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Die beiden Freunde Jo und Paul decken ein lang gehütetes Geheimnis ihrer beiden Großväter auf. Während Paul noch wichtige berufliche Entscheidungen zu treffen hat und dabei mit einem weiteren belastenden Aspekt seiner Vergangenheit konfrontiert wird, reist Jo kurzerhand nach Fuerteventura, um sich auf die Spurensuche nach seinem Großvater zu begeben. Seine Reisebekanntschaft Ilka sieht sich veranlasst, Jo bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Währenddessen wird Pauls Freundin Mona mit unverarbeiteten und schmerzhaften Erinnerungen an ihre Jugendzeit konfrontiert. Paul, Mona und Jo machen aufwühlende Erfahrungen, bevor sie ein Wiedersehen in Morro Jable auf Fuerteventura feiern können. Eigentlich suchen sie alle nur ihren Seelenfrieden. Ob sie diesen schließlich auf der Kanareninsel finden, ist fraglich, sind sie neben teils bestürzenden Geheimnissen auch hochkriminellen Machenschaften auf die Spur. "Die unterhaltsamen Charaktere, der besondere Humor und eine prickelnde Spannung machen diesen Roman zu einem kurzweiligen Lesevergnügen."
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Seitenzahl: 344
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Michael Wagner
Altes Gepäck – Spurensuche auf Fuerteventura
Michael Wagner
Altes Gepäck
Spurensuche auf Fuerteventura
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
© 2023 Michael Wagner
Lektorat: emwetypes-germany
Coverbilder: Privat
ISBN Softcover: 978-3-347-89863-9
ISBN E-Book: 978-3-347-89864-6
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.
Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Cover
Halbe Titelseite
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Freitag, 21.06.2013, 16.30 Uhr
19.00 Uhr
22.00 Uhr
Kapitel 2
Samstag, 22.06.2013, 14.50 Uhr
Kapitel 3
Sonntag, 23.06.2013, 5.45 Uhr
8.30 Uhr
13.00 Uhr
Kapitel 4
Montag, 24.06.2013, 16.00 Uhr
18.00 Uhr
Kapitel 5
Dienstag, 25.06.2013, 8.30 Uhr
Kapitel 6
Mittwoch, 26.06.2013
Kapitel 7
Donnerstag, 27.06.2013, 7.00 Uhr
18.00 Uhr, in Lindau
Samstag, 01.07.1995, gegen 15.00 Uhr
Kapitel 8
Freitag, 28.06.2013, 15.00 Uhr, in Cuxhaven
17.30 Uhr, in Cuxhaven
Kapitel 9
Kapitel 10
In Cuxhaven
In Lindau
Kapitel 11
12.30 Uhr, in Thalbach
In Lindau
Kapitel 12
Montag, 01.07.2013
10.00 Uhr, in Thalbach
Kapitel 13
17.30 Uhr, auf Fuerteventura
18.30 Uhr
20.45 Uhr
21.30 Uhr, in Lindau
23.55 Uhr, in Thalbach
Kapitel 14
Dienstag, 02.07.2013, 7.15 Uhr, auf Fuerteventura
8.00 Uhr, im Allgäu
11.00 Uhr, auf Fuerteventura
Zeitgleich in Lindau
Kapitel 15
18.30 Uhr
Kapitel 16
In Thalbach
Kapitel 17
14.00 Uhr, auf Fuerteventura
21.00 Uhr
Kapitel 18
Donnerstag, 04.07.2013, 9.00 Uhr
19.30 Uhr
3.00 Uhr in der Nacht
Kapitel 19
Freitag, 05.07.2013, 9.00 Uhr in Thalbach
13.00 Uhr, auf Fuerteventura
20.30 Uhr
Kapitel 20
Samstag, 06.07.2013, 8.00 Uhr, in Thalbach
11.00 Uhr, Fuerteventura
Zur gleichen Zeit in Großkirchen
14.00 Uhr, auf Fuerteventura
Kapitel 21
Samstag, 06.07.2013, 15.00 Uhr
Epilog
Nachwort und Danksagung
Über den Autor
„Zwangsurlaub“
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
„Zwangsurlaub“
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Kapitel 1
Den feinen Sand zwischen den Fußzehen, das beruhigende Rauschen der Wellen in den Ohren, die wärmende Sonne auf der Haut spürend und die angenehme Meeresbrise in der Nase, so sitzt Paul entspannt im Sand des Strandes von Solana Matorral in der Nähe des Leuchtturms. Mit geschlossenen Augen inhaliert er die salzige Meeresluft und genießt diesen Moment des Nichtstuns. Paul möchte an diesem Ort, diesem herrlichen Strandabschnitt, einfach nur innehalten.
Ein Jahr lang musste Paul darauf warten, wieder hier an diesem Ort auf dieser besonderen Insel verweilen zu dürfen. Ohne seine Augen zu öffnen, spürt er, dass er diesen Strandabschnitt aktuell ganz für sich allein hat. Es ist keine bedrückende Einsamkeit, es ist ein befreiendes und kraftschenkendes Alleinsein in der Stille. Nur zu gerne würde Paul jetzt seine Kleider vom Körper streifen und sich den verlockenden Wellen des Atlantiks entgegenstürzen. Sich abkühlen, erfrischen und befreien, eben genauso, wie vor über einem Jahr, als er an diesem Strandabschnitt zum ersten Mal splitterfasernackt im Meer gebadet hatte.
Lobos damalige Worte schallen in seinen Ohren: „Befreie dich aus deinen Zwängen! Du hast dir deinen eigenen Käfig, deine eigene Geißelung, geschaffen! Dies hier wäre eine gute Übung! Außerdem fühlt sich das befreiend und großartig an!“ Pauls Gesicht hellt sich auf und ein seliges Lächeln entspannt seine Mundwinkel, die er bislang unbewusst stressbedingt verbissen und mürrisch zusammengepresst nach unten gezogen hatte.
‚Ja, ich kann es doch einfach machen…, es ist doch auch wie eine neue Befreiung aus all meinen Zwängen‘, denkt sich Paul, ‚…bevor ich weiterschlendere, springe ich nochmal ins Meer…!‘
Erschöpft und regelrecht entkräftet lässt Paul sich nun ganz in den Sand sinken und ruft ungehemmt dem Meer entgegen: „Endlich! Ich bin wieder da!“ Glücklich lässt er den warmen, weichen Sand durch seine Finger rieseln und hört dem sanften Rauschen der Wellen beim Anlaufen an den feinsandigen Strand und dem seichten Zurückströmen begeistert zu.
