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"Finsternis. Stille. Für all das konnte es nur eine Erklärung geben: Sie musste tot sein." Mitten im Kampf gegen den Dämon Umbra wird Juna von ihrer Kameradin Nevia getötet. Die Mission, die Welt Altera von der Dunkelheit zu befreien, ist gescheitert. Nur knapp kann der Rest der Gruppe den mächtigen Fängen des Monsters entkommen. Junas Freunde haben zwar überlebt, doch jeder von ihnen hat mit dem Tod ihrer Freundin zu kämpfen. Während Saif, Luan und Chris den Verlust kaum verkraften können, verdrängt Joshua ihr Fortsein und redet sich ein, dass sich alles zum Guten wenden wird. Doch draußen vor den Fenstern wird der Sturm immer schlimmer. Umbra ist noch nicht besiegt. Und die Wahrscheinlichkeit, dass Joshua und Chris jemals zurück nach Hause können, schwinded von Minute zu Minute ...
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Seitenzahl: 780
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Für alle Hoffnungslosen.
Weil es erst zu Ende ist, wenn es sich gut anfühlt.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Epilog
Ein markerschütternder Schrei schoss wie eine Kanonenkugel durch den strömenden Regen, der vom Himmel auf sie herabfiel. So scharf, dass er jeden Einzelnen von ihnen mitten ins Herz traf und sie innehalten ließ.
Mit ihm versiegten unmittelbar die Bewegungen der Kreatur, die sich vor ihnen aufgestellt und mit ihrem Leben gegen sie gekämpft hatte. Der Name dieses Wesens war Umbra. Ein Monster, manifestiert aus den Sünden der Menschen und Beherberger einer undurchdringbaren Dunkelheit. Dunkelheit, die sich wie ein Geschwür im Körper seines Wirtes über die gesamte Welt legen sollte.
Es gab nur einen Weg, ihn zu töten: Lichtmagie, die einzig und allein von einer jungen Frau erwirkt werden konnte, die von Altera, der Göttin dieser Welt, dazu auserwählt worden war.
Und diese junge Frau hatte soeben ihr Leben verloren.
Luan und Joshua waren die Ersten, die sich nach ihr umdrehten und nicht länger auf die tödlichen Schweife der Bestie achteten, welche sie abzulenken hatten. Der schmerzerfüllte Schrei hatte eindeutig ihr gehört. Ihr, der kleinen Auserwählten, die vor wenigen Wochen in diese unbekannte Welt gekommen und dazu auserkoren worden war, diese von jener Finsternis zu befreien. Um Leben zu retten. Leben, die sie gar nicht kannte und deren Rettung sie sich trotzdem angenommen hatte.
Nevia drehte das Messer tiefer in den Oberkörper des Mädchens namens Juna, selbst dann noch, als sie bereits zusammengebrochen am Boden lag und sich eine Pfütze aus dunklem Blut um sie herum gebildet hatte. Nevia zog es raus und stach erneut zu, ohne wahrzunehmen, dass sich die satte Flüssigkeit spritzend in ihrem Gesicht verteilte. Das Mädchen war längst tot, doch sie konnte einfach nicht damit aufhören. Nicht nachdem sie solange auf diesen Moment gewartet hatte. Es war wie ein unaufhaltsamer und zugleich erregender Rausch.
Erneut hörte sie einen Schrei. Eine Stimme, die den Namen des Mädchens brüllte. Doch Nevia achtete nicht darauf. Ihr Blick hing fasziniert an der glänzenden Klinge, die getränkt war mit dem Blut, auf dessen Anblick sie so lange gewartet hatte.
So lange hatte sie sich gedulden müssen, nachdem es jemand gewagt hatte, den Lauf der sich alle einhundert Jahre wiederholenden Geschichte zu verändern. Niemand durfte dies, denn das war ihr Schicksal und nicht das einer Fremden. Sie hatte es ihr entrissen! Gestohlen, wie eine unbedeutende Diebin.
Sie holte ein weiteres Mal aus, als ihr jemand so fest ins Gesicht schlug, dass sie zur Seite geschleudert wurde und das Messer klirrend in dem Regen zu Boden fiel. Dann gab es einen zweiten heftigen Schlag, der sie mitten in den Magen traf und sie keuchend würgen ließ. In ihren Ohren klingelte es.
»Du dämliche Schlampe!« Der Mann, der über ihr stand und sie anschrie, war einer der Jungen, die Juna in diese Welt begleitet hatten. Sein Name war Chris.
Sein schwarzes Haar klebte nass vom Regen in seinem Gesicht, während er sie mit einem so wahnsinnigen Blick betrachtete, dass sie der festen Überzeugung war, jeden Moment umgebracht zu werden.
Wütend brüllte Umbra hinter ihnen auf, als fühle er sich von der Gruppe vernachlässigt, doch er rührte sich keinen einzigen Millimeter weit. Er starrte lediglich mit seinen feuerroten Augen auf sie hinab.
Sie waren hier hergekommen, um ihn zu töten. Die Kreatur, die alle einhundert Jahre wiedergeboren wurde, um Unheil über diese Welt zu bringen. Und sie würde ihn töten. Jetzt, wo das Mädchen beseitigt war.
Nevia sah hinter einem anschwellenden Auge zu der Leiche der jungen Frau, die sie von Anfang an verabscheut hatte, und dann wieder zu Chris hinauf.
Er wollte sich gerade von neuem auf sie stürzen, als hinter ihm weitere Leute aus der Gruppe dazukamen, die ihn an den Schultern und Armen packten. Es waren Ravan und Sahan, die ihn versuchten mit größter Anstrengung von ihr fernzuhalten.
»Juna …«
Müde schielte Nevia zu Saif herüber. Der einfältige Typ, der sich in dieses dumme Mädchen verliebt hatte, kniete neben ihr und drückte ihren leblosen Körper fest an sich. Sie war tot. Er hatte sie verloren und es gab nichts, dass er dagegen tun konnte.
Fast wäre ihr ein Lächeln über die Lippen geglitten, wenn ihr nicht Luan die Sicht versperrt hätte. Schon lange kannte sie den Mann mit dem blonden Haar und sie wusste mittlerweile nicht mehr, wie viele Jahre es waren. Er gehörte zu einem ihrer engsten Vertrauten, denn er hatte sie trainiert, als sie sich auf diesen Kampf vorbereitet hatte. Der Kampf, der von Anfang an für sie bestimmt gewesen war.
Ein angsterfüllter Laut entfuhr ihr nun, als sie in sein Gesicht blickte. Luan starrte auf sie hinab, abschätzig, bedauernd, mit einer Mischung aus Enttäuschung, doch da war noch etwas anderes. Etwas, das alles überwog und von dem sie nie gedacht hätte, dass sie es jemals in seinem Gesicht entdecken würde.
Wut.
Nicht die Art von Wut, die entstand, wenn Saif etwas ausgefressen hatte oder wenn sich jemand mit ihm anlegte. Es war rasende Wut. Die Form von Wut, die nicht einmal Ravan und Sahan zügeln können würden. Er wollte sie töten. Und in jenem Augenblick fürchtete sie sich davor. Mehr als vor allem anderen in dieser Welt.
Luan packte sie am Kragen und hob sie so dicht zu sich heran, dass ihr die Luft wegblieb. Seine blauen Augen waren so hübsch, aber so voller Zorn, dass ihr ein kurzes Wimmern entglitt. Sie erinnerten sie an die Augen von Nachtwölfen. Wunderschöne und anmutige Kreaturen. Jene, die innerhalb weniger Sekunden einen erwachsenen Mann zerfleischen konnten.
Natürlich war er wütend. Sie hatte dieses nervige Mädchen getötet, das alle lieb gewonnen hatten. Von dem sich jeder Einzelne von ihnen hatte täuschen lassen.
Seine Lippen glitten dicht an ihrer Wange vorbei, gedrängt an ihr Ohr und sie überkam eine prickelnde Gänsehaut. Sein nasses Haar kitzelte sie leicht, als er sprach.
»Ich werde dich töten. Ich werde es qualvoll tun. Und ich werde dafür sorgen, dass du mich darum anflehen wirst, es zu beenden.« Luans Stimme war kaum mehr als ein ruhiges, aber drohendes Flüstern.
Winselnd strampelte sie, trat nach ihm und versuchte, sich von ihm loszureißen, doch sein Griff wurde nur fester.
»Luan …«, hörte sie Ravans warnenden Ton hinter ihm, der sogleich vom Prasseln des Regen verschluckt wurde. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, denn mittlerweile hatte sie das Gefühl, dass ihr Eigenes zu einer einzigen großen Schwellung aufgequollen war.
»Hast du mich verstanden?«, fragte Luan leise, als habe er ihr eine belanglose Frage gestellt.
Gerade hatte sie ein stummes ja über die Lippen bringen wollen, als sie es spürte. Die Kraft und Energie. Die unendliche Macht einer Göttin, die schon eine ganze Weile in ihrem Körper geschlummert hatte. Den wahnsinnigen Drang nach Kontrolle, über diese Welt. Altera war in jenem Augenblick zu ihr zurückgekehrt.
Zurück in ihren Körper. Zurück in ihre Welt.
