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Humorvolle Krimispannung an der malerischen Ostseeküste. Malte von Rönneby wollte Minister werden. Jetzt liegt er tot auf dem Misthaufen seines Hofes. Der populäre Ökobauer soll konventionelle Produkte als Bioware verkauft haben. Hatten übermotivierte Umweltschützer es auf ihn abgesehen? Kommissarin Marie Geisler stellt Nachforschungen an und gerät in ein gefährliches Geflecht aus Rache und Gier.
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Seitenzahl: 436
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Arnd Rüskamp ist am südlichen Rand des Ruhrgebietes am Baldeneysee geboren. Er hat Publizistik studiert, war Reporter und Moderator, Soldat und Biker, Autor und Verleger. Heute verdient er sein Geld noch immer in den Medien, hat aber erkannt, dass sein berufliches Glück zwischen zwei Buchdeckeln liegt. Er lebt im Ruhrgebiet und in seiner Wahlheimat zwischen Schlei und Ostsee.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/embeki
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-956-3
Küsten Krimi
Originalausgabe
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Für C+A+K
Wer sich müht, Wörter zu bändigen,wird sich im Dschungel der Buchstaben verlieren.Lasst Gedanken sein wie wilde Tiereund Sätze wie Schatten und Licht.
Arnd Rüskamp
Marie blätterte um. Noch einmal las sie, was Novalis vor über zweihundert Jahren geschrieben hatte: »Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt.« Sie klappte das Buch zu und legte es neben sich auf die blau-weiß gestreifte Sitzfläche des Strandkorbes.
Novalis hatte diesen Gedanken gedacht, als er ein sehr junger Mann gewesen war. Ob er damit gemeint hatte, dass ein liebevoller Blick die Welt in ihrem Innersten zusammenhalten kann? Eine Biene näherte sich summend dem leuchtend gelben Blütenkorb einer Margerite und ließ sich nieder. Hatte Novalis um die Bedeutung der Bestäuber gewusst? Die Biene tat, was man ihr nachsagt – sie war fleißig.
Marie trank den letzten Schluck Kaffee aus dem Becher mit dem Logo des VfL Bochum und stand auf. Sie griff nach dem Buch. »Fragmente und Studien«, las sie in schwarzen Buchstaben auf gelbem Grund. Fragmentiert fühlte sich auch ihr Kopf an. Zu viele Informationen. Stau im Kopf. So ging das nicht. Ein befreundeter Psychologe hatte ihr Größenwahn attestiert. Er hatte nicht gelacht. Seitdem versuchte sie, die Grenzen ihrer Wirksamkeit zu erkennen. Weltrettung war, Reste zu verbrauchen, Karl über den Kopf zu wuscheln.
Alles hängt mit allem zusammen, dachte Marie, betrat das Wohnzimmer und zog die Balkontür hinter sich zu. Heute hatte sie einen freien Tag. Ein guter Tag für einen freien Kopf. Einen vollen Topf. Marie grinste ihr Spiegelbild an. Gutes kaufen, gut kochen, sich was Gutes tun. Drei Programmpunkte für diesen Montag. Das sollte reichen.
Das Buch hatte sie gestern am späten Nachmittag zu lesen begonnen. Gewöhnungsbedürftig, der alte Text. Doch rasch hatte sie sich eingefunden. So wie Hauke es vorhergesagt hatte. Hauke, der die Buchhandlung in Friedrichsort gemeinsam mit Sonja belebte. Leidenschaftlich. Das sagte er nicht nur. Das war so. Sie hatte ihn vor dem Landtag an der Kiellinie erwischt.
»He, Sie, hier wird nichts abgelegt«, hatte sie ihn von hinten lautstark angefahren, als er »Fragmente und Studien« auf den Stufen zwischen Landtag und Förde platzierte, so wie er ab und an seine Leseschätze als Geschenk irgendwo in Kiel hinterließ. Er war zusammengezuckt, hatte ihre Stimme nicht gleich erkannt.
»Oh, die Polizei – und ich bewaffnet mit lauter Gedankendiebesgut.« Er hatte Marie das gelbe Büchlein entgegengehalten. »Georg Philipp Friedrich von Hardenberg.«
»Kenn ich nicht.«
»Novalis.«
»Ach, die Band. Die haben auch Gedichte von ihm gesungen.«
Hauke schüttelte den Kopf. »Nicht meine Musik.«
»›Wer Schmetterlinge lachen hört‹, hieß eine Nummer. Ich hatte mal einen älteren Freund …«
»Ich glaube, das möchte ich nicht wissen.«
Marie hatte Hauke das Buch aus der Hand genommen. »Ich drück dann noch mal ein Auge zu.« Sie hatte auf den gläsernen Plenarsaal gezeigt. »Die Ministerpräsidentin sieht ja auch ganz entspannt aus.«
Zurück in Schleswig hatte sie sich mit dem Text auf die Schaukel gesetzt. Andreas war in seiner Praxis in Eckernförde, ihr Sohn beim Fußball. Karl hatte Marie gebeten, nicht mehr zum Training zu kommen. »Lass ihn, er muss sich freischwimmen«, hatte Andreas geraten. »Freikicken«, hatte Marie geantwortet. Es fiel ihr schwer. So oder so. Loslassen zählte definitiv nicht zu ihren Stärken.
Novalis war so jung gewesen, und es war so lange her, dass er geschrieben hatte – Marie hatte er gekriegt. Sie hatte bis zum Abendbrot gelesen, zwanzig Seiten in der Nacht und den Rest am Morgen, nachdem Andreas und Karl das Haus verlassen hatten. Wenn Novalis schrieb, man müsse die Welt romantisieren, sprach er Marie aus der Seele. Die belebte und die unbelebte Welt wahrzunehmen und sich vorzustellen, dass die Menschheit nur einen Bruchteil der Geheimnisse gelüftet hatte, die das Universum bereithielt, war ein Faszinosum, das Marie eine kleine Gänsehaut machen konnte.
Am Sideboard rechts vor der Haustür gebot sie dem Gedankenfluss Einhalt. Programmpunkt eins, dachte sie, Gutes kaufen. Schade nur, dass das Gute nicht so richtig nah lag. Ihr Ziel war der Hofladen Rönneby zwischen Kappeln und Olpenitz direkt an der Schlei.
Malte von Rönneby war der gefeierte Star der Ökoszene und wurde nicht nur in der Bunt-Partei als möglicher Landwirtschaftsminister gehandelt. Marie hatte ihn vor einem Jahr kennengelernt, als sie Karl bei einer Fridays-for-Future-Demo begleitet hatte. Er hatte sie angesprochen. Unangenehm war das gewesen, weil er sich, wie einige andere zuvor, an den spektakulären Fall in Sehestedt erinnert hatte. Marie hatte damals ermittelt, weil man den Bundeswirtschaftsminister tot auf der Gondel eines Windrades gefunden hatte. Das Medieninteresse war erdrückend, sie im Fernsehen gewesen. Malte von Rönneby hatte allerdings gespürt, dass sie nicht darüber sprechen wollte. Er war einfühlsam gewesen, ohne schmierig zu wirken.
Ob es rund um Schleswig keine Biohöfe gäbe, hatte Andreas gefragt, als Marie die regelmäßigen Einkaufstouren aufgenommen hatte. Sie hatte argumentiert, dass sie die Besuche nutze, um bei den Schwiegereltern in Maasholm vorbeizuschauen. Andreas hatte gegrinst. Wenn sie sich mit einem Menschen blind verstand, dann mit ihm.
Marie öffnete die Tür und wäre beinahe über eine flache Holzkiste gestolpert. Sie bückte sich nach ihr und las auf dem hölzernen Rahmen »Eckernförder Sprotten«. Sie öffnete die Kiste und entnahm ihr einen Briefumschlag, auf dem »Einladung« stand. Eingeladen wurde zu einem Abend mit Essen und Musik. Der Verein des Museums Alte Fischräucherei wollte sich bei seinen Mitgliedern, vor allem aber bei all den freiwilligen Helfern bedanken, die engagiert anpackten, wenn es etwas zu tun gab. Und es gab immer etwas zu tun. Maries Vater, der Anfang des Jahres aus dem Ruhrgebiet zurück nach Eckernförde gezogen war, gehörte zu den jüngsten Mitgliedern und Anpackern. Er durfte sich eine Begleitung für den Abend wählen und hatte sich für Marie entschieden. Marie war gerührt, atmete tief und freute sich auf Elkes Matjessalat, der eine gewisse Berühmtheit genoss.
