, tätschelte sie seinen Kopf. »Heute Abend, in Ordnung?« Als Jasper sie mit seinem zuckersüßen Lächeln ansah und nickte, überlegte sie kurz, ob sie nicht doch lieber sofort mit ihm spielen sollte, aber ihr schwarzer Monitor erinnerte sie an die Schandtat, die sie begangen hatte.
An Tagen wie heute liebte sie ihren Bruder. An Tagen wie diesen wünschte sie sich, dass er niemals älter werden würde. Sie fürchtete sich zu sehr davor, dass er einer von den coolen Kids werden und erkennen könnte, wie lahm seine ältere Schwester war. Die Angst, dass er sich von ihr abwenden und sie nicht mehr mögen könnte, war stets präsent.
Schon jetzt hatte er mehr Freunde als sie. Ihren Freundeskreis konnte sie an einer Hand abzählen und über die Hälfte davon waren lediglich Internetbekanntschaften, die weit entfernt lebten.
Jasper warf einen Blick in sein Zimmer, in dem der einzige in der Wohnung verfügbare PC stand. Dann verschwand er ins Wohnzimmer, bevor er seine Schwester in die Seite zwickte.
Juna fand es ja auch nicht toll, dass sie das Zimmer ihres zehnjährigen Bruders besetzen musste, aber leider befand sich hier nun mal das wichtigste elektronische Gerät der Familie. Ihre Eltern hatten ihr den Besitz eines eigenen Rechners verweigert und da sie glaubten, Jasper wäre noch zu jung, um zu wissen, wie man den PC zu gebrauchen hatte, war die beste Option gewesen, den Computer in sein Zimmer zu verfrachten. Und so etwas im einundzwanzigsten Jahrhundert!
Dass Juna trotzdem stundenlang vor dem Rechner verbrachte, wussten sie nicht. Und auch nicht, dass Jasper mehr als genau wusste, wie man ihn benutzte.
Das Zimmer war hell erleuchtet, als die Nachmittagssonne durch das Fenster schien und Jaspers mit Postern verhangene Wand ins Rampenlicht setzte. Juna ließ sich auf dem Stuhl nieder und atmete tief ein, bevor sie sich wieder in diese andere Welt innerhalb ihres Bildschirmes stürzte.
Als sie den Monitor einschaltete, hatte sich bereits eine lange Liste an Beiträgen gesammelt. SRFan89 und Purzelbaum3 diskutieren noch immer, aber das störte sie nicht weiter, da sie die einzigen zu sein schienen, die ihre Nachricht entdeckt hatten. Zumindest das war eine beruhigende Tatsache. Solange Chris sie nicht gelesen hatte, war alles gut. Chris durfte überhaupt keine Beiträge von ihr lesen.
»Die beiden hängen sich ganz schön rein, was?«, ploppte ein weiteres Fenster auf der rechten Seite ihres Bildschirmes auf.
Juna begann zu lächeln und stellte ihre Flasche Saft auf den Schreibtisch.
»Hör bloß auf. Hätte ich gewusst, was ich anrichte, hätte ich meinen Text für mich behalten. Meine Finger waren einfach mal wieder etwas schneller als mein Gehirn, aber hey, jetzt mischt sich SRFan89 vielleicht nicht mehr in andere Konversationen ein.«
»Da könntest du recht haben. Übrigens, fröhliche Sommerferien!«
Juna warf einen kurzen Blick auf das Profilbild ihres Gesprächspartners und grinste. Joshua hatte ein Bild von sich eingestellt auf dem er mit Sonnenbrille und einem bunten Hawaiihemd in die Kamera grinste.
»Danke. Du musst noch zwei Wochen warten, oder? Aber schickes Foto!«
»Ja, ist schon in Ordnung. Die paar Tage kriege ich auch noch rum. Und danke dir. Ich dachte, den Sommer muss man gebührend ehren.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich geschmeichelt fühlt.«
Joshua war ihr bester Freund und ebenfalls ein großer Fan ihres Lieblingsspiels Soul Rain. Die beiden hatten sich über das Forum »Soul Rain Fans« kennengelernt, in dem Juna täglich neue Ergüsse von sich gab. Angefangen hatte alles mit Themen zum Spiel, die jedoch irgendwann immer mehr Junas problematisches Privatleben angeschnitten hatten, bis sie schließlich nur noch davon handelten.
