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Zuerst die Diagnose Demenz und dann noch zufälliger Zeuge eines Mordes, an den er sich nur bruchstückhaft erinnert. Keine Polizei der Welt wird ihm glauben. Hectors Leben ändert sich schlagartig! Das Verbrechen kann er nur selbst aufklären. Hilfe erhält er von seiner neuen Nachbarin, einer pensionierten Grundschullehrerin. Ohne es zu ahnen, kommen die beiden dabei einem gefährlichen Drogensyndikat in die Quere. Das Schicksal beginnt, einen seidenen Faden zu spinnen!
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Seitenzahl: 209
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Thomas Dorn, Jahrgang 1958, groß geworden in den 60ern und 70ern. Konservative Werte noch gelernt und verstanden, aber auch schon moderne Zeiten erlebt und genossen. Voraussetzungen für einen leichten und flüssigen Erzählstil.
„Als Autor möchte ich die Leser in meine Geschichten einsaugen und sie für einige Zeit die Welt um sich vergessen lassen. So fühlt sich Freiheit an.“
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
… und höre anderen Menschen zu, auch den Langweiligen und Unwissenden, denn auch sie haben etwas zu sagen. (aus Desiderata von Max Ehrmann 1927)
Einleitung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
In der Volksschule fragte der Klassenlehrer seine Schüler, was sie denn einmal werden wollten. Feuerwehrhauptmann, Sekretärin, Sparkassenangestellter, Ärztin, Automechaniker und vieles mehr antworteten brav die Zweitklässler. Als dann die Reihe an ihm war und er artig aufstand, platzte es förmlich aus ihm heraus, so, als wartete er schon lange darauf, dass ihm diese eine Frage einmal gestellt werden würde, und er der Welt von seinem Traum endlich berichten könnte: „Amerikanischer Detective!“
Das Detective sprach er in dem typisch breiten amerikanischen Slang, so wie er es aus den Filmen kannte und schon oft geübt hatte.
Hector erinnerte sich noch ganz genau, wie ihn damals sein Lehrer mit einem nachsichtigen Lächeln auf dem Gesicht angesehen, seine Mitschüler ihn lauthals ausgelacht und er sich einerseits verstört, aber auch zornig wieder auf seinen kleinen Holzstuhl gesetzt hatte.
Sie werden noch staunen, wenn sie alle erst einmal von seinem ersten gelösten Fall in der Zeitung lesen würden, dachte er.
Hector knabberte gedankenversunken an dem Fingernagel seines kleinen Fingers der rechten Hand. Stille, gepaart mit einer ungewohnten Situation, veranlasste ihn oft zu diesem Reflex. So auch heute. Im Wartezimmer von Dr. Reinhard war er mittlerweile der vorletzte Patient. Es war bereits der zweite Termin bei dem Neurologen innerhalb weniger Tage. Beim ersten Arztbesuch wurden einige Tests mit ihm durchgeführt und er musste ein Formular mit Fragen beantworten. Heute nun erwartete er eine erste Diagnose. Bereits seit einer halben Stunde saß Hector in dem stillen und fensterlosen Raum auf dem unbequemen Stuhl, neben ihm das Regal, in dem die älteren und leicht abgegriffenen Magazine darauf warteten, von den Besuchern der Arztpraxis, wenn nicht gelesen, so doch zumindest durchgeblättert zu werden. Über der Eingangstür des Wartezimmers hing eine große runde Uhr, die ein wenig an eine Bahnhofsuhr erinnerte. Der Sekundenzeiger zog gleichmäßig seine lautlose Bahn, verharrte kurz auf der zwölf, und sobald der Minutenzeiger eine Minute weitergerückt war, fing sein Spiel wieder von vorn an. Hector beobachtete die monotone Arbeit des Sekundenzeigers eine Weile und wieder wurde ihm bewusst, wie kurz doch das Leben sein konnte. Insbesondere, wenn man das Leben so sehr liebte wie er. Was würde er nicht alles dafür geben, nicht hier ausharren und mit Mitte fünfzig auf eine Unheil bringende Diagnose warten zu müssen! Viel lieber würde er jetzt an seinem Arbeitsplatz sein und einen seiner vielen offenen Versicherungsfälle bearbeiten oder mit seiner geliebten Charlotte beim Spanier sitzen und mit Jamón Iberico, frischem Brot, Oliven und einem Glas Rioja die Zeit genießen.
