Der Küstenkönig - Arnd Rüskamp - E-Book

Der Küstenkönig E-Book

Arnd Rüskamp

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Beschreibung

Fesselnde Krimispannung aus Deutschlands Norden – mit einer guten Prise schwarzen Humors. Seitdem Investor Manfred Meier-Masch eine neue Feiermeile auf Fehmarn errichtet hat, reisen Gäste aus ganz Europa an. Innerhalb kürzester Zeit macht die Insel Mallorca ernsthafte Konkurrenz – und das gefällt nicht jedem. Bei einem seiner Auftritte wird Meier-Masch vor aller Augen erschossen. Ex-Kommissarin Marie, die eigentlich gerade mit einem Catering- Auftrag beschäftigt ist, gibt ihrer Neugier nach und wagt einen Blick hinter die Kulissen der feuchtfröhlichen Partywelt.

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Seitenzahl: 393

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Arnd Rüskamp ist am südlichen Rand des Ruhrgebietes am Baldeneysee geboren. Er hat Publizistik studiert, war Reporter und Moderator, Soldat und Biker, Autor und Verleger. Heute verdient er sein Geld noch immer in den Medien, hat aber erkannt, dass sein berufliches Glück zwischen zwei Buchdeckeln liegt. Er lebt im Ruhrgebiet und in seiner Wahlheimat zwischen Schlei und Ostsee.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Pixabay/Luisa Kittner; Joe

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-242-0

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Für die Mütter und Väter des Grundgesetzes, dessen fünfundsiebzigsten Geburtstag ich sehr gern mitgefeiert habe (23. Mai 2024)

In der größten Misere ist das Leichte das Schwere.

Vorwort

Das Ernste sitzt auf seinem Platz. Es sitzt neben dem Lustigen. Gleich geben sie wieder das Konzert des Lebens.

Diese Geschichte ist eine Collage von Leben, wie sie stattfinden könnten. Wir begleiten Menschen zu Menschen, schauen sie an, gehen ein Stück mit ihnen, verlassen sie wieder, um ihnen später vielleicht in anderer Verfasstheit erneut zu begegnen. Auf dem Weg geschehen Dinge, die manchmal das Denken und Handeln verändern. Manchmal auch nicht. Und dann gibt es den Schlussakkord, der nicht selten weckt, was friedlich schlief.

In der nahen Zukunft – Prolog

Marie schloss die Wohnungstür. Sie hielt inne, schaute zurück und las neben dem schmuddeligen Klingelknopf: »Rike Huijsman und Karl Geisler«.

Zu Hause in Schleswig hing neben der Haustür ein getöpfertes Namensschild, auf dem »Hier wohnen Marie, Andreas und Karl« stand. Das war vertraut. Seit achtzehn Jahren. Nun stimmte das Bild nicht mehr, in Schleswig. Hier in Hamburg stimmte es. Fremd war es dennoch. Rike Huijsman und Karl Geisler.

Langsam ging Marie die Treppen hinunter. Karl war in der Küche stehen geblieben. Sie winkten doch immer, wenn jemand für längere Zeit das Haus, die Familie verließ. Auf dem vorletzten Absatz hörte Marie Musik von oben. Karls Musik. Als Kind war er nie durch besondere Musikalität in Erscheinung getreten. Seitdem er in der Klimabewegung aktiv war, machte er Musik, hatte Gitarre spielen gelernt und schrieb eigene Lieder im Stil von »Bella ciao«, das zur Hymne der italienischen Partisanen gegen den Faschismus geworden war.

»Marie«, hatte er gesagt, gegrinst und neu angesetzt, »Mama, Meinung braucht eine Stimme, und die Stimme braucht eine Melodie. Ich werde Musik studieren.«

»Musik«, hatte Marie geantwortet, und die Betonung des Wortes hatte Karl veranlasst, »und Mathematik« zu ergänzen. »Ich werde Lehrer. Ein guter, versteht sich. Und morgen stelle ich euch Rike vor.«

Das war kurz vor Weihnachten gewesen. Karl hatte die Zeit nach dem Abi mit Sondierungen verbracht, wie er es nannte. Er war mit der Bahn und dem Fahrrad via Kopenhagen, Stockholm, Helsinki, Berlin, Warschau, Budapest, Wien, Rom und Paris nach Leeuwarden in den Niederlanden gereist. Dort hatte er Rike kennengelernt. Seitdem war nicht alles anders geworden, aber vieles. Marie hatte geweint. Vor Schmerz und vor lauter Glück. Zu sehen, wie Rike und Karl einander anschauten, wie sie das Leben bei den Hörnern fassten, machte sie selig.

Heiligabend war Rike in den Niederlanden und Karl in Schleswig gewesen. Am ersten Weihnachtsfeiertag war er zu Rike und ihrer Familie gefahren, am zweiten Feiertag waren sie am Nachmittag an die Schlei gekommen. Rike hatte sie aus ihren Nordseeaugen angeguckt und mitten auf den Mund geküsst. »Ich bin jetzt in eurem Leben«, hatte sie mit diesem liebenswerten holländischen Akzent gesagt und Marie einen Tetrapak Vla in die Hand gedrückt. »Ich kann uns gleich Saté machen.«

»Karl isst kein Fleisch mehr.«

»Welk geluk. Bleibt mehr für uns.« Rike hatte Marie, Andreas, dessen Eltern Rita und Uwe und sogar Maries Vater, der wegen des Fußballs gewisse Vorbehalte gegenüber Holländern hatte, im Sturm erobert. Sie hatte in Hamburg einen Studienplatz für Medizin ergattert und klare Vorstellungen vom Berufsleben. Sie wollte später Notärztin sein. In der Luft oder auf dem Meer.

Karl nannte Rike »de gekke«, was wohl so viel bedeutete wie »die Irre«. Mila und Huub, die Eltern der Irren, hatten sich für das übernächste Wochenende angekündigt. Sie würden mit ihrem Wohnwagen zu Sanne auf den Campingplatz nach Missunde kommen, um Karls Familie mit »Bausch und Bogen« kennenzulernen, wie Mila gesagt hatte. Mila hatte ein paar Jahre Deutsch in der Schule gehabt und warf mit deutschen Redewendungen nur so um sich. Nicht immer treffend, was Marie bestens amüsierte und Rike sichtlich nervte.

Marie hatte sich in ihrem Betrieb eine Woche freigenommen für die Schwiegereltern aus Friesland und hatte richtige Lust auf die Familienzusammenführung. Mila hatte sich schon nach dem ersten Treffen ein bisschen wie eine Freundin angefühlt. Davor stand das Bulli-Festival auf dem Cateringprogramm. Ein paar Tage Fehmarn mit Bulli und Bier gehörten schon seit einigen Jahren zu den gesetzten Terminen. Inzwischen war der Cateringbetrieb von Frauke und Marie so gewachsen, dass sie auch solche Großevents bedienen konnten. Marie war gespannt, ob sie die Stimmung so würde genießen können, wenn sie nun aus beruflichen Gründen am Start wäre.

Vor dem Haus wurde Marie vom Strom der Menschen verschluckt. Die Große Bergstraße war in Hamburg, was in Schleswig der Stadtweg war. Marie kicherte und stolperte. So sehr hinkte der Vergleich. Sie schwamm mit dem Strom. Der Friday-Rush, wie sie das Phänomen der Massenbewegung nannte. Wäre sie besser in Mathematik, sie würde ein Konzept zur Entzerrung der Ströme entwickeln, die sich vorhersehbar zu bestimmten Uhrzeiten, an bestimmten Wochentagen und selbstverständlich an Brückentagen und rund um die Schulferien Bahn brachen. War sie aber nicht, also gut in Mathematik.