Niemand in dem Forum hatte etwas dagegen einzuwenden, solange sie hin und wieder auch über das Spiel schrieb. Zudem waren ihre Texte so geschickt versteckt, dass man schon mehrere Threads durchforsten musste, um ihre Nachrichten zu entdecken. Außerdem nutzte sie die Option der benutzerdefinierten Sichtbarkeit, um ungewünschte Leser von ihren intensiven Gedanken fernzuhalten. Meistens zumindest.
Joshua war einer der Ersten, der sie in dem Forum willkommen geheißen hatte, als sie wie ein scheues Reh ihre ersten Schritte im Internet getätigt hatte. Seitdem konnte sie sich ihr Leben nicht mehr ohne ihn vorstellen. Sie hatten sich sogar schon mehrere Male privat getroffen. Er gab ihr den Halt und das Gefühl zumindest im Netz etwas wert zu sein.
»Und wie sieht’s aus, hast du Anja schon die Freundschaft gekündigt?«
»Was du immer gegen Anja hast, sie ist meine einzige Freundin in der Schule.« Juna rollte mit den Augen.
»Ja, aber mit Sicherheit keine Gute.« Joshi hatte Juna schon oft den Kopf gewaschen, dass sie Anja in den Wind schießen sollte, denn im Gegensatz zu ihr, empfand er die Freundschaft als eine Art Lachnummer, wie er es oft nannte.
»Ich glaube wirklich, dass du genauso gut auch alleine sein könntest. Für mich macht es immer den Eindruck, als mache es keinen großen Unterschied, ob sie deine »Freundin« ist oder nicht.«
»Sei nicht so gemein. Sie ist schließlich für mich da und es ist ein großer Trost, nicht alleine auf dem Schulhof zu stehen.«
»Entschuldige, wenn ich mich wiederhole, aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie die Situation wirklich ernst nimmt, in der du dich befindest. Eine gute Freundin würde dich verteidigen.«
»Sie ist eben auch schüchtern …«
»Ach wirklich? So hat sie bisher nicht auf mich gewirkt.«
Juna verzog das Gesicht. Natürlich war Anja nicht wirklich schüchtern, aber sie wusste, dass sie schon ihre Gründe hatte, warum sie gegenüber den anderen nichts sagte. Tief in ihrem Herzen wusste Juna, dass sie Anja niemals darauf angesprochen hätte. Die Angst war groß, dass ihre Freundin ihr auch den Rücken zukehren würde. Umso glücklicher war sie nun, als Joshi das Thema wechselte, denn sie hatte keine Lust sich in ihrer deprimierten Lage auch noch um die Freundschaft zu Anja Gedanken zu machen.
»Und hast du schon Pläne für die Sommerferien?«, fragte er. Juna überlegte, ob sie lügen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Joshi wusste, dass sie uncool war.
»Nein, absolut nichts. Ich werde meine Zeit vor der Konsole verbringen und gelegentlich ein bisschen in die Tasten hauen. Vielleicht schaffe ich es ja mal ein paar Zeilen zu schreiben und daraus ein Kapitel zu zaubern, für welche Geschichte auch immer. Mir schwirrt einiges im Kopf herum, ich würde es gerne mal auf Papier bringen. Und du?«
»Klingt doch gut! Lass es mich auf jeden Fall lesen! Meine Mama will mit mir eine Woche in Spanien Urlaub machen, aber sie weiß noch nicht, was sie mit Toto machen soll.«
»Bringt ihn doch zu uns! Jasper wollte immer einen Hund. Dann könnte er mal sehen wie das ist, jeden Tag Gassi zu gehen und etwas Verantwortung zu übernehmen.«
»Ich glaube nicht, dass Mama Lust hat, Toto bis ans andere Ende von Deutschland zu bringen, aber danke für den Vorschlag. Ehrlich gesagt, hätte ich auch nicht so ein Problem damit die Ferien durch zu zocken. Es tut mir leid, dass ich das Thema doch anschneide, aber wie war der letzte Tag?«
Der dicke Kloß, den Juna in ihrer Kehle gespürt hatte, als der Zettel aus ihrem Hefter gefallen war, bahnte sich erneut seinen Weg.
