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Was haben ein Bundesbanker, ein arbeitsloser Ingenieur und ein spielender Trucker mit den Goldreserven der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam? Sie wollen die Deutsche Bundesbank, die Bundespolizei und ihr gebeuteltes Selbstwertgefühl überlisten und eine halbe Tonne Gold unerkannt aus Argentinien über Deutschland nach Spanien holen. Wird ihnen das Meisterstück gelingen oder haben sie am Ende die Rechnung ohne den Wirt gemacht?
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Thomas Dorn, Jahrgang 1958, groß geworden in den 60ern und 70ern. Konservative Werte noch gelernt und verstanden, aber auch schon moderne Zeiten erlebt und genossen. Ideale Voraussetzungen für einen leichten und flüssigen Erzählstil. „Als Autor möchte ich die Leser in meine Geschichten einsaugen und sie für einige Zeit die Welt um sie vergessen lassen. So fühlt sich Freiheit an“.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
Akt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Akt
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Akt
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
„Sssssss.“ Stille. Eine Hand schlug in der Luft umher, um anschließend auf der zur Hand gehörenden Stirn zu landen. „Sssssss.“ Stille. Wieder wirbelte die Hand unkontrolliert in der leicht stickigen und verbrauchten Zimmerluft umher, um etwas im Gesicht zu treffen. Der Vorgang wiederholte sich noch einige Male, aber der Versuch die Fliege zu vertreiben oder sogar zu erledigen gelang einfach nicht. „So langsam nervst du“, dachte sich Faust, dessen narkotisierte Sinne sich nun begannen Stück für Stück zu orientieren. Zuerst öffnete sich ein träges Auge, dann setzte die noch schwache Atmung ein und sog verstärkt die Umluft ein, die Ohren waren ja schon durch die Flug- und Landekünste der Fliege einigermaßen wach und sein bitterer und trockener Geschmack verriet ihm, dass er wieder zu viel geraucht hatte und sicherlich in der Nacht unablässig geschnarcht hatte. Zu guter Letzt meldete sich auch noch sein Gehirn mit leicht klopfenden Schlägen im Inneren zur Arbeit „und zu viel getrunken“, entfuhr es Faust. Schritt für Schritt näherte sich Faust gedanklich dem Hier und jetzt und registrierte die Umgebung:
„Sein Loch“, wie er seine bescheidene Behausung, in Form eines Zimmers mit Nasszelle und Kochnische gern nannte. Das Fenster im 5. Stock, dass ihm wenigstens vom Bett aus dem ungetrübten Blick auf den Himmel erlaubte und ihm somit wertvolle Tipps für eine schnelle Wetterprognose versprach. „Heute sieht es trocken aus und kalt schien es auch nicht zu sein“, prognostizierte er den Oktobermorgen während seine Gedanken sich zum gestrigen Abend verloren, den er wieder Mal in der Oase verbracht hatte, einem ehemaligen Szenelokal in der Frankfurter Innenstadt, unweit vom Bankenviertel. Beim genauen Hinsehen bemerkte man, dass das Lokal einmal bessere Zeiten gesehen hatte. An einigen Wänden hingen noch immer „kleine Kunstwerke“ von ehemals hippen Künstlern aus der Szene. Auch die lange hölzerne Bar, mit reichlich Messingbeschlägen und einer durchgehenden Marmorplatte, auf der sich die vollen Gläser so schön mit leichtem Schwung zum Gast manövrieren ließen, zeugten von einstiger Größe. Nach einigen Razzien wurde die Oase Ende 2011 geschlossen. Insider wussten zu berichten, dass auch die spendablen Banker nicht mehr so zahlreich nach Dienstschluss kamen. Die Finanzkrise schmälerte wohl ihr üppiges Gehalt und nährte ihren Verdacht, dass nicht mehr alles von Dauer sein könnte. Danach war die Oase für zwei Jahre geschlossen und eröffnete zu Silvester 2013 wieder. Aber das gut zahlende Publikum blieb aus und es zogen die Aussteiger, Spieler, ewigen Zauderer und Träumer ein. Rita, die neue Bar-Betreiberin schmiss soweit es ging den Laden alleine. Hin und wieder half ihr einer von den Stammgästen hinter der Theke. Rita war schon seit zehn Jahren vierzig, ein wenig verlebt aber herzensgut. Nicht jeder Stammgast konnte immer zahlen und somit stapelten sich so manche Deckel über Monate bei ihr in der zum Lokal gehörenden Küche. Hin und wieder brauchte Rita auch einmal einen Kerl, meist einen der älteren Stammgäste, da der „Märchenprinz“ sie noch nicht wachgeküsst hatte, wie sie gern kolportierte.