Sie trieb vorbei an jenen in Blau-Gelb, deren Frage sie bisher unbeantwortet gelassen hatte. Dass sich wohnen und leben nicht ausschließen müssen, war den Strategen des schwedischen Möbelhauses wohl entgangen. Minuten später erreichte sie das zugige Gebäude eines anderen Unternehmens, deren Werber behauptet hatten, es komme. Wann, hatten sie nicht gesagt. Marie stieg in den Regionalexpress nach Kiel. Kaum hatte sie sich gesetzt und die Zeitung aufgeschlagen, ruckte der RE70 an, und ein Raunen ging durchs Abteil.

»Sorry, kann ich mal?« Ein Mann Mitte dreißig. Durchtrainiert. Augenscheinlich hatte er den Zug nach einem Sprint erwischt. Schweiß tropfte ihm von Stirn und Kinn. Schweiß, der dunkle Flecken auf Maries weißen Sneakern hinterließ. »Das hier ist der Platz für Fahrräder.«

Darum also hatte sie gleich einen Sitzplatz gefunden.

Der Mann schob das Rennrad zwischen Marie, die in einer fließenden Bewegung die Zeitung zusammengelegt, den Rucksack zu sich herangezogen hatte und aufgestanden war, und den Klappsitzen an einen Platz, den es eigentlich nicht gab. Von vorn kommend quetschte die Mutter dreier Kinder zwischen zwei und fünf Jahren eine Kombination aus Kinderwagen und Expeditionsfahrzeug zwischen den Sitzreihen hindurch. Bonbons fielen zu Boden. Das kleine Mädchen im Multifunktionsvehikel beklagte diesen Umstand lautstark. Die ältere Dame mit einer Art Hund auf dem Schoß schaute missbilligend, ein Teenager bückte sich, hob die Bonbons auf, reichte sie dem Mädchen und erntete einen Blick der Mutter, der voller Dankbarkeit war und auch Marie das Herz weitete. Inzwischen standen die Menschen ineinander. Sicher war es nicht mehr weit bis Elmshorn.

Marie kramte die drahtlosen Kopfhörer aus der linken Hosentasche. Karl hatte deren Verwendung augenrollend erklärt. Erster Titel der Playlist, die Karl für sie erstellt und »Alte-Leute-Mucke« getauft hatte, war »Passenger« von Iggy Pop. Fassaden, Büsche, Bäume, Brücken. Sie wischten in Maries Blickfeld hinein, wie früher die Dias von einem Projektor auf die alte Leinwand ihres Opas geworfen worden waren, und noch bevor der Moment des Erkennens hätte kommen können, verschwanden sie nach rechts Richtung Toilette.

Marie wippte mit Kopf und Oberkörper. Szenen aus Clubs in Essen, Hamburg und Kiel flogen an ihr vorbei, und dann kam ihr der schwitzende Mann noch näher. Seine Augen strahlten, als er Iggy Pops Refrain mitsang: »La, lala, lalala, la …« Party im Regionalexpress, wer hätte gedacht, dass so was geht.

Der nächste Titel war »Anything Goes« von AC/DC. Marie nahm sich vor, das Auto öfter mal stehen zu lassen. Der Blick des Mannes. Wie guckte der denn? In der Luft, ein Hauch von gestern. Der nächste Titel: »Gonna Make You Sweat«. Als ob das noch nötig gewesen wäre. Der Mann guckte, wie Andreas sie angeschaut hatte. Damals im K7, »der« Disco in Eckernförde. Gestern roch nach Holz und Schweiß.

Jetzt, da Karl in Hamburg wohnte, könnte sie sich eine Monatskarte kaufen oder ein Deutschlandticket, das es endlich wieder gab, nachdem es eine ganze Zeit aufs politische Abstellgleis geschoben worden war. Regionalexpressfahren machte, dass sie sich lebendig fühlte.

Es vibrierte. Das Handy. Marie ignorierte die Ablenkung. Der Zug bremste, der Anrufer gab auf, das Vibrieren hielt an. Elmshorn. Der Mann nickte. Ein verschwörerisches Lächeln. Mit der Rechten griff er nach dem Lenker seines Fahrrades und dirigierte es sicher durch den Parcours der Leiber. Die Türen schlossen sich. Noch einmal traf sein Blick Marie dort, wo es summte, dann sang Adriano Celentano. Marie fühlte sich von Karl veralbert und lauschte dem Refrain von »Azzurro«. Das Lied gefiel ihr. Italienische Momente gab es auch zwischen Wrist und Brokstedt.

Es war Andreas, der versucht hatte, sie zu erreichen. Sie schrieb ihm eine Textnachricht: »Bin im Zug. Lernte eben einen Herzensbrecher kennen. Niemand kann mit ihm konkurrieren. Außer dir. Ich melde mich, sobald ich bei Frauke bin. Kuss. Nein, mehr als das.«

Nenn mich Sniper

»Das ist ein McMillan TAC-50, Kaliber zwölf Komma sieben mal neunundneunzig Millimeter. Standardmunition der NATO. Ich gebe dir fünf Patronen dazu. Auf tausend Meter schießt du deinem Target ein fettes Ohrloch. Bei sehr guten Bedingungen reicht das gute Stück aber auch über drei Kilometer weit. Es gibt eine bestätigte Tötung aus dem Jahr 2017. Da hat ein kanadischer Soldat einem IS-Kämpfer den Stecker aus dreitausendvierhundertfünfzig Metern gezogen. Über zehn Sekunden war der Gruß aus der Büchse unterwegs.«

Er nahm das Gewehr aus dem Koffer. »Du brauchst natürlich auch ein gutes Zielfernrohr. Ich empfehle immer ein Sechzehnfach-Leupold-Rohr. Kommt aus den Staaten, aber ist irgendwie deutsche Wertarbeit. Der Unternehmensgründer war Deutscher.« Der Mann grinste. »Mit diesem Gewehr kannst du deinem originellen Decknamen leicht gerecht werden – Sniper.«

Sniper ignorierte den abschätzigen Unterton und griff nach der Waffe. »Ich nehme zwanzig Patronen. Muss das Gewehr ja einschießen. Gehört das Zweibein dazu?«

Er nickte. »Okay, Sniper. War angenehm, mit dir Geschäfte zu machen. Solltest du mal wieder was brauchen: Du weißt, wie du mich erreichen kannst.« Er stand auf.

Die beiden Transporter standen direkt nebeneinander. Der Mann öffnete die Schiebetür, schloss sie, und nur wenige Sekunden später sprang ein Motor an. Ein Diesel. Die gab es ja kaum noch. Es blieb ein penetranter Geruch zurück, der am ehesten eine Kombination aus süßlichem Rasierwasser und kaltem Zigarettenrauch war. Sniper schob den Koffer in den doppelten Himmel seines Wagens, stieg aus und atmete durch. Nun würde das Problem gelöst werden können.

Noch ein paar Schritte durch den Park des Friedens.

Görlitz hatte Sniper schon vor der Wende kennengelernt, weil auf polnischer Seite eine große Spedition mit ihnen kooperierte. Das waren wilde Zeiten damals. Alles schien möglich, und doch war das Versprechen eine Lüge geblieben. Die Unfreiheit des alten Systems hatten sie gegen die Unfreiheit des neuen Systems eingetauscht. Anders, aber unterm Strich blieb Unfreiheit. Freiheit gab es nur in der Kunst. Falsch. Freiheit gab es auch in der Natur. Jedenfalls solange sich der Mensch raushielt. Menschen machten Probleme. Dagegen musste man was tun. Jeder an seinem Platz.