Solana Matorral, was auch Playa de Jandia genannt wird, ist der Ort auf der südlichen Halbinsel Jandia der Kanareninsel Fuerteventura. Paul lernte diese Insel im vergangenen Jahr erstmals kennen, anfangs nur mit Widerwillen und Abscheu, später mit tiefem innerem Frieden und Verbundenheit.
Die Nachmittagssonne brennt heiß und unerbittlich vom wolkenlosen Himmel. Nach wenigen Augenblicken beginnt Paul zu schwitzen und er denkt sich voller übermütiger Vorfreude: ‚Gleich stürze ich mich wagemutig in die erfrischenden Wellen des Atlantiks! Ich kann mich ja schonmal frei machen!‘
Mit weiterhin geschlossenen Augen versucht er vergeblich, das T-Shirt abzustreifen. Doch irgendetwas scheint ihn daran zu hindern. Mit Verwunderung stellt Paul fest, dass er statt eines T-Shirts ein hochgekrempeltes Langarm-Hemd mitsamt einer Krawatte trägt, die er leger gelockert hat und der obere Hemdknopf ist geöffnet. Es wirkt fast so, als wäre Paul gerade erst in den Feierabend gegangen: ‚War denn mein Aufbruch so schnell, dass ich keine Zeit mehr hatte, mich umzuziehen? Ich sehe ja aus, wie der schräge, steife britische Kommissar im Anzug auf der Karibikinsel dieser Krimiserie ‚Death in Paradise‘! Das ist ja schrecklich!‘ Paul versucht sich an seine Anreise zu erinnern, allerdings vergeblich.
Zu seiner Verwunderung über seine aktuelle Strandbekleidung gesellt sich nun auch noch das impertinente Gefühl von Fassungslosigkeit: Mir starrem Blick starrt Paul auf das Wasser und einem unerhört lauten und aggressiv wirkenden Jet-Ski entgegen. Dieses martialisch wirkende Sportgerät steuert vom offenen Meer direkt auf Paul zu und beschleunigt jetzt sogar noch! ‚Was soll denn das? Unfassbar!‘
Freitag, 21.06.2013, 16.30 Uhr
In Thalbach strahlt die Sonne am wolkenlosen Himmel, doch sind bereits für den heutigen Abend starke Gewitter angekündigt. Damit verabschiedet sich das schwül-heiße Wetter der vergangenen Tage mit Temperaturen von über 33 Grad. Vermutlich durch diese Wetterlage inspiriert, hatte Paul gerade einen seiner absonderlichen Wachträume über Fuerteventura erlebt. In den vergangenen Wochen erlebt er diese so echt und wahr wirkenden Träume häufiger, so dass sein Verlangen nach einem neuen Besuch der Insel von Mal zu Mal immer stärker wird.
Die anfängliche Fassungslosigkeit über dieses unverschämte Verhalten schwindet. Paul stellt fest, dass er sich nicht am feinsandigen Strand von Fuerteventura befindet. Er spürt auch den angenehmen Sand nicht mehr unter seinen Füßen: Vielmehr steht er rauchend an seinem Bürofenster im heimischen Westerwaldort Thalbach. Der angenehme Sand zwischen seinen Fingern entpuppt sich als sein voller Aschenbecher und das laute Motorgeräusch des Jet-Ski stammt von einem weißen VW Golf GTI, Baujahr 1989, der von der Hauptstraße kommend, auf das Betriebsgelände zurast. Da kommt Johannes, überall nur Jo genannt, seit Kindheitstagen Pauls bester Freund!
Es ist Freitag-Nachmittag und die Mitarbeiter der PeLuMatic GmbH haben bereits seit einer halben Stunde Feierabend. Der Parkplatz ist fast vollständig geleert und eine anstrengende Arbeitswoche ist vorüber. Paul gönnt dem Personal seine freie Zeit, während er als Geschäftsführer noch nicht so ganz unbeschwert auf einen Feierabend und das bevorstehende Wochenende blicken kann.
Paul genießt jede Woche die Momente, wenn am Freitag die Stimmen auf den Fluren verstummen und auf dem Betriebsgelände Ruhe einkehrt. Dies sind Momente, in denen er sich Zeit nimmt, Liegengebliebenes oder Beiseitegelegtes der Woche aufzuarbeiten. Genüsslich schlendert er dann im Anschluss durch das Unternehmen, die verwaisten Büros, die stillen Werkstatträume und das menschenleere Lager.
Doch heute lässt Paul von diesem liebgewordenen Ritual ab: In seinem Gesicht zeigt sich ein freudiges, breites Lachen!
In penibler Kleinarbeit hat Jo den alten Golf über Monate hinweg komplett zerlegt, restauriert und wieder neu aufgebaut, um ein kleines Schmuckstück auf vier Rädern zu zaubern. Bereits seit einiger Zeit hatte er versprochen, dass die zwei Freunde die erste Spritztour nach der erfolgreichen Vollendung der Restauration gemeinsam machen würden.
Und nun steht dieser Youngtimer aus den 1980er-Jahren blankpoliert unten auf dem Platz und Jo betätigt triumphierend die Lichthupe, das Signalhorn und spielt animierend mit dem Gaspedal, bis Paul am Fenster eine beschwichtigende Handbewegung macht und kurz auf seine Uhr zeigt.
Jo schält sich aus dem Auto und lehnt sich, genüsslich einen Zigarillo anzündend, geduldig wartend und voller Stolz an den Kotflügel. Er trägt seine obligatorische blaue Latzhose und ein fleckiges, löchriges rotes T-Shirt. Die frappierende Ähnlichkeit mit Bud Spencer verleiht Jo ganz natürlich eine respektvolle Männlichkeit.
Paul ordnet im Stehen noch einige Unterlagen, greift nach einem geöffneten Briefumschlag, um das Büro zu verlassen und zu seinem Freund hinunterzueilen. Dieser bläst tiefenentspannt Qualmkreise seines Zigarillos in die hitzeflirrende Luft und zieht neugierig direkte Vergleiche zwischen seinem Golf und Pauls schwarzem Luxuskombi, der neben dem Eingang abgestellt ist.
Ohne die sportliche Sonnenbrille mit den schwarzen Gläsern abzusetzen, attestiert Jo mit dröhnender Bass-Stimme: „Du weißt schon, dass deine Reifen mächtig abgefahren sind? Da ist eine satte Stange Geld zu investieren, mein Freund! Bei dieser Reifendimension…!“ Breit grinsend stößt er einen respektvollen Pfiff aus.