Faust betrat die Oase am frühen Abend und stellte sich sogleich zu Rita an die Bar und bestellte ein Bier. „Nicht viel los heute“, versuchte er ein Gespräch zu beginnen. „Noch zu früh“, entgegnete Rita, die froh war, dass jemand mit ihr das Gespräch suchte. Außerdem fand sie Faust trotz seiner Mitte Fünfzig einigermaßen attraktiv und hatte schon mehrmals angefangen ihn für sich einzunehmen, allerdings ohne Erfolg. Wobei er ihr zu verstehen gab, dass es nicht an ihr lag. Er hing wohl noch an seiner „Ex“, wie sie glaubte aus früheren Gesprächsfetzen bei Diskussionen über Ehe und Frauen unter angetrunkenen Männern an der Bar bei ihm verstanden zu haben. „Heute habe ich Bescheid von meinem ehemaligen Arbeitgeber bekommen, dass aus meiner Abfindung nichts wird und, dass ich auch nicht mehr auf meinen Arbeitsplatz zurückkehren kann. Kannst du auf die Bezahlung meiner Deckel noch ein wenig warten?“ Rita wusste, dass Faust Probleme mit seinem Arbeitgeber der Firma Bosch hatte. „Na klar, kein Problem. Es kommen auch wieder bessere Tage. Lass dich nicht unterkriegen. Und wenn es ganz schlecht läuft, hilfst du mir hinter der Bar. Aber heute nicht, die wenigen Gäste schaffe ich schon noch alleine.“ „Gut, wenigstens auf dich kann man sich verlassen.“ In diesem Moment klingelte das Handy von Rita und sie zog sich in die angrenzende Küche zurück, um ungestört telefonieren zu können. Anscheinend eine Freundin, die ihr die neuesten Storys erzählen wollte. Als Faust überlegte, ob er sich nicht für heute in „sein Loch“ verkriechen sollte, bemerkte er am anderen Ende der langen Bar Ron, den LKW-Fahrer, der ihm schon so manchen Euro beim Kartenspielen aus der Hosentasche gezogen hatte. Heute schien Ron jedoch, ähnlich wie Faust, nicht in seiner besten Verfassung zu sein. Faust näherte sich ihm langsam. „Na, Ron lange nicht mehr gesehen. Was machen die Geschäfte?“ „Beschissen“, antwortete Ron, der schon mehrere Striche auf seinem Deckel versammelt hatte. „Dann sind wir ja schon zwei, denen es heute außerordentlich prima geht“ versuchte Faust ironisch zu entgegnen. Ron fuhr als LKW-Fahrer für die Spedition IC International Cargo, die in der Innenstadt in der Nähe der Konstablerwache ihre Verwaltung hatte. Die Spedition arbeitete viel mit öffentlichen Verwaltungen und der Messe zusammen und mit der Deutschen Bundesbank. Ron war meistens im Großraum Frankfurt unterwegs, oft auch auf Fahrten vom Flughafen Frankfurt in die Innenstadt oder ins Industriegebiet. Mit Anfang fünfzig ist Ron auf die Fahrten für die Spedition angewiesen, denn neben einem kleinen Fixgehalt von etwas über tausend Euro, verdient er sein Geld in erster Linie durch die doch recht lukrativen Sonder-Fahrten im Großraum Frankfurt. Faust wusste, dass Ron ein Spieler ist, der nicht nur in der Oase seine Opfer suchte. Ron ist wohl auch auf den verschiedenen Spiele-Plattformen im Internet unterwegs. Er selbst spricht von sich als „Spiele-Süchtigen“, wobei Faust wusste, dass er auch auf das gewonnene Geld angewiesen war. „Na hast du wieder gegen einen Unbekannten im Internet verloren“ versuchte Faust den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. „Nein“, entgegnete Ron, „mein Boss hat mir für nächsten Monat einige Fuhren gestrichen. Jetzt weiß ich nicht wie ich dann über die Runden kommen soll. Und wer hat dir vorn Koffer geschissen?