„Herr Rolf Martens, bitte ins Behandlungszimmer 2“, tönte es mit einer verzerrten und kratzigen Frauenstimme aus dem kleinen Lautsprecher neben der großen runden Uhr.
Daraufhin erhob sich der angesprochene Patient langsam von seinem Stuhl, fuhr sich nervös durch sein braunes schütteres Haar und verließ das Wartezimmer mit bedächtigen Schritten, ohne Hector eines Blickes zu würdigen. Der plötzliche Aufruf des Lautsprechers holte Hector unvermittelt ins Hier und Jetzt zurück. Einen Wimpernschlag später erschrak er, denn er konnte sich gar nicht an Herrn Martens erinnern. Hatte er ihm wirklich ununterbrochen gegenüber gesessen? Hatte er ihn nur nicht bemerkt, weil er so still oder er, Hector, so in sich versunken gewesen war? Oder blitzten bereits erste Auswirkungen seiner Krankheit auf? Hector wischte seine Bedenken schnell beiseite und schaute wieder auf die große runde Uhr, die ihn, je länger er darauf starrte und dem nicht müde werdenden Sekundenzeiger folgte, förmlich hypnotisierte und ihn die Gegenwart um sich herum vergessen ließ.
War nicht die Vergangenheit die bessere Gegenwart?
***
Zwei Wochen vorher in Hectors Büro.
„Hecki, du sollst zum Chef.“ Hector sah leicht irritiert von seinem Leitz-Ordner auf, nahm noch hastig einen Schluck von seinem mittlerweile kalt gewordenen Kaffee und folgte Angie, der Sekretärin von Robert Mühlhausen, seinem Chef, schnell, während er gleichzeitig sein leicht gemustertes blaues Sakko überzog. Was mochte der Chef zu so später Stunde noch von ihm wollen, fragte er sich unwillkürlich.
Kurz vor dem Büro ihres Chefs bog Angie auf ihren rechts neben der Eingangstür gelegenen Schreibtisch ab und forderte Hector mit einer kleinen Geste auf, sogleich Mühlhausens Büro zu betreten. Es war ungewöhnlich, dass sie ihn wortlos eintreten ließ. Normalerweise versuchte sie immer, ihre Kollegen in ein Gespräch zu verwickeln, egal wie die Gemütslage auch sein mochte. Spiegelte sich nicht heute Mitleid in ihren Augen wider?
„Hallo, Herr Ostleben, kommen Sie rein. Wir haben uns ja heute noch gar nicht gesehen. Was macht der Fall Dr. Reich? So setzen Sie sich doch bitte.“
Wie üblich verband Hectors Chef fast jedes Treffen mit seinen Mitarbeitern immer mit der Frage nach dem gerade vom Angesprochenen behandelten wichtigsten Fall. Hector kam es so vor, als wollte er damit seine dienstliche Aufmerksamkeit dokumentieren und dem Untergebenen spüren lassen, dass er genau wusste, mit was für einem Fall der sich gerade beschäftigte.
„Die Polizei hat den Einbruch bei Dr. Gregor Reich heute so weit abgeschlossen. Sofern es in den nächsten drei Monaten keine neuen Erkenntnisse über die Einbrecher oder das Diebesgut gibt, müssen wir regulieren“, antwortete Hector, noch bevor er sich setzte.
„Das hört sich nicht gut an. Und da kommen wir nicht raus?“ Nach einer kurzen Gedankenpause antwortete Hector: „Nein, keine Chance, zumal Dr. Reich Jurist ist und er sich sicherlich mit den Gegebenheiten auskennt.“
Wieder füllte eine Gesprächspause das Büro für einige Sekunden aus.
„Nun ja, schieben wir den Fall Dr. Reich einmal beiseite.