»Willst du die kurze oder die lange Fassung?«
»Die, die du für angemessen hältst. Ich will dich damit auch gar nicht nerven.«
»Heute Morgen wurde ich von Bethany gegrüßt. Ich habe mir wortwörtlich den Arsch abgefreut. Kannst du dir das vorstellen? Es war wirklich ein ungeheuerliches Gefühl, so süß und zugleich bitter. Ich klammere mich auf sehr erbärmliche Art und Weise an jeden Strohhalm, der mir gereicht wird und merke dann doch, wie sinnlos das Ganze ist. Die Kurzfassung ist, dass ich heute einen Zettel gefunden habe, den jemand in meinen Hefter gelegt hat. Es stand drauf, dass ich sterben soll. Ach, und das ich scheiße bin.«
»Wie bitte!????«
Juna rieb sich müde ihre Schläfen. »Ja, was sagt man dazu, he? Weißt du, vielleicht hat SRFan89 ja Recht. Vielleicht sollte ich Potsdam verlassen und zu dir nach Duisburg ziehen und dort die Schule besuchen, obwohl … was schreibe ich da? Ich würde in meinem momentanen Zustand nicht mal den Mut aufbringen, fremden Leuten in meinem Alter gegenüber zu treten …«
»Ich würde mich echt freuen, wenn du hier wohnen würdest, aber ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, ob das so die super Idee ist. Vielleicht ist es gut, dass du jetzt etwas Abstand hast. Das gibt dir die Möglichkeit abzuschalten. Da fällt mir ein, ich wollte dich noch etwas fragen …«
Noch bevor Juna Joshis Nachricht lesen konnte, gab es ein kurzes Piepen, das Juna aufzucken ließ.
Chris war online!
Sie hatte sein Profil mit einem Ton belegt, der erklang, sobald er im Forum online war. Ihr Herz setzte stets einen Schlag aus, sobald sie diesen Laut hörte, während zeitgleich ihre Hände vor Aufregung zu zittern begannen.
Sie kam sich manchmal wie eine irre Stalkerin vor, weil sie jede seiner Handlungen im Netz verfolgte, doch sie musste es tun, denn ein innerer unaufhaltsamer Antrieb zwang sie dazu. Wenn sie seinen Namen las, beschlich sie ein wärmendes Gefühl in der Brust und sie vergaß alles andere um sich herum. So wie auch in jener Sekunde.
Sofort klickte sie auf seinen Namen und schrieb mit nervösen Fingern eine Nachricht. »Hey Chris! Na, alles klar bei dir?« Sie setzte einen Smiley hinter ihre Worte, um die Nachricht aufzupeppen und locker zu klingen. Es dauerte ein paar Minuten, bis er antwortete, und sie wagte es nicht, irgendetwas anderes zu tun, als auf das kleine Fenster zu sehen.
»Hey Juni, aber klaro! Und bei dir?«
Juna begann von einem Ohr zum anderen zu grinsen. »Sehr gut! Es sind Ferien!«
»Ach, stimmt! Hast du es gut. Ich wünschte, ich würde auch noch zur Schule gehen«, schrieb er. »Genieße deine Zeit dort, solange du kannst. Das Arbeitsleben ist hart!«
»Ach, um ehrlich zu sein, würde ich schon manchmal lieber arbeiten gehen.«
»Wirst du immer noch geärgert? Lass dich nicht unterkriegen.«
Das war Chris‘ Standardspruch, doch Juna wusste, dass er es nur gut meinte. Er konnte sich nur nicht so geschickt ausdrücken wie Joshua.
»Ich werde von meinen Kollegen auch immer geärgert. Letztens hat einer von denen mich mit einer Plastikflasche beworfen, weil ich ihm ein Stück von seiner Pizza geklaut habe. Zu meiner Verteidigung: Ich hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen.«
Auch wenn man die Situation nicht im Geringsten mit ihrer eigenen vergleichen konnte, schickte sie ihm ein paar traurig drein schauende Smileys. Sie wusste, dass er sie nur aufmuntern wollte.
»Und was hast du so in deinen Ferien vor?«
Hitzig überlegte sie, was sie ihm antworten sollte. Es war unmöglich, ihm die gleiche Antwort wie Joshi zu geben. Wenn sie nur halbwegs so viel Zeit und Analyse in ihre Gedankenergüsse investiert hätte, wie in die Antwort, die sie Chris geben musste, wären ihr so manche Peinlichkeiten am heutigen Tage erspart geblieben, das war ihr durchaus bewusst, aber in jenem Augenblick auch wert.
