Am Haken - Arnd Rüskamp - E-Book

Am Haken E-Book

Arnd Rüskamp

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Beschreibung

Ein packender Krimi aus Schleswig-Holstein. Schwere Zeiten für KHK Marie Geisler: Eine Einbruchserie in leer stehende Villen am Ufer der Kieler Förde hält sie und ihr Team auf Trab. Die Einbrecher sind unkenntlich als Wikinger kostümiert und kommen per Boot übers Wasser. Marie kommt mit den Ermittlungen nicht voran, zumal sie noch an einem alten Fall knabbert. Doch dann wird bei einem weiteren Einbruch ein Wachmann getötet, und ein Amulett in Form von Thors Hammer liefert Marie endlich eine heiße Spur.

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Arnd Rüskamp ist am südlichen Rand des Ruhrgebiets am Baldeneysee geboren. Er hat Publizistik studiert, war Reporter und Moderator, Soldat und Biker, Autor und Verleger. Er lebt im Ruhrgebiet und in seiner Teilzeitheimat zwischen Schlei und Ostsee.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/robertharding/David Lomax

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-379-0

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Für Dich (1932–2017)

Der Sündenfall

Der Hieb traf ihn am Hals. Blut rann warm über Brust und Rücken. Noch einmal atmete er aus, sank auf die Knie, fiel vornüber auf Brust und Gesicht. Dann hörte sein Herz auf zu schlagen. Was ihm binnen Sekunden widerfahren war, hinterließ als letzte Empfindung seines Lebens maßloses Erstaunen.

Emma spürte, wie sich Kälte in ihr ausbreitete. Eine Kälte, die sich anfühlte, als sei sie dem Fegefeuer entronnen. Sie schob das Schwert zurück in seine Scheide. Die Klinge fuhr zwischen Daumen und Zeigefinger durch die Haut. Ein kurzer brennender Schmerz. Emma drehte sich zum Portal, zum Licht, weg von ihm, machte zwei Schritte. Sie bewegte sich schnell. Die Zeit jedoch gerann zu einem klebrigen Strom eiskalter Lava. Gedanken und Gefühle, ohne jede Ordnung, ohne dass sie verstand, ohne dass sie fühlte. Taub, alles war taub. Sie erreichte den großen Windfang, schaute zurück. Seine Augen waren noch geöffnet. Ob er noch lebte? Die anderen riefen nach ihr.

***

Ohrenbetäubendes Pfeifen und Jaulen. Die Alarmanlage des Ermittlungsmobils hatte drei leistungsstarke Lautsprecher. Marie riss die Pistole des Hochdruckreinigers zurück, ließ sie fallen, tastete die Hosentaschen nach der Fernbedienung der Alarmanlage ab. Erfolglos. Ein älteres Ehepaar kam aus der Nachbarbox der Waschanlage. Fragende Blicke, verzerrte Gesichter. Die Jacke, dachte Marie, hoffte Marie. Sie öffnete die Fahrertür. Wasser tropfte ins Fahrzeuginnere. Keine Jacke. Ein Hund tauchte auf, schwarz und groß. Er bellte. Die Alarmanlage pfiff und jaulte. Marie lief zum Heck. Sicher lag die Jacke auf der Rückbank.

Auf Höhe des linken Rückscheinwerfers glitt sie auf dem nassen Boden aus und spürte sofort, dass es ihr linkes Knie erwischt hatte. Sie rappelte sich halb auf, saß auf dem Boden. Der Hund stand bellend vor ihr. Nass, alles war nass. Die Alarmanlage machte einen Höllenlärm. Ein Paketbote reichte ihr die Hand.

»Ich bin’s«, sagte der Paketbote.

Es war der junge Mann, den Marie im letzten Sommer an seinem ersten Arbeitstag kennengelernt hatte. Sie versuchte ein Lächeln und stand auf. Das Knie, ausgerechnet wieder das linke Knie.

»Soll ich Sie ins Krankenhaus fahren?«, bot der junge Mann in Gelb an.

Marie schnaubte verächtlich. Ein Mann mit Glatze betrat die Waschbox, nahm den Hund an die Leine. »Machen Sie doch den Lärm mal aus«, brüllte er.

Marie spürte, dass Wasser an ihren Oberschenkeln herunterlief. Sie hinkte zur Schiebetür, griff nach ihrer Jacke, fischte die Fernbedienung aus der Tasche und drückte auf den grünen Knopf. Das Jaulen und Pfeifen verstummte, der Hund bellte weiter.

»Alles okay?«, fragte der Paketbote und deutete auf Maries Knie, das eine längere, über die Kniescheibe verlaufende, und eine kürzere Narbe an der Außenseite zierte.

Marie grinste schief.

»Kreuzband?«, tippte er und schob sein rechtes Hosenbein hoch.

»Fußball«, sagte Marie.

»Angenehm, Kellertreppe.«

»Kann man denn auch mal hier rein?«, ranzte der Glatzkopf. »Andere Leute haben auch Autos.«

Marie schob die Tür zu. »Bis zum nächsten Paket – und danke.« Sie hob die Hand und ging um die Fahrzeugfront herum. Glatze und Hund folgten.

»Also, was denn jetzt? Wird das noch was?«

Marie bückte sich, hob die Pistole des Hochdruckreinigers auf, steckte sie in die Halterung. Der Hund hörte auf zu bellen und schnüffelte an ihrem rechten Bein.

»Es gibt auch noch Leute, die arbeiten müssen. Kann nicht jeder wie ein Hippie mit dem Campingbus durch die Gegend fahren.« Die Glatze trat zwischen Marie und das EMO, ihr Ermittlungsmobil.

Marie drehte sich um, warf Geld nach, zog die Hochdruckreinigerlanze wieder aus der Halterung, richtete sie gegen die Decke und betätigte den Hebel.

»Ey, geht’s noch?«, brüllte die Glatze. Wasser tropfte von der Decke. Die Glatze zog sich krakeelend zurück, Marie stellte die Lanze weg, ging zum Heck, holte ein Handtuch hervor und rubbelte sich die Haare trocken. Dann setzte sie sich auf die Ladekante und zog die kurze, völlig durchnässte Hose aus.

Die Glatze tauchte auf. »Ach, so eine bist du. Hätte ich mir ja denken können. Musst du dir noch ein Herz auf deinen Bumsbus machen.«

Hinter der Glatze fuhr ein Kombi auf das Gelände, rauschte durch eine Pfütze, und ein Schwall Schmutzwasser klatschte der Glatze auf den Rücken. Er brüllte, stampfte mit dem rechten Fuß auf. Der Hund fing wieder an zu bellen. Marie nahm sich vor, diesen Moment zeichnerisch in ihrem Schleibook festzuhalten. Im Stil von Heinrich Zille vielleicht, dem wunderbare Milieustudien gelungen waren. Sie streifte eine Trainingshose über und stieg ins EMO. Das Knie schmerzte, das Handy klingelte.

Marie drückte auf das grüne Hörersymbol. Am Tonfall erkannte sie, dass Kriminalrat Dr. Holm ihr wieder einmal das Wochenende versauen würde.

***

Emma lief auf das Portal zu. Sonnenlicht fiel durch die Scheiben mit Jugendstilmotiven auf ihr Gesicht. Sie öffnete die doppelflügelige Tür.

Auf dem oberen Absatz der geschwungenen Treppe wartete Judith. »Wo bleibst du denn? Wir müssen hier weg. Hat dich der Typ gesehen? Da war doch einer, oder?«

Emma schüttelte den Kopf. Gemeinsam rannten sie die Stufen hinunter, über den weißen Kies der breiten Vorfahrt, über den gepflegten Rasen, durch den Rosengarten. Dann erreichten sie den Schatten des kleinen Waldstückes, das das Anwesen zum Wasser der Förde hin begrenzte. Judith schnaufte.