Sofort hörte sie auf sich zu wehren und sah Luan direkt in die Augen, ohne seinem Blick auszuweichen.
»Mach doch, was du willst!«, antwortete sie grinsend und spuckte ihm ins Gesicht.
Ungerührt hielt er sie immer noch am Kragen, aber nun ein Stück von sich weg, um sie direkt ansehen zu können. Seine Augen waren vollkommen ausdruckslos.
Ohne dass sie es kommen sah, schlug er ihr so fest gegen den Schädel, dass sie das Bewusstsein verlor.
1.
»Ich habe eine Bitte an dich. Ich weiß, wir waren uns nie wohlgesonnen und ich kann es dir tatsächlich nicht einmal verübeln, aber es ist mir ernst«, sagte Nail und betrachtete ihn mit festem Blick.
Vor wenigen Minuten hatte er Luans Schützling, Saif, aus der Höhle gescheucht und Luan selbst gebeten, ihn tiefer hinein zu begleiten, damit sie ungestört miteinander sprechen konnten. Er hatte vermutet, dass Nail das nur getan hatte, um den beiden jungen Erwachsenen draußen in der Schlucht Zweisamkeit zu verschaffen, doch jetzt ahnte er, dass es hier um etwas mehr als das ging.
Eigentlich hatte Luan lieber schlafen wollen, um vollkommen ausgeruht zu sein, bevor sie morgen dem Monster entgegentreten mussten, welches diese Welt in seinen Klauen gefangen hielt. Das Wesen namens Umbra, von dem niemand genau wusste, wie er sich im Kampf verhalten würde und dessen Aufeinandertreffen das Ziel ihrer Reise war.
Nail lehnte gegen den großen dunklen Felsen, mit dem sie vor ein paar Stunden die Höhle verschlossen hatten. Sein schwarzes Haar, das einen zarten bläulichen Schimmer besaß und zu einem Zopf gebunden war, glänzte leicht in den schwachen Strahlen des Mondes, die zu ihnen hinein drangen.
Ungern gab er es zu, aber Nail hatte durchaus damit recht, dass Luan ihn nicht leiden konnte. Er war ein arroganter und verwöhnter Prinz, der sich sein ganzes Leben nur um sich selbst gekümmert hatte. Zudem war er ein schamloser Perverser, der sich schon mehrmals seiner Verlobten, Zarifa, unsittlich angenähert hatte. Wenn also jemand einen Grund hatte, ihn zu hassen, dann war es Luan. Trotzdem musste er zugeben, dass er seine Meinung zuletzt zum Teil geändert hatte.
Nail hatte nicht nur bewiesen, dass er ein Mann war, der zu seinem Wort stand, sondern auch, dass man sich auf ihn verlassen konnte. Er hatte Juna in den letzten Wochen beschützt und mehr als jeder andere gezeigt, dass ein gutes Herz in seiner Brust schlug. Beinahe war es rührend, wie er sich um Chris kümmerte und sich ernsthafte Gedanken, um die Zukunft des fremden Jungen machte. Luan hatte sich sogar einmal dabei erwischt, wie er die beiden mit sich selbst und Saif verglich.
»Na, dann lass mal hören«, meinte er ruhig und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Es geht um Nevia. Ich habe die Vermutung, dass ich morgen von ihr getötet werde.«
Luan wusste für einen Augenblick nicht, ob er sich verhört oder ob Nail einen Scherz gemacht hatte. Er hatte so leise gesprochen, dass Ersteres nahe lag. »Wie bitte?«
Sein Kamerad seufzte genervt. »Ich glaube, dass ich morgen sterben werde.«
»Und wie kommst du darauf?«
»Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass Nevia dafür sorgen wird, dass ich Juna keinen Schutz bieten können werde.«
Jetzt war es Luan, der genervt seufzte. Nail hatte in den letzten Wochen immer wieder die gegenstandslose Theorie angebracht, dass es jemanden in der Gruppe gab, der Juna etwas antun wollte. Ehrlicherweise musste Luan gestehen, dass in den vergangenen drei Wochen so einige seltsame Sachen geschehen waren, die ihre Gruppe immer wieder in große Gefahr gebracht hatten. Das nun ausgerechnet Nevia diejenige war, die etwas mit diesen Ereignissen zu tun haben sollte, erschien ihm äußerst absurd.
»Fängst du schon wieder damit an?«
»Ich meine es ernst, Luan.« Das tat er wirklich, er konnte es eindeutig in seinen Augen lesen. »Ich wollte das eigentlich nicht sagen, weil ich mir eine Weile selbst nicht sicher war, aber Orbis hat es mir erzählt: Nevia hat ihn mit einem Fluch belegt, kurz bevor ihr den Tempel betreten habt.«
»Und warum hast du dann nichts gesagt?«
»Habe ich doch eben erklärt! Weil ich mir nicht sicher war«, sagte Nail verärgert und fuhr sich nervös durch sein Haar. »Erinnerst du dich an Leandra? Was meinst du, warum ich rechtzeitig an Junas Seite war, als sie angegriffen wurde? Nevia und Leandra haben in der Nacht noch ziemlich lange in der Küche miteinander geredet, bevor der Vorfall geschah. Es war nahezu plausibel, dass irgendetwas passieren würde. Nun ja, zumindest hatte ich so ein Gefühl, das sich, wie wir ja wissen, bewahrheitet hat.«
Luan wusste nicht, was er sagen sollte. Auch, wenn er es immer noch nicht glaubte und der festen Überzeugung war, dass es nur ein Zusammenspiel unglücklicher Zufälle war, regte sich etwas in ihm, das ihn unruhig werden ließ.
»Ich habe ehrlich gesagt nicht mal Zweifel daran, dass es nicht noch weitere Momente gab, in denen zufälligerweise Dinge geschehen sind, die nur passierten, weil Nevia in der Nähe war. Vermutlich hat sie sogar etwas mit dem verfluchten Feuer zu tun, das auf die Siedlung geprasselt ist, kurz nachdem wir Ravan fanden.«
Luan atmete tief ein. »Das sind schwere Anschuldigungen, die du da gegen sie erhebst.«
»Und dennoch ist es so. Sahan weiß ebenfalls Bescheid. Wir haben kurz nachdem wir aufgebrochen sind vereinbart, dass er genau wie ich ein Auge auf Juna haben wird.«
Die beiden Männer starrten sich lange an. Jeder vermutlich überlegend, was der andere gerade dachte.
Nach einer Weile schüttelte Luan den Kopf. »Nevia würde so etwas nie tun.«
»Oh, natürlich würde sie das nicht. Sie ist schließlich die letzte Auserwählte, nicht wahr?«, meinte Nail abschätzig.
»Vielleicht hat sich Orbis geirrt?«
»Ich bitte dich, Luan. Der Mann stand zwar unter einem Fluch und ist nicht mehr der Jüngste, aber Orbis ist einer unserer ältesten Diener der Göttin. Er würde niemals etwas derart blasphemisches von sich geben, wenn es nicht der Wahrheit entsprechen würde. Er hat auf Sahan und mich aufgepasst, als unsere Eltern von uns gingen. Ich würde mein Leben für seinen Schutz geben. Ebenso misstraue ich keines seiner Worte.«
»Und warum hast du uns das nicht eher erzählt? Was ist der Grund dafür, dass du es mir erzählst? Ausgerechnet jetzt?«
Der Prinz blickte auf seine Schuhe und lächelte schwach. »Was glaubst du wohl? Ich war mir wie gesagt nie ganz sicher. Habe immer wieder meine Gedanken kreisen zu lassen, aus welchem Grund Nevia das tun sollte. Ich habe sie eindringlich beobachtet. Manchmal habe ich den Gedanken verworfen, weil ich an das Gute in ihr geglaubt habe. Doch etwas sagt mir, dass sie morgen erneut etwas tun wird, das Juna in Gefahr bringen könnte. Als wenn Umbra nicht schon genug wäre.«
Luan hatte es immer noch nicht ganz verstanden. Das alles klang absolut abwegig. »Nehmen wir nur mal an, du hast wirklich recht. Was genau sollen wir deiner Meinung nach tun?«
Jetzt war es das fuchsartige Grinsen, welches sich auf Nails Lippen legte. Es war ein typisches Merkmal seiner Persönlichkeit. Etwas, das er immer tat, wenn er glaubte recht zu haben oder etwas Kluges zu sagen. »Am besten wäre es, sie jetzt zu töten.«
»Nail …«
»Ich habe mir gedacht, dass du so reagieren würdest. So würdet ihr alle reagieren. Solange ich keine handfesten Beweise habe, würde niemand von euch auch nur eine Hand an sie legen, nicht wahr? Mein Wort allein reicht schließlich nicht.«
Gerne hätte er es verneint, doch es stimmte: Sie konnten nicht einfach die ehemalige Auserwählte töten, nur weil Nail eine Vermutung hatte.
Nachdenklich blickte Luan in Richtung der Schlucht, wo die anderen gerade schliefen. Er zweifelte daran, dass Nevia böse Absichten hegte, doch was war, wenn Nail recht hatte und sie etwas tun würde, das Juna gefährlich werden konnte?