Vor fast fünfundzwanzig Jahren habe ich meine Versicherungsagentur eröffnet und sie waren mein erster Angestellter. Sie haben sich von den anderen Agenturen nie abwerben lassen und auch heute sind Sie mein bester Mitarbeiter.“
Hector kannte seinen Chef und spürte förmlich, wie schwer ihm jetzt die Unterhaltung fiel. Was wollte er ihm nur sagen?
„Also, es fällt mittlerweile auch den Kollegen auf, dass Sie zerstreut sind, Termine vergessen und zuweilen erst spät im Büro erscheinen, obwohl Sie keinen Arzttermin oder Behördengang angemeldet haben. Ich selbst musste Sie vorgestern bei einem Kunden in Bad Homburg vertreten. Was ist los, Herr Ostleben? Muss ich mir Sorgen machen?“
Die beiden Männer schauten sich für einige Sekunden schweigend in die Augen.
Hector biss sich auf die Unterlippe und fuhr sich mit seiner Hand über das Kinn. Er wusste doch selbst nicht, was mit ihm los war. Und ja, in letzter Zeit war er manchmal schusselig und vergaß gelegentlich etwas. Aber deswegen solch einen Aufstand zu machen, verstand er nicht. Er wollte gerade mit einer Art abwiegelnder Entschuldigung für sein Verhalten starten, da nahm sein Chef den Gesprächsfaden wieder auf.
„Ich glaube, die letzten Wochen haben alle Beteiligten doch sehr strapaziert. Vielleicht brauchen Sie einmal eine Auszeit, um sich zu erholen, und eine Gelegenheit, um zum Arzt zu gehen. Ganz jung sind Sie ja nicht mehr. Was halten Sie von einem einmonatigen Sabbatical?“
Hector war normalerweise nicht auf den Mund gefallen, doch missfiel ihm die ganze Stimmung in den letzten Sekunden. Träumte er oder versuchte Mühlhausen ihn gerade auf elegante Weise zu entsorgen, kam es ihm in den Sinn. Auf der anderen Seite hatte sein Chef nicht ganz unrecht. Seine Stimmungsschwankungen und seine Vergesslichkeit waren auch Charlotte, seiner Frau, schon aufgefallen. Litt er, wie sie es schon einmal meinte, an einer Art beginnender Demenz?
Robert Mühlhausen wartete auf eine Antwort. Wenn er jetzt seinen Chef vor den Kopf stieße und alles leugnete, was in letzter Zeit vorgefallen war, würde er unglaubwürdig und stur wirken. Nein, Hector wusste, Mühlhausen etwas abzuschlagen, wäre keine gute Idee und würde die Situation nur noch mehr verhärten.
„Okay.“ Hector hatte keine Chance, es war besser, wenn er zustimmte. „Ich nehme ihr Angebot gern an und pausiere für vier Wochen. Danach kehre ich aber wieder an meinen Arbeitsplatz zurück. Sie wissen, wie wichtig mir meine Arbeit und meine Fälle sind.“
Das Gesicht von Hectors Chef entspannte sich in Bruchteilen einer Sekunde. Vermutlich hatte er insgeheim mit mehr Gegenwehr gerechnet. Aber Hector hatte es ihm leicht gemacht.
„Das freut mich aber sehr, insbesondere für Sie“, kommentierte der Chef der Versicherungsagentur die Entscheidung seines Mitarbeiters.
Kurz darauf klopfte die Sekretärin an die Tür, steckte den Kopf herein und erinnerte Herrn Mühlhausen an einen anstehenden Termin.
„Na ja, das Wichtigste haben wir besprochen. Reichen Sie Urlaub für vier Wochen ein. Ihre wichtigen Fälle übertragen Sie bitte an Frau Kehrlich. Die Akte Dr. Reich aber legen Sie mir bitte heute noch auf meinen Schreibtisch. Da kümmere ich mich selbst drum. Und falls wir uns heute nicht mehr wiedersehen, wünsche ich Ihnen eine gute Auszeit und kommen Sie gesund wieder.“
Mit den letzten Sätzen reichte er Hector entschlossen die Hand, während sein Gesicht ein aufmunterndes Lächeln probierte, was ihm allerdings nur ungenügend gelang.