Drei Angeln hatte Karsten Keller so aufgestellt, dass er sie aus seinem Angelsessel gut im Blick hatte. Heute wollte er die neuen Bissanzeiger ausprobieren. Mit denen aus dem Internet war er nicht zufrieden gewesen. Er hatte sie seinem Nachbarn geschenkt, der letzte Woche in Rente gegangen war und sich nun auch als Petrijünger versuchen wollte. Sollte er mal seine ersten Sporen verdienen. Karsten Keller lächelte ein wissendes Lächeln.
Der Tee war heiß, die Sonne stand flach über der Schlei, und wenn er die Hafenkante rechts hinunterschaute, konnte er beobachten, wie sich die Gastronomen auf den Ansturm der Urlauber vorbereiteten. Der Schleswiger Stadthafen hatte sich gemausert die letzten Jahre. In ein oder zwei Stunden ginge der Betrieb hier richtig los. Wenn es ihm zu bunt würde, konnte er seinen Kram jederzeit zusammenpacken und verlegen. Gute Angelplätze gab es an der Schlei in Hülle und Fülle.
Am frühen Morgen war er mit dem Boot zwischen Maasholm und Olpenitz unterwegs gewesen. Aber der Wind hatte ungünstig gestanden, nur ein Biss, da war er nach Schleswig abgerückt. Vor zwei Jahren war er in Pension gegangen, hatte den Streifenwagen gegen einen gebrauchten California getauscht. Jetzt wusste er seine Flexibilität sehr zu schätzen. Sobald seine Frau auch in Rente ging, würde sie ihn ab und zu begleiten. Das war jedenfalls der Plan. Bis dahin gingen ihm sicher noch ein paar dicke Fische an den Haken.
Karsten Keller zog die Kladde aus der Seitentasche des Angelsessels und machte Notizen für sein Buch. Die gängigen Angelführer hatten ihm nicht zugesagt. Er hatte eine feine Beobachtungsgabe und war überzeugt, dass er es besser konnte. Einen Verlag hatte er noch nicht gefunden. Aber er hatte ja Zeit. Über dem ersten Eintrag notierte er den Tagesspruch. Er hatte eine Schwäche für Aphorismen und konnte sich gut vorstellen, dass andere Angler auch Freude daran haben würden. Die hatten ja auch Zeit. Zum Angeln und zum Nachdenken. Er schrieb: »Worte sind Beute des Sturms. (Friedrich von Matthisson, 1761–1831)«.
***
Aus dem Augenwinkel sah Marie die hochgewachsene Frau im Gegenlicht stehen. Sie trug einen geblümten Wickelrock, der ihr bekannt vorkam. Die Glocke der weiß getünchten Kirche schlug. Als sei es ihr Signal gewesen, machte die Frau einen Schritt auf die Straße. Kurz schaute sie nach rechts, und Marie erkannte, dass es Ele war. Laut rief sie ihren Namen, doch Ele ging weiter. Marie kurbelte das Seitenfenster herunter, rief erneut. Unbeirrt setzte Ele einen Fuß vor den anderen. Sie trug ein Kind auf dem linken Arm. Dann sah Marie den Abgrund. Nur wenige Meter vor Ele fiel der schmale Streifen Grasland steil ab. Der Gurt im EMO ließ sich nicht lösen. Ele drehte noch einmal den Kopf in Maries Richtung. Ihr Blick war voller Liebe. Dann verschwanden Ele und das Kind.
Jemand klopfte an das Seitenfenster ihres »Ermittlungsmobils«. Hatte sie es nicht gerade heruntergekurbelt? »Grüner wird’s nicht«, rief ein Mann, dem die Aggressivität das Gesicht verzerrte.
Marie schaute nach vorn. Die Ampel an der Brücke in Lindaunis zeigte tatsächlich Grün. Marie startete den Motor, legte den ersten Gang ein, gab Gas und rollte über die Brücke, die schon bald Geschichte sein würde, wie auch Ele Geschichte war. War sie das tatsächlich? Die Rechtsmedizinerin, die Marie so nah gekommen war wie wenige Menschen, lebte jetzt in Uruguay, soweit Marie wusste. Ele hatte ihr im letzten Sommer eine Postkarte geschickt. Danach hatte es kein Lebenszeichen mehr gegeben.
Auf der Höhe des Obsthofes Stubbe schaltete Marie in den vierten Gang und schlug sich mit der linken Hand auf die Wange. Sie hätte in der Nacht schlafen und nicht lesen sollen. Sie erinnerte sich an die drei Aufgaben des Tages: Gutes kaufen, gut kochen, sich was Gutes tun.
Gregor Sachse hatte den Zeigefinger auf die Überschrift der Tagesordnung gelegt und sich zu Bernd Stender hinübergebeugt. Bernd scrollte durch die Facebook-Gruppe der Holstein-Kiel-Fans. Er wirkte angespannt.
»Bernd.« Bernd reagierte nicht. Gregor stupste ihn an. »Herr Stender.«
»Moment.«
Gregor beugte sich nach links und hielt Elmar Brockmann den Ausdruck hin.
»Weiß ich auch nicht, Gregor. Darum sitzen wir doch hier.«
An der Schmalseite des Besprechungsraumes erhob sich Astrid Moeller von ihrem Platz. Die Gespräche verstummten. »Moin, ich habe die ratlosen Gesichter gesehen. Ein Beleg dafür, dass Anette Holtmann den Titel unserer Fortbildung sehr gut gewählt hat. ›Encro… what?‹« Astrid nieste, entschuldigte sich, lächelte die junge Frau mit den Piercings an Lippe und Nase freundlich an.
»Nun, EncroChat, so viel habe ich inzwischen verstanden, ist gewissermaßen das WhatsApp der Verbrecher, und dank der Bemühungen französischer Sicherheitsbehörden konnte das Programm geknackt werden. Die Ergebnisse betreffen auch uns.«
»Als ob unsere Bauern in Dithmarschen jemals was von diesem Anchorchat gehört hätten«, flüsterte Elmar.
»EncroChat.« Gregor hielt ihm noch mal die Einladung hin. »Mit Ankern hat das nichts zu tun.«
»Meine Herren, bitte, wir wollen Frau Holtmann, die sich eigens vom BKA in Wiesbaden zu uns auf den Weg gemacht hat, doch zeigen, dass wir in Schleswig-Holstein nicht nur beim Handball internationale Klasse haben.«
»Astrid ist nervös«, bemerkte Gregor. »Die Arme.«
Bernd stieß ihm in die Rippen.
»Frau Holtmann hat einen Chat exemplarisch herausgezogen aus all den Daten. Das sind ja mehrere Terabyte, wenn nicht sogar Gigabyte«, fuhr Astrid fort.
Anette Holtmann lachte kurz auf.
»Andersrum? Wie auch immer. Es geht um Sascha Weber.«
»Der Drecksack«, entfuhr es Gregor.
»Sascha Weber, der eine wichtige Rolle in jenem Fall um den Rocker-Zahnarzt aus Borgstedt spielte«, erläuterte Astrid.
»Ist der nicht in Russland untergetaucht?«, mischte sich Bernd ein.
»Meine Herren. Ich verstehe, dass Sie interessiert sind. Auf viele, nicht auf alle Fragen gibt es jetzt Antworten, denn Sascha Weber hat einen angeregten Austausch mit seinen Spießgesellen hier in Schleswig-Holstein gepflegt.«
»Warum siezt Astrid uns?«, fragte Elmar.
»Still jetzt.« Gregor legte den rechten Zeigefinger auf die Lippen.«
»Ich übergebe jetzt an die Kollegin Holtmann.«
Astrid setzte sich, Anette Holtmann nickte kurz in die Runde, tippte auf das Touchpad ihres Laptops, und hinter ihr tauchte auf der Leinwand das Logo von EncroChat auf.
»EncroChat war ein Telekommunikationsdienstleister mit Sitz in Europa. Seine Leistung bestand darin, den Kunden ein Krypto-Handy als Abo anzubieten. Das Abo kostete knapp viertausend Euro im Jahr. Dafür verfügten die Kunden über ein modifiziertes Android-Gerät, das mit einer abhörsicheren Kommunikationssoftware ausgestattet war. Zudem erlaubte eine sogenannte Wipe-Funktion, nach Eingabe einer PIN alle Inhalte zu löschen. Französischen und niederländischen Behörden ist es gelungen, das System mit Malware zu infiltrieren. Aus gutem Grund geht die französische Polizei davon aus, dass über neunzig Prozent der Nutzer in kriminelle Handlungen verwickelt waren. Wir beim BKA prüfen mehrere hunderttausend Chatverläufe, es wurden über tausend Personen festgenommen. In den Niederlanden wurden neunzehn Drogenlabore ausgehoben, und es konnten Auftragsmorde verhindert werden. Die niederländischen Kollegen haben acht Tonnen Kokain und eins Komma zwei Tonnen Crystal Meth sowie Schusswaffen und etwa zwanzig Millionen Euro Bargeld sichergestellt.« Während sie sprach, klickte Anette Holtmann im Schnelldurchlauf verschiedene Slides ihrer Präsentation an.