Am Strand lag das Boot. Mattschwarz, beinahe sieben Meter lang. Vier weitere junge Frauen, drei im Wasser, eine am Ruder. Gehetzte Blicke.

Judith kletterte über die Gummiwulst an Bord, blieb erschöpft liegen. Emma schob das Boot mit den anderen in tieferes Wasser. Der Außenborder sprang an. Schnell nahm das Boot Fahrt auf, kam mit dem Bug aus dem Wasser. »Wohin?«, brüllte die Frau am Steuer.

Emmas Gesicht fühlte sich taub an.

»Emma, wohin«?

Das Boot war schnell, hüpfte über kurze Wellen. Emmas Gedanken waren langsam, quälten sich träge von Synapse zu Synapse. Sie dachte das Wort Flucht. Mehr nicht.

***

Nur einen Moment, nachdem Marie sich gesetzt und das Handy ans Ohr genommen hatte, spürte sie, dass Wasser auf dem Sitz stand. Es war wohl nicht nur ein Sprühnebel gewesen, den EMOs Innenraum abbekommen hatte. Sie angelte nach dem Handtuch und schob es sich umständlich hin und her rutschend unter den Po. Mit dem linken Bein konnte sie sich nicht abstützen. Hoffentlich nur eine Prellung, dachte sie.

»Frau Geisler, sind Sie noch da?«, meldete sich Dr. Holm.

»Ja, bin da, versuche nur gerade, Landeseigentum zu schützen.«

Holm ließ ihr eine kurze Pause zur Erklärung. Marie ließ sie ungenutzt verstreichen. Holm akzeptierte.

»Es ist ja auch alles gesagt, was zu diesem Zeitpunkt gesagt werden kann. Die KTU ist informiert. Das Umfeld ist, sagen wir, speziell. Sie könnten das berücksichtigen.«

»Ich bedanke mich für den Konjunktiv. Das vermittelt so ein Gefühl der Freiheit, und auch die Illusion von Freiheit kann schon etwas sehr Schönes sein.«

»Die schönsten Träume von Freiheit werden ja im Kerker geträumt.«

»Schrieb Schiller?«

»Genau.«

»Ein Segen also, dass ich unter Ihrer Knute dienen darf?«

»So kann man das sehen.«

»Wir besprechen uns am heiligen Sonntag.«

»Zehn Uhr ist nicht allzu unchristlich?«

»Fragen Sie mich als Agnostikerin oder Untergebene?«

»Ich frage Sie als Langschläfer.«

»Gut, sagen wir neun Uhr.«

»Ts.«

Holm legte auf, Marie lächelte und hoffte, dass ihr Holm als Chef noch lange erhalten bliebe.

Sie ließ den Scheibenwischer wischen und die Klimaanlage pusten. Die Frontscheibe war komplett beschlagen. Langsam rollte das EMO aus der Waschbox. In der Nachbarbox befingerte die Glatze einen fetten schwarzen Dodge-Pick-up. Der Hund auf der Ladefläche bellte. Glatze, Dodge und Hund passten gut zueinander.

Marie trat die Kupplung und wünschte sich zum ersten Mal in ihrem Autofahrerleben eine Automatik. Nach dem Kreuzbandriss vor drei Jahren hatte sie ihr Trainer ins Krankenhaus und ihr Mann Andreas nach der OP in die Reha gefahren. Jetzt erst wurde ihr klar, wie hilfreich ein intaktes linkes Bein nicht nur für den gepflegten Flachpass war.

Am Eckernförder Südstrand angekommen, lenkte sie das EMO auf den Parkplatz. Sie musste was gegen die aufsteigende Nässe unternehmen. Ein paar Minuten später fuhr sie mit ihrer kurzen Fußballhose auf einer Plastiktüte sitzend weiter.

In Kiel-Gaarden bog sie auf die B 502 ab und erreichte eine Viertelstunde später eine andere Welt. Kitzeberg war der Villenortsteil von Heikendorf am Ostufer der Kieler Förde. Das Geld versteckte sich ein bisschen und wurde dadurch noch sichtbarer. Hier wohnte, wer siebenstellig zahlen konnte. Wie hatte Holm das hier genannt? Speziell.

Links der schmale Strand, das Wasser der Förde gleißend, dicke Pötte in der Fahrrinne, die Tische vor der Gastronomie voll besetzt. Marie bog links ab. Dezente Abgeschiedenheit. Sie suchte nach der Hausnummer. Ein Streifenwagen vor dem Tor. Eine Beamtin, die aufmerksam wurde. Marie stoppte und wies sich aus. Die Polizistin öffnete das Tor. Sicher über zwei Meter hoch. Kameras links und rechts. Wer hier unentdeckt reinwollte, musste sich anstrengen.

***

»Wohin? Emma, wohin? Sag was!«, schrie die Steuerfrau über den Lärm des Motors und das Rauschen des Fahrtwindes hinweg.

Emma zuckte zusammen und brüllte: »Ting Nord, ins Lager.«

Das Zodiac PRO machte eine scharfe Kurve nach Steuerbord. Eine wasserdichte Kunststofftonne mit gemischtem Diebesgut ging unbemerkt über Bord. Die Frauen waren überrascht worden, die Tonne nur zu einem Drittel gefüllt. Nun dümpelte sie im Kielwasser der Oslofähre auf Höhe Friedrichsort. Die zweihundert PS des Außenborders beschleunigten das Boot dröhnend auf über fünfzig Stundenkilometer.

Emmas Gedanken kehrten ins Hier und Jetzt zurück. Sie pfiff auf den Fingern, hielt ihr Handy hoch und warf es in die Förde. Die anderen Frauen taten es ihr nach. Nur Judith nicht. Sie hatte wie immer an Bord die Gehörschutzstöpsel in den Ohren.

Der erste Angriff

Auf der Treppe zum Portal hatten die Kriminaltechniker bereits Markierungen aufgestellt. Zu sehen war niemand. Marie zog Handschuhe aus ihrer Tasche und griff nach der Klinke, die ein Schlangenkopf zierte. Die hohe, massiv wirkende Tür ließ sich erstaunlich leicht öffnen. »Gut in Schuss, das alte Gemäuer«, murmelte Marie und betrat den Windfang. Mitten in der Eingangshalle lag ein Mann in blauer Uniform. Neben ihm hockte auf einem Angelstuhl Elmar Brockmann im üblichen Overall der KTU.

»Moin, lange nicht gesehen«, sagte er fröhlich. »Du hinkst ja. Warst du wieder zu ehrgeizig im Training?«

»Nein, ich bin vor einer guten Stunde blöd aufs Knie gestürzt. Das tut höllisch weh. Morgen wollte ich mit Andreas und Karl eine Radtour am Kanal entlang machen. Ausgerechnet. Na ja, hilft ja nichts. So wie es aussieht, hätte ich sowieso keine Zeit gehabt.« Sie zeigte auf den Mann am Boden. »Wo bleibt Ele Korthaus? Weiß die Rechtsmedizin noch nicht Bescheid?«

»Doch, doch, aber die Kollegin hat Urlaub, und ihr Vertreter war mitten in einer Leichenschau, als Dr. Holm ihn angerufen hat. Müsste aber gleich kommen.«

»Was du alles weißt.«

»Man vertraut mir.«

Elmar, den Marie vor ihrem geistigen Auge immer mit brauner Aktentasche und kurzärmeligem Karohemd sah, lebte für Klatsch, Tratsch, das LKA und seine Kaninchen. Er vergaß keinen Geburtstag der Kollegen und hatte schon zwei Ehen gestiftet. Einer wie er hielt die deutsche Polizei zusammen.

Eine Uhr schlug wohltemperiert elf Mal.

Mit dem Schleibook und ihrem Zeichenstift umrundete Marie den Mann, der auf dem Bauch lag, den Kopf nach links gedreht, die Augen geöffnet; eine klaffende Schnittwunde führte diagonal vom Nacken bis etwa zum Kehlkopf.