Paul tritt ihm kopfnickend und schmunzelnd entgegen: „Japp, ich spare schon drauf hin!“
„Hat denn der Fahrer ein ebenso bedenkliches Profil wie die Reifen seines Wagens?“
„Wie geschwollen redest du denn auf einmal…! Mmmh…, es fällt mir wahrhaftig schwer, mich zu profilieren…! Also sage ich es mal so: Wie der Herr, so sein Gescherr (hessisch: Besitz)!“, frotzelt Paul und zwinkert, „Du kommst jetzt aber doch nicht hier her, nur um mir einen Vortrag über irgendwelche abgefahrenen Dinge zu machen? Dein Golf ist ja jetzt endlich fertig…, sieht spektakulär aus, als wäre der eben erst vom Band gelaufen, meinen Respekt!“
„Genau deshalb bin ich auch jetzt gekommen!“ Jo tritt auf Paul zu und die beiden Freunde begrüßen sich herzlich. „Ich war heute Morgen auf der Zulassungsstelle und jetzt rollt die Kiste! Bist du bereit für die erste gemeinsame Probefahrt!“
„Na, das lasse ich mir nicht zweimal sagen, darf ich?“ Mit fragendem Blick zeigt Paul auf die Fahrertür des Autos und steigt begeistert ein, um sofort den Motor zu starten, der laut und ungestüm aufheult. Paul freut sich und legt den Briefumschlag achtlos in die mittlere Ablage, während sich Jo auf den Beifahrersitz klemmt, den er mit einem lauten Rattern in der Führungsschiene nach hinten gleiten lässt.
„Fahr zu, Kumpel! Der Wagen hat nur Lüftung und Fahrtwindkühlung, Klimaanlage ist hier nicht…!“ Schwitzend kurbelt Jo die Seitenscheibe herunter und angelt umständlich nach dem Gurt während Paul mit quietschenden Reifen ruckelnd und breit grinsend anfährt: „Ein wahres Männerspielzeug!“
„Ich will ein Eis! Los gib Gas, ab zur Bällchen-Marie!“ Jo macht eine anfeuernde Handbewegung während Paul den weißen Golf zügig und mit regelrecht kindlicher Begeisterung auf die Umgehungsstraße in Richtung Großkirchen, dem vier Kilometer entfernten Nachbarort lenkt. Er tritt das Gaspedal durch und der Motor stellt umgehend eine enorme Leistung zur Verfügung, die mit quietschenden Reifen beim Gangwechsel honoriert wird. Die zwei Männer werden in die Sitze gepresst und grinsen zufrieden.
Großkirchen liegt in einer Talsenke. Der Blick wird automatisch auf das ehemalige Firmengelände der Merkle-Pharma AG gelenkt. Dessen Zufahrt liegt direkt links neben dem Ortsschild. Das Gelände hat die Fläche von etwa fünf Fußballfeldern und ist geprägt durch das dreistöckige Produktionsgebäude.
Die Merkle-Pharma AG war bis vor sechs Jahren ein angesehenes und ehrwürdiges Unternehmen, ein Global-Player! Jetzt herrscht an diesem Ort Leerstand und trauriger Zerfall: Merkle-Pharma AG war durch den US-Pharmariesen SLK - Smice-Lock-Kellerman übernommen und kurzerhand abgewickelt worden.
Der trostlose Anblick dieses Grundstücks macht Paul traurig, Erinnerungen erscheinen vor seinem inneren Auge, kennt er doch das Gelände seit seiner Kindheit in und auswendig. Gedankenverloren lenkt den Wagen auf das heruntergekommene Gelände der ehemaligen Firma und stoppt vor der großen Produktionshalle.
„Ich habe das Bedürfnis, mich hier kurz mal umzusehen…, einen Moment irgendwie kurz etwas nachdenken. Ist das okay für dich?“ Paul blickt in Jo´s Gesicht, der sofort den Stimmungswandel bei Paul bemerken kann.
„Klar, natürlich! Leckomio…, was für ein bescheidener Anblick! Was für eine Schande und was für ein Schicksal mit dieser Firma…, mit dieser Familie…! Denkst du noch oft an Anna zurück?“
Die beiden Freunde steigen aus.
„Hmmm, eigentlich habe ich meinen Frieden gemacht, dank Mona.“ Paul wirft einen kurzen Blick hinüber zu Jo, der betroffen nickt. „Aber die Vergangenheit lässt mich nicht wirklich ruhen…!“ Bei diesen Worten macht Paul eine Kopfbewegung in Richtung des abgelegten Briefumschlags in der Mittelkonsole des Wagens.
„Was ist denn das? Darf ich lesen?“ Jo wartet nicht auf Pauls nicken und greift nach dem Umschlag. Der Absender des Briefes ist eine Anwaltskanzlei Goldbach, residierend in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden. Jo ist diese Anwaltskanzlei unbekannt und öffnet den Umschlag interessiert, faltet das hochwertig wirkende Briefpapier auseinander und beginnt laut zu lesen:
„Sehr geehrter Herr Ludwig,
wir verwalten den Nachlass des Herrn Dr. Albert Merkle, verstorben im Jahre 2008. Im notariell beurkundeten Willen des Herrn Dr. Merkle sind Sie als Ansprechpartner benannt und nach der, von unserem Mandanten ausdrücklich gewünschten, Wartezeit von fünf Jahren bitten wir Sie, zwecks eines kurzfristigen Termines mit unserer Kanzlei umgehend Kontakt aufzunehmen.
Hochachtungsvoll, Dr. Goldbach, Notar“
Jo faltet den Brief wieder zusammen: „Alter…, was hast du denn noch mit Albert Merkle zu tun? Ist denn mit der Merkle-Familie nicht schon längst alles abgewickelt?“ Seine Gedanken schweifen in der Zeit zurück, als vor fünf Jahren Albert Merkle mit einer Überdosis Schlaftabletten und aufgeschnittenen Pulsadern in seiner Badewanne aufgefunden wurde. Auf dem Wohnzimmertisch lag ein computergeschriebener Abschiedsbrief mit verschiedenen Anweisungen und den abschließenden Worten, er könne diese Schmach nicht mehr ertragen.