»Der Haken: Wir haben nicht genügend Ressourcen, um alle Chatverläufe zeitnah auszuwerten, und die Organisierte Kriminalität bedient sich bereits eines Nachfolgers von EncroChat. Ein Unternehmen mit dem aufschlussreichen Namen Omerta Digital Technologies hat den ehemaligen EncroChat-Kunden zum Start einen Rabatt von zehn Prozent angeboten. Erfolglos bleiben erfreulicherweise die Bemühungen einiger Anwälte, darunter ein Herr aus Kiel, die Verwertung der Chats in deutschen Strafverfahren zu verhindern. Aber jetzt, wie von Frau Moeller angekündigt, zu Sascha Weber. Wir konnten seinen Aufenthaltsort ermitteln und Beweise sammeln, die zunächst ein Strafverfahren wegen Hehlerei ermöglichen, sobald wir ihn haben. Ich zeige Ihnen mal auf der Karte hier, welchen Ort wir Europol für den Zugriff vorschlagen werden.«
Am Ende der Fortbildung spürte Gregor, dass er rote Ohren hatte. Vor einigen Wochen hatte er auf dem Flur mit dem Leiter der Abteilung Cybercrime im LKA über das Darknet gesprochen. Seitdem prüfte er eingehende E-Mails penibel. Die digitale Welt bot Verbrechern ungeahnte Möglichkeiten, und Gregor hoffte, dass die Sicherheitsbehörden der freien Länder mithalten konnten.
Jetzt sah er, wie Astrid auf den Fahrstuhl zuging, und beschleunigte seinen Schritt. Er erreichte die Tür gleichzeitig mit seiner Chefin. Astrid drückte den Knopf fürs Erdgeschoss. »Ich muss noch in die KTU.«
Er griff nach ihrer Hand. »Heute Abend läuft der neue Bond im Metro.«
Sie nickte. »Ich freu mich.«
»Letzte Reihe?«
»Letzte Reihe.«
Unten öffnete sich die Fahrstuhltür. Astrid ging nach rechts, bog vor der gläsernen Pförtnerloge ab und verschwand im Gang zur KTU. Gregor grüßte den Wachhabenden und verließ das Gebäude durch den Haupteingang. Er wollte noch rasch zum Friseur. Astrid mochte es nicht, wenn sich seine Haare über den Ohren kringelten.
Marie drückte auf den Knopf des CD-Players, den sie ohne Wissen ihres Dienstherrn selbst ins EMO eingebaut hatte, nachdem ihr das LKA den VW-Bus vor einer gefühlten Ewigkeit als Dienstwagen zur Verfügung gestellt hatte. Damals war Karl klein gewesen, und ihr inzwischen verstorbener Chef, Dr. Holm, hatte sehr schmale Dienstwege beschritten, um Marie die Vereinbarung von Nachforschungen und Kinderbetreuung zu ermöglichen. Zu einer Art Car-Office war der VW-Bus geworden, den sie »Ermittlungsmobil« getauft hatte.
Einmal hatte sie Karl zur Befragung einer Landwirtin nahe Husum mitgenommen. Karl hatte gerade laufen können und von seiner neuen Fähigkeit Gebrauch gemacht. Die Landwirtin und Marie hatten ihn im ganzen Haus gesucht, bis sie ihn bei den Minischweinen gefunden hatten. Karl hatte seine Vorliebe fürs Landleben sehr früh entdeckt. Inzwischen war er zu einem engagierten Kämpfer für Arten- und Klimaschutz geworden. Im Gegensatz zu Marie hatte er eine gewisse Vorliebe für Mathematik, und Andreas hatte mit ihm stundenlang über Modellierungen des Eisrückgangs in der Arktis gesessen.
»Komisches Hobby«, hatte Marie einmal eingeworfen.
Karl hatte nicht aufgeschaut. »Marie, du hast mir beigebracht, dass man nur mit Indizien nicht weit kommt. Beweise seien entscheidend.«
Andreas hatte Karl auf die Schulter geklopft, Marie war stolz gewesen. War sie noch immer. Bisschen altklug, das Kind. Aber allemal besser als blöd. Andreas und Karl, sie hatte so ein Glück.
Was Andreas aber in den CD-Player geschmuggelt hatte, ging gar nicht. Im Dienst hörte Marie klassische Musik, privat gern Jazz und Rockmusik der Siebziger. Dass Andreas ihr den Shanty-Chor seines Vaters untergejubelt hatte, war eine Unverschämtheit. »Besanschot an«, sang die Altherrentruppe und war vermutlich schon angesäuselt gewesen, bevor sie dieses Trinkerlied angestimmt hatte.
Andreas hatte die Vorliebe für maritime Lieder von seinem Vater übernommen, der im Shanty-Chor Albatros in Schwentinental sang. Die Proben waren Uwe heilig. Dafür fuhr er beinahe jeden Montag eine Stunde über Land.
Marie schreckte zusammen und bremste. Aus der Senke der Kriesebyau kam ihr ein Erntefahrzeug biblischen Ausmaßes entgegen, als sie gerade ein Wohnwagengespann überholen wollte. Das war einigermaßen knapp gewesen. Sie würde gleich auf dem Hof einen starken Kaffee trinken, so müde und unkonzentriert, wie sie war. Novalis war schuld.
Als sie hinter Winnemark die Abkürzung nahm, hatten sich die Albatrosse zu »Rum aus Jamaika« vorgearbeitet, und Marie ertappte sich dabei, wie sie »… am liebsten Rumfallera« mitsang. Das durfte Andreas niemals erfahren.
Kurz vor der Jugendherberge Kappeln, in der sie mit dreizehn zum ersten Mal an einer Zigarette gezogen hatte, bog sie rechts auf die Ostseestraße Richtung Ellenberg ab. Ein Stadtteil von Kappeln, der über vier Jahrzehnte von der Marinewaffenschule geprägt worden war. Inzwischen hatte ein Investor damit begonnen, das Areal in direkter Schleilage mit Wohnhäusern zu bebauen. Weiter in Richtung Nordosten hatte es nahe Olpenitz Deutschlands größten Marinehafen gegeben. Beinahe viertausend Soldaten und Zivilisten hatten dort und im Umfeld der Waffenschule Arbeit gefunden – über viele Jahre ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Region, die nun verstärkt auf die Kraft des Tourismus setzte.
Von den Urlaubern, das hatte Malte von Rönneby erzählt, profitierte auch sein Biohof, dessen Zufahrt Marie jetzt zwischen den Feldern sehen konnte. Sie bremste, wartete einige Radfahrer ab, die auf ihren Pedelecs aus Richtung Port Olpenitz unterwegs waren, und bog links ab. Nach wenigen Metern wurde aus dem asphaltierten ein unbefestigter Weg. Malte versuchte, so wenige Flächen wie nur möglich zu versiegeln. Tiefere Schlaglöcher umkurvte Marie und sah, wie aus der Wiese eine Rohrweihe aufflog. Ein eleganter Vogel mit schmalen Flügeln, der nach rechts hinten aus Maries Gesichtsfeld verschwand.
Marie schaute wieder nach vorn und nahm den Fuß vom Gas. Vom Hof kommend näherte sich ein Auto mit hoher Geschwindigkeit. Die Straße war ein Weg. Schmal. Das Auto näherte sich rasch. Viel zu schnell für den Weg. Marie bremste. Sie bremste stärker. Ein weißer Kastenwagen. Sie würden zusammenstoßen. Das rechte Vorderrad blockierte auf dem sandigen Untergrund. EMO zog nach rechts, der Graben bedrohlich nahe. Marie löste die Bremse. Unmittelbar vor ihr der Kastenwagen. Jetzt war er auf gleicher Höhe. Ein Schlag. Es fühlte sich an, als führe er durch Marie hindurch. Dann ein kratzendes, ein schabendes Geräusch. Blech an Blech. Cheek to cheek, dachte Marie, lachte kurz auf. Das EMO kam zum Stillstand. Marie schaute in den Rückspiegel. Das Kennzeichen des Kastenwagens begann mit »RD«. Dann verschwand das Auto hinter den Büschen des Knicks. Die Albatrosse sangen »Finster war die Nacht«.