Die frische Luft tat gut. Langsam wich die Anspannung. Mit einem Waffenhändler hatte Sniper bisher noch nie zu tun gehabt. Nach ein paar Schritten nur tauchte das Denkmal Jacob Böhmes auf. Viele Schriften des ersten deutschen Philosophen, wie Hegel ihn genannt hatte, waren für Sniper zu einem Halt in einem haltlosen Leben geworden. Die Natur verstand der Mann einfacher Herkunft als Lehrmeister, formulierte bisweilen wenig prägnant und fabulierte mystisch. Sniper hatte das immer gefallen, und er wusste, dass Böhme Novalis beeinflusst hatte.

Böhme war für Sniper, ebenfalls ohne jeden akademischen Hintergrund, zu einem Vorbild geworden. Er war ein Schuhmacher gewesen und hatte bewiesen, dass man sich auch als Mensch ohne höhere Bildung Gedanken über die großen Dinge machen konnte. Was Mystik war und mit der eigenen Existenz anstellte, hatte Sniper über die Jahre hinweg in kleinen Dosen verstanden. Es war das Licht, das über dem Horizont erschienen war, das das Göttliche verkörperte. Es war offenbar, dass niemand die große Stille stören durfte. Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Snipers Gesicht. Die große Stille. Bald würde sie wieder zu ihrem Recht kommen.

Auf der Bank zur Seite des Denkmals ließ sich eine Taube nieder. Sie drehte den Kopf, schaute Sniper an, und Gewissheit wuchs. Dass das Präzisionsgewehr hier am Park des Friedens den Besitzer gewechselt hatte, adelte die Mission. Sniper erhob sich, schaute der Taube hinterher, die aufgeflogen war, dachte an Picasso, dachte an Friedenstauben und verbeugte sich vor Jacob Böhmes Denkmal. Die rechte Hand auf der Brust, hält die linke ein Buch beeindruckenden Umfangs, den Blick hat der Philosoph ins Unbestimmte gerichtet.

Moralisch gestärkt schritt Sniper über den feinen Kies hinüber zum Transporter. Fünfhundertneunzig Kilometer genau trennten Sniper vom Ansitz. Zuvor jedoch brauchte es noch ein bisschen Übung.

Hilfe!

Mit pfeifenden Bremsen erreichte der Zug Maries Ziel. Karls Playlist bot mit »Child in Time« ihre Lieblingsnummer von Deep Purple. Sie überquerte die Gleise, passierte das Restaurant L.O.K.S., in dem sie ab und zu sehr gutes Wok-Gemüse aß, und freute sich auf den Abend mit Andreas.

Bis zur Villa, die Frauke mit Fröbe bewohnte, waren es nur ein paar Schritte. Das FRIMO 2, einen der elektrischen Transporter der Geschmacksverstärker:innen, hatte sie in der Auffahrt abgestellt. FRIMO war die Abkürzung für Frischemobil und erinnerte sie immer an ihr gutes altes Ermittlungsmobil, das sie vor einer halben Ewigkeit auf EMO getauft hatte.

Dass Frauke sich ausgerechnet in einen Polizisten verknallt hatte! Mit Fröbe tauschte Marie gern wissende Blicke, wenn es um Mord und Totschlag ging. Frauke fand das wohl eher so mittel, glaubte sie.

Sie klingelte. Die Tür machte keinen Mucks. Marie umrundete den dreigeschossigen Prachtbau. Frauke lag nackt auf der Veranda. »Bist du scharf auf Hautkrebs?«, fragte Marie.

»Schnauze, ich bin von uns beiden die Ärztin, und ich liege hier erst seit fünf Minuten.«

Wenige Menschen durften so mit Marie sprechen. »Wo ist Fröbe?«

»Spätdienst. Polizisten arbeiten auch, wenn es dunkel ist. Schon vergessen?«

Marie legte ihre Umhängetasche neben eine der Liegen und wandte sich dem Haus zu. »Auch Durst?«

»Immer.«

In der Küche öffnete Marie den Kühlschrank in der Hoffnung auf eine Karaffe Kaltgetränk. In der Regel rührte Frauke aus Minzblättern, Ingwer, Honig und Wasser mehr oder weniger gesunde Flüssigkeiten zusammen. Mittelgroß die Überraschung, dass sich außer Bier nichts Trinkbares fand.

Es war nach siebzehn Uhr, und Marie wollte sich mit Frauke ein Astra Arschkalt genehmigen. In Wärmezeiten wie diesen hatten auch Wörter, die Abkühlung suggerierten, Konjunktur. Die Deutsche Gesellschaft für Sprache hatte herausgefunden, dass die durchschnittliche Temperaturzunahme im betrachteten Fünfjahreszeitraum mit der schriftsprachlichen Verwendung solcher Wörter korrelierte, die etymologisch mit Begriffen wie kalt, Eis, Kühle, Schnee und so fort assoziiert wurden. Bisweilen waren Gedanken wie drei Korn auf ex.

Vom Tisch nahm Marie noch Sonnenschutzcreme Faktor fünfzig mit raus, die immerhin achtundneunzig Prozent der UVB-Strahlung blockierte. Als sie einmal eine Creme mit Lichtschutzfaktor hundert nach Hause mitgebracht hatte, war sie von Andreas als Werbeopfer verspottet worden. Er hatte ihr erklärt, dass es unmöglich sei, hundert Prozent der gefährlichen Strahlung abzuhalten.

Frauke bewies Vernunft, zog sich ein weißes T-Shirt über und wechselte in den Schatten der alten Linde. »Ich bin genervt, weil Fröbe genervt ist. Nein, genervt ist falsch, er ist aufgeregt, unruhig, fahrig, zornig.«

Neben Frauke war noch ein Platz auf der schmalen Bank frei. So saßen sie nebeneinander und sagten eine Weile nichts, schauten einem Eichhörnchen zu, wie es nach Nüssen grub. »Und warum ist er so in Wallung, dein Fröbe?«

Ein kleiner Rülpser entwich Fraukes leicht geöffnetem Mund.

»Niemand rülpst so damenhaft wie du«, versuchte Marie ein Kompliment.

»Er ist in Wallung, weil er den Betreiber dieses Eros-Centers kannte. Mehr weiß ich nicht. Er schweigt.«

»Guter Bulle.«

»Apropos. Wir müssen noch entscheiden, wer die Burgerpattys für Fehmarn macht. Wir können da nicht nur Veggie anbieten.«

Frauke zauberte ihr Tablet aus einer Tasche hervor, die über der Armlehne hing. Sie scrollte durch die Liste der Fleischlieferanten, rief aktuelle Preise auf, stöhnte, trank noch einen Schluck Bier. Marie merkte, wie sie wegdöste. Die Schatten von Blättern und Ästen auf dem Rasen, der Gesang eines Vogels, den sie als den einer Amsel identifizierte, die Aufregung des Besuches bei Rike und Karl, die Wärme.

»Marie, du schnarchst. Ich glaube es nicht. Hier, Benno, der ist unser Mann. Auf Fehmarn. Kurze Wege. Der liefert direkt, wir sparen uns den Umweg übers Lager. Büschen teuer, aber wir haben’s ja. Wehe, du schläfst noch mal ein. Nehmen wir den?«

»Unbedingt. Auf dem Ferienhof seiner Eltern haben Andreas, Karl und ich mal übernachtet, als der Bulli von Rita und Uwe schlappgemacht hat. Das habe ich bis heute nicht erzählt. Die sind immer noch so was von pingelig mit ihrem Augenstern. Noch ein Bier, die Dame?«

Frauke reichte Marie die leere Flasche und schrieb Benno eine Nachricht. Als Marie mit Bier und einem Glas Wasser zurückkam, war das Thema erledigt. Fraukes Blick auf das Wasser beantwortete Marie mit einem Fingerzeig in Richtung FRIMO 2.