„Das dachte ich eigentlich auch!“, mit starrem Blick verzieht Paul sein Gesicht, „Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll und ob ich mit all dem überhaupt noch etwas zu tun haben möchte. Ich will nur noch meinen Frieden mit diesem Teil der Vergangenheit.“
„Paul, das aber zu verdrängen ist auch keine Lösung!“, erwidert Jo, während er umständlich den Brief wieder in den Umschlag nestelt, „Ich würde dir empfehlen, nicht allein zu diesem Notartermin zu gehen! Wer weiß, was da noch alles hochkommt. Nimm Mona mit oder, wenn du möchtest, begleite ich dich auch mit dorthin.“
Während Jo sich seinen Zigarillo erneut anzündet und sich an das Auto lehnt, schlendert Paul nachdenklich über das Gelände.
Erinnerungen an seinen ersten Kuss mit Anna Merkle keimen auf. Dies geschah im hinteren Teil des Hofes, hinter einer Ecke der imposanten Produktionshalle. Händchenhaltend hatten sie dort auf einer Bank gesessen. Statt dieser Bank erblickt Paul hier nun große Haufen von Abfall und Dreck.
Plötzlich steigen Tränen in Pauls Augen: Seine große Liebe Anna ist vor neun Jahren unmittelbar vor der geplanten Hochzeit bei einem Flugzeugabsturz, gemeinsam mit ihren Eltern, tödlich verunglückt. Während Paul von den schmerzhaften Erinnerungen regelrecht übermannt wird, erscheint ihm plötzlich seine geliebte Anna, die sich in gebührendem Abstand neben ihm, wie in Zeitlupe, ruhelos umherbewegt.
Es wirkt, als schüttele sie bei dem erbärmlichen Anblick des Betriebsgeländes fassungslos ihren Kopf. Flehentlich blickt sie durch ihre ebenso tränenverschleierten, braunen Augen zu Paul. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt und die blonden, schulterlangen Haare sind zerzaust, als wäre sie gerade eben erst aufgestanden. Schockiert verharrt Paul regungslos.
Bei Annas Anblick würde er sie gerne in die Arme schließen. Er hat das unbändige Verlangen, sich ihr zu nähern. Doch Anna schüttelt vehement den Kopf und wehrt Pauls Wunsch mit einer Handbewegung ab. Sie flüstert: „Paul! Mein geliebter Paul, tu etwas! Es ist viel Unrecht passiert!“, tief in Pauls blaue Augen blickend, spricht sie weiter: „Sei stets achtsam! Aber werde bitte nicht rachsüchtig! Du darfst einen alten Knoten und viel aufgeladene Schuld und entstandenes Unrecht auflösen! Ich liebe dich und ich weiß, dass auch du mich immer noch liebst! Doch du hast jetzt eine neue Frau an deiner Seite und das ist auch richtig so! Ich bitte dich, decke das Unrecht auf und heile den Schmerz in unser aller Familien! Ich werde dir immer tief verbunden sein!“ Sie deutet einen Handkuss an und winkt.
Annas Erscheinung wird von einer warmen Windböe erfasst und erblasst ebenso rasch, wie sie sich zu zeigen begann.
Fassungslos steht Paul auf dem Hof und ringt um Halt: ‚Was hat mich denn bloß geritten, hier hinzufahren? War dieses Erlebnis gerade wirklich real oder fange ich jetzt an, zu halluzinieren? Was passiert mit mir?‘ Verunsichert atmet er tief ein und vernimmt noch einen zarten Hauch des ihm wohl vertrauten und langen vermissten Duftes von Anna.
So unverhofft und plötzlich diese Erscheinung aufgetaucht war, ebenso schnell war Anna auch wieder verschwunden, ohne dass sich Paul näher auf sie hätte konzentrieren können.
Mit zittrigen Fingern entzündet er sich eine Zigarette. „War das eine Halluzination? Was ist passiert mit mir? Warum jetzt?“, murmelt er fassungslos zu sich selbst, schnieft und wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Beim erneuten Einatmen riecht Paul wieder den modrigen, ekligen Gestank dieser Müllberge, in denen vermutlich irgendein totes Tier zu verrotten scheint.
Paul muss hier weg, sofort und auf der Stelle! Etwas länger hier zu verweilen hätte zur Folge, dass er sich übergeben müsste.
Paul versucht, den sich entwickelnden Würgereiz zu unterdrücken. Hastig rauchend eilt er zurück zum Auto und grübelt, ob die Erscheinung von Anna wirklich real war. Trotz eines leisen Zweifels und seiner tränenverschleierten Augen ist er sich sicher, dass diese Begegnung sehr real war. Sein Intellekt versucht allerdings, Erklärungsmodelle für diese Vision zu konstruieren: ‚Der Verstand und die Erinnerungen können einem Menschen Streiche spielen. Halluzinationen sind immer möglich, wenn eine Person unterzuckert oder dehydriert ist oder auch wenn Erinnerungen wieder unerwartet aktiviert, getriggert werden.‘ Paul versucht erfolglos, sich zu beruhigen. Er findet keine passende Antwort, ist verwirrt und will nun endlich ein Eis.
Jo bemerkt, dass Paul innerlich mit sich am Kämpfen ist, stellt jedoch keine Fragen und setzt sich selbst ans Lenkrad, um Paul die Möglichkeit zu geben, sich wieder zu fangen und zu erholen: „Zur Bällchen-Marie?“
„Ja…, zur Bällchen-Marie!“ Paul nickt versonnen.
Jo steuert den Golf zielstrebig durch die Straßen von Großkirchen und parkt auf dem Kirchenparkplatz. Neben der Kirche, in den Räumen einer ehemaligen Konditorei, befindet sich der Straßenverkauf von Marianne Ritters Eisdiele.
Neben drei weißen Stehtischen mit ausgeblichenen Sonnenschirmen und zwei billigen Gartentischen mit jeweils vier klapprig wirkenden Gartenstühlen schart sich eine Schlange von acht laut durcheinander plappernden Kindern vor dem großen Verkaufsfenster. Sie werden durch das Fenster freundlich und geduldig von einer kleinen, kräftigen und stark schwitzenden Frau mit dünnen, graubraunen Haaren bedient, von der Bällchen-Marie. Souverän und liebevoll mahnt sie die unruhig durcheinander krähenden Kinder zur Ruhe und überreicht den Kleinen ihre Waffeltüten mit den jeweils gewünschten Eissorten.
Jo und Paul stellen sich an das Ende der Warteschlange und beobachten belustigt das Treiben vor sich.