“ „Der Bosch lässt mich nicht mehr arbeiten und zahlt mir meine Abfindung nicht. Nach über drei Monaten kam heute die schriftliche Stellungnahme von Bosch. Zum Ende nächsten Jahres werden meine Rücklagen dann auch aufgebraucht sein und ich muss stempeln gehen. Klagen ist zu teuer und ist in der heutigen Zeit mit viel Risiko verbunden.“ Was Faust verschwieg, war die Tatsache, dass er an seiner vorzeitigen Entlassung nicht ganz unbeteiligt war, wenn auch unabsichtlich. Als Ingenieur hatte er auf einem Verbandsmeeting einige vertrauliche Informationen an den Wettbewerb ausgeplaudert. Nachdem der Wettbewerber mit den Informationen hausieren gegangen war, fiel beiläufig auch sein Name. Nachdem seine Firma zu dem Vorfall über die Staatsanwaltschaft angefragt wurde, war alles andere nur noch eine Frage von wenigen Tagen und er saß auf der Straße, ohne Arbeit und leider auch ohne Abfindung, die ihm eigentlich aufgrund seiner langen Firmenzugehörigkeit zustand. Seine Ex, von der er seit zwei Jahren getrennt lebte, wusste davon nichts und sein Sohn hatte erst vor einem halben Jahr noch als Student seine erste Stelle als Software-Ingenieur in Stuttgart angetreten und hatte jetzt sicher andere Sorgen. Das Leben ist halt kein Ponyhof! Ein Spruch, den er vor Jahren gern seinem Sohn mit auf dem Weg gab, wenn es Probleme in der Schule gab.
Einige Wochen zuvor einige Kilometer von der Oase entfernt saß Leopold von Rügen im 13. Stock der Zentrale der Deutschen Bundesbank in seinem Büro, schaute ganz in sich geruht auf die in der Ferne sichtbare herbstliche Skyline von Mainhatten und dachte über seinen baldigen Ruhestand nach. Er war zwar noch keine sechzig, aber so langsam mehrten sich die Zeichen, dass seine Tage in der Bank gezählt waren. Neue Chefs kamen und gingen, neue unausgegorene Projekte wurden verkündet und Hierarchiestufen wurden gestrichen. Aber was kam nach der Pensionierung? Wie sollte sein Leben weitergehen? Sollte er Briefmarken sammeln oder in den Hasenzüchter Verein gehen, wie seine Frau ihn in letzter Zeit öfters neckte, wenn er vom Aufhören sprach. Nach seinem Geschmack würde er lieber ein Verhältnis mit seiner Sekretärin Frau Mohns anfangen oder in Oldtimer aus den Siebzigern investieren. In diesem Moment klingelte sein Handy und riss ihn aus seinem Tagtraum. „Hallo Leo, ich bin´s“ meldet sich seine Frau Cheryl besorgt. „Deinem Großvater geht es gar nicht gut. Ich glaube er wird den heutigen Tag nicht überstehen. Dr. Reinhard war schon da und meinte ich soll dich informieren. Vielleicht ist es besser, wenn du kommst.“ Kurze Pause dann entgegnete Leopold kurz „Ich komme sofort.“ Von Rügen liebte seinen Großvater sehr, er war neben seiner Frau und seinen beiden Töchtern die einzige Bezugsperson in seinem Leben.