So saßen sie im Garten der Villa am Einfelder See und fühlten, dass sie es gut getroffen hatten. Mitarbeiter meldeten sich online und bestätigten den Einsatz beim Bulli-Festival, der Check notwendiger Genehmigungen fiel positiv aus.

»Dass sich unser Laden so entwickeln würde, hätte ich damals nicht gedacht. Wir haben echt Schwein gehabt«, sprach Frauke aus, was Marie empfand.

»Karl sagt übrigens seit Kurzem: ›Da haben wir ja wieder mal Tofu gehabt‹.«

»Von wem hat der Junge nur diesen feinen Humor?«, frotzelte Frauke.

Marie schlug nach ihr, verfehlte sie aber knapp.

»Zurück in den Polizeidienst kannst du mit deinen Nahkampf-Skills aber nicht, alte Frau.«

»Lass mich. Ich muss arbeiten.« Marie ging ans Telefon. »Frau Kriminalrätin, was verschafft mir die Ehre?«

Am anderen Ende seufzte Astrid, Maries alte Kollegin beim LKA in Kiel. »Ich schaff das morgen früh nicht. Hier ist gut zu tun, und der Nachfolger an deinem alten Schreibtisch ist auf Fortbildung beim BKA in Wiesbaden.«

»Bernd beim BKA. Soso. Da war ich auch mal. Die Geschichte mit Mayr. Das waren wilde Zeiten.«

»Hast du schon mal erzählt, Marie. Vielleicht auch vier Mal. Können wir uns am Nachmittag treffen?«

»Können wir. Ich habe frei bis zum Bulli-Festival.«

»Frei. Davon kann ich nur träumen. Egal. Fünfzehn Uhr bei mir im Büro?«

»Jo.« Marie legte auf. »Überall fehlen Leute. Seitdem die Boomer in Rente gehen, ist es noch schlimmer geworden.«

»Was du nicht sagst. Ich verstehe nur nicht, dass die Verbrecher so gut nachwachsen. In deren Branche müsste es doch auch Fachkräftemangel geben.«

»Gibt es auch. Aber eben nur bei bestimmten, körperbetonten Gewerken wie Einbruch. Zugenommen hat der gesamte Cyberbereich. Apropos Zukunft. Ich bin schwer gespannt, wie genau diese Katenschinkenstraße funktioniert. So witzig der Name auch ist, den Ballermann mal eben so nach Fehmarn zu exportieren ist ja doch ein ziemlich gewagtes Unterfangen.«

»Finde ich nicht«, war Frauke sich sicher. »Das Konzept funktioniert seit Jahrzehnten. Und wenn es am Mittelmeer funktioniert, dann vermutlich auch an der Ostsee. Ist halt übel heiß auf Malle. Ich hoffe nur, dass die uns nicht zu viele Besucher beim Bulli-Festival abspenstig machen.«

Vom See kamen laute Hilferufe. Marie und Frauke zuckten gleichzeitig, drehten die Köpfe in Richtung Wasser, sprangen auf und liefen los. Das Gartentor war abgeschlossen, Marie fluchte. Die Hecke war dicht und dornig. Wieder rief ein Mensch um Hilfe. Marie tastete ihre Taschen ab. Früher hatte sie meist ein Pickingbesteck bei sich gehabt.

»Hier rum!« Frauke flankte über den seitlichen Begrenzungszaun in den Garten der Nachbarn, Marie folgte. Sie umrundeten einen Fischteich, erreichten das Törchen, das offen stand. Vor ihnen lief der Nachbar, ein Mann jenseits der achtzig. Marie und Frauke überholten ihn, Frauke hob grüßend die Hand, und dann sahen sie über den schmalen Strand hinweg, dass sich zwischen den beiden Landzungen, gute zweihundertfünfzig Meter vom Ufer entfernt, ein Mädchen an ein aufblasbares Einhorn klammerte. Immer wieder versuchte das Kind, ins Innere des Spielzeugs zu gelangen. Beinahe gleichzeitig sprangen Marie und Frauke ins Wasser. Beide waren gute Schwimmerinnen.

Nur wenig später verstummten die Hilferufe. Marie reckte den Kopf so hoch aus dem Wasser, wie sie konnte, sah aber nur die Spitze des Einhorns. Sie wusste, wie schnell Menschen ertranken. Nur drei bis fünf Minuten wäre Zeit, dann stürben die ersten Gehirnzellen. Beim letzten Training im Polizeisportverein hatte Marie für hundert Meter eine Minute vierundzwanzig gebraucht. Gut, dass Frauke da war, sie würde das Kind professionell reanimieren können, falls es gelänge, die Kleine zu finden.

Das Wasser war trüb. Sie wusste, dass der See an manchen Stellen über acht Meter tief war. Wo das war, wusste sie nicht. Das Wasser war warm. Gar nicht gut. Marie hatte mal von ihrem Schwiegervater Uwe gehört, dass der Sauerstoffbedarf mit jedem Grad weniger um sechs Prozent sank. Uwe wusste das. Er verbrachte jede freie Minute bei der DGzRS in Maasholm.

»Hier rüber«, keuchte Frauke, sie hatten die Richtung verloren, waren zu weit nach rechts geschwommen.

Sie würden es nicht rechtzeitig schaffen, dachte Marie, als sie das Brummen eines Außenbordmotors hörte. Die Wellen des Bootes erreichten sie, Marie schluckte Wasser. Als sie wenig später die Stelle erreichten, an der das Angelboot und das aufblasbare Einhorn lagen, hatte Herr Schnabel, Fraukes Nachbar, das Mädchen mit einem Bootshaken am Badeanzug erwischt und an die Wasseroberfläche gezogen. Marie erreichte das Boot vor Frauke, stabilisierte den Körper des Mädchens, dessen Kopf auf der Brust lag.

»Ins Boot?«, keuchte Marie.

Frauke nickte.

Herr Schnabel klemmte den Bootshaken unter einer Klampe fest. Marie griff mit einer Hand nach dem Dollbord, Herr Schnabel wechselte auf die Backbordseite, sodass das Boot nicht kentern konnte. Jetzt kam es auf das richtige Timing an. Marie, Frauke und Herr Schnabel tauschten wissende Blicke. So als hätten sie es geübt, reichte Herr Schnabel Frauke eine Hand, Marie schob, und Frauke rollte sich über die Bordwand. Nur Sekunden später hatten Frauke und Marie das Mädchen ins Boot bugsiert. Was dort auf dem Boden passierte, konnte Marie nicht mehr sehen.

»Puls, keine Atmung. Wir fahren bitte an den Strand. Marie, kommst du klar?«

Marie bestätigte und stieß sich sanft vom verblassten roten Anstrich des Bootes ab, Herr Schnabel wendete über Steuerbord, sodass Marie nicht durch den Propeller gefährdet wurde. Das Boot entfernte sich, Marie legte sich auf den Rücken und versuchte, ruhig zu atmen. Links neben ihr tauchte ein Surfbrett auf, darauf eine Frau mit Lederhaut und Goldkettchen an den Fesseln. Sie reichte Marie einen Tampen. »Festhalten. Ich hab Strom.«

So unsportlich die ältere Dame wirkte, so souverän tauchte sie das Paddel ins Wasser, und zügiger als erwartet strebte das Gespann dem Strand entgegen. Die Schläge wirkten außerordentlich kraftvoll. »E-Finne«, erklärte die Frau, und Marie wusste nicht, wovon sie sprach.

Blaulicht zuckte über das Wasser. Ein Notarztwagen erreichte Frauke und das Mädchen. Marie bedankte sich bei der hilfsbereiten Dame, als sie Grund spürte, kam auf die Beine und ging zügig zur kleinen Gruppe, die sich um das Mädchen gebildet hatte.