»Ich werde mit Anja ans Meer fahren und vermutlich etwas relaxen, von dem ganzen Trubel in der Schule. Und nebenher werde ich mal wieder meine Gitarre rausholen und etwas üben.« Juna spürte wie heiß ihre Ohren wurden, als sie die Lüge abschickte.
Chris hatte eine Schwäche für Mädchen mit einem Herzen für Musik, was vermutlich auch mit seinem eigenen musikalischen Talent zu tun hatte. Als er Junas Lieblingslied »About a girl« von Nirvana gecovert und ihr zugeschickt hatte, war sie buchstäblich dahingeschmolzen. Seine tiefe, teils kaputt klingende Stimme glich nahezu der des unsterblich gewordenen Kurt Cobains.
Dass sie bereits beim Greifen der Saiten Schmerzen in den Fingerkuppen hatte, hätte sie ihm niemals gestanden. Auch nicht, dass sie ihre Gitarre seit mehreren Monaten unberührt in der Ecke einstauben ließ.
»Das klingt cool! Schön, dass du eine Freundin wie Anja hast und ich freue mich, dass du weiterhin fleißig spielen übst. Wenn wir uns wiedersehen, müssen wir unbedingt zusammen jammen.«
»O ja! Das wäre toll! Aber erzähl doch mal, wie läuft es bei dir momentan so?«
Eine halbe Stunde später hatte sich Chris über seinen Job aufgeregt und war an dem Punkt angelangt, dass er überlege nach Norwegen auszuwandern, weil er die nordischen Gebiete liebe. Juna hatte ihm unverblümt bei all seinen Aussagen zugestimmt und ab und an ein liebes Wort geerntet. Wenn er schrieb, dass sie süß sei, dann betrachtete sie den Satz eindringlich und legte ihre Hände auf den Bauch, um das Kribbeln zu unterdrücken.
Manchmal dauerte es mehrere Minuten bis er ihr antwortete, doch sie ließ sich davon nicht langweilen. Seine Gedanken und Worte saugte sie begierig auf wie ein Schwamm, als könnte in jeder Silbe eine tiefere Bedeutung mitschwingen. Und obwohl es die ganze Zeit nur um ihn selbst ging, hatte sie nicht das Gefühl, er interessiere sich nicht für sie, ganz im Gegenteil. Sie hatte den Eindruck, er offenbare sich nur ihr, als würde er sich die Zeit auf der anderen Seite dieses Monitors lediglich für sie nehmen.
Als es wieder eine längere Pause gab und Juna bereits verzweifelt daran dachte, er könnte ihr nicht mehr antworten, fiel ihr Joshua ein. Sie hatte ihn vollkommen ausgeblendet.
Ihr bester Freund hatte ihr einige Fragen gestellt und als er bemerkt hatte, dass sie ihn nicht mehr beachtete, hatte er gefragt, was sie gerade tue und ob Chris der Grund dafür sei. Obwohl Joshi nicht direkt mit in dem Zimmer ihres Bruders stand, wurde Juna so rot, als hätte er sie bei etwas Unanständigem ertappt.
»Joshi!!!! O Gott! Es tut mir furchtbar leid! Chris ist online gekommen und wir haben nur kurz miteinander geschrieben, ich habe ganz vergessen dir zu antworten. Es tut mir wirklich leid.«
»Ja, ja … schon okay.«
Ohne Joshuas Gesicht zu sehen oder seine Stimme zu hören, wusste sie genau, dass er ihr die Sache übel nahm. Das tat er immer und sie konnte es ihm nicht verdenken. Seitdem Chris in ihr Leben getreten war, verliefen die Gespräche zwischen ihr und Joshi stets auf die gleiche Art und Weise. Während eines Gespräches war Juna für mehrere Minuten, wenn nicht sogar Stunden, nicht mehr ansprechbar und vergaß ihn.
»Dass du diesem Ochsen immer noch hinterher läufst … Wer dich wie einen Sommer-Monat nennt, der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.«
»Das sagst du nur, weil du ihn nicht magst.«
»Ja, es gibt ja auch wohl jeden guten Grund dafür.« Juna war sich im Klaren darüber, was er meinte, aber sie hatte keine Lust darauf einzugehen. Sie hatten bereits zu viele elendige Diskussionen geführt.
»Ich wollte ja auch eigentlich nur fragen, ob du zu dem diesjährigen Forentreffen kommst«, wollte er von ihr wissen.