Seine Eltern waren Mitte der Siebziger bei einem Autounfall im Taunus beide gestorben. Die Geschwister seiner Eltern sahen sich außer Stande, den damals siebzehnjährigen bockigen und pickeligen Leopold aufzunehmen. Aber sein Großvater Friedrich von Rügen überlegte nicht lange und nahm ihn kurzerhand unter seine Fittiche, kümmerte sich mit seiner Haushälterin Klara liebevoll aber mit der gebotenen Strenge um ihn. Er brachte ihm Manieren bei, zeigte ihm stolz auf seine Familie zu sein und förderte seine Talente im Sport und in der Schule. Anlässlich seines Abiturs schenkte er ihm einen 74er Porsche Targa, den er heute noch fuhr. Mit dem eilte er nun auch nach Oberursel, wo er mit seiner Familie und seinem Großvater in der Villa seines Großvaters seit damals lebte. Seine Großmutter war früh an Krebs gestorben und Friedrich von Rügen hatte nie mehr geheiratet. Somit war das Anwesen groß genug für die ganze Familie. Als von Rügen in die Einfahrt der Villa einbog, sah er auch schon seine Frau, die ihn am Eingang ungeduldig erwartete. Schnell parkte er den Wagen, schloss die Autotür ab und eilte zu seiner Frau. „Er sagt er will dich sehen. Es scheint ihm wichtig zu sein, dass du gleich zu ihm kommst.“ „Ja, Danke ich ziehe mir nur noch meinen Mantel aus, dann gehe ich nach oben.“ Friedrich von Rügen residierte in einigen Räumlichkeiten im ersten Stock der Familienvilla.
Leopold hastete die Treppe herauf und mit einem leichten Klopfen an der Tür seines Großvaters betrat er das abgedunkelte Schlafzimmer. Sein Großvater, der vor wenigen Wochen neunundneunzig geworden war, lag verloren und schmächtig in seinem großen Bett. Grau und abgemagert im Gesicht mit tiefliegenden Augen gebot er Leopold doch an sein Bett zu kommen. „Ich glaube es geht zu Ende Leo, mir bleibt nicht mehr viel Zeit“ begrüßte Friedrich seinen Enkel mit schwacher Stimme. Leopold nahm am Bettrand vorsichtig Platz und nahm die matte und faltige Hand seines Großvaters. „Es gibt noch etwas, was ich dir anvertrauen muss, bevor ich gehe. Über alles andere haben wir ja schon so oft gesprochen. Es gibt aber eine Sache, die du noch nicht weißt.“ Leopold rechnete insgeheim mit keinen größeren Überraschungen, denn sein Großvater war immer korrekt, ehrlich und wahrhaftig. „Es gibt noch einen größeren Familienschatz im Ausland. Du musst wissen, wo er ist und wie du an ihn herankommst.“ Sichtlich geschwächt wurde die Stimme seines Großvaters immer leiser, sodass er sich nun zu ihm herunterbeugen musste, um jedes Wort auch zu verstehen. „In Buenos Aires bei der Argentinischen Zentralbank liegen auf unserem Namen seit vielen Jahren eine halbe Tonne Gold. Das Losungswort heißt „Rügengold.“ Das Losungswort war so leise gesprochen worden, dass es sich Leopold noch einmal wiederholen ließ. „Friedrich, das interessiert mich jetzt nicht, wir müssen schauen, dass es dir schnell besser geht. Soll ich noch einmal nach Dr. Reinhard schicken?“ Doch Friedrich konnte seinen Enkel nicht mehr hören. Innerhalb weniger Sekunden war er der Welt entrückt und seine Augen waren leer und ohne Glanz. Leopold war von dem plötzlichen Ableben seines geliebten Großvaters, der mehr war als nur ein Großvater geschockt. Seine Hände hielten noch die mittlerweile erkaltete Hand seines Großvaters, seine Mundwinkel fingen zu zittern an, sein Herz schlug langsamer und seine Augen füllten sich mit Tränen. In Leopolds Gehirn reihten sich, ohne groß nachzudenken alle wichtigen Lebensabschnitte, die er mit seinem Großvater erlebt hatte, wie an einer Perlenschnur auf: das Begräbnis seiner Eltern, der achtzehnte Geburtstag, die Abiturfeier, der Studienabschluss, die Hochzeit, die Geburt der Kinder und der neunzigste Geburtstag, als es im Hause noch einmal richtig rund ging.