Nachdem Hector der jungen Kollegin Kehrlich seine laufenden Fälle übertragen, Angie den Urlaubsantrag online geschickt und die Akte Dr. Reich seinem Chef auf den Schreibtisch gelegt hatte, verließ er kommentarlos und nachdenklich die Agentur, die unweit vom Marktplatz in Oberursel gelegen war.
Auf dem Trottoir empfing ihn eine eiskalte Novemberböe. Schnell knöpfte er seinen Trenchcoat zu und wickelte sich umständlich mit einer Hand seinen karierten langen Wollschal um den Hals.
In der anderen Hand trug er seine alte lederne Aktentasche, die ihm Charlotte zu seinem Start bei der Agentur Mühlhausen geschenkt hatte. Um nicht ganz ohne Arbeit zu sein, verwahrte er dort jetzt eine Kopie der Akte Dr. Reich auf. Die hatte er noch schnell ausgedruckt, bevor er die Akte auf den Schreibtisch von seinem Chef gelegt hatte.
Unterwegs zur Bushaltestelle, nur wenige hundert Meter von der Agentur entfernt, ließ Hector den Tag noch einmal Revue passieren. Etwas Unbekanntes passte nicht in seine Logik, und schien ihn zu stören, aber er wusste nicht, was es war, das ihm hätte auffallen sollen.
Im Bus endlich zog es Gott sei Dank nicht und die Heizung lief auf Hochtouren. Hector wurde es langsam warm. Die großen seitlichen Busscheiben waren allesamt beschlagen und so huschten in der Dunkelheit milchig verschwommene farbige Lichter in abwechselnder Intensität wie bunte Fischschwärme an Hectors Augen vorbei.
„Hallo! Sie! Hören Sie mich? Der Bus hält jetzt hier, bis die nächste Schicht beginnt!“
Hector hörte die brummige Stimme ganz leise. Als diese ihren letzten Satz eindringlich wiederholte, fuhr Hector leicht zusammen.
Wo war er, was war passiert, wer war der Mann, der zu ihm sprach? Nach einer gefühlten Ewigkeit reagierte Hector.
„Wo sind wir? Warum sitze ich hier?“
Der Busfahrer schüttelte irritiert den Kopf. „Wir haben die Haltestelle Hans-Mess-Straße in Oberstedten erreicht. Gleich kommt meine Ablösung. Sind Sie zu weit gefahren? Wo wollten Sie denn aussteigen?“ Der Mann mit der leicht übergewichtigen Figur stützte sich mit seiner linken Hand an der Rückenlehne von Hectors Sitzbank ab und schaute abwartend in sein Gesicht. Hector wusste genau, wo er wohnte, und er wusste auch, wo er hätte aussteigen müssen. Es lag ihm auf der Zunge. Aber es kam kein Wort über seine Lippen. Verdammt noch mal, so lass mich doch endlich sprechen! Der Busfahrer meint ja, ich verarsche ihn oder bin plemplem. Warum in Gottes Namen bekomme ich kein Wort heraus? Hector konnte zwar seinen Mund wie ein Fisch bewegen, aber kein Wort verließ seinen Körper. Vor lauter Panik begann er jetzt, seine Hände und Finger zu bewegen, um sich auszudrücken. Aber er machte alles nur noch schlimmer. Als er nun aufstand und anfing, zusätzlich mit seinen Armen unkontrolliert in der Luft herumzurudern, schien der Fahrer des Stadtbusses völlig überfordert.
„Wenn Sie nicht antworten können und Sie nicht wissen, wo Sie aussteigen müssen, kann ich Ihnen nicht helfen. Am besten, ich rufe jetzt die Polizei.“
Nein, auf keinen Fall!, pochte es in Hectors Kopf. Heftig schüttelte er ihn, um dem Helfer seine Antwort zu signalisieren. Als er damit immer noch auf Unverständnis stieß, verließ er fluchtartig den Stadtbus, wobei er sich im letzten Moment seiner Aktentasche erinnerte und sie schnell an sich riss. Stolpernd und mit Angstschweiß auf der Stirn, entfernte er sich zügig und eindeutig verwirrt von der Haltestelle, wobei ihm der Busfahrer noch etwas hinterherrief, was Hector in seiner Aufregung und gleichzeitigen Angst nicht verstand. Mit offenem Mantel, den Schal nur notdürftig um den Hals gewickelt, und seiner unter dem rechten Arm eingeklemmten Aktentasche, erreichte er eine mit einigen wenigen Straßenlaternen erleuchtete Häuserzeile. Hier verlangsamte er seine Schritte und sog ruhig und tief die kalte Abendluft durch die Nase in seine Lunge.