„Wieviel Bällchen? Ein Bällchen kostet neunzisch Cent! Waffel oder Becher? Mit oder mit ohne Sahne? Die kostet nomma fuffzisch Cent extra! Welche Sorten?“, klingt wie ein wiederkehrendes Mantra in einem schnarrenden Tonfall vom Fenster herüber. Marianne Ritter ist in ihrem Element: Als Verkäuferin und als gelernte Konditorin eine begnadete Gelataia (Speiseeis-Herstellerin).
Nachdem dann die Kinderschar fertig bedient und zufrieden gemächlich aufbricht, lächelt Marie die beiden Männer freudig an: „Hallo Jungs! Wie immer? Vier Bällchen im Becher mit ohne Sahne?“
Nach dem einhelligen Nicken beginnt sie schwitzend die Becher zu befüllen. Jo und Paul sind seit ihrer Kindheit regelmäßige Gäste von Bällchen-Marie und diese kennt die Vorlieben und Gewohnheiten der beiden Jungs ganz genau.
„Lasst es euch schmecken, Jungs!“, schnarrt Marie und stellt die zwei Eisbecher auf die Theke.
„Danke Marie!“, antworten die beiden gleichzeitig und setzen sich mit den Eisbechern an einen der Tische in der Sonne.
Die Mittsechzigerin Marie tritt mit schmerzverzerrtem Gesicht aus der Tür neben dem Verkaufsfenster, humpelt zu den beiden Jungs an den Tisch und lehnt sich prustend auf einen Stuhl: „Ihr Leut´, ihr Leut´! Meine Hüfte macht mir heut´ wieder zu schaffen“, Marie schüttelt schmerzverzerrt den Kopf, „es gibt anderes Wetter! Wie geht´s denn euch, Jungs? Alles gut Johannes, mein Schatz?“
„Bestens Marie, bestens! Mmmhh…, dein Malaga-Eis ist wieder einmalige Spitze! Wenn du nicht solch eine eingeschworene Junggesellin wärst, würde ich dich glatt heiraten!“, flirtet Jo grinsend und genießend.
Marie streicht über Jo´s Schulter: „Wenn ich dich zum Manne nehmen würde, hätte ich bestimmt nichts mehr zu verkaufen. Du willst doch nur mein Bestes! So wie all die anderen auch! Ihr wollt nur mein Bestes! Ihr wollt nur lecken, knabbern und lutschen, ich weiß das! Männer sind so berechenbar! Das aber wollt ihr nur an meinem Eis“, sie lacht schnarrend laut auf und verlagert schmerzhaft ihr Gewicht auf das andere Bein, „ich bin eine alte Frau, die mit euch Jungvolk nicht mehr Schritt halten kann! Vielleicht wieder, wenn ich im Winter meine Hüftoperation hinter mir habe, dann vielleicht wieder! Gib also acht Johannes, es ist noch nicht vorbei!“ Erneut schnarrend auflachend richtet sie sich an Paul: „Wie geht es denn dir, mein Schätzilein? Wann kommt denn endlich deine Liebste wieder heim zu dir, Pauli?“
„Ja, morgen! Wird auch Zeit.“ Paul schaut lächelnd zu Marie auf.
„Das ist schön, ich hoffe ihr kommt dann auch mal wieder gemeinsam zum Eis essen zu mir…! Ich kann deine Mona so richtig gut leiden!“ Marie lächelt versonnen, hält einen Augenblick inne und richtet sich ganz plötzlich auf: „Hach, das Neueste wisst ihr zwei ja noch gar nicht, Jungs!“ Marie verlagert erneut ihr Gewicht und drückt ächzend ihren Rücken durch: „Die Merkle-Fabrik soll wieder in Betrieb genommen werden. Diese Woche waren mehrere Schlipsträger und solche Anzugtypen dort zur Besichtigung. Der Hausmeister, der Schlüssel-Schorsch, den kennt ich doch auch noch, der hat mir davon erzählt.“
Jo und Paul blicken anfänglich erstaunt, dann aber doch eher skeptisch auf.
„Jajaja, wenn ich es euch doch sage! Den Amerikanern ist irgendeine Fabrik in China abgebrannt und hier in Großkirchen wäre wohl mit relativ wenig Aufwand eine Produktion rasch wieder aufzunehmen.“, bestätigt Marie heftig nickend.
„Wow, das sind ja interessante Nachrichten“, attestiert Paul und lutscht genüsslich am Löffel.
„Im ersten Quartal des nächsten Jahres soll es hier wohl wieder losgehen, ist das nicht Klasse?“ Marie dreht sich umständlich zum Gehen, da bereits neue Kundschaft naht.
„Das ist wirklich eine gute Nachricht. So entstehen wieder neue Arbeitsplätze und das Gelände erwacht vielleicht wieder zu altem Glanz. Gefällt dir das?“ Jo schaut fragend über seinen Eisbecherrand rüber zu Paul, der eher skeptisch nickend Jo´s Worte bestätigt: „Ja, das finde ich auch gut! Was macht man sonst mit solch einer riesigen Immobilie? Das bringt vielleicht auch Frieden in mir, wenn man die großen Zeiten dieser Firma kennt und sich diesen Verfall ansehen musste…! Wäre schon echt schön!“
Die zwei genießen schweigend ihre Eisbecher und Paul hat das Erlebnis von vorhin auf dem Betriebsgelände vorerst erfolgreich verdrängen können. Er lehnt sich in seinem Stuhl genüsslich zurück und freut sich auf den morgigen Tag: Morgen kommt seine Freundin Mona wieder nach Thalbach, nachdem sie die vergangenen vier Wochen auf Fuerteventura verbracht hatte.
Mona und Paul sind seit knapp einem Jahr ein Paar, doch fühlt sich Paul so sehr vertraut mit Mona, als sei es nie anders gewesen. Die beiden haben sich während Pauls letztjährigem Zwangsurlaub auf Fuerteventura kennen und lieben gelernt. Die gemeinsamen Zeiten wurden in den vergangenen zwölf Monaten durch wiederkehrende Aufenthalte von Mona auf der Kanareninsel unterbrochen und manchmal auch auf eine harte Probe gestellt. Trotz der fast täglichen Telefonate und Videochats waren die Zeiten der Trennung für beide des Öfteren sehr schwer.