Faust schälte sich so langsam aus seinem Bett und ging zuerst auf die Toilette. Anschließend wusch er sein Gesicht mit lauwarmem Wasser und schaute, sozusagen als Qualitätscheck, im Spiegel in sein doch so gebrauchtes Konterfei. Qualität sah er bei dem Anblick jedoch nicht: Augenringe vom gestrigen Abend, Tränensäcke vom Alter und Falten und Furchen, die über die letzten Jahre immer tiefer geworden waren. Auch die aufgetragene Antifalten-Creme wird das Chaos in meinem Gesicht nicht lösen können, dachte er sich, kämmte seine grauen Haare, die er seit letztem Jahr etwas länger trug und putzte sich abschließend noch seine Zähne mit einer elektrischen Zahnbürste, um den grässlichen Geschmack in seinem Mund zu egalisieren. Bevor er sich Gedanken machen konnte, ob er heute Frühstücken wollte, schweiften seine Gedanken wieder zum gestrigen Abend ab. Wie tief war er mittlerweile gesunken, dass er sein Leben mit fragwürdigen Existenzen in schrägen Lokalen verbrachte und keinerlei Lichtblicke wahrnahm. Hatte er schon aufgegeben? Gehörte er schon tatsächlich zum alten Eisen? Und was sollte jetzt noch kommen?
Wobei Ron sicherlich nicht als fragwürdige Existenz zu sehen war, höchstens ein Leidensgenosse, der sich momentan auch schwertat mit seinem Karma. Auf jeden Fall hatte Ron Faust nach dem fünften Glas Bier zu einem seiner nächsten Spieleabende eingeladen, nachdem er Ron den ganzen Abend mantraartig bequatscht hatte, ihn doch einmal auf seine berüchtigten Spieleabende mitzunehmen. „Isch melde misch bei Dir, wenn´s soweit iss“, war der letzte vom Bier vernebelte Satz von Ron woran sich Faust erinnern konnte. Mächtig getankt wankte Faust anschließend zu später Stunde in „sein Loch“, zog sich umständlich aus, fiel in sein seit Tagen nicht gemachtes muffig riechendes Bett und rauschte in einen tiefen traumlosen Schlaf.
Es regnete in Strömen, als Friedrich von Rügen mit allen Ehren auf dem Frankfurter Hauptfriedhof im Familiengrab beigesetzt wurde. Alle noch lebenden Angehörigen, ehemalige Führungskräfte von Friedrich aus seiner aktiven Zeit bei der Deutschen Bundesbank, ein Vertreter der arbeitgeberfreundlichen Friedrich-Ebert-Stiftung, der Bürgermeister von Oberursel sowie eine Journalistin der FAZ waren anwesend. Und natürlich Leopold von Rügen mit seiner Frau und den beiden erwachsenen Töchtern, die beide im Ausland studierten und erst vor wenigen Stunden gelandet waren und Klara der Haushälterin. In der Trauerhalle ließen viele Redner noch einmal die Verdienste von Friedrich von Rügen Revue passieren und zeichneten ein doch recht erfülltes Leben. Vor allem seine Verdienste sowohl für die Bank als auch für den Taunus Kreis, insbesondere nach dem Krieg, ließen noch einmal aufhorchen.
So wie es in der Familie seit vielen Generationen üblich wurden die fast hundert Gäste dann im Frankfurter Hof mit einem Totenschmaus in den späten Nachmittag entlassen. Leopold verabschiedete gedankenverloren den letzten Trauergast. „Ihr Großvater war ein toller Mensch und Mitarbeiter“, versuchte sein Chef, der als ein Vertreter der Bank an der Trauerfeier auch teilgenommen hatte, ihn noch abschließend zu trösten. „Ich denke es reicht, wenn sie erst kommenden Montag wieder im Büro erscheinen. Ordnen sie erst einmal Ihre Gedanken und die Angelegenheiten ihres Großvaters. Ich denke es wäre auch in seinem Sinne.“ Leopold dankte für das Verständnis und begleitete seinen Chef noch bis zum Eingang des historischen Gasthauses. Nach kurzen Formalitäten mit der für die Trauerfeier zuständigen Mitarbeiterin verließ die Familie von Rügen mit zwei Wagen Frankfurt wieder in Richtung Oberursel.
Bei der Verkündung des Testaments seines Großvaters gab es keine nennenswerten Veränderungen gegenüber der Version, die Leopold schon seit einigen Jahren kannte, nur, dass Klara, die Haushälterin, fünfzigtausend Euro aus dem Nachlass und Wohnrecht in der Souterrain-Wohnung der Villa auf Lebenszeit erhielt. Das Gold wurde im Testament mit keinem Wort erwähnt.
Hatte sein Großvater in seinem Todeskampf doch nur fabuliert oder war etwas dran an dem „Rügengold“ in Argentinien?