An einer der Straßenlaternen hielt er an, knöpfte ruhig seinen Mantel zu und legte seinen wärmenden Wollschal ordentlich um seinen Hals. Langsam beruhigte sich auch sein Puls wieder. Um auszuprobieren, ob seine Stimme wieder funktionierte, sprach er leise zu sich selbst: „Hallo, hallo, ich heiße Hector Ostleben und wohne in Oberursel.“
Gott sei Dank, er konnte wieder sprechen! Seine Sprechblockade hatte sich gelöst.
„Was war da nur los?“, entfuhr es ihm, sowohl interessiert als auch besorgt. Für den Augenblick fand er keine Antwort, er spürte, dass er sich bald seinem Problem würde stellen müssen, so konnte es nicht weitergehen.
Zurück an der Haltestelle wechselte er die Straßenseite und bestieg wenige Minuten später den Stadtbus 41, der in Richtung Oberurseler Bahnhof fuhr. An der Haltestelle Heidegraben verließ er den Bus und schloss wenige Minuten später seine Wohnungstür auf.
„Wo bleibst du denn nur?“, rief ihm Charlotte aus der Küche entgegen. „Wir wollten doch heute früher zu Abend essen. Du weißt doch, ich habe nachher Chorprobe.“
„Ja, ich weiß, aber ich musste noch zu Mühlhausen wegen eines schwierigen Falls“, log Hector, während er sich an der Garderobe seines Mantels und Schals entledigte.
Gemeinsam mit Charlotte aß er anschließend zu Abend.
Von seiner ungewollten vierwöchigen „Freizeit“ und seinem Aussetzer im Stadtbus erzählte er nichts. Seine Scham und seine Angst waren einfach zu groß.
Nach dem Vorfall im Stadtbus vereinbarte Hector einen Arzttermin bei Dr. Reinhard, einem anerkannten Neurologen in Bad Homburg. Bis dahin spielte er Charlotte einen normalen Alltag vor. Er wollte sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht verunsichern und überhaupt, er selbst wusste noch gar nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Morgens verließ er wie jeden Werktag um acht Uhr die gemeinsame Wohnung und kehrte abends gegen neunzehn Uhr wieder zurück. Tagsüber verbrachte er den Tag in der Bibliothek von Oberursel, auf der Zeil in Frankfurt oder in den gemütlichen Cafés in Bad Homburg.
Hier recherchierte er auch stundenlang im Internet zum Thema Alzheimer und Demenz. Klar, die Symptome, die sein Körper ihm in letzter Zeit signalisierte, wiesen schon in diese Richtung hin, aber so richtig glauben wollte er es nicht. Jetzt ging es ihm doch gut und er fühlte sich wohl, keine Anzeichen von irgendeiner Krankheit. Außerdem ließ er sich alle Jahre bei seinem Hausarzt durchchecken – mit EKG, großem Blutbild und der unangenehmen Prostata-Untersuchung. Nie wurden Auffälligkeiten festgestellt. Auch gab es in seiner Familie, weder bei seinen Eltern, den Großeltern noch deren Geschwistern, überhaupt Verdachtsfälle. Im Gegenteil, sowohl seine Großeltern als auch seine Eltern waren im hohen Alter geistig fit gewesen und starben erst mit Ende achtzig oder noch älter. Sein Großvater Alexander, von seiner Frau oft Alexandros gerufen, wurde sogar zweiundneunzig. Ihm hatte er auch seinen ungewöhnlichen Vornamen Hector zu verdanken. Der Großvater war einer der letzten Altgriechisch Lehrer auf dem Lessing-Gymnasium in Frankfurt und Experte der Ilias, der Geschichte über den Trojanischen Krieg. Er wollte ursprünglich, dass sein Name mit dem Buchstaben K geschrieben wurde. Aber Hectors Mutter hielt den Namen für wesentlich freundlicher und internationaler. Bisweilen fand er seinen Vornamen auf Briefen oder in Dokumenten auch mit einem K geschrieben vor.