So sehr er es auch nicht wahrhaben wollte, schmerzte ihn allein die Vorstellung daran, sie verlieren zu können, und schon eine Weile lag es nicht mehr nur an der Tatsache, dass sie das Mädchen brauchten, um Umbra zu töten. Da war noch etwas anderes.
»Luan.« Nail riss ihn aus seinen Gedanken und er sah wieder zu ihm.
»Es gibt da etwas, um das ich dich bitten möchte. Der eigentliche Grund, warum ich mit dir reden wollte. Hier.« Er reichte ihm eine Silberperle.
Es war ein magisches Instrument, das man mit anderen Perlen seiner Art verbinden konnte, um sich gegenseitig Signale zu senden. Luan hatte es selbst schon einige Male benutzt. Zuletzt, als die Gruppe ohne ihn den Tempel in Kastalya hatte betreten müssen. Er hatte Saif eine Silberperle gegeben, falls die Situation schwierig werden würde. Und sie war schwierig geworden.
Luan nahm ihm die Perle ab und betrachtete sie, als halte er zum ersten Mal in seinem Leben ein solches Instrument in seinen Händen.
»Juna hat das Gegenstückt dazu«, erklärte Nail mit einem traurigen Lächeln. »Ich habe ihr versprochen, ihr zur Hilfe zu kommen, sobald es gefährlich wird. Falls ich im Kampf sterben sollte, solltest du die Perle bei dir haben, um sie zu retten.«
Ein riesiger Kloß bildete sich in Luans trockener Kehle, als ihm wieder einmal bewusst wurde, wie sehr Nail Juna zu mögen schien. Dann sah er auf die glänzende Perle hinab und ließ sie zwischen seinen Fingern hin und her kreisen.
»Ich werde vermutlich so oder so sterben, egal ob morgen oder übermorgen. Es wird zeitnah geschehen, denn ich bin ein Sünder«, lachte Nail im schwachen Licht.
»Was meinst du?«, fragte Luan irritiert.
»Keine Angst, Großer. Ich habe niemanden getötet, so wie du«, stichelte er. »Aber ich zweifle an Altera. Kannst du das glauben? Ich bin mir nicht mehr sicher, ob Altera gut für unsere Welt ist.«
Eindringlich betrachtete Luan Nail und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, was dafür gesorgt hatte, das es dazu gekommen war.
»Es hat bereits vor ein paar Jahren angefangen, ich bin aber immer wieder davon abgekommen. Seit Chris bei mir ist und Juna die Auserwählte wurde, bin ich mir nicht mehr sicher, ob das alles so in Ordnung ist, wie unsere Welt läuft. Nenn mich verrückt, aber vielleicht haben diese ganzen durchgeknallten Typen recht, die sich gegen die Göttin verschwören. Vielleicht sitzt da oben wirklich eine Irre, die sich dieses kranke Spiel hier ausgedacht hat, um Menschen zu quälen.«
Jetzt sah er ihn an.
Wenige Sekunden später prusteten beide los. Das war noch weitaus absurder, als Nails Theorie, dass Nevia etwas mit den Angriffen gegen Juna zu tun haben sollte.
Grinsend drückte er dem Prinzen die Perle zurück in seine Hände. »Ich brauche sie nicht. Du wirst morgen nicht sterben. Niemand wird sterben. Ich glaube, du verlierst bei all den Geschehnissen nur den Verstand.«
Nail drückte die Perle zurück an Luans Brust »Du hast mich nicht verstanden, mir ist es ernst!«
»Mir ebenfalls«, erwiderte er entschieden.
Allmählich bereiteten ihm Nails Worte Kopfschmerzen.
»Luan …«
»Nail, hör auf damit«, sagte er jetzt mit Nachdruck und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Niemandem von uns wird etwas passieren, dafür wird Altera schon sorgen. Und nur für den Fall werde ich Sahan und Saif sagen, dass sie in Nevias Nähe bleiben sollen, wenn dich das etwas beruhigt.«
Enttäuschung blitzte über das Gesicht des Prinzen. Es war das erste Mal, dass er ihn mit so einem Blick betrachtete. »Bitte Luan, ich flehe dich an«, flüsterte Nail eindringlich.
Luan erstarrte in der Dunkelheit, als habe ihm jemand eine Ohrfeige gegeben.
Noch einmal reichte Nail ihm die Perle. Er zögerte.
»Warum ich? Ich könnte morgen genauso gut sterben«, murmelte er nun ebenso.
Belustigt schüttelte Nail den Kopf. »Nein, deine Zeit ist noch nicht gekommen. Du hast schon einiges erlebt und bist viel zu taff, als das du jetzt sterben wirst. Ich bin nur ein Prinz aus einem fremden Land, der sein gesamtes Vermögen für Mädchen und Alkohol ausgibt. Über mich gibt es keine großen Geschichten von außergewöhnlichen Kampffähigkeiten zu erzählen. Außerdem gibt Nevia viel auf dich. Ich war ihr von Anfang an ein Dorn im Auge. Ich habe bemerkt, wie sie mich anstarrt, wenn ich Juna beschütze.«
Noch immer starrte Luan auf die kleine Perle in Nails Hand. Er wusste nicht, warum er zögerte. Vielleicht weil er fürchtete, die Worte seines Gefährten könnten sich auf irgendeine Art und Weise bewahrheiteten. Seufzend nahm er ihm das magische Instrument ab und schob es in seine Hosentasche. Nail lächelte dankbar.
»Du hast einen Drachen mit nur zwei Fingern das Genick gebrochen. Ist das nichts Erwähnenswertes?«, fragte Luan schmunzelnd.
»Ach das! Eigentlich war es eher eine kleine Echse, als ein Drache«, antwortete er grinsend.
Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens räusperte sich Nail. »Da ist noch eine letzte Sache.« Er zog einen weiteren Gegenstand aus seinem Mantel. Es war ein Stück Papier. »Das ist für Chris. Bitte gib ihm das nach dem Kampf.«
»Nail …«
»Bitte.«
Seine Forderungen lasteten schwer auf Luans Schultern. Langsam nahm er ihm das Papier ab und schob es in seine andere Hosentasche. Dort, wo auch schon ein weiterer Zettel verborgen lag, auf dem Luan Zarifa geschworen hatte, sich nicht für Juna in Lebensgefahr zu begeben. Zwar trug er ihn bei sich, aber er wusste, dass er sein Versprechen unter diesen Umständen noch weniger halten könnte. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt.
Lächelnd streckte sich Nail und stieß sich von dem Felsen ab, bevor er Richtung Schlucht blickte.
»Dann werde ich mal meine letzte Nacht genießen. Vielleicht träume ich noch einmal von dem hübschen blonden Mädchen, das ich in Kastalya für ein paar Nächte hatte. Ich hätte meine letzte Nacht lieber zwischen ihrem Busen und mit einer Flasche Schnaps verbracht, aber man kann vermutlich nicht alles haben«, sagte er locker und zwinkerte Luan zu, bevor er ging.
»Nail, warte!« Luan hatte das Bedürfnis noch etwas sagen zu wollen, wusste aber nicht was.
Nail Tael drehte sich ein letztes Mal zu ihm um. Sein fuchsartiges Grinsen wie immer auf den Lippen.
»Danke, Luan. Ich lege all meine Hoffnung in dich, dass du gut auf sie aufpassen wirst. Und falls jemand fragt, was ich großartiges in diesem Kampf geleistet habe, dann lass mich ein bisschen cool dastehen, okay? Die Mädchen in Kastalya sollen nicht nur feuchte Höschen kriegen, weil sie sich an meine guten Fertigkeiten im Bett zurückerinnern, sondern auch, weil ich einen würdevollen Kampf hingelegt habe.«
Damit ging er zurück zu den anderen und ließ Luan alleine in der Höhle stehen.
Ein nervöses Kribbeln huschte über seine Schultern, wie eine unheilvolle Vorahnung, die er versuchte von seinen Gedanken fernzuhalten.
Es war das letzte Mal, dass er alleine mit Nail gesprochen hatte.
Wenn er sich im Spiegel betrachtete, sah er einen jungen Mann, dessen Dreitagebart nun deutlich fülliger war, als das man ihn noch länger so bezeichnen konnte. Er sah aus wie jemand, der eine lange Reise hinter sich gebracht hatte. Jemand, der viel erlebt hatte und dessen glasige Augen spiegelten, dass mehr als die Hälfte davon schrecklicher Natur gewesen war.
Vor ihm lag das scharfe Messer, mit dem er sich den Bart vom Gesicht stutzen wollte, doch etwas hielt ihn davon ab. Zum einen war es seine zitternde Hand, die überhaupt nicht fähig war ein Messer zu halten. Zum anderen war es der Wunsch danach, dieses zu nehmen und es jemandem ins Herz zu rammen.
Luan drückte seine feuchte Stirn gegen den kalten Spiegel vor sich und atmete tief ein und aus. Mehr als eine Woche war vergangen, seitdem sie Umbra gegenüber gestanden hatten und erst vor wenigen Tagen hatten sie Histerias erreicht.