Haut, Sehnen und Gefäße waren durchtrennt. Das Blut, das eine große Lache unter Kopf und Oberkörper bildete, war von der Körperrückseite nach unten auf den mit floralen Ornamenten versehenen Terrazzoboden gelaufen. Nach dem Hieb, wohl mit einer Art Machete, wie Marie vermutete, war der Mann nicht bewegt worden. Ob es weitere Verletzungen gab, konnte sie nicht erkennen.

Sie versuchte, sich vor den Kopf des Mannes zu knien, aber sogleich fuhr ihr der Schmerz ins Bein. Elmar schob ihr seinen Angelstuhl rüber. Marie skizzierte mit einigen Strichen die Lage des Mannes, ergänzte auf der nächsten Seite einen Grundriss der Halle. Eine Freitreppe mündete hier ins Erdgeschoss. Vom Eingang aus gesehen zweigte eine Tür links der Treppe ab, eine weitere, allerdings doppelflügelige, führte rechts in einen Raum, in den Marie nicht hineinsehen konnte, weil er abgedunkelt war. Die Halle maß etwa zehn mal zehn Meter, schätzte sie. Alles sah wohlgeordnet aus. Nicht durchwühlt und teilweise zerstört wie bei den Einbrüchen in andere Villen, an deren Aufklärung Marie seit über einem Jahr arbeitete.

Sie wandte sich wieder dem Mann zu, den sie auf Mitte vierzig schätzte. Er hatte mittelbraunes kurzes Haar, glatte Haut, keinen Bart, keine sichtbaren Narben, keine Piercings. Die Hände waren gepflegt. Am linken Ringfinger ein schlichter goldener Ring. Er war ungefähr einen Meter achtzig groß, normalgewichtig. In der Fußgängerzone wäre er Marie nicht aufgefallen. Weiß auf Blau las sie auf dem Rücken der Uniformjacke »Bronsky-Security«. Sie kannte das Unternehmen. Zentrale in Kiel, Niederlassungen in ganz Schleswig-Holstein. Der Ruf war seriös.

»Rüdiger Jansen, sechsundvierzig, wohnhaft in Schleswig«, sagte Elmar und reichte Marie eine Brieftasche. Abgegriffen, aus schwarzem Leder. Personalausweis, Führerschein, Bankkarte, ein bisschen Bargeld, eine Quittung für einen Flachbildfernseher, gekauft im Schlei-Center, und zwei Passfotos. Eine Frau im Alter des Toten und ein Mädchen, dessen Alter Marie auf sechs oder sieben tippte. Ein bisschen jünger als ihr Sohn Karl. Marie reichte die Brieftasche an Elmar zurück.

»Ein Schlüsselbund mit Haustür-, Wohnungstür- und Autoschlüssel und ein weiteres mit einem Anhänger des Sicherheitsdienstes und einem Autoschlüssel mit Kennzeichen-Aufkleber. Schmerztabletten und ein Antihistaminikum habe ich aus der Innentasche seiner Uniformjacke geholt. Das war’s. Ein Mitarbeiter der Reinigungsfirma hat ihn gefunden. Der Mann wartet draußen.«

Marie zog den Ring von Rüdiger Jansens Finger. Die Gravur war schlecht zu lesen. »Elmar, gibst du mir mal dein Handy?«

Sie fotografierte die Innenseite des Rings, vergrößerte die Aufnahme und las: »Lieselotte 9.8.98«.

»Danke. Schickst du mir das Foto bitte per Mail.«

Elmar nickte. »Wenn du mit ihm fertig bist. Hier haben wir noch was.« Er zeigte Richtung Ausgang. Neben einer gelben Nummerntafel mit der Ziffer Drei lag ein Schmuckstück auf dem Boden.

»Soll ich?«, fragte Elmar und hielt Marie beide Hände entgegen.

»Elmar, du bist ein Kavalier«, bedankte sich Marie im Voraus und ließ sich hochziehen. Elmar trug den Anglerstuhl zur Nummerntafel, reichte Marie erneut die Hände, und sie setzte sich.

Das Schmuckstück war ein Amulett. Vielleicht aus Silber. »Thors Hammer«, erklärte Marie.

»Woher kennst du Thors Hammer?«

»Haben wir als Kinder in der Grundschule überall hingekritzelt. Die Götter, die Runen, alles, was irgendwie mit den Wikingern zu tun hatte.«

»Und, hat dieser Hammer irgendeine Bedeutung?«

»Der Hammer ist Thors magische Waffe. Es geht um Kraft und den Schutz vor Feinden, wenn ich das richtig erinnere. Ein bisschen wie ein Bumerang. Thor hat den Hammer geworfen, und er kam immer wieder zu ihm zurück.«

»Mit einem Hammer ist unser Mann hier aber nicht erschlagen worden.«

»Auf dem Amulett ist ja Blut. Das Band ist gerissen. Vom Hals gerissen. Jemand wurde verfolgt. Ihr sichert Fingerspuren auf dem Anhänger und schaut euch das Band an. Sicher findet ihr Hautschuppen.« Marie griff sich ans Knie. Sie hatte alles über den ersten in Deutschland per DNA-Analyse überführten Mörder gelesen. 1998. Zwölftausend Männer hatten damals Speichelproben abgegeben. Ohne die hätte man den Kerl vielleicht nie erwischt.

Sie schaute zu Jansen hinüber. »Das sind gut und gerne fünf Meter zwischen ihm und dem Amulett und keine Blutspritzer auf dem Boden, oder?«

Elmar schüttelte den Kopf.

»Dann ist das Blut auf dem Amulett eventuell Blut des Täters.«

»Oder der Täterin.« Elmar hatte die Augenbrauen nach oben gezogen.

»Hat man dich jetzt auch noch zum Gleichstellungsbeauftragten erkoren?«, fragte Marie und reckte die Hände in die Höhe. Elmar griff beherzt zu und half ihr auf die Beine.

»Wo bleibt denn der Rechtsmediziner? Ele wäre schon längst hier.« Marie sah sich um. »Ich schau mir den Palast mal an. Ruf mich, wenn der – wie heißt der eigentlich?«

»Keine Ahnung.« Elmar fotografierte das Amulett.

Marie steckte Stift und Schleibook in ihre Umhängetasche und hinkte in Richtung des Saals.

***

An Steuerbord ragte mahnend der rote Backstein des Marine-Ehrenmals in den wolkenlosen Himmel. Emma mochte die Architektur. Und den Ort mochte sie auch. Etwas Heroisches ging von ihm aus. Mutige Männer hatten ihr Leben für das Vaterland gegeben.

Ihr Magen krampfte, sie dachte an den Mann, der sie angebrüllt hatte, der ihr durch den ganzen Saal nachgelaufen war und sie kurz vor dem Ausgang am Kragen erwischt hatte. An das seltsame Geräusch, als sie das Schwert zurückgerissen hatte. Als sei Luft aus einem Fahrradschlauch entwichen. Sie reckte den Oberkörper vor und erbrach sich. Der Fahrtwind riss den Mageninhalt mit. Die anderen schauten nach vorn, hinaus auf die offene Ostsee. Emma wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. Am Ärmel klebte Blut.

»Du blutest ja«, rief Judith, die links neben ihr saß.

»Nur ein Kratzer«, brüllte Emma zurück und besah sich kurz die Schnittwunde an ihrer linken Hand.

In einer knappen Stunde wären sie im Lager. Sie würde nachdenken und eine Lösung finden. Sie fand immer eine Lösung. Thors Stärke war ihre Stärke. Sie griff nach dem Amulett, fand es nicht, tastete, schaute an sich herab, schaute suchend auf den Boden. Nichts. Thors Hammer war weg. Wieder krampfte ihr Magen.