Er konnte mit beiden Buchstaben leben.
In einigen Foren, die sich mit Alzheimer-Erkrankungen beschäftigten, las er auch viele tragische Geschichten und von den damit verbunden Qualen, Einschränkungen und medizinischen Eingriffen. Auch rechtliche Besonderheiten gab es zu berücksichtigen, denn ab einem bestimmten Zeitpunkt lief die Entscheidungsfähigkeit und Willensäußerung völlig aus dem Ruder. Je mehr Hector bei dem Thema in die Tiefen des Internets vordrang, umso mehr schwirrten die einzelnen wirklich wichtigen Details in seinem Kopf herum. Den meisten Berichten und Dokumentationen waren jedoch eines gemeinsam: Man sollte so frühzeitig wie möglich einen Spezialisten aufsuchen, der nach Durchführung verschiedener Tests eine profunde Diagnose erstellte und die weiteren therapeutischen und medizinischen Schritte gemeinsam mit dem Patienten und seiner Familie festlegte. Hector grauste davor. Das Schlimmste würde sein, dass einen danach alle für geistig minderbemittelt hielten und nur noch Mitleid entgegenbrachten.
***
„Herr Ostleben, bitte ins Behandlungszimmer 1“, tönte die scheppernde Frauenstimme aus dem Lautsprecher neben der großen Uhr und riss Hector aus seinen Gedanken. Widerwillig und wissend, dass die kommende halbe Stunde entscheidend für sein weiteres Leben sein würde, verließ er den nun leeren Warteraum. Im Behandlungszimmer erwartete ihn eine ungewöhnlich hübsche und charmante Sprechstundenhilfe, die er bei seinem ersten Besuch in der Praxis nicht zu Gesicht bekommen hatte. Groß gewachsen, mit einem sympathischen Lächeln, feinen Gliedmaßen, natürlichen frischen Gesichtszügen, umrahmt von halblangen blonden Haaren. Der weiße, etwas zu enge Kittel umspannte leicht ihre wohlproportionierten weiblichen Körperformen.
„Guten Abend, Herr Ostleben, setzen Sie sich bitte. Dr. Reinhard wird gleich kommen.“ Während sie mit Hector sprach, ordnete sie einige medizinische Geräte und Hilfsmittel auf einem kleinen weißen Beistelltisch, der neben dem ausladenden und fast leeren Schreibtisch stand. Nur ein stylisher Laptop und eine filigrane Designerlampe befanden sich auf dem Tisch.
Als einfache Sprechstundenhilfe wirkte die junge Dame auf Hector eindeutig fehl am Platz. Mit ihrem Aussehen und ihrem Charme wäre sie in der Modewelt eindeutig besser aufgehoben, kam es ihm in den Sinn, als er sie ungewollt mit seinen Blicken verfolgte. Überhaupt erschien ihm die ganze Situation aus einem unbekannten Grund surreal. Wollte er das alles überhaupt? Sollte er nicht besser gehen?
„Guten Abend, Herr Ostleben.“ Dr. Reinhards wohlklingende Stimme riss Hector aus seinen Gedanken. „Wie ist es Ihnen seit unseren Untersuchungen ergangen? Gab es noch irgendwelche Vorfälle?“
„Nein, keine weiteren Vorfälle, an die ich mich erinnern könnte“, antwortete Hector wahrheitsgemäß.
„Ich habe mir die Ergebnisse der Untersuchungen nochmals intensiv angeschaut und ja, bei Ihnen diagnostiziere ich eine beginnende Demenz, zwar in leichter Form, aber bereits nachweisbar. Sie haben sicherlich schon mit einer ähnlichen Diagnose gerechnet, Herr Ostleben?“
Dr. Reinhard sah Hector dabei direkt ins Gesicht, wohl um seine Reaktion zu erfahren. Hector erwiderte den Blick, hörte aber die letzten Worte seines Gegenübers wie durch eine alle Geräusche verschluckende Nebelwand.