»Sicherheitshalber sollte sie dennoch ins Krankenhaus«, hörte sie Frauke sagen. Der Notarzt nickte. »Gut, dass Sie vor Ort waren. Das hätte auch schiefgehen können. Wie kann man nur?«

Frauke legte ihre Hand beruhigend auf die Schulter der Mutter, deren Schuldbewusstsein offensichtlich war. »In einer Viertelstunde ist sie im Friedrich-Ebert. Alles wird gut.«

Jetzt kam auch Herr Schnabel dazu, der das Boot festgemacht hatte.

»Danke«, wandte sich Marie an ihn. »Sie kennen sich aus.«

»Jo«, antwortete Fraukes Nachbar.

Marie schaute fragend.

»Marine. Kann ich noch was tun?«

Keine Reaktion von Frauke, der Notarzt brummte: »Nö.«

Herr Schnabel drehte sich um und ging. Marie mochte sie, diese wortkargen Anpacker.

»Du pustest ganz schön«, stellte Frauke fest. »So wird das nichts mit Stammelf und so. Soll ich dir mal einen Plan machen? Kardiotraining.«

Marie setzte sich auf den Rasen, dann legte sie sich auf den Rücken, betrachtete eine Wolke, die aussah wie der Schnurrbart von Dalí. Sie schloss die Augen und sagte: »Ein Eis wäre jetzt nicht schlecht. Aber ihr habt ja nix, hier in der Provinz.«

Sie spürte, wie Frauke ihre linke Hand umschloss. Sie hatte sich neben sie ins Gras gelegt. »Ich könnte dir eine Portion Grünkohl warm machen.«

Sie lachten und dachten beide an das Mädchen. Aber das wussten sie nicht, weil Gedankenlesen nur funktioniert, wenn die Sterne sehr günstig stehen. Strandtaggeräusche, als wäre nichts geschehen, Minigolfschläger trafen auf Minigolfbälle. Jenseits der Einfelder Schanze fuhr der aus Kiel kommende RE70 ein.

Frauke richtete sich auf. »Wusstest du eigentlich, dass vier von fünf Menschen, die ertrinken, Männer sind? Was immer das heißt.«

Marie schaute Frauke an, die sich um einen unschuldig ironischen Gesichtsausdruck bemühte. »So hat Rike heute auch geguckt. Ist das so ein Medizinerdings? Eine Mischung aus Überheblichkeit, Unwissenheit und als professionelle Distanz getarntem Desinteresse?«

Frauke lachte künstlich. »Das wüsstet ihr wohl gern, ihr Kassenpatienten.«

»Klassenkampf, Klassenkampf …« Marie ballte die Fäuste. Johlend rollte sie sich auf Frauke und kitzelte, was die Kräfte hergaben. Frauke schlug mit der flachen Hand auf den Boden, Marie rollte zurück. »Ob wir das in zehn Jahren auch noch machen?«

»An mir soll’s nicht liegen. Ich bin sehr froh, dass sich unsere Wege gekreuzt haben, Marie.« Frauke klang beinahe gerührt. »Dein Liebster und ich sehen immer wieder, wie fragil unser Leben ist. Ja, klingt nach Phrase. Aber es ist verdammt wahr. Lass uns jeden Tag genießen.«

Dass Andreas und Frauke einen mobilen Palliativdienst aufgebaut hatten, war ein Segen für Menschen, die ihre letzten Wochen im gewohnten Zuhause verbringen wollten. Menschen dann nahe zu sein, wenn Situationen ultimativ waren, gehörte zu den Errungenschaften humanistischen Denkens. Marie erinnerte sich daran, wie sie einem Geiselnehmer die Hand gehalten hatte, der von Schüssen getroffen vor ihren Augen verblutete. Er war ein Verbrecher, er war verantwortlich für das Leid anderer gewesen, und doch war er in diesem letzten Moment ein Mensch, der sich nach nichts mehr sehnte als nach Maries Zuwendung.

»Was ist los, Frau Geisler? Du guckst so traurig.«

»Eher nachdenklich. Dankbar und demütig. Wer weiß, wie lange mein Vater noch lebt?« Sie rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Schluss jetzt. Wird Zeit, dass ich mal wieder eine anständige Blutgrätsche ansetze. Weinerliches Getue hier. Übernächstes Wochenende haben wir ein Auswärtsspiel in Meldorf. Das wird schwer.«

Frauke richtete sich auf. »Vorher haben wir noch ein Auswärtsspiel auf Fehmarn. So viele hungrige Mäuler hatten wir noch nie zu stopfen, und ich frage mich, ob die uns mit unserem regionalen Biokram nicht vom Hof jagen, die Bulli-Jünger.«

»Haben wir alles lang und breit besprochen. Nur weil wir uns ins Höschen machen, bedeutet das nicht, dass wir mit unserem Konzept falschliegen. Wer Junkfood will, fährt dann einfach rauf zur Katenschinkenstraße und gut.«

»So einfach ist das auch nicht. Die haben auch umgestellt. Die Dänen kriegen da zwar ihre Labberwurst im Labberbrot. Ja, ich weiß, dass dir dieses Zeug schmeckt. Aber die Schweine hatten auf dem Weg hin zur Transformation in einen heißen Hund genügend Auslauf, und deren Futter ist inzwischen auch okay. Es ist ja nicht so, als habe sich gar nichts zum Besseren verändert. Das Prinzip ist Substitution. Der Hunger auf irgendeine Kombination aus Fett und Zucker oder Fett und Salz bleibt. Aber das lässt sich ja intelligent ersetzen. Der Wunsch nach schnellem Fahren bleibt, aber das geht eben auch, wenn du mit dem Fahrrad eine Skisprungschanze runterfährst.«

»Es gibt Leute, die mit dem Fahrrad eine Skisprung–«

»Nur so ein Beispiel. Aber es gibt alles. Das muss ich dir doch nicht sagen. Ein Vorzug des Polizistinnenlebens ist es doch, dass man oft dahin kommt, wo es sehr hell oder sehr dunkel wird.«

Fraukes Handy klingelte. Sie meldete sich. Sie wirkte überrascht. Sie lächelte, wiegte den Kopf, dann sagte sie: »Ich bin in dreißig Minuten fertig.«

Sie knuffte Marie in die Seite. »Mein alter Oberarzt. Er war in Dänemark und ist auf dem Rückweg. Er hat gefragt, ob ich Bock auf ein Wochenende in Köln hätte. Marie, ich muss los. Sollte was Wichtiges sein, ruf mich bloß nicht an.« Sie grinste, wuschelte Marie durch die Haare. Das hatte sie sich von Karl abgeguckt. Dann verschwand sie über die Terrasse im Haus.

»Weg isse«, konstatierte Marie und raffte sich auf. Bis sie in Eckernförde war, würde es erfahrungsgemäß noch eine Dreiviertelstunde dauern. Sie würde Andreas in dessen Praxis abholen, weil der R4 schon wieder kaputt war. Irgendwas mit der Zylinderkopfdichtung. Andreas war besorgt, und Marie wusste, dass sie seine Besorgnis ernst nehmen musste. Er hing an dem alten Franzosen.

Freitagabend also. Dass Karl nun nicht mehr regelmäßig zu Hause schliefe – komisch war das. Karls Zuhause war jetzt in Altona.

Marie stieg ins Frischemobil. Über die Jahre hatte sie sich an das Fahren mit Elektroantrieb gewöhnt. In Schleswig hatten sie im Carport eine Wallbox installiert, die sich aus einem Speicher speiste, der an einer PV-Anlage auf dem Dach hing. Das war schon praktisch. Aber immer noch fehlten Ladepunkte in dicht besiedelten Quartieren.