***

Im Saal war es finster. Die Fensterläden waren geschlossen. Marie suchte nach einem Lichtschalter, fand aber keinen. Auf einem Tisch gleich neben der großen Tür lag vor einer Nummerntafel mit der Ziffer Sieben ein Tablet.

Marie berührte das Display. Eine Frauenstimme sagte: »Willkommen zu Hause. Wählen Sie eine Aufgabe.« Icons mit Symbolen für Rollläden, Lampen, Kameras und Heizkörper erschienen. Marie tippte auf das Rollladen-Symbol, es öffnete sich ein Untermenü, das Etagengrundrisse der Villa zeigte. Das Haus bot eine weitere Etage über dem Erdgeschoss und einen Keller. Rasch fand Marie den großen Saal und wählte die Fenster an dessen Längsseite, die nach vorn zur Auffahrt gingen.

Geräuschlos öffneten sich die Fensterläden. Licht flutete in den Raum. Marie musste die Augen zusammenkneifen. Tische und Stühle für jeweils acht Personen, sie zählte zwölf Tische. Der Speisesaal fasste sechsundneunzig Personen. Die Besitzer mussten eine große Familie haben. Oder gesellschaftliche Verpflichtungen. Beides schien Marie nicht erstrebenswert. Ihr fiel ein, dass sie ihren Vater und ihre Schwiegereltern für den nächsten Sonnabend zum Grillen eingeladen hatte.

Ihre Augen hatten sich an die Helligkeit gewöhnt. An der Wand gegenüber den Fenstern: Kunst. Bilder wollte Marie nicht nennen, was man dort aufgehängt hatte. Sie schritt die Tischgruppen ab. Etwa in der Mitte des Saals waren drei Stühle umgekippt. Vielleicht war jemand hierhergerannt.

Marie verließ den Saal durch die rückwärtige Tür. Die untere Etage, das war nach einem ersten Durchgang klar, diente repräsentativen Zwecken. Aufgefallen war ihr nichts. Womöglich war eben das auffällig. Vielleicht steckte sie aber auch zu tief in Ermittlungsmustern der Einbruchsserie, bei der Kunstwerke planvoll und im großen Stil gestohlen wurden. Hier ging es um ein Tötungsdelikt, und der Tod des Mannes stand nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit dem Auffindeort, der Kunstwerke im Überfluss bot.

Gleichzeitig mit dem Rechtsmediziner kam Marie wieder in der Eingangshalle an. Der Mann war wortkarg, überarbeitet, schlecht gelaunt und schlecht erzogen. Er hatte gesehen, dass Marie nur unter Schmerzen gehen konnte. Weder hatte er ein mitfühlendes Wort gefunden, noch hatte er nachgefragt. Schließlich war er Mediziner. Marie war ganz sicher, dass Ele Korthaus das nicht passiert wäre und ihrem Mann Andreas, der in Eckernförde als Internist arbeitete, bestimmt auch nicht.

Auf Maries Fragen antwortete der Typ, man möge seinen Bericht abwarten, und verschwand.

Marie quälte sich über die breite Treppe in die obere Etage. Die Privatgemächer verströmten dezenten Luxus. Gediegen die Einrichtung. Skandinavisches Design der Fünfziger oder Sechziger. Geradlinig. Raum für Blicke und Gedanken. Nicht der pompöse Stil, den Marie unten als aufdringlich empfunden hatte. Gut möglich, dass die Eigentümer Privates und Berufliches strikt trennten. Unten empfingen sie wichtige Gäste, die beeindruckt werden mussten, oben atmeten sie durch. Solche Mutmaßungen anzustellen gehörte zu den Aspekten ihres Berufes, die Marie besonders schätzte.

In einem der beiden Arbeitszimmer fiel ihr eine Vitrine auf, deren Tür offen stand. Leer, bis auf eine Bronzefigur, die Marie sofort erkannte. Ernst Barlachs »Wanderer im Wind«, eine Figur, die Barlach 1934 geschaffen hatte. Manche sagten, als ein Statement gegen die Nazis. Die Kappe mit der linken Hand an die Stirn gedrückt, den Mantel mit der Rechten zusammenhaltend gegen den Wind. Dem Wind trotzend. Marie mochte die widerständige Ausstrahlung der Figur. Barlach also. Und auf den anderen Böden der Vitrine? Was hatte da gestanden? Doch ein Einbruch? Sie würde mit dem Eigentümer sprechen.

Marie trat an eines der bodentiefen Fenster. Der Blick war, wie man ihn sich wünschte – unverbaubar. Etwa zwei Kilometer breit war die Kieler Förde hier. Jenseits des Wassers die Holtenauer Schleuse. Sich hier mit einem Fernglas hinzusetzen und den Schiffsverkehr zu beobachten stellte sich Marie ziemlich meditativ vor. Zwischen dem Kitzeberger Strand und der Villa lagen dreißig, vielleicht vierzig Meter Parkanlage. Naturnah. Als Marie gekommen war, hatte es im Windfang unter ihren Schuhen geknirscht. Vielleicht war das Sand.

Der Rest der Privatetage wirkte sauber, aufgeräumt, großzügig. Viele Bücher, solche, die jemand gelesen hatte, keine Folianten. Amerikanische, niederländische, deutsche und schwedische Autoren. Soziologische Fachbücher. Die Bewohner könnten ihr sympathisch sein, dachte Marie.

Elmar hatte Verstärkung bekommen. Zwei Kolleginnen bewegten sich aufmerksam nach Spuren suchend um Rüdiger Jansen herum.

»Elmar, vorn an der Tür. Auf dem Boden dort. Ich hätte gern, dass ihr den Sand oder was das ist mit einer Probe vom Strand vergleicht.«

Elmar griff in eine Kunststoffkiste, zog zwei Tütchen hervor und hielt sie grinsend hoch. »Du arbeitest mit Profis, Marie. Bei der Spurennahme am Strand haben wir Fuß- und Schleifspuren entdeckt. Der Rest der Mannschaft ist damit beschäftigt, diese zu sichern.«

»Danke, schau ich mir an.«

Auf dem Vorplatz trat der Mitarbeiter der Reinigungsfirma von einem Bein aufs andere. Seine Statur und Frisur erinnerten Marie an den Tatortreiniger aus dem Fernsehen. Er konnte nichts Erhellendes beitragen, war erst zum zweiten Mal hier eingesetzt und kannte den Toten nicht.

»Ich habe doch nur meine Bürgerpflicht getan«, sagte er genervt. »Kann ich jetzt endlich gehen? Die Chefin hat schon zwei Mal angerufen.«

Marie schaute auf die Personalien, die sie aufgenommen hatte, klappte das Schleibook zu und nickte. Langsam ging sie durch den Park zum Strand. Flatterband und noch mehr Menschen in Overalls, die Länge, Breite und Tiefe der Schleifspuren maßen.

»Moin«, grüßte eine Kollegin, die Marie flüchtig aus der Kantine kannte. »Wir haben Glück, der Sand ist hier so fest, dass wir einige Fußspuren ausgießen können. Mindestens vier Personen. Und die Schleifspuren. Ein großes Schlauchboot, wenn Sie mich fragen.«

»Wie groß?«, fragte Marie.

»Festrumpf. Hier die Spur des Kiels. Schwer zu sagen. Sieben Meter lang, knapp drei Meter breit. So was.«

»Sie kennen sich aus.«

»Mein Vater war Hafenmeister.«

»Können Sie was zu den Schuhgrößen sagen?«

»Nicht unter siebenunddreißig, nicht über zweiundvierzig.«

»Frauen?«

»Kann sein. Vielleicht kriegen wir noch mehr raus. Ein Abdruck ist extrem gut.«

Maries Handy klingelte. Seit der technischen Krise von vor einem Jahr hatte es tapfer durchgehalten, das gute Stück. 2009 hatte Andreas ihr den Oldtimer geschenkt, und Marie sah keinen Grund, auf eines dieser funktionsüberladenen Smartphones umzusteigen. Im EMO, ihrem Ermittlungsmobil, lag ein leistungsfähiges Notebook. Mehr brauchte sie nicht.