»Geht’s noch?«, brüllte Marie. »Von wegen finster. Es ist hell, wie es heller nicht sein könnte, du Vollidiot.«
Sie öffnete die Tür, stieg aus, bedeckte die Augen mit der linken Hand. Die Sonne stand noch nicht sehr hoch. Außer einer Staubfahne war nichts mehr vom Unfallverursacher zu sehen. Marie trat einen Schritt zurück. An der linken Fahrzeugseite zog sich ein tiefer Kratzer mit weißen ausgefransten Rändern bis kurz vor das Heck. Marie tippte auf den Türgriff als Verursacher. Am Kotflügel des alten VW-Busses eine Beule mit schwarzen Streifen. Wohl vom Seitenspiegel.
»Wie blöd muss man sein? Nein, wie dreist muss man sein? Ich bin so sauer. Boah, bin ich wütend.« Marie trat nach einem Stein und spürte sofort, dass sich im linken unteren Rücken irgendwas eingeklemmt hatte. Sie entspannte die Rückenmuskulatur, kreiste mit dem Becken und hatte den Eindruck, dass es gerade noch mal gut gegangen war. Heute Abend hatte sie Training, und das Knie funktionierte seit Monaten ziemlich gut. Sie stieg wieder ein und zog ihr gutes altes Nokia 6310i aus der Jeansjacke. Sie rief das Polizeirevier in Kappeln an, schilderte den Vorgang, beschrieb das Fahrzeug.
»Ein weißer Kastenwagen mit Rendsburger Kennzeichen, den haben wir schnell«, feixte der Kollege.
»Ich bin überhaupt nicht zu Späßen aufgelegt«, erwiderte Marie. »Die Karre hat frische Unfallspuren auf der Fahrerseite, und der Außenspiegel dürfte auch ziemlich mitgenommen aussehen. Ich tippe auf einen Opel Combo.« Sie beendete das Telefonat und dachte an den Papierkram, der jetzt auf sie zukam.
»Wie kann man nur so dreist sein? Aber das fragte ich mich ja schon.« Jetzt führte sie wieder Selbstgespräche.
Sie schaltete den CD-Player aus, der auch ohne Zündung lief, und fuhr die letzten Meter zum Hof. Auf dem Parkplatz nur ein weiteres Auto, mit Münchener Kennzeichen. Sah nach einem Mietwagen aus. Wenig los, so früh war es doch gar nicht. Beim Aussteigen fiel Marie dann siedend heiß ein, dass Malte vor zwei Wochen etwas von einem freien Wochenende rund ums alljährliche »Aalutsetten« erzählt hatte. Nicht, dass das ausgerechnet heute war.
Sie parkte vor der mächtigen Giebelseite der Scheune. Wenn sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie den Schriftzug »Biohof Rönneby« lesen, der im Frühjahr einen neuen Look erhalten hatte. Malte hatte Schulkinder eingeladen und zwei Hubwagen bereitgestellt. Jede Schülergruppe durfte einen Buchstaben gestalten, wie es ihr gefiel. Das »M« hatten Grundschüler der Gorch-Fock-Schule aus dem Buchstabenlostopf gezogen, und an zwei Vormittagen waren schneebedeckte Berggipfel mit Kühen auf den Almen entstanden. Marie hatte den Beitrag im Fernsehen gesehen. Andreas hatte die Nase gerümpft: »Ein abgefuckter Werbefuzzi ist das.« Marie hatte den Kindern den Spaß angesehen und abgewinkt.
Als sie um die Ecke der Scheune bog, in der heute die Käserei, der Hofladen und das Hofcafé untergebracht waren, verstärkte sich ihr Gefühl, dass der Laden tatsächlich geschlossen war. Die Sonnenschirme an den Picknickbänken waren noch nicht aufgespannt, die Tür stand nicht offen wie sonst. Hinter der Scheibe klebte ein handgeschriebener Zettel: »Weil wir heute Jungaale in die Schlei setzen, bleiben Hofcafé und Hofladen geschlossen. Wir sehen uns morgen. Malte und Team«.
Marie zog die Stirn kraus. Aber gut, führe sie in den Naturmarkt in Schleswig. Umsonst war die Fahrt hierher zum Glück nicht gewesen, denn sie hatte den Staubsauger dabei, dem ihr Schwiegervater hoffentlich wieder Leben einhauchen würde. »Sind bestimmt nur die Kohlen«, hatte Uwe am Telefon gesagt. Marie machte auf dem Absatz kehrt. Im Zuge der Linksdrehung geriet der Misthaufen in ihr Blickfeld, und ihr schwante, dass der Staubsauger würde warten müssen.
Sie fixierte den Misthaufen, um ihren ersten Eindruck zu überprüfen. Eine Art Tagtraum hatte sie heute ja schon in Lindaunis gehabt. Aber auch nachdem sie die Augen geschlossen und wieder geöffnet hatte, änderte sich nicht, was sie als geradezu ikonisches Bild empfand. Sie verstand, dass sie nicht vergessen würde, was sie gerade sah.
Im Misthaufen steckte eine Mistgabel, deren Stiel einen langen Schatten auf den Hof warf. Die Anordnung wirkte beinahe wie eine Installation und war einer Sonnenuhr nicht unähnlich. Ein Symbol für die vergehende Zeit? Die Lebenszeit? In der Achse lag in bester Symmetrie der Körper eines Mannes. Die Arme gestreckt, leicht vom Rumpf abgewinkelt, die Beine ebenfalls gestreckt, die Schuhspitzen gen Himmel gerichtet. Marie spürte, dass der Mann tot war. Aber sie konnte sich täuschen.
Sie löste sich aus der Starre und ging schnell hinüber zum Misthaufen, näherte sich von der Herzseite des Mannes. Dieser trug einen sandfarbenen Pulli, der hochgerutscht war und einen schmalen Streifen Bauch oberhalb des ledernen Gürtels freigab. Marie konnte den Mann nicht erreichen, ohne einen, eher zwei Schritte in den Misthaufen hineinmachen zu müssen. Auf einem Mauerabsatz hinter dem Mist entdeckte sie eine gut zwei Meter lange Bohle. Marie griff nach dem Brett, das schwerer war als gedacht. Das Holz hatte sich mit Wasser vollgesaugt. Sie zog das Brett von der Mauer herunter und richtete es vor sich auf.
Es gelang ihr nicht, die Bohle sanft abzulegen. Sie hatte das vordere Ende an den Fuß des Misthaufens gestellt, dann glitt ihr das Brett aus den Händen und fiel auf den Misthaufen. Es gab ein klatschendes, schmatzendes Geräusch. Dunkle Spritzer beschmutzten den Pulli des Mannes, auch sein Gesicht und seine flammend roten Haare. Malte von Rönnebys Haare.
Marie balancierte auf der Bohle, die auf dem weichen Untergrund nachgab und nach links und rechts kippelte. Ein bisschen fühlte es sich an, als stünde sie auf einem Surfbrett. Sie ging auf die Knie, stützte sich mit der linken Hand ab, reckte sich und führte die rechte Hand an Maltes Hals. Die Haut fühlte sich wärmer an, als sie erwartet hatte, aber sie spürte keinen Puls. Der Brustkorb war unbewegt. Keine Atmung. Marie zog das linke Augenlid nach oben. Die Pupille war weit und lichtstarr. Sie fasste Malte ans Kinn und drehte den Kopf zu sich. Die Totenstarre war noch nicht voll ausgeprägt. Erst jetzt sah sie, dass an der rechten Schläfe ein kreisrundes Loch klaffte, aus dem ein Rinnsal Blut übers und ins Ohr gelaufen war.
Marie richtete sich auf, ging aber sogleich wieder in die Knie. Ihr war schwindelig. Auf allen vieren schob sie sich rückwärts von der Bohle herunter. Sie überquerte den Hof, holte Handy und Handschuhe aus dem EMO. Als sie sich erneut dem Misthaufen zuwandte, öffnete sich an der Stirnseite des Hofes die Haustür, und eine Frau mit langen dunklen Haaren und einer Reisetasche trat über die Schwelle ins Licht. Sie und Marie trennten gut zwanzig Meter.
Die Frau hatte Marie noch nicht gesehen. Sie zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. Einige Stufen führten von der doppelflügeligen Tür hinunter zum Kopfsteinpflaster. Die Frau bewegte sich sicher, so als sei ihr die Umgebung vertraut. Am Fuß der Treppe hob sie den Blick, den Gesichtsausdruck konnte Marie nicht erkennen. Ein kurzes Zögern vielleicht, ein winziger Moment des Innehaltens, als sie Marie entdeckte, so als hätte sie nicht damit gerechnet, einem Menschen zu begegnen. Drei Schritte mit gesenktem Kopf, dann schaute sie zum Misthaufen, blieb stehen, ließ die Tasche fallen und rannte auf den Misthaufen zu.