Seine Verlobte, Zarifa, die Prinzessin dieses Landes, war ihnen im strömenden Regen vor den Toren der Stadt entgegen gekommen und hatte sie entsetzt angestarrt, als sie gesehen hatte, dass sie eine Leiche und ein bewusstloses Mädchen bei sich trugen. Luan konnte sich nur noch schwach an alles erinnern, aber am Ende war die gesamte Gruppe froh gewesen, dass sie es lebendig aus dem Toten Land geschafft hatten.
Ohne Umbra bezwungen zu haben.
Es war alles so schnell gegangen, dass er sich die Szene immer wieder in sein Gedächtnis rief. Nicht freiwillig. Die Bilder und Geräusche hatten sich eingebrannt, wie die Male des Fluches auf seiner Haut, und es verging kein Tag, an dem er nicht daran dachte.
Junas Schrei. Umbra, still verharrend und nichts tuend. Nevia, die ihr Messer immer wieder in den Körper der kleinen Auserwählten rammte, als wolle sie diese ausweiden wie ein geschlachtetes Tier. Chris‘ Schlag. Ravan und Sahan, die ihn zurückhielten. Saifs und Joshuas Tränen. Und seine eigene unkontrollierbare Wut.
Nachdem er Nevia außer Gefecht gesetzt hatte, hatten sie sofort den Heimweg angetreten, ohne zurückzublicken. Selbst auch dann nicht, als Umbras Schrei aggressiver denn je aus der Ferne erklungen war, so als wäre er von seinem Plateau hinabgestiegen, um sie zu verfolgen. Luan wusste nicht, ob es so war, aber er war sich sicher, dass er mächtige Angst davor hatte es herauszufinden.
Müde sah er in den Spiegel und betrachtete den erbärmlichsten Menschen, den er je gesehen hatte. Jemanden, der einem Kameraden nicht geglaubt und damit ihn und ein unschuldiges Mädchen in Gefahr gebracht hatte. In eine solche Gefahr, dass es ihre Leben gekostet hatte.
Erschöpft fuhr er sich über sein Gesicht und begann sich mit dem Messer Stück für Stück den Bart zu rasieren.
Er hatte seit Tagen nicht mehr geschlafen. Sobald er die Augen schloss, huschte das fuchsartige Grinsen von Nail in sein Sichtfeld. Er sah seinen hochnäsigen Blick und das Funkeln darin, wenn ihm etwas nicht gefiel. Doch noch mehr als ihn sah er die kleine Auserwählte. Juna.
Sie war überall, egal, wohin er sich bewegte. Manchmal hörte er ihre Stimme und hoffte, dass sie doch noch am Leben war, aber die leblose Gestalt auf Saifs Rücken hatte ihn stets aufs Neue daran erinnert, dass sie gestorben war. Ein unschuldiges, liebes Mädchen, das überhaupt nicht aus dieser Welt stammte.
Kurz hielt er inne. Umklammerte das Messer fest und drückte seine Hand auf die andere, um das Zittern zu kontrollieren.
Seit ihrem Tod hatte er sich oft gewünscht, dass er sie einfach zurück nach Hause gebracht hätte. Noch eher, dass sie sich nie getroffen hätten. Obwohl, … das war gelogen. Er war froh, sie kennengelernt zu haben. Auch, wenn sie nun ein großes Stück Leere in seinem Inneren zurückgelassen hatte. Größer, als er je geahnt hätte.
Warum hatte Nevia das getan? War es lediglich Eifersucht um ihren verlorenen Titel gewesen, den sie hatte an das fremde Mädchen abgeben müssen? Bis heute hatte er keine Antwort darauf erhalten, obwohl er sich eingestehen musste, dass er sich bisher auch nicht die Mühe gemacht hatte Nevia danach zu fragen. Er hatte Angst, dass er ihr die Kehle durchschnitt, wenn er auch nur ein Wort aus ihrem Mund hören würde, und es erschreckte ihn selbst, wie viel Hass sich in seiner Brust angesammelt hatte.
Seufzend fuhr er mit der Rasur fort und schmiss das Messer frustriert auf den Boden, als er damit fertig war.
Er musste sich zusammenreißen, alleine schon für das Wohl dieser Welt, welches nun vollkommen ungewiss war.
Draußen regnete es seit einer Woche ununterbrochen und das Unwetter wurde von Tag zu Tag schlimmer. Niemand wusste, was geschehen würde, jetzt, wo die Dinge so unerwartet verlaufen waren. Wie es mit ihrer Welt weitergehen würde. Und vor allem wie sich Umbra nach alldem verhalten würde.
Luan war nur selten in seinem Leben nach Weinen zumute gewesen. Eigentlich konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal eine Träne vergossen hatte. Zuletzt, bevor er im Regen gestanden, auf Junas toten Körper herunter geblickt hatte, den Saif fest umklammert hielt. An diesem Tag hatte jeder von ihnen geweint. Um Juna und um Nail.
Seufzend fuhr er sich erneut über seine Augen. Reiß dich zusammen, Luan!
Was war nur passiert, dass alles so außer Kontrolle geraten war? Warum nur, hatte Nail mit allem, was er gesagt hatte, recht behalten? Noch nie hatte Luan sich so hilflos gefühlt, wie in jenem Augenblick, doch jetzt musste er endlich wieder aufrecht stehen und einen klaren Kopf bewahren. Schon alleine Saif, Joshua und Chris zuliebe.
Schleppend schleifte er sich in den Thronsaal, nachdem er sich gewaschen und umgezogen hatte. Es war ein schwerer Gang. Vielleicht auch deshalb, weil sie zusammengerufen worden waren, um sich zu beraten, wie es weiterging und Luans Gehirn absolut frei von jeder Idee war, wie jegliche Handlung noch irgendeinen Sinn machen sollte. Er war noch nie ein Pessimist gewesen. Eigentlich hatte er oft auch die Meinung vertreten, dass es für jede Situation schon eine Lösung geben würde. Das hier war jedoch etwas vollkommen anderes. Es war nicht so, dass er aufgeben wollte, doch er spürte, wie er allmählich die Hoffnung zu verlieren schien.
Zudem war er sich unsicher, ob Saif bereits in der seelischen Verfassung war, um über ein weiteres Vorgehen zu sprechen.
Der Saal, den er betrat, war riesig und führte mit einem weinroten länglichen Teppich direkt zum Thron vor ihm. Zu seiner linken und rechten Wand hingen die Gemälde der letzten Könige und Königinnen, die über dieses Land regiert hatten. Strafend blickten sie auf ihn herab, als hätten sie bei der Aufnahme der Porträts bereits von seinem Versagen gewusst. Darüber befanden sich schmale hoch liegende Fenster, durch die das Pfeifen des Sturmes zu ihm drang.
Hier hatte er Juna vor etwa einem Monat hergebracht. Hier hatte er ihr geschworen, ihr bis zu seinem Tod zu dienen. Sein Herz schlug schwer in seiner Brust bei jener Erinnerung. Er kannte noch jede einzelne Silbe des Schwurs. Jedes einzelne Wort. Obwohl er nie in der Pflicht gestanden hatte, ihn auswendig zu lernen.
Hiermit schwöre ich dir vor Altera, dass ich dich mit meinem Leben, meinen Waffen und meinem Geist beschützen werde. Ich schwöre dir Treue bis zum Tode und gebe dir mein Wort, dass ich dich auf all deinen Wegen begleiten werde.
Auf allen Wegen. Dass er nicht lachte. Er schüttelte wütend über sich selbst den Kopf und konzentrierte sich auf den Saal, in dem er sich befand.
Nur wenige von seinen Freunden waren anwesend. Sahan, Ravan und Saif standen inmitten des großen Raumes und blickten stumm zu Boden. Die drei sahen so aus, als trugen sie die gesamte Last der Welt auf ihren Schultern. Selbst Myka, die Leibwächterin der Prinzessin, war bereits da und wartete geduldig an der Seite des Throns auf ihre Herrin. Die Frau mit dem kurzen silbernem Haar, rührte sich keinen Millimeter weit. Nur ihre Augen bewegten sich stumm in Luans Richtung.
Der letzte verbliebende Prinz von Kastalya, Sahan, drehte sich kurz zu ihm um, als er den Saal betrat. Nails Bruder trug einen langen dunklen Mantel über seinem königsblauen Gewand, mit den goldenen Verzierungen der Göttin. Die federähnlichen Symbole waren überall auf der Welt zu finden. An Wänden und auf Flaggen. Ja, selbst gestickt auf Kleidung. Sahans Frisur war zu einem üblichen Dutt hergerichtet.
Ein tiefer Stich durchfuhr Luan. Es genügte allein der Anblick des Prinzen, um sich an Nail zu erinnern. Und an das, was er ihm in der Nacht vor dem Kampf gegen Umbra erzählt hatte. Schuldgefühle loderten wie heiße Flammen in ihm auf.
Obwohl die beiden Männer keine Zwillinge waren, erinnerte Luan jedes kleinste Detail in Sahans Gesicht an den toten Prinzen. Seine Augen waren etwas schmaler und seine Mundwinkel zuckten kaum ein einziges Mal, doch die Art wie er sich bewegte, wie sein Blick umherwanderte oder in die Ferne schweifte – all das war auch Nail.