»Holm hier, kurze Info zum Eigentümer des Hauses. Es handelt sich um die deutsche Frau eines dänischen Reeders. Umsatz nahe vierzig Milliarden Euro. Das entspricht unserem Verteidigungshaushalt. Vielleicht galt der Einbruch nicht dem Wachmann. Vielleicht muss ich mit dem BKA Kontakt aufnehmen.«

»Tun Sie, was Sie tun müssen. Hier liegt in einer beeindruckenden Blutlache, die in etwa der Blutlache von vierundzwanzig Hühnern entspricht, der sechsundvierzigjährige Rüdiger Jansen. Ich denke, er hinterlässt eine Frau und eine Tochter. Ich fahr da gleich mal hin. Moin.«

Marie drückte auf den kleinen roten Hörer. Sie hatte verstanden, was Dr. Holm zum Ausdruck bringen wollte. Aber sie hasste es, einen Fall anders zu bearbeiten, nur weil jemand aus dem Umfeld stinkreich war. Vierzig Milliarden. Absurd.

Zurück vor der Villa sah Marie gerade noch, wie zwei Männer einen Transportsarg in den Sprinter der Rechtsmedizin schoben. Bald würde der Mann auf einem Obduktionstisch in Kiel liegen. Zwei Mediziner und ein Assistent wären anwesend. Schädel-, Brust- und Bauchhöhle würden geöffnet werden. Das Verfahren war von besonderer Rohheit. Aber es diente einem höheren Ziel. Die Völker rund um den Globus hatten sich darauf geeinigt, dass man Menschen so behandeln durfte, um die Ursache eines nicht natürlichen Todes herauszufinden oder die äußeren Umstände genauer zu klären.

Dass Rüdiger Jansen mit brutaler Gewalt aus dem Leben gerissen wurde, stand fest. Zu hoffen war, dass Partikel in der Wunde Rückschlüsse auf die Tatwaffe zulassen würden. Nach der Obduktion wären sie schlauer.

Eine Amsel landete im Beet neben dem Kies und hackte auf eine Nacktschnecke ein.

Moral, Schuld und Sühne waren menschengemachte Kategorien. Nicht alles, was Menschen ersonnen hatten, war der Natur überlegen. Aber den geregelten Umgang mit Schuld und Sühne im Rahmen der Strafverfolgung hielt Marie für einen der wichtigsten Pfeiler eines demokratisch verfassten Staates.

Elmar stand auf dem Treppenpodest und sprach mit einem Mann, der Marie den Rücken zugewandt hatte. Sie hob kurz die Hand, Elmar lächelte ihr zu. Marie stieg ins EMO, legte ihre Tasche auf den Beifahrersitz. Das Schleibook zeigte eine seiner grauen Ecken. Marie fiel auf, dass sie so wenig gezeichnet hatte wie nie. Die Auffindesituation war so übersichtlich gewesen, der Tote so unauffällig. Sie hatte ihn sich nur oberflächlich angesehen. Alles schien so offensichtlich. Gut, dass Elmar fotografiert hatte. Sie würde sich die Fotos später genau anschauen.

Das Bein anzuwinkeln hatte wehgetan. Sie käme um einen Besuch beim Orthopäden nicht umhin. Schlechtes Timing, denn es war wieder so weit. Sie musste herausfinden, wer das Leben eines Menschen, aller Wahrscheinlichkeit nach vorsätzlich, beendet hatte. Zeit für innere Einkehr, für Konzentration. Marie hörte während Ermittlungsarbeiten dieser Art stets nur Streichquartette.

Sie wählte Mozarts Streichquartett Nr. 21 in D-Dur und fuhr auf das Tor zu. Die Kameras, natürlich. Sie legte den Rückwärtsgang ein. Elmar war noch immer im Gespräch, kam aber die Stufen runter, als sie vor der Treppe hielt.

»Elmar, die Kameras. Da gibt es wahrscheinlich eine Festplatte. Und das Tablet, das diese Haussteuerung ermöglicht.«

»Alles schon eingepackt. Wir haben einen neuen, technikaffinen Kollegen. Der wird sich mit dem Gerät beschäftigen und Material sichten, sofern es welches gibt.«

»Danke.«

»Da nich für.«

Mit verkniffenem Gesicht trat Marie die Kupplung. Die ersten Meter waren holperig, das Tor öffnete sich, die Polizeibeamtin grüßte, als sei Marie der französische Staatspräsident. Dazu Mozart, ein bisschen zu laut, und nasse Kleidungsstücke im Fußraum. Im Rückspiegel sah sie, dass auch Rüdiger Jansen das Gelände verließ; der Sprinter der Rechtsmedizin folgte ihr.

Plötzlich verspürte Marie Lust auf Kuchen. »Wirres Zeug«, murmelte sie und legte den zweiten Gang ein. Aus dem Getriebe drang ein krächzendes Geräusch an ihr Ohr. »Heute ist irgendwie der Wurm drin«, sagte sie und ergänzte: »Ich führe schon wieder Selbstgespräche.« Sie dachte an Ele Korthaus. Ein kurzer Stich in der Herzgegend. Marie registrierte, dass sie Ele vermisste.

Auf der Brücke über die Schwentine hatte es einen Unfall gegeben. Der Verkehr wurde umgeleitet. Ein zäher Lindwurm schlängelte sich zum Sperrwerk runter. Marie erinnerte sich an eine romantische Schwentinetalfahrt mit Andreas, als links die Stege auftauchten. Das war noch vor Karls Geburt gewesen. Sie hatten zu wenig Zeit füreinander.

Hinter ihr hupte jemand.

Schnelles Internet, schnell mal ein Wochenende nach Amsterdam, Speeddating. Marie nahm sich vor, segeln zu gehen. Sie hatte den Segelschein im letzten Dänemarkurlaub gemacht und war jetzt im Besitz eines Folkebootes. Auf der Großen Breite hatte sie geübt, zweimal war sie seitdem zwischen Schleswig und Maasholm hin- und hergesegelt. Im Augenblick lag das Boot in Maasholm. Ein Törn auf die Ostsee stand auf dem Programm.

Erneut hupte jemand. Eine Gruppe jugendliche Fußballfans überquerte die Straße. Holstein-Trikots. Einer trug einen Ball, ließ ihn immer wieder auf dem Asphalt aufticken. Ein Geräusch, das Marie jedes Mal elektrisierte. Was würde sie nur machen, könnte sie nicht mehr Fußball spielen? Das Knie schmerzte. »Vermutlich muss ich bald einen Dienstwagen mit Automatik beantragen.« Selbstgespräche. Nach dem Orthopäden könnte sie gleich einen Termin beim Psychiater machen, wenn das so weiterging. Ihr Handy klingelte. Marie hatte keine Freisprechanlage. Aber jetzt standen sie ja auch schon wieder.

»Wickie, meine Sonne, wo bleibst du denn?«

»Ein Fall, Geliebter. Bin in Kiel. Aber ich komme gleich kurz rein. Soll ich Kuchen mitbringen?«

»Wienerbröd, Wienerbröd«, grölte Karl von hinten. Andreas hatte das Telefon laut gestellt.

»Sitze im Auto, lege jetzt auf. Bis gleich.« Instinktiv schaute sie sich um. »Marie, du bist ein Schisser«, schimpfte sie und würgte das EMO ab. Hinter ihr hupte es wieder. Lang anhaltend.