Marie beeilte sich, vor der Frau dort zu sein. Sie trafen gleichzeitig ein.
»Das ist Malte!«, schrie die Frau. »Mein Geliebter. Socorro! Warum hilft denn niemand? O Dios mío!« Ihre Stimme klang wie die dieser Staatsanwältin aus dem Münsteraner »Tatort«.
»Stehen bleiben! Ich bin Polizistin. Sie dürfen nicht näher ran.«
Die Frau fiel auf die Knie. Sogleich begann das rechte Knie zu bluten. Marie griff der Frau unter die Achseln und führte sie unter deren Wehgeschrei zu einem der Tische vor dem Hofladen. Auf dem Tisch standen Serviettenspender.
»Hier, pressen Sie sich das mal auf Ihr Knie.« Marie hielt der Frau einige der Papiertücher hin, die sie schluchzend entgegennahm. »Ich hole Verbandszeug aus dem Auto. Sie bleiben hier sitzen.«
Marie entfernte sich und ließ das Handy Astrids Nummer wählen.
»Marie, du hast doch frei. Habe ich Gregor vorhin noch gesagt, nach der Fortbildung. Das war übrigens sehr interessant. Du erinnerst dich doch noch an Sascha Weber?«
»Stopp, Astrid, Leichenfund.«
Marie nannte die Adresse und beendete das Gespräch. Als sie mit dem Verbandskasten wieder zurück bei der Frau mit der tiefen Stimme und dem spanischen Akzent war, hatte diese das Bein bereits hochgelegt. Sie hatte Pech gehabt. Die Wunde blutete stark. Marie vermutete, dass sie einen Glassplitter erwischt hatte. Sie streifte neue Handschuhe über, reinigte die Wunde, desinfizierte mit Kodan, klebte drei Strips über den Cut und legte einen Kompressionsverband an.
»Sie kennen sich aber aus. Danke.«
Marie setzte sich ihr gegenüber und zog das Schleibook für ihre Notizen aus der Jeansjacke, die sie aus dem EMO mitgebracht hatte. »Nun mal ganz in Ruhe. Ich bin Hauptkommissarin Marie Geisler. Wie heißen Sie?«
»Julia Sosa-Ridel. Ich bin Maltes Geliebte.«
»Sie sind Spanierin?«
»Argentinierin.«
»Ihren Ausweis hätte ich gern gesehen.«
Julia Sosa-Ridel griff in die Umhängetasche und legte Marie einen blauen Reisepass hin, auf dem »Mercosur República Argentina« stand.
»Mercosur?«, fragte Marie.
»Eine Abkürzung für den gemeinsamen Markt Südamerikas, ähnlich der Europäischen Union.«
Marie notierte die Personalien. »Sie leben in Buenos Aires?«
»Ja, und in Hamburg. Mein Mann ist Professor an der Uni. Ich habe dort studiert.«
»Ihr Mann.«
»Einen Mann zu haben schließt nicht aus, dass es einen Geliebten gibt.« Sie klang, als erkläre sie einem Kind, dass die Erde rund ist. »Jemand muss sich um die Tiere kümmern.« Sie deutete auf den Stall, der jenseits des Misthaufens lag.
»Malte hat Mitarbeiter.«
»Sie kennen Malte?«
»Ja, ich bin hier Stammkundin.«
»Die Mitarbeiter haben frei. Ich rufe Jens Hinrichs an. Der hat einen Hof in Brodersby. Die beiden helfen sich gegenseitig aus.«
Marie nickte. Die Frau mit der sehr besonderen Stimme nahm ihr Smartphone zur Hand.
Eine Fahrradklingel. Marie drehte den Kopf zur Hofeinfahrt. Von dort rollte eine fünfköpfige Familie heran. Marie stand auf, ging den Radlern entgegen und breitete die Arme aus. »Sie können heute nicht auf den Hof. Bitte drehen Sie wieder um.« Die beiden Kinder im Grundschulalter stoppten direkt vor Marie.
»Warum denn nicht? Mama hat versprochen, dass wir heute wieder Ziegeneis essen«, protestierte das Mädchen.
Die Mutter schob ihr Rad vor. »Hallo, darf ich fragen, warum Sie sich hier so aufspielen?« Der Ton schnippisch, der Blick überheblich.
Marie holte den Dienstausweis hervor. »Sie drehen jetzt einfach um und machen sich einen schönen Urlaubstag. Auch und gerade im Sinne Ihrer Kinder fahren Sie jetzt keinesfalls auf den Hof. Danke.« Kurz öffnete sich der Mund der Frau, Marie zeigte in Richtung der Straße.
»Kinder, wir sind nicht erwünscht. Im nächsten Jahr fahren wir wieder ins Allgäu.«
Die Familie trollte sich. Julia Sosa-Ridel hatte den Tisch verlassen. Sie telefonierte noch immer, stand aber nun in der Nähe des Misthaufens. Nachdem sie zunächst hysterisch reagiert hatte, wirkte sie nun beherrscht, beinahe souverän, als Marie sich näherte. Die Körperhaltung, der Klang der Stimme. Die Frau sprach spanisch, beendete das Gespräch, kurz bevor Marie sie erreichte.
»Geschäftlich«, erklärte sie. »Ich muss übermorgen wieder in Argentinien sein.«
»Ich fürchte, daraus wird nichts werden«, prognostizierte Marie. »Ein Kapitalverbrechen ist geschehen, Sie sind eng mit dem Toten verbunden, Sie sind eine wichtige Zeugin und bleiben zunächst in der Stadt.«
»Das können Sie anordnen? Dass Deutschland ein Polizeistaat ist, wäre mir neu.«
»Seien Sie unbesorgt. Im Zweifel werden Sie zu einer richterlichen Vernehmung vorgeladen. Das geht dann alles seinen geregelten Gang. Zugegeben, manchmal zieht es sich ein bisschen. Übrigens läuft Blut auf Ihre schönen Schuhe.«
Julia Sosa-Ridel sah an sich herunter, presste »Mierda!« hervor und ging zurück zur Picknickbank. Marie folgte.
»Das sind zwei oder drei Stiche, dann ist Ihr Knie wieder wie neu«, versuchte sie, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. »Es gibt in Kappeln einen sehr erfahrenen Chirurgen.«
»In Kappeln, soso. Ich fliege ja auch nicht mit einem Doppeldecker über den Atlantik.«
»Auch wieder wahr, Frau Sosa-Ridel. Malte und Sie, seit wann sind Sie ein Paar?«
»Waren Sie ein Paar, wäre korrekt. Seit dem vierten Semester. Wir haben beide Chemie in Hamburg studiert. 2001 war das.«
»Und Ihr Mann?«
»Professor Norbert Ridel, ich darf sagen, einer der herausragenden Forscher auf dem Gebiet der Lebensmittelchemie.«
»Auch Ihr Arbeitsgebiet?«
Julia Sosa-Ridel lachte kehlig. »›Con Canto‹, schon mal gehört?«
»Der Chemiekonzern?«
»1901 von meinem Großvater als Musikinstrumentenmanufaktur gegründet. Von meinem Onkel zum Chemieunternehmen von Weltrang umgebaut. Inzwischen leite ich Con Canto seit zehn Jahren. Sechsundzwanzigtausend Mitarbeiter. Was wäre die Landwirtschaft ohne uns?«
»Gesünder?«
»Sie verstehen etwas von Agrarchemie, Frau …?«
»Geisler, Hauptkommissarin Geisler. Nun, ich weiß, dass von Ihnen hergestellte Produkte mit dafür verantwortlich sind, dass Insekten sterben. Schlecht für Obst und Gemüse. Das lernt man ja schon im achten Schuljahr.« Es lief schlecht. Marie hatte sich von dieser gut aussehenden, selbstsicheren Frau provozieren lassen. »Ich habe Durst, Sie auch?«
Julia Sosa-Ridels Blick signalisierte Zustimmung.
»Sie haben einen Schlüssel, nicht wahr?«
»Generalschlüssel«, sagte Julia Sosa-Ridel.
Wenig später war Marie mit einer Karaffe Wasser und zwei Gläsern zurück.
Die Frauen tranken einander gegenübersitzend. Marie betrachtete die Kette um den Hals der anderen Frau, an der eine Pfeilspitze hing.