Als sie losfuhr, begrüßte sie wackelnd der »Bedenkenträger«, ein Kastanienmännchen, das sie vor langer Zeit auf das Armaturenbrett geklebt hatten. Es hatte zwischenzeitlich die Arme verloren, war aber immer wieder von Marie geflickt worden. Es war schnell zu einer Art kritischem Alter Ego geworden, das ihre Gefühle und Gedanken kannte, aber meist schonungslos dekonstruierte.

Peter, Paul and Mary are planning a bank robbery

Am Lornsenplatz in Eckernförde – Marie hatte es geschafft, über eine halbe Stunde an nichts zu denken – fiel ihr ein, dass sie kein Bargeld mehr hatte. Zwar zahlte kaum noch jemand mit echtem Geld, wie es ihr Vater meist nannte, aber Sonntag wollten sie rüber nach Pellworm, und der alte Besitzer im Imbiss Hooger Fähre akzeptierte kein Plastikgeld und keine Handymoneten. So stand es seit Jahr und Tag auf einer Tafel neben dem Eingang zum ochsenblutrot gemalerten Holzhäuschen, das nicht nur über eine windgeschützte Terrasse, sondern auch über eine Eins-a-Lage am Fuß der Treppe rauf auf die Deichkrone verfügte. Vom Backfisch und der köstlichen Remoulade mal ganz abgesehen.

Marie bog hinter der Stadthalle rechts in den Jungfernstieg ein, parkte direkt vor dem Museum Alte Fischräucherei in der Gudewerdtstraße und betrat kurz darauf die Räume der Eckernförder Bank in der Fußgängerzone. Kurz vor Feierabend. Sie hatte es gerade noch so geschafft. Zwar gäbe es das Geld am Automaten, aber sie kannte die stellvertretende Filialleiterin und freute sich auf einen kurzen Schnack. In der Schalterhalle herrschte die erfrischende Kühle, die es an manchen Tagen noch draußen auf dem Wasser gab, wenn sie mit dem Folkeboot ein paar Schläge segelte.

Sie fragte nach Sünje, erfuhr, dass die »hinten« sei. Marie trat also vor einen der Geldautomaten, die mit ihren Knöpfen an alte Zeiten erinnerten. Die Knöpfe waren inzwischen meist von Touchscreens abgelöst worden. Die Touchscreens hatten Kameras zur Seite gestellt bekommen, die Gesten interpretieren konnten und die Netzhaut des Users scannten, Mikrofone erkannten das Individuelle einer Stimme, und hier an diesen Terminals gab es noch gute alte Knöpfe. Marie gefiel das.

Altmodisch mutete auch der Typ an, der in dem Moment die Bank betrat, als Marie hundertdreiundzwanzig als gewünschten Auszahlungsbetrag eintippte. Der etwa eins fünfundachtzig große Mann hatte eine durchschnittliche Figur, war durchschnittlich mit einer grauen Jogginghose und einem schwarzen, langärmeligen T-Shirt bekleidet. Die Sneaker waren solche eines Sportartikelherstellers aus Herzogenaurach. So weit, so gewöhnlich. Dass er aber eine schwarze Skimaske über Kopf und Gesicht gezogen hatte, wirkte doch sehr achtziger, bestenfalls neunziger. Wer überfiel denn heute noch Banken, bei all den Sicherheitssystemen? Das fragte sich Marie und erhielt postwendend eine Antwort.

»Ich bin Paul von Peter, Paul und Mary, und das hier ist meine Pistole. Also, alle auf den Boden und raus mit der Kohle, aber zackig.«

Marie brach den Auszahlungsvorgang ab. »Kohle? Junger Mann, das haben wir doch nun wirklich hinter uns. Fossile Energien sind out, seitdem es kein lineares Fernsehen mehr gibt.«

Der Mann drehte sich zu Marie um. »Ich bin kein junger Mann. Ich heiße Paul.«

»Angenehm, Marie«, stellte sich Marie vor. »Also ganz urdeutsch ausgesprochen, nicht ›Mary‹ wie in ›Peter, Paul and Mary‹. Das ist von Otto, wusstest du das?«

»Wusste ich. Mein Opa hatte eine CD von Otto.«

»Davor, also vor den CDs, gab es Schallplatten aus Vinyl.«

»Das, um deiner Frage vorzubeugen, wusste ich auch. Wusstest du denn, dass es in Nortorf das Deutsche Schallplattenmuseum gibt?«

»Aber ja. Wusstest du, dass im Nortorfer Skulpturenpark ein Werk von Dieter Stolte zu sehen ist, das ›Annäherung‹ heißt?«

»Nö.«

»Dachte ich mir, komm mal näher. Ich kann dir das auf dem Handy zeigen. Bestimmt gibt es da ein Foto bei Google.«

Der Typ mit der schwarzen Skimaske sagte: »Ach«, und ging auf Marie zu.

Marie hielt ihm das Display ihres Handys mit der linken Hand hin. Mit der rechten Hand entwand sie Paul die Pistole, drehte ihm den Arm auf den Rücken und sagte: »Paul, kein Mensch überfällt heute noch Banken.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Paul. »Du hast mich reingelegt. Nicht die feine Art. Das werde ich mir merken.«

In diesem Moment betraten fünf oder sechs Mitglieder des mobilen Einsatzkommandos die Bank durch rückwärtige Zugänge und regelten den Rest.

»Marie, bist du das?« Eine der martialisch ausgestatteten Polizistinnen stand grinsend vor Marie. »Du hattest doch gekündigt, oder?«

»Moin, Moni«, grüßte Marie. »Ja, ich bin Zivilistin, und seitdem ich das bin, gerate ich ständig in Situationen wie diese. Immerhin hat das den Vorteil, dass ihr die Schreibarbeit habt und nicht ich.«

Moni zeigte auf den Typen, der abgeführt wurde. »Der war bewaffnet.«

»Der war harmlos.«

Moni zog die Stirn kraus. »Du wirst eine Zeugenaussage machen müssen.«

»Bin morgen um fünfzehn Uhr im LKA. Vielleicht passt das ja. So, ich muss. Mein Mann wartet. Warum wart ihr eigentlich so schnell hier?«

»Übung am Strand mit den Kampfschwimmern der Marine. Anlanden, sichern, überwinden.«

Kurzes Händeschütteln. Abgang Moni.

Von hinten kam Sünje. »Was zum Geier war denn hier los? Kaum bin ich mal auf dem Klo …«

»Och, ein verwirrter Verirrter. Alles wieder gut. Sünje, ich hätte Lust auf einen Schnack gehabt, aber –«

»Dein Mann wartet. Habe ich gehört. Ich war heute Morgen bei ihm zum Blutabnehmen.«

»Der nimmt selbst Blut ab?«

»Nein, aber er hat gewinkt. Oder heißt es ›gewunken‹?«

Marie hatte keine Ahnung und antwortete: »Geht bestimmt beides. Tschüss.«

Der Ungläubige

Andreas wartete vor der alten Landratsvilla in Eckernförde und hielt den Daumen hoch. Er lächelte sein »Hello-Baby-Lächeln«.

Marie konnte es nicht leiden, dass er dort stand. Wenn sie auf der Straße oder halb auf dem Bürgersteig hielt, behinderte sie andere Verkehrsteilnehmer. Zumindest potenziell. Ob man an dieser Stelle überhaupt halten durfte, wusste sie nicht. Seit Jahren nahm sie sich vor, mal auf die Schilder zu achten. So fuhr sie an Andreas vorbei und bog hinter der Villa rechts ab, umrundete über den Parkplatz das Gebäude und kam mit der Fahrzeugfront zur Straße hin kurz hinter dem Eingang zum Stehen.