Marie öffnete die Fahrertür, stieg unter Schmerzen aus, ging nach hinten und erwartete einen Mittzwanziger mit Hormonüberschuss. Am Steuer des Autos saß eine Dame jenseits der siebzig. Marie schluckte den unflätigen Satz herunter, den sie bereits auf den Lippen gehabt hatte, trat ans Fenster und fragte: »Kann ich etwas für Sie tun?«

Die ältere Dame schüttelte den Kopf, wirkte peinlich berührt. Ein Blick nach rechts, dann sagte sie: »Mein Mann muss mal. Dringend. Entschuldigung.« Der Mann schaute nach rechts aus dem Fenster.

Marie versuchte ein verständnisvolles Lächeln, legte der Dame kurz die Hand auf den Arm und hinkte zurück. »Was ist das nur für ein Tag?«, sagte sie. Ihr Vordermann war um eine Autolänge vorangekommen.

Eine Stunde später parkte sie in Fleckeby auf dem Parkplatz neben Bäcker Sievers, den sie vor einem Jahr noch des Mordes verdächtigt hatte. Ein Fall, der mitten in eine Ehekrise der Bäckersleute geplatzt war. Andreas hatte gewettet, dass die Beziehung in die Brüche gehen würde. Marie hatte das nicht geglaubt, und sie hatte recht behalten. Bum-Bum-Bäcker hatte seiner Frau ihren Fehltritt verziehen. Happy End. Das war kitschig. Na und?

Marie kaufte Wienerbröd und Apfelkuchen mit Sahne. Das süße Intermezzo genoss sie mit Andreas und Karl auf dem heimischen Balkon in Schleswig. Die Sonne hatte Kraft, und die Sahne verflüssigte sich. Als Marie nach Kaffee und Kuchen aufstand, schaute Andreas sie fragend an.

»Bin aufs Knie gestürzt«, erklärte sie.

Andreas deutete mit dem Kopf Richtung Wohnzimmer und folgte ihr. Sie legte sich auf die Récamiere, die sie Andreas zur Hochzeit geschenkt hatte. Andreas beugte, drückte, drehte und befand: »Wir fahren mal zum Kollegen Sondermann. Der macht ein Sono.«

»Du findest Orthopäden doch scheiße.«

»Wir fahren zu Mc Sondermann.«

»Später. Ich muss im neuen Fall noch einen Besuch machen. Hier in Schleswig. Das dauert sicher nicht lange. Ich kann dich ja anrufen, wenn ich fertig bin. Außerdem brauche ich keine Begleitung. Mc Sondermann kenne ich besser als du. Der empfängt mich rund um die Uhr, weil er nämlich um meine Qualitäten im Strafraum weiß. Ätsch.«

»Orthopäde eben. Behandelt vermutlich im HSV-Trikot.«

»St. Pauli.«

»Ich möchte trotzdem dabei sein.«

»Guck nicht so ernst. Da kriege ich ja Angst.«

»No German Angst«, proklamierte Karl, der die Treppe heruntergerannt kam.

»Wo hast du das denn her?«, fragte Marie.

»Sagt unser Trainer immer.«

Karl verschwand im Garten.

»Übrigens. Bei den Sievers in Fleckeby alles im Lack. Händchen halten, verliebte Blicke.«

»Naiver Typ. Sie hat ihn einmal betrogen. Sie wird es wieder tun.«

»Misanthrop, trauriger.«

»Ich bin Realist. Du hast immer nur Leichen um dich herum. Da kann man leicht romantisch werden. Ich sehe täglich das Elend der Lebenden.«

»Meinst du, ich kann mit dem Knie Fahrrad fahren?«

»Warten wir ab, was wir im Ultraschall sehen.«

»Typisch Arzt. Bloß nicht festlegen. Ich fahre jetzt. Bis nachher.« Marie küsste Andreas und wackelte zur Tür hinaus, nachdem sie ihre kurze Hose noch schnell gegen eine lange Trainingshose getauscht hatte.

EMOs Scheiben waren von innen beschlagen. Die nassen Klamotten lagen noch immer im Fußraum. Marie griff nach ihnen und warf sie im hohen Bogen aus dem Seitenfenster auf die blaue Papiertonne, die vor dem Carport stand.

Die Witwe

Rüdiger Jansen hatte in einem der Schleswiger Gewoba-Häuser nahe dem ehemaligen Landeskrankenhaus gelebt. Einander gegenüberliegende Wohnblocks, ein Garagenhof am Ende der Sackgasse. Spielende Kinder, abschätzig blickende Jugendliche. Mit dem Finger fuhr Marie die Reihe der Klingeln ab. Nicht jede hätte man anfassen wollen. Auf einer klebte ein Kaugummi. Marie drückte den Knopf neben dem Namensschild mit der Aufschrift »L.+R.+J. Jansen«.

Ohne Nachfrage über die Sprechanlage summte es, die Tür sprang einen schmalen Spalt weit auf, Marie trat ins Treppenhaus. Eine Mischung aus Essensgerüchen und Essigreiniger empfing sie. Wenige Stufen bis zum ersten Treppenabsatz. Die Tür links war bereits geöffnet. Auf einem getöpferten Namensschild las Marie: »Hier wohnen Lieselotte, Rüdiger und Judith.« Auf der Fußmatte das Bekenntnis: »My home is my castle.«

»Is offen«, rief eine Frauenstimme. »Küche.«

Marie schob die Wohnungstür auf. Ein Flur, von dem Türen nach links und rechts zu den Zimmern führten. Klassischer Schnitt. Die Küche gleich links hinter dem Eingang. Bratgeräusche. Marie tippte dem Duft nach auf Frikadellen. Sie machte einen Schritt, klopfte, eine Frau mit rot gefärbten, langen Haaren drehte sich zu ihr um.

»Huch, wer sind Sie denn?«

»Marie Geisler«, sagte Marie. »Sie sind Lieselotte Jansen?«

»Steht ja an der Tür. Ich dachte, es wäre eine Freundin. Egal. Was wollen Sie hier?«

Die Frikadellen brutzelten, Dampf stieg aus einem Topf auf. Lieselotte Jansen wendete die Frikadellen. »Also?«

»Es riecht toll. Machen Sie mal. Ich warte einen Moment.«

Lieselotte Jansen schaute zwischen Marie und den Frikadellen hin und her, zog dann aber die Pfanne von der Platte, legte einen Deckel auf, rückte ihn schräg und drehte den Herd runter.

»So, jetzt.«

Marie griff in die Jackentasche und förderte ihren Dienstausweis zutage, hielt ihn Lieselotte Jansen hin, ließ sie lesen, trat in die Küche und zog einen Stuhl vom Tisch weg. »Können wir uns setzen?«

Lieselotte Jansens Miene verfinsterte sich. »Judith? Ist was mit Judith? Sie wollte gestern bei ihrer besten Freundin übernachten. Und jetzt geht sie nicht ans Handy. Meine WhatsApp-Nachricht ist auch nicht zugestellt worden.«

Ihre Stimme, jetzt eine Tonlage höher: »Was ist mit Judith?«

»Setzen Sie sich doch.« Marie legte einen Arm um die Schulter der zierlichen Frau, die sich widerstandslos auf den Stuhl dirigieren ließ. »Ich bin nicht wegen Judith hier.«

»Rüdiger?«

Marie nickte.

»Was?«

»Leider muss ich Ihnen sagen, dass Ihrem Mann etwas zugestoßen ist.«

Lieselotte Jansen schlug beide Hände vors Gesicht. War stumm. Atmete nicht. Dann begann sie zu schluchzen. Leise. Hände und Arme zitterten.

Es klingelte.

»Moni«, sagte Lieselotte Jansen. »Meine Freundin Moni.«

Marie ging zur Wohnungstür, drückte auf den Knopf des Türöffners. Eine Frau in pinkfarbenem Jogginganzug betrat das Treppenhaus.