»Hat mir in Chile ein Angehöriger der Mapuche geschenkt. Ein indigenes Volk. Ich hatte ihn und sein Auto aus einem Graben gezogen. Ich habe gespürt, wie wichtig ihm die Pfeilspitze war. Warum auch immer. Ich halte sie in Ehren.«
Marie zeigte den Ring an ihrem linken kleinen Finger. »Gehörte einer Freundin, die mit zwölf gestorben ist. Den Ring hat mir deren Mutter gegeben. Was hat Sie mit Malte verbunden?«
»Die Kunst. Die Kunst, neu zu denken, zu irritieren, anzuregen. Unseren stummen Bund haben wir in einer Galerie geschlossen. Wir standen vor einem Bild von Fernando Fader. Ein Franzose, der in Argentinien gelebt hat, in München ausgebildet wurde. Romantisierende Bilder vom Landleben hat er gemalt. Unter anderem. Malte und ich haben das geliebt. Eine idealisierte Vorstellung, an der wir uns orientiert haben. Trotz allem.«
»Trotz allem?«
»Das gehört nicht hierher.«
»Ich habe gestern Novalis gelesen. Er schrieb vor langer Zeit sinngemäß, dass wir die Welt als Einheit begreifen, wenn wir sie liebevoll betrachten. Wie bringen Sie das zusammen, die emotionale Beziehung zur Natur und den Zwang, gute Quartalszahlen in Sachen Chemie vorzulegen?«
»Selbstverleugnung.«
Julia Sosa-Ridels Gesichtsausdruck machte es Marie nicht möglich, die Wahrhaftigkeit der Aussage einzuschätzen. Pokerface. Diese Frau, die ihr Geld mit Pestiziden verdiente, und Malte, der sich mit großer Überzeugung für den Schutz der Schöpfung eingesetzt hatte. Wie hatte das nur funktionieren können?
Marie hörte ein Poltern, ein Motorgeräusch, dann tauchte der Transporter der KTU vor der Hofeinfahrt auf. Am Steuer eine Frau, die Marie nicht kannte.
Auf dem Beifahrersitz entdeckte sie Elmar Brockmann, den Haudegen der Kriminaltechnik. Er griff gerade ins Lenkrad und dirigierte den Transporter vom Misthaufen weg. Spuren zu vernichten war eine von Elmars größten Sorgen. So kam das Fahrzeug links vor der Giebelseite der Stallungen zum Stehen.
Elmar stieg aus, bereits im obligatorischen Schutzoverall und mit dem für ihn typischen Scannerblick, den Kopf leicht nach vorn geschoben, als könne ihm so weniger entgehen. Ein kurzer, kontrollierender Blick zu Marie herüber, die nickte, dann erteilte er Anweisungen für Absperrmaßnahmen. Dabei wurde deutlich, dass er sofort nach einem möglichen Verbringungsweg für die Leiche schaute. Der Ort war zu exponiert, als dass man nicht davon ausgehen musste, dass Tat- und Fundort auseinanderliegen könnten.
Auf den linken Unterarm hatte sich Guido Schlick 1998 den Sägefisch aus dem Tätigkeitsabzeichen der Kampfschwimmer tätowieren lassen. Das hatte ihn mehr Überwindung gekostet als der erste Fallschirmsprung. Aber er hatte sich das Motto der Einheit zu eigen gemacht: Lerne leiden, ohne zu klagen. Daran hatte er sich damals in Eckernförde gehalten, und auch in der Zeit nach der Bundeswehr hatte er nie lamentiert, wenn es das Schicksal mal wieder nicht gut mit ihm gemeint hatte. Ein Ex-Soldat mit Fachabi. Gerissen hatte man sich auf dem Arbeitsmarkt nicht um ihn. Den Hof der Familie hatte sein älterer Bruder übernommen. Aber Guido Schlick hatte die Zeit bei der Security-Firma in Flensburg genutzt und sich durch ein Fernstudium der Informatik zukunftsfit gemacht. Leicht war das nicht gewesen. Durchgehalten hatte er dennoch.
Auch die drei Jahre Knast wegen schwerer Körperverletzung waren inzwischen vergessen. Jetzt aber schrie er vor Schmerz. Ein Ast hatte den rechten Oberschenkel durchbohrt, der Unterschenkel stand in einem grotesken Winkel zum Knie. Es war noch sehr früh, er war allein unterwegs, wie er immer allein unterwegs war. Niemand würde sein Rufen hören.
Nachdem ihm das Standbein weggerutscht war, hatte er mit den Händen keinen Halt gefunden und war schätzungsweise zwanzig Meter vom Klettersteig nach unten in das Geröllfeld gestürzt. Hätte er keinen Helm getragen, wäre er tot. Vielleicht wäre das besser gewesen, als zu verbluten. Guido Schlick zog ein Springmesser aus der Westentasche, ließ mit einer geübten Handbewegung die Klinge hervorschnellen, durchstach mit der Spitze das Gewebe seiner Hose und schob das Messer von der Eintritts- bis zur Austrittsstelle des Astes an der Innenseite des Oberschenkels durch den Stoff. Das Blut sickerte links wie rechts über die Hose auf den grauen, felsigen Untergrund. Gut war, dass der Ast der Krüppelkiefer keine Arterie verletzt hatte. Das Blut war dunkel, und es spritzte nicht aus den Wunden.
Er war mit dem Kopf nach unten zu liegen gekommen, sodass sein Bein bereits hochgelagert war. Vorsichtig richtete er sich auf, um seine Trinkflasche zu erreichen, die neben seinem linken Fuß lag. Der Schmerz war infernalisch. Guido Schlick schrie erneut laut auf. In der Ferne lag der Alpsee und reflektierte die ersten Sonnenstrahlen. Das Allgäu erwachte, und Guido Schlick fühlte, dass er trotz der Schmerzen schläfrig wurde.
Noch während die neue Kollegin das Flatterband quer über den Hof spannte, hatte Elmar bereits eine Mehrzweckleiter mit Plattform über dem Misthaufen in Stellung gebracht. Marie zweifelte nicht, dass die KTU über professionelles Gerät verfügte, aber unter Elmars Gewicht kam die Leiter nun doch leicht ins Wanken, als er sich an den Aufstieg machte. Die Leiter überspannte eine Strecke von sicher fünf Metern.
»Fall bloß nicht in die Scheiße!«, rief die Marie noch unbekannte Kollegin Elmar zu.
Marie wandte sich an Julia Sosa-Ridel. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Da wir noch ausführlich mit Ihnen sprechen müssen, ist Ihre Verfügbarkeit unabdingbar. Ihre Unterstützung wird bei der Aufklärung dessen, was hier geschehen ist, wichtig sein. Selbstverständlich werden wir Sie nicht länger einschränken, als unbedingt nötig ist. Versprochen. Ganz in der Nähe kann ich Ihnen eine Unterkunft empfehlen, die sicher auch Ihren Ansprüchen gerecht wird. Sehr angenehme Ferienwohnungen direkt an der Schleibrücke. Falls Sie mögen, kann ich anrufen und für Sie fragen.«
Julia Sosa-Ridel legte ihr Tablet nicht zur Seite. »Drei Tage.« Mehr sagte sie nicht.
Marie nahm ihr Telefon zur Hand und wählte die private Handynummer der Besitzerin. Mit Corinna war sie in Kontakt, seit sie vor einigen Jahren gemeinsam das Plein-Air-Festival organisiert hatten.
Wenige Minuten später war die Eignerlodge für die Zeugin reserviert.
»Frau Sosa-Ridel, ich habe trotz Hochsaison noch eine Wohnung für Sie reservieren können. Wenn Sie gleich auf der Hauptstraße nach rechts Richtung Kappeln abbiegen –«
»Ich weiß, wo die Schleibrücke ist. Danke.« Julia Sosa-Ridel verstaute ihr Tablet.
»Ich benötige noch Ihre Handynummer.« Marie schlug ihr Schleibook auf.
»Sie notieren das analog?«
»Ich fühle gern den Stift über das leichte, raue Papier gleiten.«
Die Mimik der Frau mit den beinahe blauschwarzen Haaren entspannte sich. Für einen Moment war ein Lächeln zu erahnen. Dann diktierte sie die Telefonnummer, sagte »Moin« und ging.
»Moin?«, murmelte Marie. In ihren Ohren klang es komisch, wenn Menschen aus dem Süden, also alle, die südlich von Bremen lebten, den norddeutschen Gruß auf diese selbstverständliche Art entrichteten. Für gewöhnlich war es mindestens »Moin, Moin«, was Urlauber über die Lippen brachten. Manchmal hörte man auch »Guten Moin«. Da musste man sich schon sehr zusammenreißen.
Marie schaute der Argentinierin nach, die gerade einen geliebten Menschen verloren hatte. Ihr Gang war selbstsicher. Sie ging zu dem weißen Auto mit Münchener Kennzeichen. Warum fuhr sie einen Mietwagen, wenn sie mit ihrem Mann doch auch in Hamburg lebte? Marie lief ihr nach.