„Herr Ostleben, haben Sie mich verstanden?“
Erst nach mehrmaliger Ansprache war Hector wieder aufnahmefähig. Er nickte, nachdem Dr. Reinhard seine Diagnose nochmals verkürzt wiederholt hatte.
„Yvonne, geben Sie Herrn Ostleben doch bitte einen Schluck Wasser“, forderte der Arzt seine Sprechstundenhilfe besorgt auf. Nachdem Hector einen Schluck des kalten Leitungswassers zu sich genommen hatte, fühlte er sich besser.
„Darf ich weiterreden?“ Der Doktor schaute ihn fragend an.
„Ja, bitte. Ich fühlte mich gerade nur etwas überfordert.“
„Das kann ich verstehen, und für viele meiner Patienten ist die Diagnose sicherlich einschneidend. Aber bei Ihnen gibt es einen Lichtblick. Sie befinden sich ganz am Anfang einer Demenzerkrankung. In diesem Stadium lässt sich noch so einiges machen. Insbesondere kommt es auf die richtigen Medikamente und die passende begleitende Therapie an. Zurückdrehen können wir die Uhr nicht, aber wir können den weiteren Verlauf extrem abbremsen, wenn nicht sogar aufhalten. Ich will Ihnen aber jetzt nicht zu viel versprechen. Erst sind noch einige weitere Untersuchungen notwendig, dann sehen wir weiter. Ich schreibe Ihnen jetzt vorsichtshalber einige Tabletten auf, die Sie jeweils morgens und abends einnehmen. Auf jeden Fall sollten Sie Stresssituationen vermeiden. Diese sind oftmals Auslöser für verändernde Gehirnströme und die wiederum führen mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Attacke. In ihrem Fall zu Sprachschwierigkeiten und unkoordinierten Bewegungen der Gliedmaßen.
In etwa so wie bei Ihrer Geschichte im Stadtbus, von der Sie mir erzählt hatten. Die Tabletten, sofern regelmäßig eingenommen, können Ihnen dabei helfen, diese Klippen sicher zu umschiffen. Sie sollten jetzt auf jeden Fall mit Ihrer Frau sprechen und sie über die Diagnose informieren. Familienangehörige sind ein wichtiger Baustein bei der begleitenden Therapie. Nur wenn Ihr Umfeld entsprechend eingeweiht und vorbereitet ist, wirkt sich das ungemein positiv auf Ihre gesundheitliche Situation aus.“
Während der langen Rede des Neurologen mit seiner sanftmütigen und wohlklingenden Stimme spürte Hector eine gewisse Entspannung. Auch wenn die Diagnose wie vermutet weitreichende Veränderung in seinem Leben zur Konsequenz haben würde, so fühlte er sich bei Dr. Reinhard in guten Händen.
Allerdings würde ihn die Offenbarung gegenüber seiner Charlotte einiges an Überwindung kosten.
„Werde ich weiter arbeiten können?“, knüpfte Hector an die Rede des Arztes an.
„Sie arbeiten als Versicherungskaufmann in einem Büro, richtig?“ „Ja, in Oberursel.“
„Nun, das sollte kein Problem sein. Es liegt an Ihnen, Ihren Arbeitgeber zu informieren. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Bekanntgabe einer Demenzerkrankung oftmals zu unschönen Situationen geführt hat. Warten Sie erst einmal die noch ausstehenden Untersuchungen ab und wie die Tabletten wirken. Dann können Sie immer noch entscheiden, was Sie Ihrem Arbeitgeber mitteilen wollen.“
„Ja, das hört sich vernünftig an“, bestätigte Hector mit einem Kopfnicken den gut gemeinten Rat des Arztes.