Ravan nickte ihm freundlich zu, als er sich neben seine Kameraden stellte. Der Mann mit dem halben kahl geschorenen Kopf auf der einen Seite und der langen braunen Mähne auf der anderen, die bereits erste graue Strähnen aufwies, hatte stets ein Lächeln auf den Lippen. Selbst jetzt noch, und Luan wusste nicht, ob er ihn dafür bewundern oder hassen sollte.
Der Einzige, der ihn nicht ansah, war Saif. Sein Schüler hatte sich seit dem Tod von Juna vollkommen in sich zurückgezogen und kaum ein Wort gesprochen. Manchmal wirkte es so, als verstecke er sich hinter seiner wüsten brünetten Mähne, deren vereinzelte Strähnen ihm ins Gesicht fielen. So, als wolle er verhindern, dass man seine Trauer sehen konnte.
Alles in allem war es wie ein nicht endender Albtraum. Noch schlimmer aber musste es den beiden Freunden von Juna gehen, die mit ihr gemeinsam in diese Welt gekommen waren. Joshua und Chris.
Die beiden Jungs hatte er seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen und fürs Erste hatte es ihm genügt, zu wissen, dass sie unversehrt waren. Nun war es für sie an der Zeit in ihre Welt zurückzukehren. Sie hatten schon genug Leid ertragen müssen und allein der Gedanke daran, dass sie zu ihren Familien zurückkehren würden, ohne ihre Freundin mitnehmen zu können, machte Luan unsagbar traurig.
Er fühlte sich schlecht bei der Vorstellung, dass die beiden es waren, die Junas Bruder und ihren Eltern erklären mussten, warum sie plötzlich nicht mehr da war.
Fest presste er die Zähne aufeinander und versuchte, den Anflug von Trauer zu unterdrücken. Er musste sich unbedingt zusammen reißen.
Wenige Minuten nach ihm betrat Zarifa, Luans Verlobte, den Thronsaal und sah in jedes einzelne Gesicht, als sie vor der Gruppe Männer stand. Ihr langer blonder Zopf betonte ihr anmutig aussehendes, lavendelfarbenes Kleid. Auch sie wirkte müde. Unter ihren Augen befanden sich dunkle Schatten, die offenbarten, wie wenig sie geschlafen hatte.
»Danke, dass ihr alle erschienen seid«, sagte sie ruhig. »Ich habe euch zusammen gerufen, damit wir beraten können, wie es weitergeht.«
Sie sah zu Myka herüber. »Ich weiß, dass die Situation schwierig ist, aber wir müssen etwas tun. Uns bleibt nicht viel Zeit.«
Alle starrten sich an, als erwarte jeder vom anderen, dass er das Wort ergreifen würde. Von draußen war das Pfeifen des peitschenden Windes zu hören. Schließlich war es Zarifa, die eine Frage in den Raum warf, obwohl Luan eher das Gefühl hatte, dass diese gezielt an ihn gerichtet war, denn sie betrachtete ihn dabei eindringlich. »Nevia kann weiterhin keine Lichtmagie benutzen?«
Er spürte wie sich sein Puls explosionsartig beschleunigte. Wie konnte sie jetzt noch auf die Hilfe von jemandem setzen, der für das Scheitern dieser Mission und den Tod zweier Menschen verantwortlich war?
Eine Theorie hatte immer darin bestanden, dass es womöglich lediglich Junas Verschwinden bedurfte, damit Nevia ihre Kräfte wiederbekam, doch nichts hatte sich geändert. Sie war so machtlos geblieben, wie auch schon in den letzten Wochen, seit dem Auftauchen des fremden Mädchens. Die Gruppe hatte es einmal ausgetestet, als Nevia zu Bewusstsein gekommen war, und Luan ihr mit der Klinge an der Kehle befohlen hatte, Lichtmagie zu wirken. Wie ein kleines Kind hatte sie dicke Tränen geweint, jedoch nichts bewirken können, bevor er sie erneut bewusstlos geschlagen hatte. Er erinnerte sich daran, dass Ravan seinen Umgang mit ihr nicht sonderlich gut geheißen hatte.
»Nein«, antwortete Luan deshalb knapp.
»Verstehe«, murmelte Zarifa enttäuscht.
»Nur Lichtmagie kann den Dämon Umbra bezwingen. Wir haben niemanden der diese Form von Magie anwenden kann«, erklärte Myka sachlich. »Wir brauchen sie aber, um auch nur den Hauch einer Chance gegen dieses Monster zu haben.«
Zarifas Leibwächterin wirkte ausgesprochen gefasst, trotz dieser nicht übersehbaren Situation.
»Vielleicht braucht Altera etwas Zeit, um eine neue Auserwählte zu bestimmen«, warf die Prinzessin ein.
»Und wie viel Zeit wollen wir ihr geben, während die Welt um uns herum in immer größer werdendes Chaos versinkt?«, fragte Myka trocken.
»Wir haben keine andere Wahl. Wahllos eine Truppe von Kämpfern dorthin zu schicken, um Umbra zu bekämpfen, würde nur weitere Leben kosten«, meinte Ravan und verschränkte die Arme vor der Brust. »Allein der Weg ins Tote Land ist viel zu gefährlich. Und er wird mit Stunde für Stunde gefährlicher.«
»Das heißt, wir sollen nichts tun.« Kurz schien sich jeder durch den Kopf gehen zu lassen, ob Zarifa ihren Kommentar als Frage formuliert hatte, doch es war lediglich eine Tatsache, die sie ausgesprochen hatte. Die Prinzessin hatte aufgegeben und Luan konnte es ihr nicht einmal verübeln.
»So etwas gab es in der gesamten Geschichte unserer Welt noch nie«, fuhr sie betroffen fort. »Wird das unser Ende sein? Wird Altera uns jetzt im Stich lassen? Ich weiß nicht einmal, wie ich mein Volk beschützen soll. Die anderen Weltmächte sind nach dem Tod der Auserwählten erschüttert. Sie haben das Vertrauen verloren. In die Göttin und in mich.«
Luan sah, wie sie versuchte, stark zu bleiben, doch es war mehr als ersichtlich, dass sie mit den Tränen kämpfte.
»Was soll das bedeuten?«, fragte er und blickte zwischen allen hin und her. Ravan und Sahan – ja, selbst der sonst so kalt wirkende Prinz – sahen so aus, als wüssten sie bereits um den Umstand der anderen Königreiche Bescheid.
Zarifa vergrub ihre Finger in ihrem Kleid. »Nachdem die Auserwählte gestorben war, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer über die Welt. Ich bekam Briefe aus den beiden Reichen, Lavendia und Omen.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Sie geben mir die Schuld an dem Versagen. Cadis, Yume und ich seien dafür verantwortlich gewesen, die Auserwählte zu begleiten, und weil wir das nicht getan haben, sei die Göttin Altera erzürnt, weshalb sie diese Mission zum Scheitern verurteilt habe. Beide Reiche haben unsere Kooperationsverträge gekündigt. Sie wollen nicht länger Handel mit uns betreiben oder uns in Krisensituationen unterstützen.«
Luan schluckte hart.
Ravan neben ihm seufzte lächelnd. »Mach dir darüber keine Sorgen, Zarifa. Mein Vater und Königin Moana von Omen werden sich schon wieder beruhigen. Diese Handelsverträge bestehen seit mehreren Jahrhunderten. Es wäre auch für sie ausgesprochen unvorteilhaft die Beziehungen einfach so zu beenden.«
»Sie sind dabei den Vertrag ebenfalls mit Kastalya zu brechen«, sagte jetzt Sahan.
Selbst Saif, der die ganze Zeit schweigsam neben Luan gestanden hatte, sah erstaunt zu ihm. Seit der Prinz sie begleitete, hatte er kaum ein Wort gesprochen. Lediglich Juna oder Nail hatten ihm hin und wieder ein paar Brocken entlocken können.
Nicht sonderlich überrascht sah Zarifa zu ihm. »Dann liegt es an Euch zu entscheiden, wie Ihr verfahren wollt.«
Sahan nickte bestimmt und senkte erschöpft den Blick. Es brach Luan das Herz zu sehen, wie der junge Mann um seinen Bruder trauerte. Nach dem Tod seiner Eltern war Nail alles, was Sahan geblieben war, und ohne, dass er es jemals laut ausgesprochen hatte, wusste Luan, wie viel ihm sein großer Bruder bedeutet hatte. Er war sein bester Freund gewesen. Sein einziges verbliebenes Familienmitglied. Am liebsten hätte Luan den Prinzen angeschrien, dass er zurück nach Kastalya gehen sollte, um dort die letzten Tage und Wochen mit seinem Volk zu verbringen. Solange die Dunkelheit noch nicht alles und jeden verschlungen hatte.
»Wären diese Jugendlichen nur niemals in diese Welt gekommen«, murrte Zarifa und griff fester in ihr Kleid. »Es war alles gut. Altera hatte einen Plan. Sie hatte Nevia als Auserwählte auserkoren und dann platzt diese Fremde in unsere Welt und bringt alles durcheinander!«
Saif, der neben Luan stand, knackte ein paar Mal laut mit seinen Fingern. Eine Angewohnheit, die ihn beruhigte, wenn er kurz davor war in einen Wutausbruch zu verfallen.