»Verzeihen Sie, ich frage wegen des Autos. Ein Mietwagen wohl? Wo waren Sie, bevor Sie hierher zu Malte kamen?«
»In Spanien. Wichtiger Markt für uns.«
»Geflogen?«
»Was sonst?«
»Wann sind Sie hier angekommen?«
»Gestern Mittag. Sieben Uhr zwanzig ab Madrid mit der guten deutschen Lufthansa. Eine Stunde Aufenthalt in München. Ich hatte eine Besprechung dort. Zwölf Uhr dreißig in Hamburg, ab Flughafen weiter mit dem Mietwagen. Die A 7 war frei. Halb drei war ich hier. Da lebte Malte noch, so viel kann ich sagen.« Sie schlug mit der flachen Hand auf das Autodach. »Kann ich jetzt fahren, Frau Kommissarin? Kann ich jetzt endlich weg von diesem beschissenen Misthaufen?«
Sie hatte so gebrüllt, dass Elmar rüberschaute. Marie trat einen Schritt zurück. Julia Sosa-Ridel stieg ins Auto und fuhr ungefähr so schnell davon, wie Marie vor einer Dreiviertelstunde der Kastenwagen entgegengekommen war. Sie lehnte sich mit dem Rücken an das kühle Blech des EMOs. So also sah ihr freier Tag aus, an dem sie Gutes kaufen, gut kochen und sich was Gutes tun wollte. Sie sollte jetzt einfach vom Hof fahren.
Sie drückte sich vom EMO weg, federte den Bewegungsimpuls ab, ohne einen Ausfallschritt zu machen, und erneut spürte sie einen bekannten Schmerz im unteren linken Rücken. Selbstverständlich bliebe sie hier. Das war jetzt ihr Fall. Der Drei-Punkte-Plan war ja lediglich verschoben, und konzentrierte Arbeit lenkte auch prima von körperlichen Gebrechen ab. Was hatte Julia Sosa-Ridel gesagt? Selbstverleugnung. Die richtige Balance zwischen eigenen und den Bedürfnissen anderer zu finden war einer der Schlüssel zum Glück. Eine Suche im Heuhaufen. Aber jetzt war der Misthaufen dran.
Marie holte sich einen Overall aus dem Transporter der KTU und zog ihn an. Zu weit, viel zu weit. Sie ignorierte die Passform und machte sich in einem lockeren Hopserlauf in Richtung Leichenfundort auf den Weg. Die neue Kollegin schaute irritiert. Marie stoppte vor der Frau, die jung war. Wann hatte sie eigentlich zum ersten Mal gefühlt, gesehen, zweifelsfrei festgestellt, dass sie nicht mehr zu den Jungen gehörte?
»Marie Geisler, herzlich willkommen im schönen Norden.« Marie hielt der Frau ihre Hand hin und stieß auf einen Ellenbogen.
»Ronja Baderle. Das mit dem Norden, woher wissen Sie …?«
»Du, wir sagen Du. Durch deinen Overall scheint das T-Shirt durch. ›Universität Tübingen‹. Das wird einen Grund haben.«
»In der Tat. Ich habe da Biologie studiert.«
»Du bist keine Polizistin. Das ist deine erste Stelle. Du fragst dich, ob du ein Leben ohne Berge aushalten kannst.«
»Berge?«
»Du trägst Kletterschuhe.«
Im Hintergrund klapperte es. »Marie, lässt du Ronja jetzt bitte mal ihre Arbeit machen?« Elmar lag auf der Plattform direkt über Malte und hantierte mit einem Fotoapparat und einem anderen Gerät, dem Marie keine Funktion zuordnen konnte.
»Ich habe mich mit deiner Nachfolgerin bekannt gemacht.«
»Ronja, du kannst jetzt bitte die 3D-Laserkamera und das Dreibein aus dem Auto holen. Und du, Marie, kommst mal zu mir.«
»Ja, Chef.« Marie umrundete den Misthaufen, sodass sie an Maltes rechter Körperseite stand und Elmar ins Gesicht schauen konnte.
»Wo bleibt die Rechtsmedizin?«
»Das weiß ich nicht, Elmar. Ich habe Astrid verständigt, und sie wird sich kümmern.«
»Die Temperaturen. Das ist wichtig. Die Leiche, der Misthaufen. Könntest du mal aushelfen? Wir sind nur zu zweit. An der Mauer lehnt diese Teleskopstange mit einem Thermometer am Ende. Schiebst du das mal in den Misthaufen für eine erste Messung direkt unter dem Körper, bitte?«
Marie holte die Stange und ging hinüber zur anderen Seite, dorthin, wo sie die Bohle auf den Haufen gelegt hatte. Sie hielt die Stange waagerecht, das Thermometer neben Maltes Brustkorb, und machte mit einem Bleistift eine Markierung auf der Teleskopstange möglichst genau an der Stelle, bis zu der sie die Stange in den Mist schieben müsste, um unter Maltes Oberkörper messen zu können.
Elmar hatte sich gesetzt und beobachtete sie. »Nicht schlecht vorausgedacht. Du könntest bei uns anfangen.«
»Wie aktiviere ich das Thermometer?«
»Einmal auf die mittlere Taste drücken. Es piept, wenn sich die Temperatur nicht mehr ändert.«
»Und das hören wir durch den Mist hindurch?«
»Weiß ich nicht. Mach halt mal.«
Marie schaltete das Thermometer ein, kniete sich auf die Bohle und schob die Stange bis zur Markierung in den Misthaufen. Das ging schwerer als gedacht. Das Material war doch einigermaßen kompakt. Sie musste sehr darauf achten, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.
»Halt dich bloß nicht an meiner Leiter fest.« Elmar beobachtete interessiert, was Marie tat.
»Psst, leise, Elmar.«
Für ungefähr zwanzig Sekunden herrschte Stille, und sofort spürte Marie, wie Nähe zu Malte entstand. Er war nur eine Woche älter als sie gewesen. Nachdem sie ihn und seine Arbeit kennengelernt hatte, war er für sie zu einem Vorbild geworden. Er hatte seine Ziele gekannt, und vor allem hatte er sie konsequent verfolgt. Es war ihm gelungen, bäuerliche Traditionen und Erkenntnisse aktueller Forschung unter einen Hut zu bringen. Er war Schützenkönig gewesen und hatte in einer von Hipstern geprägten Ökoszene Karriere als Politiker gemacht. Er war als einer der Ersten mit einem E-Auto unterwegs gewesen und hatte im Eckernförder Hafen den Traditionssegler »Suse« am Start, auf dem er junge Leute aus ganz Europa die Besonderheiten der Ostsee erleben ließ. Der Schutz der Meere und der sorgsame Umgang mit dem Land hatten ihm am Herzen gelegen. Und das Schönste: Er hatte seine Überzeugungen und sein Engagement nie wie eine Monstranz vor sich hergetragen.
Das Thermometer piepte. Marie zog an der Teleskopstange. Es gab einen Ruck, Marie geriet aus dem Gleichgewicht, konnte sich aber fangen.
»Das war knapp«, kommentierte Elmar zutreffend.
»Vierundfünfzig Komma sechs Grad«, las Marie ab. »Ein Rechenexempel. Die Rechtsmedizin wird wissen, was zu tun ist. Ich denke, er ist nicht länger als acht Stunden tot«, legte sie sich fest.
»Wegen der Leichenstarre?«
Marie nickte.
»Vielleicht kommt Michel über den Mageninhalt näher ran. Immerhin nähert er sich seinem Einsatzort.«
Marie schaute über die Schulter und sah zwei Autos auf den Hof fahren. Das vordere Fahrzeug steuerte Michel. Der Rechtsmediziner hatte sich eine Glatze rasiert, weil ihn die Haare unter dem Motorradhelm störten. Jetzt trug er immer Mützen in schrillen Farben und Designs. Selbst durch die Windschutzscheibe konnte Marie sehen, dass er sich heute für Neongelb entschieden hatte.
Die beiden Autos parkten vor der Giebelseite des Hofladens neben dem EMO. Marie schob das Thermometer nun in einem steilen Winkel nach unten in den Haufen. So könnte man später Rückschlüsse über den Temperaturverlauf ziehen. Sie las achtunddreißig Grad ab, als Michel, Astrid und Bernd eintrafen.
»Moin.«
»Mooiin.«
»Jo.«
»Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist.«
Alle Augen auf Bernd.