In der Zwischenzeit hatte Dr. Reinhard seinen Laptop aufgeklappt und dort einige Notizen zum Gespräch mit Hector und seine Diagnose hinterlegt. Abschließend erstellte er online das Rezept über die Medikamente. Wenige Sekunden später hörte Hector, wie ein Drucker bei der nahegelegenen Empfangstheke das Rezept ausdruckte. Die Sprechstundenhilfe verließ kurz das Behandlungszimmer und legte es dem Arzt zur Unterschrift auf den blanken und steril wirkenden Schreibtisch vor. Während der Neurologe unterschrieb, fasste die Assistentin ihn mit leichtem Druck an die Schulter. Hector, der die Szene unbewusst beobachtete, kam es vor, als wolle sie ihrem Chef etwas signalisieren. So nach dem Motto: Jetzt beeil dich doch!
Hector war ein guter Beobachter, ihm fielen solche Kleinigkeiten oftmals auf. Gerade in der nonverbalen Kommunikation zwischen Personen oder Partnern glaubte er oftmals Hinweise zu erkennen, die ungewohnte Situationen oder leicht irritierende Begebenheiten einfach erklären konnten.
Seine gute Beobachtungsgabe, gepaart mit seinem Talent, heikle Situationen frühzeitig als solche zu erkennen, hatten ihm als Versicherungskaufmann schon oftmals geholfen, und so sah er sich bei manchen seiner Versicherungsfälle mehr als Detektiv und nicht so sehr als Kaufmann.
„So, hier bitte Ihr Rezept. Ich empfehle Ihnen, noch heute mit der Einnahme zu beginnen. Gegenüber der Praxis ist gleich die Park-Apotheke, da bekommen Sie die Tabletten bestimmt. Wegen der weiteren Untersuchungen melden wir uns dann bei Ihnen. Ich will mir noch einmal überlegen, welche hier am zielführendsten sind. Da bin ich mir bis jetzt noch nicht im Klaren.“
„Gut, Herr Dr. Reinhard, vielen Dank. Ich muss das Ganze jetzt auch erst einmal sacken lassen. Ich höre dann von Ihnen. Aber bitte rufen Sie mich auf meinem Privat-Handy an. Die Nummer haben Sie ja.“
Dabei blickte Hector die Sprechstundenhilfe an, die ihn sicherlich in den nächsten Tagen über die weiterführenden Untersuchungen informieren würde.
„Ja, Sie hören dann von mir“, entgegnete die junge Frau.
Er war der letzte Patient für den heutigen Tag. Nur er, der Doktor und die Sprechstundenhilfe hielten sich noch in den teilweise spärlich beleuchteten Praxisräumlichkeiten auf.
Während die junge Frau ihn aus dem Behandlungszimmer geleitete, spürte Hector bei ihr eine gewisse Unruhe und Angespanntheit. Dabei schaute sie immer wieder zum noch hell erleuchteten Behandlungszimmer zurück. Es schien, als habe sie Angst, dass der Doktor ihr entwiche.
„Sie finden doch sicherlich alleine den Weg aus der Praxis. Sie waren doch schon einmal da“, ließ die junge Frau Hectors Vermutung wahr werden, wobei sich schlagartig ihre weichen Gesichtszüge verhärteten und sie sich von ihm Richtung Behandlungszimmer abwendete.
„Ja, natürlich, ich kenne mich aus“, rief er ihr noch nach.
Als er die Praxis gerade verlassen wollte und die Ausgangstür noch nicht ins Schloss gefallen war, fiel ihm ein, dass er seinen Mantel und seinen Schal an der Garderobe vergessen hatte. Gott sei Dank noch rechtzeitig!
Um nicht aufzufallen, entschloss sich Hector, leise noch einmal die Praxis zu betreten und die wenigen Schritte zur Garderobe zurückzulegen.
Nur eine kleine Schreibtischlampe hinter dem Empfangstresen illuminierte die Szene. Hector kam sich in diesem Moment wie ein Einbrecher vor. In der Mitte des großen Empfangsbereichs stehend, vernahm er plötzlich ein lautstark geführtes Gespräch aus Richtung des Behandlungszimmers. Die beiden Stimmen ordnete er Dr. Reinhard und seiner Assistentin zu.
„Ich verlange jetzt endlich Klarheit in unserer Beziehung, Michael!“, schrie offensichtlich die junge Frau den Arzt an.
„Ja, das verstehe ich, aber du weißt doch, dass ich mit Susanne einen Ehevertrag habe, und ich im Falle einer Scheidung fast mittellos dastehe.“