Juna hatte sich von solchen Treffen stets ferngehalten. Sie war zwar ein großer Fan von Soul Rain und spielte es, seitdem sie ein kleines Mädchen war, aber die User dieses Forums kamen ihr manchmal vor wie aus einer anderen Welt. Sie besaßen richtiges Fachwissen zu dem Spiel, veranstalteten Cosplay-Wettbewerbe und hielten tiefgründige Diskussionen ab.
Sie beschäftigte sich nur aus Spaß mit dem Videospiel, vor allen Dingen nachdem es zu einem Rollenspiel geworden war. Das ursprüngliche Einspieler Adventure-Game hatte sich zuletzt in seinem Spielprinzip vollkommen verändert, weshalb Juna das Gefühl hatte, mit den Spielkenntnissen der anderen nicht mehr mithalten zu können.
»Ich glaube nicht.«
»Schade, ich hätte dich gerne mal wiedergesehen.«
»Ja, ich dich auch, aber ich weiß gar nicht so richtig, ob das meins ist. Außerdem weiß ich doch gar nicht, wie ich da hinkommen soll. Köln ist echt weit weg von hier aus.«
»Ach, das ist gar kein Problem. Du kannst das Wochenende hier bei mir verbringen, dann musst du dir keinen Stress machen.«
»Ich muss erst meine Eltern fragen, vorher kann ich gar nichts sagen.«
»Gib einfach Bescheid, sobald du weißt, ob du hinkommen kannst. Es ist ja nur ein Wochenende und alle sind ganz nett, das kann ich dir sagen. Wir hätten sicherlich Spaß.«
Juna glaubte ihm das gern, doch zu viele Zweifel plagten sie. Was würde geschehen, wenn sie von allen so behandelt wurde wie von ihren Mitschülern?
Als hätte Joshua ihre Gedanken gelesen, schrieb er ihr: »Ich werde die ganze Zeit bei dir bleiben und im Notfall können wir nach Hause fahren. Es gibt jederzeit die Möglichkeit und wir müssen ja auch gar nicht an allen Aktivitäten teilnehmen. Außerdem kann ich dir die Hot Dogs nur empfehlen, die allein sind es wert da aufzukreuzen. Ja, pass auf, wir schnappen uns ein paar und hauen ab!«
Sie ließ sich in ihrem Stuhl zurück gleiten und sah nachdenklich an die Decke. Ein Gefühl von Kraftlosigkeit durchfuhr sie, wenn sie an das Treffen dachte. Joshua würde zwar bei ihr sein, doch sie wusste schließlich nicht, was für Menschen diese anderen User waren. Sie hatte bereits zu vielen von ihnen Kontakt gehabt, doch Juna hatte immer das Gefühl, dass sie sie nicht wirklich ernst nahmen. Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern war sie auch hier eher der zurückhaltendere Part, nur mit dem Unterschied, dass sie sich traute etwas zu schreiben.
Gedankenverloren klickte sie zwischen den Chatfenstern von Joshua und Chris hin und her und wünschte sich, Chris würde ihr schreiben.
War es wirklich das, was sie in den Ferien tun wollte? Der Gedanke, den gesamten Sommer vor der Konsole und dem PC zu verbringen, war verlockend und tröstend, allerdings fühlte sie sich wie ein noch größerer Loser, wenn sie nur zu Hause herum saß und nichts unternehmen würde.
Da ihre Eltern keinen Urlaub hatten, war sie nicht an sie gebunden und Jasper war mit seinen zehn Jahren ebenfalls alt genug, um alleine zu Hause zu bleiben.
»Stell dir das doch mal vor …«, begann Joshi erneut. »Wir könnten zusammen nach Köln reinfahren und uns am Sonntag noch einen netten Tag in der Stadt machen. Ich glaube, es ist sogar verkaufsoffener Sonntag, das heißt wir können am Ende des Wochenendes shoppen gehen! Und vorher könnten wir zum Treffen fahren. Es wird auch ein Lagerfeuer gemacht, das wird bestimmt ganz toll!«
»Ich weiß nicht, Joshi. Das klingt ja ganz lustig, aber …«
»Was muss ich denn tun, damit du sagst, dass du mitkommst?«
Juna wusste es selbst nicht. Sie schielte zu dem Chatfenster, in dem Chris gerade etwas schrieb. »Ich werde dann mal abhauen, Juni. Ich bin noch mit Lila-chan verabredet«, erzählte er.