Paul kann Monas Entscheidung gut verstehen und akzeptiert schweren Herzens, dass sie das gemeinsam mit Lobo erarbeitete Projekt auf der Kanareninsel weiter tatkräftig unterstützen möchte. Gerade jetzt, wo das Urlaubsresort zum Leben erwacht und endlich Gäste empfängt wird sie dort dringend gebraucht.
Lobo ist ein gemeinsamer Freund, der bürgerlich eigentlich Wolfgang heißt und seine visionäre Idee für ein alternatives Urlaubskonzept auf Fuerteventura verwirklicht hat. Mit Spiritualität, Resilienz fördernder Psychotherapie, besonderen Retreats, speziellen Workshops und Seminaren jenseits des Mainstreams betreibt er erfolgreich voller Achtsamkeit und Respekt seine kleine Appartementanlage an der ruhigen Küste von El Salmo.
Seit 28 Tagen leitet Lobo gemeinsam mit Mona wiederkehrende, teambildende Projekte für Mitarbeiter aus der mittleren Führungsebene eines deutschen Konzerns auf der Insel. Heute endet für das sechste Team des Unternehmens die Fortbildung und für die kommenden Wochen ist eine längere Seminarpause geplant, die Mona gemeinsam mit Paul zu Hause genießen möchte.
In den vergangenen Wochen hatte auch Paul sich mächtig in die Arbeit gestürzt. Neben seiner alltäglichen Arbeit in der PeLuMatic GmbH hatte er sich zusätzlich um den Aufgabenbereich des Prokuristen Friedrich Brücker zu kümmern. Brücker genießt seit drei Wochen gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Melanie seinen wohlverdienten Jahresurlaub, ebenfalls auf Fuerteventura. Er wird morgen mit demselben Flug wie Mona nach Hause zurückkehren.
So schweifen Pauls Gedanken nun automatisch wieder zum Unternehmen zurück: Innerlich flammt in ihm ein kurzes Zucken auf, er solle sich besser nochmals an den Schreibtisch in der Firma setzen, da es in den nächsten Wochen für das Unternehmen neue richtungsweisende Entscheidungen zu treffen gibt. Die Verantwortung und besondere neue berufliche Herausforderungen gehen mit großen Belastungen einher und sind rapide angewachsen. Paul und Brücker sind seit eineinhalb Jahren, nach dem Unfalltod von Pauls Vater Peter, als Führungsduo erfolgreich tätig und das Unternehmen ist mittlerweile zum europäischen Marktführer im Bereich des Baus öffentlicher Toilettensysteme avanciert.
Nun gilt es, die Geschäftsführung auf weitere Schultern zu verteilen. Brücker hatte bereits vor seinem Urlaubsantritt eine Liste möglicher Kandidaten erarbeitet, die in die Geschäftsführung berufen werden könnten.
Paul hat die engere Wahl auf eine Handvoll Mitarbeiter begrenzen können, die er zwar allesamt nicht persönlich kennt, welche jedoch über großes technisches Verständnis verfügen und bislang ein außergewöhnlich großes Engagement für das Unternehmen gezeigt haben. Paul hat geplant, diese Mitarbeiter in den kommenden Wochen auf den Baustellen zu besuchen und näher unter die Lupe zu nehmen. Bevor er in das vor ihm liegende Wochenende startet, würde Paul sich gerne nochmals die persönlichen Daten und Lebensläufe dieser Personen anschauen.
„Halloooooo! Erde an Pauli! Wo bist du?“, hallt es dröhnend in Pauls Ohren und er bemerkt, dass Jo ihn entgeistert anschaut: „Ob du auch noch einen Espresso möchtest, habe ich gefragt!“
„Oh ja, gerne! Sorry! Ich war in Gedanken…“, stammelt Paul.
„Was denn für Gedanken? Was gibt es an anderes zu denken, als am Freitag-Nachmittag eine Probefahrt zu machen und dann zu grillen? Ich habe auch noch eine weitere Überraschung für heute Abend vorbereitet!“, raunt Jo.
„Ich müsste nochmal ins Büro. Da liegt noch Arbeit und am Wochenende möchte ich mich nur noch mit Mona beschäftigen, wenn du verstehst…“, Paul zwinkert und Jo verdreht gekünstelt seine Augen.
„Tzä…, immer dieser Schweinkram…, Killewahwah und so…!“
„Also ehrlich, brennt dir der Helm? Wir haben uns seit vier Wochen nicht in den Armen gehalten…, nicht nur Killewahwah…!“ Empört boxt Paul Jo in die Seite, der sich gespielt zusammenkrümmt.
„Jaja…, ist doch alles gut. Aber der heutige Abend, der gehört uns! Männerabend! Was du dann morgen machst oder auch nicht, ist mir egal! Wenn du willst, bring ich dich gleich in die Firma zurück und wir treffen uns dann um halb acht in der Villa, oder? Reicht dir dann die Zeit?“ Jo spielt den Genervten und Abservierten, schiebt seinen Stuhl zurück und erhebt sich divenhaft.
„Meine Gesellschaft scheint ihm nicht zu…, äääh…“, er überlegt kurz, „…behagen!“
„Doch natürlich behagt ihm deine Gesellschaft, du empfindliches Mimosenteil…! Tzäää, freue dich einfach auf das Grillen nachher! Tanta Madda hat das Grillfleisch bereits gestern schön eingelegt. Denn da freue ich mich auch schon drauf!“, kommentiert Paul frech grinsend.
19.00 Uhr
Paul lenkt seinen Wagen auf die Zubringerstraße zur Villa Ludwig, die hoch über Thalbach auf dem See-Fels thront. In ihm macht sich ein merkwürdiges, nicht zu erklärendes Gefühl breit. Diese Art von Unruhe tief im Inneren seines Herzens, die er seit längerer Zeit wiederkehrend spürt und Annas Erscheinung und ihre Worte vor gut zwei Stunden drängen sich erneut in Pauls Bewusstsein. Durch das Entzünden einer Zigarette versucht er, die Bilder und das Unwohlsein beiseitezuschieben.
Der warme, sonnige Tag mit Temperaturen jenseits der 30 Grad neigt sich dem Ende und eine impertinente Schwüle kündigt die sich nähernde Gewitterfront an. Langsam beginnt sich das Naturschwimmbad des Felsen-Sees, 80 Meter unterhalb der Villa Ludwig, zu leeren und langsam kehrt Ruhe ein.
Paul blickt im Vorbeifahren auf die schattige Liegewiese und vor seinem inneren Auge erscheint für den Bruchteil einer Sekunde das Bild der zerstörten Limousine seines Vaters Peter, die im Februar des letzten Jahres eben dort auf der Wiese zum Liegen kam.