»Apropos Jugendliche. Ich werde Chris und Joshua nach Hause bringen.« Luans Stimme hatte ungewollt schnippisch geklungen, was er sofort an dem feindseligen Blick seiner Verlobten festmachen konnte.
»Oh nein, das wirst du nicht!«
»Und warum nicht?«
»Die beiden werden mit uns hier sterben! Ich lasse nicht zu, dass sie, nachdem was sie angerichtet haben, seelenruhig in ihre Welt zurückkehren können.« Zarifa funkelte ihn böse an.
»Ach, dann ist das also der Grund, warum du die beiden in ihre Zimmer gesperrt hast und nicht herauskommen lässt?«
Er wusste von Myka, dass mehrere Wachen vor dem Gemach der beiden Jungs postierten. Nicht gerade die feine Art, nachdem sie sich bereit erklärt hatten, dieser Welt helfen zu wollen.
Zarifa schnalzte verächtlich mit der Zunge. »Ich bitte dich, im Gegensatz zu Nevia haben sie wenigstens ein Bett. Es ist beschlossen. Die beiden Jungs bleiben hier. Meinetwegen können sie auch gerne im Schloss frei herumlaufen, wenn dir das besser gefällt, Luan.«
»Zarifa, du kannst nicht zwei unschuldige Menschen dafür bestrafen, dass sie ungewollt in diese Welt gekommen sind«, sagte Ravan jetzt und trat einen Schritt vor. »Sie haben uns geholfen, Umbra zu bekämpfen. Du bist doch kein Unmensch.«
»Ich muss dem zustimmen, Prinzessin«, warf Myka ebenfalls ein.
Luan war froh, dass wenigstens ein paar der Anwesenden noch einen klaren Kopf bewahren konnten.
»Nein. Sie werden solange hierbleiben, wie ich es befehle. Davon abgesehen, habe ich die Lichter, die sie herbrachten beseitigt. Sie werden also erstmal eh keine Möglichkeit haben, dieser Welt entkommen zu können.«
Luan und auch Myka schnappten gleichzeitig entsetzt nach Luft.
»Was heißt das?«, fragte Ravan vorsichtig. »Was meinst du damit, dass du sie beseitigt hast?«
Zarifa huschte ein leichtes Lächeln über die Lippen. »Kurz nachdem ihr aufgebrochen seid, habe ich einigen Wachen befohlen alle Lichter einzufangen, mit denen diese Kinder hierhergekommen sind. Es war nicht sonderlich schwer sie zu finden, nachdem sie alle wildgeworden auf dieser Lichtung nahe der Mondwälder umhergeflattert sind. Sicherheitshalber habe ich die gesamten Wälder im Umkreis ebenfalls absuchen lassen. Sollten sie sich also nicht regenerieren, dürfte von ihnen da draußen keines mehr existent sein. Als ich dann erfuhr, dass Juna gestorben ist, habe ich die Dinger in einer Kammer verbrennen lassen. Danach war nichts mehr von ihnen übrig.«
»Nein …« Myka hatte sich nun vollständig zu Zarifa umgedreht und sah vollkommen entgeistert aus. »Warum …?«
»Das habe ich doch eben erklärt. Es wird niemand mehr diese Welt verlassen!«, zischte sie ungeduldig.
Luan hörte, wie Saif neben ihm wütend zu schnaufen begann, ehe er sich umdrehte und mit donnernden Schritten den Saal verließ. Ravan und er sahen ihm hinterher.
Vollkommene Stille beherrschte den Raum, während sich Luan fragte, wie er noch länger eine Frau lieben konnte, die allmählich den Verstand zu verlieren schien. Warum musste sie sich so unausstehlich verhalten und anderen Menschen das Leben so schwer machen?
Myka betrachtete die Prinzessin noch immer wie erstarrt, sodass sich Luan kurz dabei erwischte, wie er sich wünschte, sie würde Zarifa anschreien und ihr ganz direkt sagen, was für eine Dummheit sie begangen hatte. Er hatte immer das Gefühl, dass seine Verlobte auf sie hörte. Zumindest mehr als auf ihn.
»Zarifa?«
Alle drehten sich zu der offen stehenden Saaltür, in der Cadis plötzlich aufgetaucht war. Sie war eine langjährige Freundin von ihnen, in Junas Alter und vor vielen Jahren dazu auserkoren worden, der Auserwählten als Heilerin zur Seite zu stehen. Mit ihrem hübschen langen blonden Haar und den strahlenden blauen Augen, war sie stets der Sonnenschein der Gruppe gewesen. Zuletzt hatte sie im Kampf gegen Umbra nicht dabei sein können.
Ein unheimliches Gefühl durchfuhr Luans Körper, als er sich daran erinnerte, dass Nevia und Cadis am Abend vor dem Aufbruch ins Tote Land gemeinsam Zeit miteinander verbracht hatten. Cadis hatte erzählt, dass Nevia noch darauf bestanden hatte, eine besondere Flasche des Weins, aus den Gemächern der Prinzessin zu trinken. Danach hatte sich das fröhliche Mädchen den Magen verdorben und die Gruppe nicht mehr begleiten können. Ihre einzige Heilerin hatte hierbleiben müssen. Ihre einzige Chance, die sie gehabt hätten, um vielleicht Nail und auch Juna das Leben zu retten.
»Was gibt es, Cadis?«, fragte Zarifa und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich sollte dir doch Bericht erstatten, wegen …«
»Ach ja. Und?«
Ravan und Luan sahen sich kurz fragend an.
Cadis zögerte. Seit sie wiedergekommen waren, hatten sie kaum ein Wort miteinander wechseln können. Luan wusste nicht, inwieweit sie über all die Geschehnisse informiert war – ob sie die Wahrheit kannte. Fest stand nur, dass sie vollkommen eingeschüchtert in der Gegenwart der Prinzessin wirkte.
Auch sie hatte Juna kennenlernen dürfen und sie auf ihrer kleinen Reise begleitet, als sie gemeinsam Nail, Sahan und Ravan gesucht hatten. Cadis hatte sich auf den ersten Blick in Juna verliebt, was durchaus nichts Ungewöhnliches für sie war, und dennoch war es eine Qual zu sehen, wie auch sie Trauer mit sich trug.
»Wir … haben sie noch einmal untersucht. Sie ist seit mehreren Tagen tot. Wie wir bereits vermuteten, ist sie an den inneren Verletzungen gestorben … vermutlich nur wenige Minuten nachdem ihr jemand mit einem scharfen Gegenstand mehrmals in den Oberkörper …« Cadis hörte auf zu sprechen und wandte ihr Gesicht ab.
Luans Beine gerieten ins Schwanken, während Übelkeit in ihm aufstieg.
»Verstehe. Nun, das ist bedauerlich. Sag den Wachen und deiner Mutter, sie sollen ihre Leiche in den Keller bringen, wir kümmern uns später, um ihre Entsorgung.«
Ohne etwas zu erwidern, verschwand Cadis wieder hinter der Tür.
»Ich habe sie und Liana darum gebeten, sich Juna anzusehen. Ich wollte nur wissen, woran sie gestorben ist«, erklärte Zarifa ihnen, als habe jemand danach gefragt.
Natürlich, sie hatte sich vergewissern wollen, dass es wirklich Nevias Klinge gewesen war, die für Junas Tod gesorgt hatte. Weil sie den anderen nicht hatte glauben wollen.
Luan hatte keinerlei Kraft mehr, seine Verlobte anzusehen, geschweige denn ein weiteres Wort über die Lippen zu bringen. Er war müde und traurig. Zu erschöpft. Zu niedergeschlagen.
Sie waren verloren. Es gab nichts mehr, das sie für diese Welt noch tun konnten. Dass er für diese Welt noch tun konnte. Dessen war er sich in jenem Moment ganz sicher.
Jetzt war es an ihm zu entscheiden, was er mit seinen letzten Tagen, die ihm noch blieben, anfangen wollte.
Alles, nach dem er sich im Augenblick sehnte, war Schlaf.
2.
Die Besprechung hatte noch eine weitere mühselige halbe Stunde gedauert, bevor sie sich voneinander getrennt hatten. Ergebnislos. Es war kaum zu übersehen, dass sie ein großes Problem hatten. Und doch gab es vielleicht eine Lösung.
Mit zitternden Beinen schritt sie die Treppen des kühlen Kerkergewölbes hinunter. Aus einem unerfindlichen Grund war sie nervös, auch wenn sie nicht wusste, warum. Es gab nichts, das sie zu befürchten hatte, denn dort unten befand sich eine ihrer engsten Freundinnen. Eine liebe, wenn auch sehr schweigsame junge Frau, für die Zarifa ihre Hand ins Feuer gelegt hätte. Für die sie nahezu alles getan hätte.
Sie war zwölf Jahre alt, als sie das kleine schwarzhaarige Mädchen mit den rubingrünen Augen kennengelernt und sofort gemocht hatte. Im Gegensatz zu Cadis war Nevia immer die Ruhige von ihnen gewesen und im Vergleich zu Yume, stets die mit dem ernsten Blick. Zarifa hatte es unglaublich fasziniert, wie ein so junges Mädchen den Mut aufbringen konnte, sich einer Aufgabe zu stellen, die beinhaltete ein riesiges Monster zu töten, von dem die Prinzessin selbst bis dahin nur in ihren Büchern gelesen hatte.