»Verstehe«, antwortete sie ihm und versuchte, den Stich in ihrer Brust zu ignorieren. Lila-chan war eine Userin in dem Forum, mit der sich Chris neuerdings immer öfter traf.
»Ach warte, sag mal, gehst du zum diesjährigen Forentreffen?«, fragte sie.
»Meinst du das in drei Wochen?«
»Ja, genau.«
»Natürlich gehe ich hin. Ich bin jedes Jahr dort. Bist du etwa auch da?«
Juna blickte erneut zwischen den beiden Chatfenstern hin und her, während sie darüber nachdachte, was sie tun sollte. Das war die Gelegenheit Chris wiederzusehen. Andererseits war ihre Angst viel zu groß davor, etwas Ähnliches wie in der Schule zu erleben.
Vielleicht war es an der Zeit über ihren eigenen Schatten zu springen. Das dachte sie zumindest, als sie mit feuchten Händen vor dem plötzlich sehr groß wirkenden Bildschirm saß. Und falls etwas geschehen sollte, war Joshua an ihrer Seite, der ihr mit Sicherheit helfen würde.
»Ja!«
Ihr Atem stockte, als sie das Wort abgesendet hatte. Eine Minute verging, in der Chris nicht antwortete und sie bereits bereute ihm zugesagt zu haben.
»Wow! Cool. Damit habe ich nicht gerechnet. Na dann sehen wir uns wohl dort. Wir hören uns vorher nochmal, ich muss jetzt wirklich los.«
Damit schloss sich das Chatfenster wie von Geisterhand.
Junas Herz schlug so schnell, dass sie glaubte, es würde ihr sobald aus der Brust springen. Was hatte sie getan? War sie total verrückt geworden?
Mit nervös zuckenden Fingern klickte sie erneut auf das Chatfenster von Joshua und schrieb ihm.
»Joshi?«
»Ja?«
»Ich muss dir etwas sagen …«
»Ja?«
»Ich glaube, ich bin dabei …«
1.
Als sie am Bahnhof ankam und ihm mit freudigem Gesicht winkte, als sie ihn unter den hunderten Menschen entdeckt hatte, war er sichtlich erleichtert. Er hatte damit gerechnet, dass sie auf dem Absatz kehrt machen und es sich vielleicht doch anders überlegen würde. Umso beruhigter war er, als sie ihn stürmisch umarmte und er den strahlenden Glanz in ihren blauen Augen sah.
Juna hatte sich kaum verändert und er hätte sogar darauf getippt, dass sie nicht einmal größer geworden war. Sie trug eine schwarze Leggins mit einem schlichten langen Shirt. Ihr brünettes Haar lag glatt gekämmt auf ihren Schultern und sie hatte dasselbe bezaubernde Lächeln wie noch vor wenigen Jahren. Er hätte eine Wette abgeschlossen, dass sie noch schöner werden würde, umso älter sie wurde. Obwohl er sie schon jetzt ausgesprochen süß fand.
Sie hakte sich bei ihm ein, während sie ihre rot gepunktete Reisetasche hinter sich her wirbelte.
»O mein Gott! Es ist ewig her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich glaube zuletzt vor anderthalb Jahren, kurz vor Silvester war das. Aber es fühlt sich gar nicht so fremd an neben dir zu stehen. Übrigens, schicke Frisur!«, plapperte sie fröhlich.
»Danke dir.« Er betrachtete sie von der Seite und lächelte. »Es hat Ewigkeiten gedauert, sie auf diese Länge zu bekommen und dabei noch gut aussehen zu lassen.«
»Es steht dir ausgezeichnet. Mittlerweile ist zu erkennen, dass es eine Frisur darstellen soll und kein trauriger Versuch, die Haare wie ein durchgeknallter Rockstar wachsen zu lassen«, neckte sie ihn.
Er hatte bereits vor einem Jahr seine dunklen Haare wachsen lassen, in der Hoffnung, dass sie so wie Chris‘ Haarschopf aussehen würden. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, als er daran zurück dachte.
»Und ich sehe, du hast nicht die Flucht ergriffen«, wechselte er das Thema.