Paul konnte in den letzten Monaten seinen Frieden mit diesem Unfall machen, doch Seelenwunden heilen bekanntlich sehr langsam. Wiederkehrende Bilder aus der Vergangenheit begleiten Pauls Alltag, insbesondere jetzt, wo Mona etwa 3500 Kilometer von ihm entfernt ist. Doch morgen Mittag ist die Zeit der Trennung vorüber und prompt huscht über Pauls verbissenes Gesicht ein Lächeln. Außerdem ist heute Abend ein Jungs-Abend mit Jo, seinem selbstgekelterten Apfelwein, großen Grillsteaks und von Tante Madda selbst zubereitetem Kartoffelsalat. Das Lächeln gräbt sich tiefer in Pauls Gesicht.
Als Paul seinen Wagen abstellt, öffnet sich die Haustür und Tante Madda steht erwartungsvoll im Eingang: „Ei Bubbsche, hach je…, du kommst aber spät heim! Ihr Buben wollt doch grillen! Hast du noch so viel arbeiten müssen? Hattest du etwa Ärger im Geschäft?“ Besorgt dreinblickend begrüßt die Tante ihren Neffen in ihrem ausgeprägten Frankfurter Dialekt.
„Wieso? Ach, Tante…, nein, nein! Ich habe nur noch ein paar Dinge aufgearbeitet und für die nächste Woche vorbereitet! Jo wird sicher auch gleich kommen!“, wiegelt Paul ab und drückt seiner Tante zur Begrüßung einen leichten Kuss auf die Stirn.
„Der Johannes…? Ei Bubb…! Der ist schon da und der tut im Pool schwimmen. Der ist doch auch schon vor gut einer Viertelstunde eingetroffen, mit seinem kleinen Rollersche.“ Die Tante macht eine nickende Kopfbewegung in Richtung des Carports, wo Jo seinen himmelblauen Roller untergestellt hat. Paul kann sein Grinsen nicht unterdrücken: Wenn Jo mit seinen gut und gerne 130 Kilogramm Lebendgewicht auf dem Roller unterwegs ist, ist dies durchaus ein Bild für die Götter.
„Bubb, jetz beeil´ dich aber mal! Der Johannes hat den Grill schon angeheizt…! Und seinen feinen, wirklich sehr, sehr bekömmlichen Äppler (hessisch: Apfelwein) hat er auch mitgebracht! Der ist ihm sehr, sehr gut gelungen!“ Tante Madda leckt sich über die Lippen und schmunzelt: Sie hat vermutlich schon ein oder zwei Gerippte (hessisches Wort für das speziell geformte Apfelweinglas) genießen dürfen.
„Jetzt bin ich ja da und habe auch das unbändige Verlangen, in den Pool zu springen, einen Äppler zu trinken und einfach nur noch zu sein!“ Paul drückt sich an Tante Madda vorbei und spurtet die breite Treppe in den ersten Stock hinauf, den er gemeinsam mit Mona bewohnt, um sich endgültig seiner Bürokleidung zu entledigen.
Bekleidet mit Badeshorts stürzt Paul sich wenige Minuten später ins Souterrain, in dem sich der Wellnessbereich samt dem Pool befindet. Mit einem markigen Schrei stößt Paul die Tür auf, spurtet herein und springt mit angezogenen Beinen in den Pool, während Jo entspannt die Massagedüsenfunktion genießt und erschrocken aufschreit.
„Alter! Mann oh Mann! Meine Herren! Erschreck die Leut´ nicht so! Auch ich bin keine 18 Jahre mehr alt! Boah ey, ich geh´ kaputt!“, beschwert sich Jo lauthals, während Paul genüsslich die Erfrischung genießt und sich lachend auf dem Rücken treiben lässt.
„Hier musst du immer mit etwas Erschreckendem rechnen! Weißt du doch und hast du doch selbst alles miterlebt, oder?“ Mit seinem Kopf macht Paul eine hinweisende Bewegung zur offenstehenden breiten Holztür neben der Saunakabine.
„Ja, sicher, aber mit Gebrüll aus der Tiefe hatte ich hier bislang nichts zu tun…“ Schulterzuckend lässt er seinen Blick ebenso zu diesem ungewöhnlichen Abgang in das Felsengewölbe unter der Freiterrasse der Villa schweifen und nickt versonnen.
Hat er doch im Frühjahr des letzten Jahres Hubertus, dem heutigen Lebensgefährten von Madda, dabei geholfen, eben dieses Gewölbe etwa fünfeinhalb Meter unter ihnen, freizulegen. Ein großes Geheimnis der Villa Ludwig, die zu Beginn der achtziger Jahre erbaut wurde, ist mit dieser Freilegung gelüftet worden. Pauls stetiges Unwohlsein in diesem Haus hatte sich seitdem nach und nach gelegt.
Das unter der Villa verborgene Gewölbe ist auf die Zeit der Kelten zurückzuführen. Es handelt sich vermutlich um eine damalige Gebetsstätte, einem Ort für besondere und feierliche Rituale mit dutzenden, in den Fels geschnitzten Runen, Darstellungen und Zeichnungen sowie einer großen, aus mehreren mächtigen Basaltsteinen bestehenden, altarähnlichen Gesteinsformation. Dieses geheime Gewölbe, welches von Pauls Vater Peter während der Bauphase heimlich versiegelt wurde, wird seit der Offenlegung von Jo gepflegt und dient als besonderer Rückzugsort für Gebete und Meditationen.
Hubertus und Jo haben in den letzten 14 Monaten viele gemeinsame Stunden mit der Restaurierung und der passenden Einrichtung dieser Grotte verbracht. Jo als versierter Handwerker hatte bereits im vergangenen Jahr ein großes Balkenkreuz aus Eibenholz geschnitzt und mit vielen keltischen Zeichen verziert. Er ist Schreiner und arbeitet in den Wintermonaten hauptsächlich auf Montage in arabischen Ländern. Seit seiner Rückkehr von einem weiteren Arbeitseinsatz im Orient vor einem Vierteljahr verbringt er mehrfach in der Woche seine Zeit an diesem Ort. Oft über viele Stunden hinweg tüftelt und bastelt Jo allein in der Grotte unten. Er fühlt sich magisch von diesem Ort angezogen, geradezu so, als sei es seine Bestimmung, diesen Platz feierlich herzurichten und zu bewachen. Paul lässt seinem Freund dafür alle Freiheiten und erfreut sich immer wieder an dem Ergebnis. Auch Tante Madda ist glücklich, den Mann, der für sie neben Paul wie ein Ziehsohn ist, mit ihrer Kochkunst zu verwöhnen. Durch Jo´s Anwesenheit geht es in der Villa wenigstens etwas lebhafter zu und Tante Madda hat das Gefühl gebraucht zu werden und hat etwas zu tun: Sie hat halt eine Aufgabe!