Gemeinsam hatten sie jahrelang trainiert und waren durch die Welt gereist, um den Segen der vier Weltmächte zu erhalten. Sie hatten so viel Spaß gehabt, so viel erlebt, dass die Mädchen es kaum hatten erwarten können, Umbra zu bezwingen. Sie waren enge Vertraute füreinander geworden. Freundinnen.
Noch heute erinnerte sich Zarifa gerne daran zurück, wie sie nachts auf den Dächern ihrer Unterkünfte gesessen und in den Sternenhimmel geblickt hatten. Sie alle hatten von ihren großen Träumen erzählt und was sie tun würden, wenn sie in wenigen Jahren das Unheil von dieser Welt gelöscht hätten.
»Was würdest du als erstes tun?«, hatte Cadis Nevia eines Abends gefragt. »Wenn der Kampf vorüber ist und wir mit allem fertig sind, meine ich.«
Wie immer hatte Nevia vollkommen ernst und distanziert gewirkt, auch wenn sie an dem Abend gelächelt hatte. Etwas, das ihr ausgesprochen gut stand.
»Der Kampf ist nie vorüber. Ich werde als Dienerin der Göttin durch die Welt ziehen und anderen von unseren Taten erzählen.«
»Komm schon, Nevia! Irgendetwas muss es doch geben, außer dem.« Cadis hatte wild gestikuliert.
Sie hatte darauf nicht mehr geantwortet. Erst als Cadis und Yume sich zum Schlafengehen verabschiedet hatten, hatte Nevia wieder gesprochen. Und diesmal war es vollkommen anders. So, als wäre Zarifa, die Einzige, der sie sich anvertrauen wollte.
»Ich würde ausschlafen.«
»Wie bitte?« Die Prinzessin hatte erst nicht verstanden, was sie meinte.
»Ich würde gerne ausschlafen wollen. Bis in den Mittag, ohne mit dem Gefühl aufzuwachen, die Welt retten zu müssen. Das wäre mein Wunsch.« Nevia hatte gelächelt und Zarifa hatte es voller Liebe zu ihr erwidert.
»Wir werden alles dafür tun, dass dein Wunsch erfüllt wird«, hatte sie geantwortet und ihr über den Kopf gestreichelt. Sie wollte, dass ihr kleines Mädchen glücklich wurde, nachdem sie all die vielen Jahre eine so schwere Last mit sich hatte herum tragen müssen. Sie wollte den bescheidenen Wunsch ihrer Freundin erfüllt sehen.
Bis heute.
Zarifa hatte den untersten Teil des Gewölbes erreicht, als sie vor eine Tür aus Stahl trat, die von mehreren Soldaten bewacht wurde. Sie gab ihnen ein kurzes Zeichen, bevor sie einen Schritt zur Seite machten, die Tür aufschlossen und sie eintreten ließen.
Mit schnell schlagendem Herzen betrat die Prinzessin Nevias Zelle und erblickte sie erst nach wenigen Sekunden in einer dunklen Ecke. Der Raum war nicht sonderlich groß, aber finster, kalt und mit einer unangenehmen Feuchtigkeit gefüllt. Nichts bot irgendeine Möglichkeit, es sich gemütlich machen zu können, wenn es überhaupt möglich war, hier zu schlafen.
Nevia saß zusammengekauert in der Ecke, die Arme um ihre Beine geschlungen und den Kopf auf die Knie gelegt. Ihre Handgelenke und Fußknöchel trugen magieblockierende Ketten, die sie an die Wand fesselten. Ihr schwarzes langes Haar lag ungepflegt auf ihren Schultern.
Wie ein Häufchen Elend saß sie da. Zarifa brach es das Herz.
Diese fremden Menschen hatten alles kaputt gemacht und nun sollte ihre Nevia die Böse sein?
Zarifa machte noch ein paar Schritte auf sie zu, als sich Nevias Kopf panisch hob und sie der Prinzessin aus entgeisterten Augen entgegen starrte.
Seitdem Luan und die anderen wiedergekommen waren, hatte sie Nevia nicht sprechen können. Sie spürte tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen und hätte das Mädchen nur zu gern sofort in den Arm genommen.
»Zarifa …« Nevias Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Die Prinzessin lächelte. »Hallo, Kleines.«
Plötzlich und vollkommen ruckartig sprang Nevia auf die Beine und rannte auf sie zu, bevor sie von den Ketten aufgehalten und zurückgezogen wurde. Zarifa erschreckte sich so sehr, dass sie einige Schritte taumelnd zurücktrat.
Nevia blickte auf die Ketten, an denen sie gefesselt war und erst jetzt schien ihr wieder einzufallen, dass sie eine Gefangene war. Hilflos sah sie zu ihrer Freundin. »Zarifa … hilf mir! Ich weiß nicht, was passiert ist. Niemand will mir etwas sagen. Alle sehen mich an, als wäre ich ein Monster!« Tränen rollten ihr über das Gesicht, als ihre Stimme unter einem Schluchzen brach.
Mit einem Kloß im Hals ging Zarifa auf sie zu und nahm das Mädchen tröstend in die Arme. Sie fühlte sich so klein und zerbrechlich an. »Schscht. Es ist alles gut, mein Schatz.« Liebevoll strich sie ihr über den Kopf.
Sie war traurig und so wütend. Wütend auf die anderen. Vor allen Dingen auf Luan, der Nevia wie eine Verbrecherin behandelte. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass er sie töten würde, wenn es nicht Wachen vor der Tür gäbe, und genau das Gleiche traf auch auf Saif zu. Die zwei hatten ihre Gefühle nicht unter Kontrolle!
Die beiden jungen Frauen setzten sich auf der kalten Erde gegenüber und Zarifa strich Nevia ein paar ihrer Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Es wird alles gut. Ich werde dafür sorgen, dass du hier rauskommst«, sagte sie geduldig.
»Du bist doch die Prinzessin, kannst du das nicht einfach befehlen?«, fragte Nevia voller Hoffnung.
Zarifa schüttelte traurig den Kopf. »Tut mir leid, Kleines, aber fürs Erste muss ich dich hier lassen. Das Volk muss sich erst beruhigen, bevor ich dich freilassen kann. Gib mir noch ein paar Tage, okay?«
Nevia nickte, doch ihr kullerten bereits erneut einige Tränen über die Wangen.
»Und jetzt erzählst du mir, was passiert ist, in Ordnung?«
Das Mädchen wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Sie wirkte müde und vollkommen ausgelaugt. An einer Stelle an ihrem Kopf hatte sie eine Art Verband angelegt bekommen.
Luan hatte ihr das angetan. Luan. Zarifa presste fest die Zähne aufeinander und versuchte, ihren beschleunigten Puls unter Kontrolle zu bringen.
»Es war alles in Ordnung, bis wir vor Umbra standen. Juna sagte mir, dass ich ihr nicht im Weg stehen solle, also habe ich mich immer etwas zurückgehalten. Ich habe wirklich alles dafür getan, ihr eine Unterstützung zu sein. Am Ende dachte ich sogar, dass sie eine gute Auserwählte sein könnte, aber dann hat sich alles in eine falsche Richtung entwickelt. Nail wurde getroffen, Juna hat ihn ohne mit der Wimper zu zucken geopfert und ich dachte nur, dass das nicht wahr sein kann. Ich dachte, wir könnten alle gemeinsam zurückkehren. Ich hätte niemals zugelassen, dass jemandem etwas geschieht. Aber vermutlich hatte sie keine andere Wahl.« Nevia entfuhr ein neues Schluchzen und Zarifa hielt ihre Hand. »Und dann war ich mitten im Kampf mit einem von Umbras Schwänzen und Juna hat einen Blitz auf uns beide heruntergejagt.«
»Sie hat dich angegriffen?«, Zarifa konnte das wütende Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
Nevia schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, sie hat es nicht absichtlich gemacht. Sie hat nur das getan, was ihre Aufgabe war. Sie hat den Schwanz getroffen, doch es war eine regelrechte Explosion, sodass ich zuerst in eine Wolke aus Rauch gehüllt wurde. Sie kam auf mich zu, ich dachte, sie wollte sich nach mir erkundigen, doch sie schrie mich an, dass sie mir gesagt habe, ich solle nicht im Weg rumstehen. Und dann wurden wir wieder angegriffen. Von einem dieser Schwänze und ich wollte mich vor Juna werfen und sie beschützen, aber irgendwie …« Nevia brach ab und hielt sich die Hand vor den Mund, um zu weinen.
Zarifa hatte es von Anfang an gewusst. Sie hatte gespürt, dass mit dieser Juna etwas nicht stimmte. Die Anderen hatten mit ihren Schilderungen vollkommen übertrieben und jeder sah, dass Nevia von Angst erfüllt war. Echter Angst. Keine geschauspielerte Furcht.