»Moin, ich wollte zu Lotte.«

Marie zeigte ihren Ausweis. »Das passt jetzt nicht. Ihre Freundin meldet sich im Laufe des Nachmittags bei Ihnen.«

»Ist etwas passiert?«

»Das erzählt sie Ihnen dann.«

Aus der Küche drang lautes Schluchzen. Die Freundin schob sich an Marie vorbei. Marie ließ es geschehen, schloss die Wohnungstür, schaute sich im Flur um. Fotos einer glücklichen Familie. Posieren auf der »Wappen von Schleswig«, ein kleines Schuhregal, an der Garderobe eine Jeansjacke, Schals und Tücher obendrauf. Ein Foto, das Lieselotte, Rüdiger und ein halbwüchsiges Mädchen zeigte. Marie ging wieder in die Küche. Die beiden Frauen in enger Umarmung.

»Frau Jansen, ich muss allein mit Ihnen sprechen. Vielleicht geht Ihre Freundin solange ins Wohnzimmer?«

Die Frau in Pink löste sich vorsichtig von Lieselotte Jansen und verließ die Küche. Marie setzte sich der verheulten Witwe gegenüber auf den anderen Stuhl.

»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen, Frau Jansen?«

»Heute Morgen um fünf. Rüdiger hatte eigentlich frei. Aber es kam ein Anruf. Er musste in eine andere Dienstgruppe. Eigentlich ist er am Flughafen. Es sind wohl viele krank, er sollte zu den Objektschutzleuten. Was ist mit ihm passiert? Ein Unfall? Ist er wieder zu schnell gefahren?« Lieselotte Jansen schniefte, riss sich aber zusammen.

»Wer hat Ihren Mann denn angerufen?«

»Ja, sein Chef, Mehmet. Der ist erst seit drei Jahren bei Bronsky, aber schon Gruppenleiter. Sagen Sie mir endlich, was passiert ist!« Jetzt klang sie aggressiv, legte beim Sprechen den Kopf ein wenig in den Nacken, machte eine offene, wütende Bewegung mit beiden Händen. Authentisch. In ihrer Körpersprache fand Marie keinen Grund, sie auf die Liste der Verdächtigen zu setzen.

»Gab es Streit mit diesem Mehmet?«

»Nein, also ja. Es gab immer Streit, aber nicht heute Morgen. Was soll das denn, diese Fragerei?«

Marie legte ihre Hände über die Hände der Frau. Kleine Hände. Raue Hände. Lieselotte Jansen zog sie ein wenig zurück, spürte dann aber wohl die Bedeutung der Geste. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich, die Augen weiteten sich. Sie schüttelte den Kopf, und Marie fühlte, dass Lieselotte Jansen in diesem Moment ahnte, dass ihr Mann keinen Unfalltod gestorben war.

»Wir haben Ihren Mann heute Vormittag tot in einer Villa aufgefunden, die momentan nicht bewohnt ist. Es könnte sich um Mord handeln. Es tut mir sehr leid.«

Die Frau in Pink stürzte wieder in die Küche. Sie hatte gelauscht. Zitternde Leiber, heiße Tränen. Unermessliches Leid. So herzzerreißend war es nicht immer. Die Frikadellen hatten aufgehört zu braten.

»Frau Jansen. Wie heißt die Freundin Ihrer Tochter?«

»Emma«, antwortete die Frau in Pink. »Emma Brinker, Flachsteich. Gleich um die Ecke. Die haben Geld. Passen gar nicht zu uns, die Leute.«

Marie notierte Namen und Adresse in ihrem Schleibook.

»Frau Jansen, wollen Sie noch mal versuchen, Judith zu erreichen?«

Lieselotte Jansen ging in den Flur und zog ihr Handy aus der Jeansjacke, tippte und hielt es ans Ohr. Marie konnte das Freizeichen hören. Dann sagte eine Frauenstimme: »The person you have called is temporarily not available …«

Marie streckte die Hand nach dem Smartphone aus. »Lassen Sie mich eben die Rufnummer aufschreiben, bitte.«

Lieselotte Jansen reichte ihr das Telefon.

»Sagen Sie, Frau Jansen, welches ist Judiths Zimmer? Ich würde mir gern ein Bild machen.«

Lieselotte Jansen machte eine unbestimmte Bewegung und ging zurück in die Küche.

»Lotte, ich bin immer für dich da«, hörte Marie die Frau in Pink sagen. »Heul ruhig. Es ist furchtbar, ganz, ganz furchtbar. Aber du musst jetzt an dich und an Judith denken.«

Judiths Zimmer war leicht zu finden. An der Tür prangte, mit Heftzwecken befestigt, ein Poster, das Musiker auf einer Bühne zeigte, der Türgriff war rot lackiert, und rote Farbspuren an der weißen Tür sollten wohl Blutspritzer darstellen. Der Vermieter würde die Kaution einbehalten, so viel war sicher. Marie zog Handschuhe an und öffnete die Tür.

Das Zimmer war klein. Keine zehn Quadratmeter und zugepflastert mit weiteren Postern. Offenbar zeigten die Fotos immer dieselbe Band namens Skálmöld. Die Musiker mit langen Haaren, langen Bärten. Die Schrift wie aus einer anderen Zeit wirkend. Ein Poster zeigte einen wilden Mann mit Schwert, Fell und Wikingerhelm. Mit Hörnern. Marie grinste schief. Bis heute hatten Archäologen keinen Wikingerhelm mit Hörnern gefunden.

Über dem schmalen Schreibtisch hatte Judith Eintrittskarten angepinnt. Von Konzerten und auch eine für das Wikinger-Museum Haithabu. Judith schien ihr Hobby gefunden zu haben. Unter der Glasauflage des Schreibtisches ein Stundenplan und Fotos, die Mädchen in ausgelassenen Posen zeigten. Mit Duckface, mit Bierflaschen auf den Königswiesen unten an der Schlei mit dem Turm von St. Petri im Hintergrund, beim Baden, Shoppen und beim Bogenschießen. Über dem Bett waren Landkarten mit Heftzwecken an der Wand befestigt. Schleswig-Holstein, Dänemark. Und überall Markierungen. Auf dem Regal darunter zwei Bücher über Geocaching und ein hochwertiger Kompass.

Marie schaute sich anschließend das Wohnzimmer an. Der Flachbildschirm beanspruchte ein Viertel der Wand. Über dem Sofa Fanschals von Holstein Kiel, auf dem Rauchglastisch zwei Aschenbecher, Tabak und eine Stopfmaschine für Zigaretten. Ein Regal mit DVDs. Fantasyfilme und das Gesamtwerk von Arnold Schwarzenegger.

Lieselotte Jansen kam dazu.

»Was ist denn genau passiert?«, fragte sie und wirkte einigermaßen gefasst.

Marie war nicht erstaunt, dass sich die Frau zunächst hatte trösten lassen. Beim Überbringen von Todesnachrichten hatte sie von hysterischen Ausbrüchen über analytische Nachfragen bis hin zu einer gewissen Erleichterung schon eine breite Palette menschlicher Reaktionen erlebt. Sie schilderte knapp die Auffindesituation, ohne ins blutige Detail zu gehen.

Die Witwe fragte nicht nach, wollte aber wissen, wie es weitergehe. Selbst bei natürlichen Toden standen die Angehörigen oft ratlos vor dem Procedere bis hin zur Beisetzung. Dass nun gerade eine Obduktion durchgeführt wurde, erwähnte Marie nicht, sie beruhigte und empfahl Lieselotte Jansen, darüber nachzudenken, wo und wie sie ihren Mann bestatten wolle.

Lieselotte Jansen konnte ihre Hände nicht still halten, strich unentwegt über eine bestickte Stoffserviette. Sie schaute nicht auf, als sie erzählte, dass Judith die Serviette in der Grundschule bestickt habe.