Hubertus, den Madda liebevoll Hubsi nennt, besteht auf eine gewisse Freiheit und verbringt in der Regel vier Nächte der Woche in seiner kleinen Wohnung in der Ortsmitte von Thalbach. Er bezeichnet diese Junggesellenbude als „Meine Höhle, auf die ich, bei aller Liebe und Zuneigung zu dir, nicht verzichten möchte, nicht verzichten werde!“
Der etwas verschrobene, aus dem bayrischen Chiemgau stammende, Hubertus ist mit seinen 71 Jahren im gleichen Alter wie Madda und hat sich erst nach dem Tode seines Freundes Peter Ludwig wahrhaft zu seiner Liebe zu Madda bekannt und war mit einer kleinen Reisetasche in deren Privaträume eingezogen.
Jo wuchtet seinen Körper die Poolleiter herauf und spurtet, für seine Körpermasse ungewöhnlich flink und geschmeidig, um den Pool herum.
Energiegeladen springt er, seine Beine im Sprung anziehend, machtvoll und voller Kraft an die tiefste Stelle des Pools und schreit dabei: „Arschbombeeee…!“
Das Wasser spritzt fast bis an die Raumdecke und Paul beobachtet lachend dieses Schauspiel mit gebührendem Abstand aus seiner Ecke des Beckens und wirft Jo johlend einen Wasserball entgegen. Beide müssen laut lachen und genießen kindlich ausgelassen das erfrischende Bad im Pool.
„Ihr Buben macht einen Radau hier…, tzä! Das schallt doch runter, bis ins Dorf! Was solle dann die Leut´ denke?“ Kopfschüttelnd und seicht schmunzelnd betritt Tante Madda den Poolbereich, ein Tablett mit zwei großen Schüsseln vor sich her balancierend.
„Das war das alte Rahlkalb (Westerwälder Mundart: Heranwachsender mit einem ungezügelten Benehmen) von deinem Neffen! Ich bin doch immer ganz anständig!“, poltert Jo grinsend los und wuchtet sich erneut die Poolleiter hinauf.
„Rahlkalb…! Das überhöre ich jetzt aber mal ganz geflissentlich!“ Paul lässt sich auf dem Wasser treiben. „Für diese Betitelung darfst du heute den Grill allein bedienen. Rahlkälber haben von so etwas ja keine Ahnung!“
„Ja du Memme! Ich glaube auch, das ist besser so, nicht dass du anschließend noch selbst in Flammen stehst. Ich bin der Meister des Feuers und nicht so ein verweichlichter Büroheini…!“ Jo gebärdet sich und klopft sich stolz auf die Schulter, während er Paul dreist seine Zunge herausstreckt.
„Hier ist das Fleisch und der Kartoffelsalat, ich stelle euch das raus auf den Tisch!“
Zielstrebig steuert Madda auf die Fensterfront zu und tritt durch die offene Schiebetür hinaus auf die Freiterrasse, wo der Holzkohlegrill bereits kräftige Rauchwolken erzeugt. Beim Blick in die Weite merkt Tante Madda an: „Ich glaube, in Frankfurt ist es schon richtig schwer am Gewittern. Da braut sich noch gewaltig was zusammen! Ich denke mal, in ein bis zwei Stunden haben wir auch hier ein Unwetter!“
Als hätte es Hubertus unten in Thalbach schon gerochen, erscheint dieser rechtzeitig zum Essen auf der Terrasse. Der drahtige 71-jährige Bayer, mit sonnengegerbter Haut, weit offenem rot-weiß kariertem Hemd und schelmisch-blitzenden Augen gesellt sich zum Essen dazu. Allerdings bevorzugt er ein kühles Weißbier aus seinem Privatbestand und kommentiert lapidar: „Eure seichte Apfellimo brauch ich ned…, des ist mir zu fad! Ich brauch´s gschmackig!“
„Mei Bua, wannst mogst…!“, imitiert Jo gekonnt den bayerischen Dialekt von Hubertus und erhebt sein Apfelweinglas zum Anstoßen.
Neben weiteren freundlichen Frotzeleien tauscht die Patchwork-Gemeinschaft während der nächsten zwei Stunden ihre Erlebnisse der Woche aus und genießt die gemeinsame Zeit mit gegrilltem Fleisch, mit Maddas selbstgemachtem Kartoffelsalat und mit Jo´s herrlich-frischem Apfelwein.
„Mei…, ihr Leut´! Es nutzt ja nix! I muss noch amoi weg. Es gabat no was zum Tun im Betrieb! Jetzt, wo alles still steht, kann ich mich bestens um einige Kleinigkeiten kümmern. Macht´s guat!“
Hubertus betätigt sich als Hausmeister in der PeLuMatic GmbH und hat jetzt keine Ruhe mehr, springt auf und verabschiedet sich kurzangebunden. Wenige Minuten später sieht man seinen 20 Jahre alten silbernen BMW die Auffahrt hinunterrollen und Jo muss lachen: „Dass diese Kiste noch läuft! Die hat doch mit Sicherheit fast eine Million Kilometer drauf!“
„Es ist halt sein ganzer Stolz!“, seufzt Madda und blickt der blauen Abgaswolke hinterher, die Hubsis Wagen beim Beschleunigen ausstößt.
„Tja, der Stolz…, dieser Stolz wird ihn irgendwann einmal teuer zu stehen kommen, wenn er wegen Umweltverschmutzung angehalten wird“, erwidert Jo grinsend und lehnt genüsslich im Stuhl zurück.
„Ich ziehe mich nun auch zurück. Hubsi wird bestimmt in seiner Höhle bleiben, dann gugg ich eben fern!“ Madda erhebt sich und räumt das Geschirr zusammen: „Ihr Bubbscher! Lasst uns mal lieber das Geschirr abräumen und in die Küche bringen, bevor das Ganze durch den Gewittersturm später weggefegt wird.“
22.00 Uhr