»Ich wollte nur helfen«, schluchzte sie in Zarifas Armen. »Ich wollte ihr nur helfen. Ich habe immer davon geträumt die Auserwählte zu sein.«
»Ich bin beruhigt das zu hören. Die anderen haben Unsinn erzählt.«
Jetzt sah Nevia zu ihr auf. »Ich kann mich kaum noch erinnern, Zarifa …«
»An was?«
»An das, was danach passiert ist. Als ich wieder wach wurde, schlug mir Chris ins Gesicht und Luan war so wütend und …« Sie schluchzte erneut bitterlich.
Zarifa hatte mittlerweile so viel Wut in ihrem Bauch, dass sie fest daran glaubte, noch heute einen der Menschen aus der anderen Welt zu töten. Sie hatten es gewagt, Hand an ihre Freundin zu legen, die nur versucht hatte zu helfen.
»Ist gut, du brauchst nichts weiter zu sagen. Jetzt ist alles vorbei.« Sie strich Nevia die Tränen aus dem Gesicht und lächelte liebevoll.
»Was ist mit Juna? Wie geht es ihr? Ich habe sie nur ein paar Mal danach, wenn ich wach wurde, auf Saifs Rücken gesehen. Haben wir Umbra besiegt?«
Zarifa runzelte die Stirn. Hatte sie davon etwa nichts mitbekommen? Sie zögerte einen Moment, bevor sie ihr antwortete.
»Nevia, Juna ist tot.«
»Nein!« Nevias Augen wurden groß vor Entsetzen und sofort sah sie auf ihre Hände.
»Ich hatte gehofft, dass du wieder Lichtmagie beherrschen könntest, um Umbra zu töten, aber …« Sie hielt inne, als sie erneut Tränen in Nevias Augen aufsteigen sah. Luan hatte also immerhin damit recht gehabt. Nevia konnte weiterhin keine Lichtmagie einsetzen.
»Warum … warum ist das passiert? Warum hat Altera nichts getan?«
»Ich weiß es nicht, Liebes. Ich weiß es nicht.«
»Hat Umbra Juna getötet? Konnte ich sie nicht beschützen?«, fragte Nevia jetzt und Zarifa spürte ein Stechen in ihrer Brust.
Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein … eigentlich haben die anderen sogar erzählt, dass du es gewesen wärst. Dass du für ihren Tod verantwortlich bist.«
»Ich?« Nevias Gesicht glitt einer einzigen entsetzten Maske.
Zarifa nickte. »Ja, du sollst wie besessen auf sie eingestochen haben. Alle haben es gesehen.« Beruhigend strich sie ihr über die Wange.
»Was? Aber ich würde so etwas nie tun! Zarifa, du glaubst mir doch oder…Moment …« Nevia stockte abrupt.
»Was ist?«
»Dann war es also doch so, wie ich vermutete …« Ihre Stimme war plötzlich ganz leise.
»Nevia, Schatz, sag mir was los ist.«
»Ein Fluch. Juna hat mich mit einem Fluch belegt«, sprach sie mit eindringlicher Stimme und sah ihrer Freundin fest in die Augen. »Kurz bevor wir beide in dem Rauch angegriffen wurden, hat sie etwas gesagt, dass ich nicht verstehen konnte. Ich dachte sie spricht einen Heilzauber, weil ich gestürzt war und sie die Hand auf mich richtete, aber es muss ein Fluch gewesen sein.«
Auch wenn Zarifa ihr glauben wollte, schüttelte sie den Kopf. »Aber dieses Mädchen kann doch unmöglich Dunkelmagie gewirkt haben. Wo soll sie das gelernt haben und vor allem, warum sollte sie dich in diesem Kampf verfluchen?«
»Ich weiß es nicht.« Nevia fasste sich erschöpft an die Stirn. »Ich habe keine Ahnung, woher sie das haben sollte. Vielleicht ist etwas schiefgelaufen und sie hat eine falsche Formel benutzt.«
Die beiden jungen Frauen blickten eine Weile auf den kalten Steinboden, während sich Zarifa fragte, wie das alles zusammenpassen konnte. Sie glaubte Nevia, dass sie nichts Böses getan hatte, doch dass Juna Dunkelmagie hatte wirken sollen, erschien auch ihr etwas abwegig. Dieses dumme Mädchen war viel zu schwach und vor allem zu wenig mit Zauberei vertraut gewesen, um nur ansatzweise schwarze Magie wirken zu können. Wer sollte ihr diese beigebracht haben?
»Auf unserer Reise sind immer wieder solche Dinge passiert. Einmal wurden wir im Tempel von Kastalya eingesperrt, weil jemand Orbis mit einem Fluch belegt hatte.«
Zarifa sah erschrocken in die Augen ihrer Freundin. »Davon hat Luan erzählt …«
»Ja, Nail hatte schon in den letzten Wochen oft die Theorie, dass es jemanden in der Gruppen geben musste, der Dunkelmagie wirken konnte und das Team immer wieder in Gefahr bringt.«
»Im Namen Alteras …« Mit einem Mal machte alles einen Sinn. In Zarifas Augen war es vollkommen plausibel. Juna hatte die gesamte Gruppe manipuliert und am Ende versucht, jeglichen Verdacht auf Nevia zu lenken. So musste es sein!
In der Gegenwart der anderen hatte sie sich stets als unschuldiges und liebes Mädchen gegeben, das ihnen helfen wollte, doch Zarifa hatte sie von Anfang an durchschaut. Welche Person half schon einer vollkommen fremden Welt, die sie weder kannte noch liebte und setzte dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel?
Nevia war plötzlich vollends ruhig und Zarifa wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Freundin hatte in den letzten Wochen so viel Ärger durchleben müssen, dass es unfair war, dass statt der zwei fremden Jungen, sie nun in diesem Kerker sitzen musste.
»Ich muss dir etwas gestehen, Zarifa.«
Die Prinzessin legte den Kopf leicht schief und strich ihr über das Haar. »Was denn?«
»Sie hat mit mir gesprochen.«
»Wer?«
»Altera.«
Zarifa erstarrte in ihrer Berührung und sah Nevia durchdringend an. In ihren Augen konnte sie eindeutig sehen, dass sie sich das nicht ausdachte.
»Seit Juna in diese Welt gekommen ist, hat sie häufiger mit mir gesprochen. Ich habe immer wieder ihre Stimme gehört.«
»Was hat sie zu dir gesagt?« Zarifa nahm Nevias Gesicht in ihre Hände. »Spricht sie auch jetzt mit dir?«
Nevia schüttelte den Kopf. »Sie ist seit dem Kampf verstummt. Doch wenn sie vorher zu mir sprach, dann …« Sie wich ihrem Blick aus.
»Dann?«
»Dann hat sie mich vor Juna gewarnt. Vor Juna und ihren beiden Freunden. Dass sie böse Menschen seien, die eine andere Göttin zu uns gebracht habe und dass sie unsere Welt in die Finsternis stürzen wollen. Vielleicht hat sie von ihr die Gabe bekommen Dunkelmagie wirken zu können.«
Ein Schrecken fuhr über ihren Rücken. Sie hatte es immer gewusst, dass diese Menschen nicht gut für ihre Welt waren. »Warum hast du mir das nicht erzählt?«
»Weil ich mir unsicher war, ob ich nicht vielleicht einfach nur durchdrehe, aber es ist, wie sie sagte. Ich habe es immer wieder gemerkt, wenn Juna mich ansah. Dieser verachtende Blick. Wenn andere in der Nähe waren, dann war sie stets das liebe Mädchen, aber sobald wir unter uns waren …« Nevia schloss die Augen. »Dann war sie so anders. Sie hat mir Befehle erteilt. Hat von ihrer tollen Welt erzählt, die so viel besser ist als unsere und hat sich all die Menschen genommen, die einst meine Freunde waren.«
»Das hat sie nicht«, sagte Zarifa mit festem Blick und ergriff ihre Hand. »Ich werde immer deine Freundin sein! Ich werde nicht zulassen, dass dein Name noch länger beschmutzt wird!«
Nevia lächelte nun zum ersten Mal voller Dankbarkeit. »Ich danke dir!«
Es klopfte ein paar Mal an der Tür und Zarifa wusste, was das bedeutete. Langsam erhob sie sich, doch Nevia ließ ihre Hand nicht los.
»Zarifa, bitte lass mich frei«, bettelte sie.
Sie schluckte den bitteren Geschmack herunter, der sich während Nevias Erzählung in ihrem Mund gesammelt hatte. »Gib mir noch etwas Zeit.«
»Aber …«
»Vertrau mir, Kleines! Gib mir nur ein oder zwei Tage! Ich werde es allen erklären.«
Nevia sah nicht so aus, als würde sie es gutheißen, doch schließlich ließ sie ihre Hand los und blickte wieder auf die Erde. »Ich werde hier sterben …«
»Nein, das wirst du nicht!«
»Doch, das werde ich … selbst wenn ich rauskomme, wird es Leute geben, die mich töten wollen. Schon allein dieser Chris oder Joshua.«
»Das werden sie nicht«, sagte Zarifa streng, so dass Nevia zu ihr aufsah. »Nicht, wenn ich sie zuerst beseitigen werde.«
Ihre Freundin erwiderte nichts darauf, schien aber wesentlich beruhigter zu sein. Ihre ängstlichen Gesichtszüge entspannten sich für einen Moment.