Wie erwartet war Andreas blöd hinter ihr hergelaufen, anstatt ihr clever entgegenzukommen. Sie sah ihn im Rückspiegel kopfschüttelnd kommen. Kurz bevor er die Beifahrertür erreicht hatte und nach dem Türgriff angelte, fuhr Marie leicht an. Jetzt lächelte er wieder, öffnete die Tür, ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, küsste sie schmatzend und fragte: »Wie war dein Tag, Witzbold?«

»Wie er so ist, ein Superheldinnentag.«

Andreas schnallte sich an. »Du konntest das mit der Kaution für Rikes und Karls Wohnung also geschmeidig regeln?« Das war der eigentliche Zweck für Maries Besuch in Hamburg gewesen. Ein Gespräch mit dem skeptischen Hausverwalter, weil Rike und Karl so jung waren, weil sie keinen festen Job hatten, weil Rike Holländerin war.

»Ja, ich bin jetzt Bürgin. Als dieser schmierlappige Immobilienfuzzi erfuhr, dass du Arzt bist, bot er mir einen Kaffee an. Ich habe angenommen.«

»Zähneknirschend, wie ich vermute. Du bist wirklich eine Superheldin. Selbstverleugnung war ja schon immer deine Superkraft. Wo fährst du eigentlich hin? Wollen wir nicht nach Hause?«

Marie war nach rechts auf die B203Richtung Kappeln abgebogen. »Der Grill.«

Andreas drehte den Kopf zur Seite. »Och nee, hatte ich vergessen.«

Marie hatte einen gebrauchten Gasgrill gekauft. Von Rike wusste sie, wie gern ihre Eltern grillten. Bei Geislers gab es schon lange keinen Grill mehr. Karl aß kein Fleisch, und Andreas hasste den Geruch, der beim Grillen entstand.

»Hoffentlich sind die wenigstens nett. Wie heißen die noch mal?«

»Mila und Huub. Ich denke immer an Huub Stevens, den Ex-Trainer von Schalke.«

»Kein gutes Omen«, mutmaßte Andreas, der wusste, dass Marie kein Fan der Knappenmannschaft aus Gelsenkirchen war.

»Doch, doch. Huub Stevens fand ich immer gut. Als Spieler und als Trainer.«

»Den Grill holen wir noch mal wo ab?«

»In Rieseby an der Mühle Anna.«

»Das ist Norby.«

»Meinetwegen. Die sind nett da, die Leute vom Museumsverein.«

»Auch Superhelden, diese ganzen Ehrenamtlichen. Hast du denn außer Karl und Rike noch jemanden gerettet heute?«

Marie steuerte das FRIMO 2 am Gebäude der Freiwilligen Feuerwehr in Barkelsby vorbei. »Ja, Frauke, deren Nachbar Herr Schnabel und ich haben einem ertrinkenden Mädchen das Leben gerettet, und in der Bank vorhin in Eckernförde habe ich einen Bankräuber entwaffnet.«

»Okay, ich dachte schon, es sei irgendwas Besonderes vorgefallen.«

Der Grill stand neben dem Eingang zum Göpelschuppen. Rechts neben dem Eingang stand Rebekka, die sich im Museumsverein auch um Lesungen kümmerte. Marie war unlängst zu Gast gewesen, als ein älterer Autor aus seinem aktuellen Krimi gelesen hatte. In der Pause war sie mit ihm ins Gespräch gekommen. Sie teilten die Leidenschaft für den VfL Bochum, Currywurst und das Bügeleisenhaus in Hattingen. Nachdem Marie eine behütete Kindheit an der Schlei erlebt hatte, war ihr Vater Trainer beim VfL Bochum geworden. Die wilde Pubertät hatte sie im nicht minder wilden Ruhrgebiet verbracht. So wohnten bis heute zwei Seelen in ihr, die sich blendend verstanden. Das rotzige Pottmädchen und die spröde Norddeutsche ergänzten sich bestens.

Marie parkte so, dass die Verladung des Monstrums durch die rechte Schiebetür erfolgen konnte.

»Mein Mann Andreas, Rebekka«, stellte Marie die beiden einander vor.

Andreas umrundete das Gerät aus glänzendem Metall und allerlei Armaturen. »Warum verkauft ihr diesen, diesen … wie soll ich sagen – diesen Riesen?«

»Zu klein.«

»Zu was?«

»Zu klein, unsere Veranstaltungen sind beliebt. Was wir zubereiten, kommt aus der Fleischerei Holst, Gemüse von umliegenden Landwirten. Qualität erzeugt Nachfrage.« Rebekka lächelte.

»Und wie sollen wir diesen Riesen ins Auto kriegen?«

»Schiefe Ebene«, antwortete Rebekka, deutete auf eine Rampe und die Rollen des Riesen.

»Du bist vorbereitet.« Andreas klang anerkennend.

»Du nicht?«

»Doch, doch. Ihr seid ja da.«

Keine fünf Minuten später war der Riese im Auto, mit Spanngurten gesichert, und Andreas fragte Marie, was ein Göpelschuppen sei.

»Ein Schuppen, der ein Göpelwerk beheimatet.«

»Ach so.«

»Eine durch Wind-, Wasser- oder Muskelkraft angetriebene, senkrecht stehende Welle treibt Maschinen, zum Beispiel eine Dreschmaschine, an. Das Prinzip kannte man schon im 3. Jahrhundert vor Christus.«

»Woher weißt du das?«

»Göpelschacht Moses im Muttental. Das ist in Witten. Wiege des Bergbaus im Ruhrgebiet. Schulausflug. Können wir uns mal angucken, wenn wir zu Mama auf den Friedhof fahren. Nicht weit vom Ruhrtalradweg.«

Marie bremste, um rechts auf die schmale Straße oberhalb des Ornumer Noors abzubiegen.

»Wo fährst du denn jetzt schon wieder hin?«

»Ach, komm. Das ist eine meiner absoluten Lieblingsstellen, und wir können mit der Fähre rüber.«

Sie genossen den weiten Blick über das Noor, die sanfte Hügellandschaft, und als sie an der Schlei ankamen, winkte Rüdiger sie als Erste auf die gute alte »Missunde II«, die nach Irrungen und Wirrungen um ihre solarbetriebene Nachfolgerin noch immer zuverlässig zwischen Angeln und Schwansen pendelte.

Kaum hatten sie zu Hause in Schleswig den Grill ausgeladen, klingelte Maries Handy. Es war auf laut gestellt, weil sie sich die Hände wusch. Es war ihre Ex-Kollegin.

»Marie, hier ist Sonja. Weil der Bankräuber in der Telefonliste eines Mannes auftaucht, gegen den wir in einem Fall organisierter Kriminalität ermitteln, ist deine Heldentat bei uns gelandet. Kannst du morgen deine Aussage zu diesem Slapstick-Überfall machen? Du bist ja sowieso hier im LKA, wie ich von Astrid weiß.«

»Jo. Fünfzehn Uhr dreißig.«

»Perfekt. Schönen Abend.«

Andreas war im Türrahmen der Gästetoilette aufgetaucht. »Das stimmt, mit dem Banküberfall?«

»Klar.«

»Ihr verarscht mich doch.«

»Nö.«

Marie berichtete. Andreas staunte. Dann schliefen sie ein.

Unter Brüdern

Friedrich Sauerland hatte vor ein paar Tagen seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag gefeiert. Aber er war fit, wie es mancher Mittfünfziger nicht war. Martial Arts hatten ihn schon als jungen Mann fasziniert. Der Angriff der Kiezgröße Joschi amüsierte ihn. Es war der Angriff eines primitiven Schlägers, den er ohne viel Aufwand abwehren konnte. Zuhälter Joschi lag nun vor der Theke und blutete stark aus der Nase.

Friedrich Sauerland drehte sich von ihm weg und schaute die Wirtin an. »Biggi, lass den Lappen bitte liegen. Joschi soll die Sauerei gefälligst selbst wegmachen.«

»Das war nicht nötig, Herr Sauerland.« Biggi warf Joschi einen Lappen zu.