»Nein, ich habe kurz darüber nachgedacht, als ich in den Bahnhof eingefahren bin. Ich gebe zu, dass mich der Gedanke ziemlich nervös macht, all diese Leute aus dem Forum kennen zu lernen, aber solange du, wie versprochen bei mir bleibst, sollte ich das schaffen. Denke ich.« Sie sah auf den Boden. »Vielleicht ist das eine gute Gelegenheit, um über meinen Schatten zu springen …, so wie es SRFan89 angedeutet hat.«
»Und wenn nicht, ist das auch nicht schlimm.«
Juna lächelte dankbar, als er das sagte. »Ja, du hast Recht.«
Gemeinsam schlenderten sie durch den Bahnhof, blickten noch in einige der Schaufenster hinein, die das Gebäude ausschmückten und traten hinaus in die angenehm warme Sommerluft.
Das Wochenende ist perfekt ausgesucht worden, dachte sich Joshua, als sie über die Kreuzung zur Bushaltestelle gingen. Es war nicht zu heiß und das Wetter sollte weiterhin gut bleiben. Zumindest das sollte also passen.
Dennoch fragte er sich, wie sich Juna den anderen gegenüber schlagen würde. Er hatte keine Zweifel daran, dass sie einen guten Eindruck hinterlassen und mit allen gut zurechtkommen würde, dennoch war er sich ihrer Anspannung bewusst. Er wollte, dass sie sich wohl fühlte.
Joshua warf einen Blick auf die Anzeigetafel und anschließend auf seine Armbanduhr.
»Der Bus müsste jeden Moment kommen und dann dauert es nochmal eine Stunde, bis wir da sind.« Er sah zu ihr, um ihre Gedanken erahnen zu können, doch sie wirkte ausgesprochen gelassen.
»Alles klar.«
Juna wühlte in ihrer Tasche und hielt ihm dann eine dunkelblaue Tüte vor das Gesicht. »Hier, das ist für dich.« Der Geruch von Süße stieg Joshua in die Nase und als er genauer in die Tüte blickte, erkannte er deren Inhalt. Es waren Eisbonbons, Joshuas Lieblingssorte.
»Wow! Danke! Womit habe ich das denn verdient?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weil du mein bester Freund bist? Weil du mir immer zur Seite stehst? Weil deine Frisur endlich akzeptabel aussieht?«
»Haha, das klingt plausibel!«
Er nahm ihr die Tüte ab und schmunzelte. Für ihn war es unerklärlich, wie jemand Juna nicht mögen konnte.
Verlegen räusperte sie sich. »Ich habe übrigens über etwas nachgedacht. Über diese Geschichte, die ich gerne schreiben möchte. Meinst du es ist verrückt, seine eigenen Erfahrungen niederzuschreiben? Also das, was ich selbst erlebe? Ich habe erst überlegt, mir etwas Eigenes auszudenken, also eine Art Thriller oder Krimi, vielleicht auch einen Liebesroman, aber mir fällt es schwer, auf eigene Ideen zu kommen. Momentan zumindest.«
Joshua dachte kurz darüber nach, schüttelte dann aber energisch den Kopf. »Ich finde, das klingt gut. Lässt nicht jeder gute Autor persönliche Dinge in seine Geschichten einfließen?«
»Keine Ahnung. Ich kenne keinen Autor persönlich. Meinst du Joanne K. Rowling hat eigene Erfahrungen eingebracht?«
»Wer weiß, vielleicht gibt es dieses Hogwarts ja wirklich?«
Die beiden sahen sich an und begannen zu lachen.
»Ich finde, du solltest einfach das niederschreiben, was in deinem Kopf vor sich geht. Bisher hast du doch dafür immer viel Lob geerntet.«
»Ja, oder Diskussionen ausgelöst«, sagte Juna genervt und rollte mit den Augen. »Wenn sich SRFan89 nicht in all meine Texte einschalten würde, dann würden die Leute auch mal vergessen, dass ich das Mädchen bin, das in der Schule gemobbt wird.«
»Du bist selbst Schuld. Du hättest ihm das niemals erzählen dürfen.«
Juna warf ihm einen bösen Seitenblick zu und er hob sofort abwehrend die Hände. »Ich meine ja nur. Ich mag deine Texte sehr gerne, aber so manchen Inhalt hättest du vor der Öffentlichkeit ruhig geheim halten können. Ich weiß, dass es dir darum geht, gehört zu werden und etwas Zuspruch zu erhalten, aber manchmal …«
»Manchmal bin ich zu voreilig, hm?« Ihr Blick wirkte gekränkt.