»Judith versucht es immer allen recht zu machen. Sie ist so hilfsbereit und freundlich. Manchmal glaube ich, dass sie sich ausnutzen lässt.«

Lieselotte Jansen faltete die Serviette und legte sie auf die Fensterbank. »Rüdiger. Das hat sie von Rüdiger. Der kann auch nicht Nein sagen.«

Suchend schaute die Witwe im Wohnzimmer umher, griff dann nach einem zierlichen Kerzenleuchter und stellte ihn neben die Serviette ins Fenster. »Die zünde ich an, wenn es dunkel wird. Für Rüdiger. Und für Judith, damit sie bald nach Hause kommt.«

Es roch nach Frikadellen, auch hier im Wohnzimmer. Beide Frauen schauten auf den Tisch. Als der Kühlschrank brummend ansprang, stand Marie auf.

»Sicher habe ich noch Fragen an Sie. Ich melde mich dann. Und sollte sich Judith bei Ihnen melden, informieren Sie mich bitte umgehend. Wir halten auch Ausschau nach ihr.« Marie überreichte ihre Karte und ging.

Im EMO telefonierte sie mit einer Kollegin in Kiel und ließ sich die Adresse der Familie Brinker geben, die nur zwei Straßen weiter wohnte. Die Straße war kurz, und den Namen Brinker gab es nur einmal. Vielleicht wusste Emma ja, wo sich Judith aufhielt.

***

Polizeihauptmeister Gregor Sachse war mit Leib und Seele Polizist. Und seitdem er ab und zu mit Marie Geisler vom LKA zusammenarbeiten konnte, leuchteten seine Augen, sobald er eine Kieler Vorwahl auf seinem Telefon sah. Heute aber war er übler Laune. Seit beinahe drei Monaten versuchte er erfolglos, den Sprayern auf die Spur zu kommen, die bevorzugt Fassaden wohlhabender Schleswiger Bürger ruinierten, und der Kollege der KTU hatte keine guten Nachrichten. Der verwendete Lack stammte erneut vom Marktführer, und es gab die Spraydosen beinahe in jedem Baumarkt.

Er hatte sich reingehängt, sich umgehört. Mit und ohne Uniform. Auf der Lauer gelegen, V-Leute in der Jugendszene zu akquirieren versucht – er war ausgelacht worden. Die betroffenen Bürger setzten ihm zu, zwei Rentner aus dem Stadtrat, die Versicherungen, und er hatte außer einem Aktenhügel nichts zu bieten. Missmutig klickte er sich zum x-ten Mal durch die Fotos. Fassaden im ganzen Stadtgebiet waren beschmiert worden. Einzig in St. Jürgen gab es nur zwei Fälle.

Zuletzt hatten die Sprayer sich die Freiheit vorgenommen, das neue Stadtviertel auf dem ehemaligen Kasernengelände in Schleswig. Nur weiße Wände auf der Freiheit, dort wirkten ihre »Kunstwerke« besonders gut, und sie hatten darauf geachtet, dass man alle auch von der Straße aus sehen konnte. Sachse verstand nicht, dass man die Sprayer noch nie beobachtet hatte. Es gab keine einzige Täterbeschreibung.

Auffällig war, dass die Schmierfinken ihr Unwesen immer von Sonnabend auf Sonntag getrieben hatten. Jedenfalls waren die Anzeigen stets am Sonntag eingegangen. Die Täter hatten sich unsichtbar gemacht. Anfangs hatte Sachse vermutet, es seien Nachbarn, deren Anwesenheit nicht auffiel, aber nun lagen Luftlinie beinahe drei Kilometer zwischen dem östlichsten und dem westlichsten Tatort.

Sachse trank einen Schluck Kaffee aus dem Gewerkschaftsbecher und klickte ein Foto weiter. Allen Werken war gemein, dass sie Thors Hammer zeigten. Das war gewissermaßen das sogenannte »Tag«, die Signatur der Sprayer. Was Sachse nicht verstand: Alle Graffiti trugen dieselbe Handschrift. In ganz Schleswig waren augenscheinlich keine anderen Künstler zugange. »Thors Hammer«, murmelte er vor sich hin. Den trugen viele Norddeutsche um den Hals, ohne sich viel dabei zu denken.

Morgen würde er nach Haithabu fahren. Der Mitarbeiter, der sich am besten mit Runen auskannte, war krank gewesen, jetzt war er wieder im Dienst. Vielleicht hatte der eine Idee.

Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Verkehrsunfall im Kreisverkehr am Gallberg. Personenschaden. Die Feuerwehr war informiert. Die Kollegen aus Schleswig waren anderweitig gebunden.

Sachse beeilte sich, in den Streifenwagen zu kommen, und rauschte mit Blaulicht und Martinshorn an Schloss Gottorf vorbei. Sachse schwitzte. Seit zwei Jahren schwitzte er, sobald es stressig wurde. Sein Arzt hatte gegrinst und von männlichem Klimakterium gesprochen. Er hatte das gegoogelt, war auf Symptome gestoßen, die er nicht an sich beobachtete und sicher auch in Zukunft nicht an sich beobachten würde. Der Arzt war ein Idiot. Doof nur, dass er zu seinem engsten Freundeskreis gehörte.

Im Kreisverkehr ein Rettungswagen, zwei Pkw mit eingeschalteter Warnblinkanlage, ein E-Bike und ein älterer Herr, der auf den Treppenstufen eines Wohnhauses saß. Rasch wurde klar, dass der Verunfallte zu schnell in den Kreisverkehr eingefahren war und die Kontrolle über das »Biest«, wie er es nannte, verloren hatte. Außer ein paar Schürfwunden hatte der »Easy Rider« keine Verletzungen davongetragen, Schäden waren nur am E-Bike entstanden. Seiner Frau würde der Senior eine Räuberpistole auftischen. Sachse hätte es nicht anders gemacht.

Gerade als er wieder in den Streifenwagen steigen wollte, bremste das EMO neben ihm. Marie Geisler strahlte ihn an, stieg aus und umarmte ihn kurz. Sachse lächelte unsicher. Die Hauptkommissarin trug eine schmutzige Trainingshose und ein eng anliegendes Top. Sie wirkte jung. Ach, sie sah einfach unverschämt gut aus. Sie hätte beinahe seine Tochter sein können. Sachse wurde wieder warm.

»Moin, Kollege, lange nicht gesehen.«

»Jo.«

»Was macht der Rücken?«

Jetzt war er wieder da, wo er hingehörte. Bei den Alten und Fußlahmen. »Muss.«

»Und hier?« Marie schaute sich im Kreisverkehr um.

»Bagatelle.«

»Und sonst?«

Sachse stützte sich am Dach des Streifenwagens ab. »Ermittlungen in der Sackgasse.«

»Kann ich helfen?«

Sachse zeigte auf eine schräg gegenüberliegende Hauswand.

»Graffitis«, sagte Marie. »Hm. Die sind ja jetzt überall.«

»Das ist das Problem. Bin ich seit drei Monaten dran. Nix.«

»Das wird schon, aber wem sage ich das? Sie sind hier ja der alte Hase.«

Sachse richtete sich auf, atmete in die Brust. Alter Hase, hatte sie gesagt. Dabei fühlte er sich doch gar nicht so.

»Und was ist bei Ihnen auf der Liste, Sie Küken?«

»Ach, mir geht’s auch nicht besser. Ich knabbere an einer Einbruchsserie und komme nicht weiter.«

»Die Villen«, warf Sachse ein.

»Genau, die Villen. Wird ja auch in der Presse breitgetreten. Und seit eben habe ich auch noch eine Todesfallermittlung am Hals. Da könnte ich Sie und Ihre Ortskenntnisse vielleicht wieder mal gut gebrauchen. Der Graffiti-Fall braucht sicher ein bisschen, um zu reifen.«

»Sagen Sie das mal den Hausbesitzern und den Politikern. Darf ich fragen, wer zu Tode gekommen ist?«