»Hat Theodor Heuss gesagt.«
»Sag mal, Bernd, alles frisch bei dir? Da liegt ein toter Mensch auf dem Misthaufen, und du kommst mit diesem Aphorismuszeug. Jetzt reiß dich aber mal zusammen.« Marie war laut geworden, Bernd kleinlaut.
»Sorry, war blöd.«
»Kann man wohl sagen.«
Alle machten sich schweigend an die Arbeit. Michel zog Gummistiefel an und maß Maltes Körpertemperatur.
»Ich habe die Temperatur im Misthaufen an zwei Stellen gemessen.« Marie riss eine Seite aus dem Schleibook und schob sie in Michels Mappe, die aus einem seiner Koffer herausragte.
Astrid und Bernd verharrten in teilnehmender Beobachtung, Marie kletterte auf die Plattform, nachdem Elmar sie verlassen hatte.
»Ich bin noch nicht fertig«, merkte er an.
»Keine Sorge, ich verschwinde auf ein beliebiges Zeichen deinerseits.«
Sie legte sich auf das Aluminiumblech, das noch warm von Elmar war. Der Geruch hier war ein anderer als anderthalb Meter seitlich des Misthaufens. Marie blähte die Nasenflügel, sog die Luft ein, nahm den intensiven Gestank von Schwefelwasserstoff wahr. Aber da war noch was. Dann erinnerte sie sich daran, dass Malte sein Deo selbst herstellte und stets Orangenöl beimischte. So viel Orangenöl beimischte, dass es in seiner Nähe oft wie in einem Orangenhain geduftet hatte. Vielleicht, weil er viel Zeit in Ställen verbracht hatte. Vielleicht, weil sein Geruchssinn unterentwickelt gewesen war. Marie würde es nicht mehr herausfinden können.
Malte sah nicht aus, als sei alles Leben aus ihm gewichen. Er war eine frische Leiche. Jetzt bewegte sich sein rechter Arm. Marie zuckte zusammen, kurz stockte ihr der Atem. Dann sah sie, dass sich Michel am Körper des Toten zu schaffen machte.
»Stopp!«, rief Marie. »Da stimmt was nicht.«
»Was stimmt nicht?« Astrid näherte sich über die Holzbohle.
»Guck doch mal, das Ehrentuch der ›Suse‹, das er um den Hals trägt. Mal davon abgesehen, dass ich ihn noch nie mit einem Halstuch gesehen habe, ist es falsch gebunden.«
»Wie bitte?« Astrid legte den Kopf schräg.
»Guck doch. Die Schlaufe kommt von rechts. Wenn sich Rechtshänder ein Tuch auf diese Art binden, kommt die Schlaufe von links. Malte war Rechtshänder.
»Ehrentuch?« Bernd machte mit.
»Malte hat diese Tücher in einer Blaudruckerei herstellen lassen und zu Weihnachten treuen Unterstützern seines Traditionsseglers höchstpersönlich um den Hals gebunden. Eine Ehre. Darum Ehrentücher.«
»Albern.«
»Marketing, Bernd, das ist clever. Kundenbindung.« Astrid fotografierte das Tuch. »Marie, das hätte ich niemals gesehen. Du bist so eine gute Beobachterin.«
»Danke. Ronja, kannst du mir bitte einen Spurenbeutel reichen?«
Marie streckte sich, Ronja streckte sich. »Wir könnten auch Staffellauf«, stellte Ronja fest.
Marie fand Gefallen an der jungen Frau. Sie kontrollierte den Sitz von Maske und Schutzbrille, legte sich nun quer auf die Plattform, sodass Arme und Oberkörper fast senkrecht über Malte hingen. Sie griff nach dem Halstuch. Die Situation fühlte sich intim an. Sie war Malte in einer Position nahe, die ihm keinen Schutz mehr bot. Ob sie das so empfand, weil sie einander kannten, gekannt hatten? Kann man jemanden kennen, der tot ist? Ist das Präsens hier angebracht?
Marie atmete in den Bauch, so gut das kopfüber hängend ging, und stoppte ihren inneren Dialog. Sie löste den Knoten, zog das linke Ende unter Maltes Nacken hinweg und schob es danach wieder in die Schlaufe, sodass das Tuch ungefähr in der Ausgangslage war, als sie es vorsichtig in den Beutel schob. Feine Härchen, die man nicht gleich sah, Hautschuppen. Elmar hatte schon recht, wenn er immer wieder darum bat, Spuren ernst zu nehmen.
»Tschüs, Malte«, flüsterte sie, wand sich ächzend auf die Plattform zurück und richtete sich auf. Ein paar Übungen mit dem Medizinball wären nicht schlecht. Ihre Rumpfmuskulatur war schon mal kräftiger gewesen.
Am Abend nach dem Training würde sie auf die Hantelbank gehen, die Andreas ihr geschenkt hatte. »Günstig geschossen im Netz«, hatte er gesagt, und in der Folge hatte sich ein Gespräch über Sparsamkeit und Geiz entsponnen, an dessen Ende sie übereingekommen waren, dass Sparsamkeit ende, wenn Ausbeutung auch nur zu erahnen sei.
Marie kletterte von der Leiter, machte Platz für Elmar. Michel fragte, wann er den Toten haben könne, Elmar legte sich nicht fest. Nachdem Marie die Maske vom Gesicht gezogen hatte, ging sie hinüber zu Astrid, die in diesem Moment ein Telefonat beendete.
»Das mit dem Kastenwagen wird schwierig. Wäre es ein Rolls Royce Silver Shadow, Baujahr 1964, dann wäre es leicht.«
»Gibt’s nicht«, konterte Marie.
»Was gibt’s nicht?«
»Die Frage muss lauten: Wen gibt’s nicht? Einen Silver Shadow, Baujahr 1964. Er wurde erst ab 1965 gebaut.«
»Du veralberst mich.«
»Nein, ich bin anglophil.«
»Wohl eher autogeil. Woher weißt du das?«
»Quellenschutz.«
Astrid machte Grimassen, schüttelte sich kurz und sagte: »Große Runde morgen, nachdem Michel den Toten obduziert hat und die KTU was sagen kann?«
Marie nickte. »Wir haben den Kastenwagen, wir haben Julia Sosa-Ridel …«
»Marie, du glaubst doch nicht, dass die Mörderin die Leiche nach der Tat hübsch drapiert, sich ins Bett legt, am Morgen in Ruhe ihre Tasche packt und nur darauf wartet, dass jemand den Toten findet.«
»Lass uns mal abwarten, wie viel Zeit zwischen Tod und meinem Eintreffen tatsächlich vergangen ist. Die Leichenstarre war nicht voll ausgeprägt, länger als acht Stunden liegt es nicht zurück, dass Malte gestorben ist. Vielleicht auch nur eine Stunde, und die Geliebte hatte keine Chance, früher zu verschwinden.«
»Du gehst davon aus, dass Tatort und Fundort nicht übereinstimmen, richtig?«
»Genau. Für mich sieht es aus, als habe der Täter respektive die Täterin eine Botschaft mit der Art der Ablage verbunden.«
Astrid setzte sich auf die Picknickbank und griff versonnen nach einem der Gläser, die dort noch standen.
»Keine Angst vor Lippenherpes? Aber du hast Glück gehabt, mein Glas ist das andere. Man weiß ja nie.«
»Danke, ich war in Gedanken. Nehmen wir an, die Geliebte tötet Malte in den frühen Morgenstunden. Es waren große Emotionen im Spiel, sie will nachträglich deutlich machen, was sie von ihm hält, und legt ihn als Abfall auf dem Misthaufen ab? Immer auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden? So blöd wird sie nicht sein.«
Marie hockte sich Astrid gegenüber. »Hat sie die Nacht mit ihrem Geliebten verbracht oder nicht? Sie hatten Streit, er schlief auf der Couch, ging in der Dunkelheit noch mal raus und traf dort auf seinen Mörder.«
»Zufällig, mitten in der Nacht? Nö.«
»Ein Nachbar, mit dem er in Streit war, der ihm die Reifen zerstechen wollte. Eine Auseinandersetzung eskaliert.« Marie drückte den Rücken durch. »Auch wenn es furchtbar ist. Darum liebe ich diese Arbeit.« Sie wussten nicht, wie es war, was kommen würde, wie sie dafür sorgen konnten, dass zumindest nachträglich so etwas wie Gerechtigkeit hergestellt würde.
»Vorschlag: Ich fahre nach Eckernförde und forsche wegen des Halstuchs nach. Was sich damit verbinden lässt.« Marie kicherte. »Also nicht mit dem Tuch, sondern mit dem Umstand, dass es meines Erachtens nicht das Tuch von Malte ist. Nur so ein Gefühl.«