Joshuas Hände begannen zu schwitzen und sein Herz wurde schwer. »Nein … ja. Also, manchmal, ja. Ich lese wirklich alles sehr gern von dir und ich habe auch gar nichts dagegen. Ich meine nur, dass du hin und wieder auf die Einstellungen achten solltest.«
»Ach mir ist es doch völlig egal, wer das liest.« Sie blickte auf ihre Hände. »Solange es Chris nicht zu Gesicht bekommt …«, fügte sie leise hinzu.
Nun war es Joshua, der mit den Augen rollte. Von weitem sah er bereits den Bus anfahren, der sie zu dem Treffen bringen sollte.
»Der Ochse schon wieder.«
»Nenne ihn nicht so«, schimpfte Juna. »Diesen Ochsen werden wir schließlich nachher treffen. Er freut sich schon, uns zu sehen.«
»Ich habe keine Zweifel«, antwortete Joshua sarkastisch und sie boxte ihm gegen den Arm.
Es kränkte ihn nicht, dass seine Freundin nur wegen Chris zu diesem Event gekommen war, denn er wusste, dass das der Grund für ihr Erscheinen war. Niemals hätte sie sich sonst zu dem Forentreffen hinreißen lassen. Er konnte es ihr nicht einmal wirklich verübeln, dass sie auf Chris stand. Der Typ hatte gestyltes Haar, trug coole Holzfällerhemden, hatte einen unübertrefflichen Charme und war zudem auch noch Musiker. Jedes weibliche Wesen in seinem Umkreis fühlte sich zu ihm hingezogen. Dennoch wünschte Joshua sich hin und wieder, dass sich nicht alles um diesen Möchtegern-Rockstar drehen würde.
Als der Bus vor ihnen hielt, übergaben die beiden ihr Gepäck dem Busfahrer und stiegen in das Fahrzeug. Juna stürmte nach vorn, um zwei Plätze in der hintersten Reihe zu ergattern und als sie saßen, konnte Joshua die Aufregung das erste Mal in ihrem Gesicht erkennen. Plötzlich sah sie nicht mehr sehr überzeugt von ihrem Plan aus.
»Denk dran, wir können das hier jederzeit lassen.«
»Ach was, es ist alles in Ordnung«, versuchte sie locker über die Lippen zu bringen, doch Joshua hörte das Beben in ihrer Stimme. »Chris freut sich doch schon so auf uns.«
»Ja, vermutlich.« Er sah auf den schmalen Gang, um sich abzulenken und nicht an das Gesicht dieses Stümpers zu denken.
Die Fahrt verlief ausgesprochen ruhig. Sie fuhren vorbei an den mächtigen Hochhäusern und funkelnden Gebäuden der Innenstadt und als sie die City verlassen hatten, wurden auch die bunten Anzeigetafeln und Werbebanner weniger.
Die Großstadt hinter sich zu lassen, empfand Joshua stets als außerordentlich beruhigend. Es war, als würde sich all die Hektik und der Stress von seinen Schultern lösen, die er in den Menschenmassen ungewollt gesammelt und mit sich herum getragen hatte.
Umso mehr Zeit verging und sie dem Treffen näher kamen, desto ruhiger wurde Juna und desto blasser ihre Gesichtsfarbe. Ihre Hände zitterten, als sie Joshua ein Taschentuch gab, und ihr Atmen wurde schwerer. Joshua fürchtete sich ernsthaft darum, dass seine beste Freundin kollabieren würde, wenn sie bei den anderen ankamen.
Er versuchte sie mit Gesprächen abzulenken, aber am Ende bekam er nur noch ein schwaches Lächeln von ihr, womit sie ihm zu bedeuten geben wollte, dass sie nicht in der Stimmung war zu reden.
In den Händen hielt sie eine leere Papertüte umklammert, auf die sie die ganze Zeit wie gebannt starrte. Joshua hoffte innständig, dass sie sich nicht übergeben würde. Er konnte keine anderen Leute kotzen sehen.
Während der restlichen Fahrt versuchte er, sich seelisch auf das bevorstehende Zusammentreffen mit Chris vorzubereiten. Im Gegensatz zu Juna, waren sich er und Chris noch nicht über den Weg gelaufen und Joshua wusste, dass sie das auch niemals auf natürlichem Wege getan hätten. Dafür lebten die beiden in zwei zu unterschiedlichen Welten.