»Hast du gehört, was dieser Bauernlümmel gesagt hat? Er hat mich Malle-Muschi genannt. Wer hat die Schinkenstraße denn groß gemacht? Respekt. Ich erwarte Respekt. Muss er noch lernen, der kleine Joschi.«

Biggi schob ihm ein Schnapsglas über die Theke. »Der Wortlaut war: ›Du Malle-Muschi hast dich ficken lassen.‹ Dann hat er gelacht. Und so leid es mir für Sie tut: Er hat ja recht, der kleine Joschi.«

Friedrich Sauerland war nicht nur ein gefährlicher Gegner im Kampf Mann gegen Mann. Er hatte auch Millionen bewegt auf der Insel der Deutschen. Nur wenige der Top-Immobilien rund um Balneario 6 hatten nicht dem Selfmademan aus Hamburg-Wilhelmsburg gehört. Über vierzig Jahre lang hatten Schlagersternchen, Bankmitarbeiter und Touristiker vor ihm strammgestanden. Das letzte Wort hatte stets er gehabt.

Bei Biggi aber, da war er vorsichtig. Die Wirtin war promovierte Philosophin, und sie war zwei Mal deutsche Boxmeisterin im Federgewicht gewesen. Er hatte ihr den Dreisatz erklärt, als sie damals in der Tristesse der Hochhaussiedlung von einer besseren Zukunft geträumt hatten. Sie, das Mädchen ohne Vater, ohne Geld und ohne Freundinnen. Er, der Schulabbrecher, der gestürzte Überflieger, der seine Freundin und den gemeinsamen kleinen Sohn mit Wohnungseinbrüchen durchgebracht hatte. Ein ungleiches Paar mit einem Altersunterschied von genau dreißig Jahren. Biggi und Friedrich Sauerland hatten beide am 15. Oktober Geburtstag. Sie hatte dank der privaten Förderung durch einen Hamburger Reeder das Gymnasium besuchen können, das beste Abi ihres Jahrgangs gemacht und sich für Philosophie eingeschrieben, weil René Descartes’ ontologischer Dualismus sie faszinierte. Er war nach Malle geflogen, hatte einen exklusiven Liefervertrag mit einer norddeutschen Bierbrauerei ausgehandelt, war reich geworden und hatte Freundin, Sohn und Wilhelmsburg vergessen. Jetzt war er wieder da.

Als sich Joschi nun an der Theke hochzog, zeigte sich, dass Joschi gar nicht klein war. Er maß einen Meter fünfundneunzig. Friedrich Sauerland war einunddreißig Jahre älter, aber drei Zentimeter größer und schneller. Er schlug nicht schneller, aber entschied schneller, dass ein Schlag die nächste Antwort ersetzen würde. Joschi trollte sich. In der Tür drehte er sich um, zeigte auf Friedrich Sauerland und sagte: »Ab jetzt musst du immer mit mir rechnen. Hinter jeder Scheiß-Hausecke.«

Friedrich Sauerland raffte sich auf. Biggi schloss ab. Das Wasser im Veringkanal roch. Es roch nicht nach Wasser. Auf der Straße lief »Heat of the Night« von Bryan Adams.

Friedrich Sauerland hatte sich hingelegt. Schlafen konnte er nicht. Es war kurz vor drei Uhr. Er hatte Hunger. Was er jetzt brauchte, war ein Mettbrötchen, und er wusste, wo es die besten gab. In »Odo’s Kaffeeklappe«. Fünf Minuten mit dem Fahrrad.

Als er die Veddelkanalbrücke erreichte, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Mitten in der Nacht zeigte seine KI-Armbanduhr dreiundzwanzig Grad. Auf die Uhr war er stolz. Er war damals einer der Ersten gewesen, die das Meisterwerk künstlicher Intelligenz gekauft hatten. Stolze zwei Riesen hatte er per Bezahl-App überwiesen. Zu seinem Leidwesen war Bargeld zu einem Auslaufmodell geworden. Wobei: Nach zwei Privatinsolvenzen hatte er ja inzwischen sowieso kein »Plattmoos« mehr, mit dem er so lange so gut am Finanzamt vorbeigefahren war.

Er hielt an, lehnte das Rad an den Pfosten des Parkverbotsschildes und stützte sich schnaufend mit beiden Armen auf dem rostigen Geländer ab. Dass er so außer Atem war, wunderte ihn. In den letzten fünfzig Jahren hatte es in seinem Leben nur wenige Tage ohne Sport gegeben. Er begann jeden Morgen mit Yoga, er achtete streng auf den Anteil von Muskeln und Fettgewebe, und er lief noch immer zwanzig Kilometer pro Woche. Ob er sich was eingefangen hatte? Vielleicht in diesem Eros-Center, das früher mal ein Saunaclub gewesen war, in dem er nicht nur geschwitzt, sondern auch Geld gewaschen hatte. Plattmoos, das gezähnelte Schiefbüchsenmoos, das auf den wohlklingenden botanischen Namen Plagiothecium denticulatum hörte.

Friedrich Sauerland hatte dereinst Biologielehrer werden wollen. Dann war Giulia in sein Leben gerauscht, und der Rausch, der Rausch in all seinen Schattierungen, war zur Melodie seiner jungen Jahre geworden. Er verdrängte die Erinnerung an die Schönheit aus Palermo und Exzesse auf Mallorca. Dieser Drecksladen war schuld, dass er nach Luft schnappen musste.

Schwitzen konnte man heute auch zu Hause. Saunaclubs hatten keine Konjunktur mehr. Aber mit der Lust ließ sich noch immer Geld verdienen. Schade nur, dass der Laden so runtergewirtschaftet war, dass es dort aussah und roch wie … Ihm fiel kein passender Vergleich ein, so ekelhaft war alles gewesen, was er bei seinem Besuch vor einer Woche angefasst hatte, und er hatte alles angefasst, was ihm unter die Finger gekommen war. Atemnot konnte mit allerlei ansteckenden Krankheiten assoziiert sein. Er würde am Abend zum Medi-Bus gehen, der zweimal im Monat überall dort hielt, wo Menschen nicht krankenversichert waren.

Der Mond spiegelte sich in der nur leicht gekräuselten Oberfläche des Wassers im Klütjenfelder Hafen. Regelmäßig fuhr er von hier aus mit der Fähre rüber auf die andere Seite der Elbe. Die Fähren der Linie 73 verbanden, was nicht zueinanderpasste. Das schicke Hamburg jenseits der Landungsbrücken und seine Heimat Wilhelmsburg, in der er es als Kind schwer gehabt hatte, die er für viele Jahre gegen ein Jetset-Leben eingetauscht hatte und in die er nun als gebrochener Mann zurückgekehrt war.

Friedrich Sauerland richtete sich auf, drückte den Rücken durch. Wer einmal hier rausgekommen war, der konnte es auch ein zweites Mal schaffen. Er hatte Millionen und Abermillionen investiert, gewonnen und letztlich verloren. Er kannte sie noch immer, die Ritter der Lokalrunde, wie sich die Gesellschaft derer genannt hatte, die nicht nur rund um die Schinkenstraße, aber hauptsächlich dort auf den Balearen Kohle gescheffelt hatten, dass es für eine halbe Stadt gereicht hätte. Er musste nur einen Geldgeber finden, der sich für seine Casinopläne begeisterte. Dann würde er sein Casino »Alter Leuchtturm« an der nordöstlichen Spitze Fehmarns errichten und Manfred Meier-Masch, diesen Emporkömmling aus der Bankenmetropole am Main, in die Geldhölle schicken. Mit Geld bekam man alles. Wer wüsste das besser als er?