Um seine Familie mit dem Goldschatz nicht zu verunsichern und um überhaupt erst einmal herauszufinden, ob an dem geparkten Auslands-Gold etwas dran war, musste Leopold recht vorsichtig in den alten Unterlagen seines Großvaters forschen. Am zweiten Tag nach der Beerdigung fand Leopold schließlich erste Indizien für das Familiengold. Fotografien und Briefe aus Buenos Aires aus den frühen Sechzigern belegten, dass sein Großvater zumindest dort gewesen war. Neben Fotos von seiner Großmutter und Friedrich selbst sah man auf einigen Fotos auch Männer mit Business-Anzügen, so wie Sie auch Bankmanager deutscher Banken üblicherweise trugen. Handelte es sich um Banker Kollegen der Argentinischen Zentralbank? War der Besuch seines Großvaters in Argentinien nur der Überprüfung des Familiengoldes vor Ort geschuldet oder gab es mit der jungen Deutschen Bundesbank auch Kontakt zur Argentinischen Zentralbank? Aus der vorliegenden Korrespondenz ging hierzu wenig hervor, einzig den Adressaten konnte sich Leopold schließlich merken: Señor Carlos Rodriguez Santos.
Nachdem Faust seine Jeans, T-Shirt, seine liebgewonnene Lederjacke und seine Baseball-Kappe angezogen hatte, verließ er sein Loch, ohne aufgeräumt zu haben schnell in Richtung seiner Lieblingstagesbar „Bon Giorno“ in der Kaiserstraße, um dort zu frühstücken.
Die Bar war recht klein und beherbergte nur vier kleine Bistro-Tische, die in der Regel auch immer besetzt waren, meistens mit Kunden, die aus dem Viertel stammten, wie Studenten, Rentnern oder Berufstätigen, die noch vor dem Start in den Tag oder dem Arbeitsbeginn einen Cappuccino mit Croissant oder nur einen Espresso bestellten. Neben den Bistro-Tischen gab es auch noch ein altes Sofa, das der vorherigen Besitzerin gehörte. Bernd der jetzige Besitzer des „Bon Giorno“ hatte es an seinem alten Platz entlang der hinteren Wand belassen und es als seinen „Ruheplatz“ umfunktioniert. Mit seinen neunundsechzig Jahren wurde er im Laufe eines Tages doch recht müde und wenn wenige Gäste in der Bar waren, nutze es Bernd auch mitunter Mal als Rastplatz für seine müden Füße. Liebgewonnene Gäste durften auch auf Bernds Rastplatz sitzen, sofern alle Tische besetzt waren oder Bernd viel zu tun hatte und das Sofa verwaist war. Faust nutzte die entspannte Sitzgelegenheit gern, weil er auch hier Gelegenheit hatte, nachdem er seinen Americano und ein süßes Stückchen bestellt hatte, einen Blick in die FAZ zu werfen oder E-Mails zu lesen oder zu beantworten. Die heutige Ausgabe der FAZ war von Bernd, wohl weil er Gäste schnell bedienen wollte nicht wieder richtig zusammengefaltet worden und so fiel Faust sogleich der Wirtschaftsteil in die Hände, der mit einem umfangreichen Artikel über Gold seine Aufmachung fand. „Schon wieder“, dachte Faust laut, als er die Überschrift las.
Durch die Wirtschaftskrise 2008 waberte das Thema „Gold“ in beständiger Wiederkehr durch die Zeitungen, mal als Ergänzung zu Aktien und Fremdwährungen, mal in Form eines „Goldschatzes“, den man in Polen vermutete oder hin und wieder nur als wertvolles Metall für sinnlos teuren Schmuck.
Faust wollte schon die Seite wieder mit dem Rest der Zeitung in seine ursprüngliche Form legen, als neben dem Hauptartikel ein kleinerer Artikel seine Aufmerksamkeit weckte, in dem es um die Goldreserven Deutschlands ging. „Deutschland holt seine Goldreserven nach Hause“, las er die Headline. Der unscheinbare Artikel beschrieb, welche Mengen Gold in welchem Land derweil gelagert wurden und, dass die Bundesregierung schon vor einigen Jahren beschlossen hatte, dass Gold wieder zurückzuholen. Da es sich bei der insgesamt im Ausland gelagerten Goldmenge um mehr als tausendfünfhundert Tonnen handelte, fragte sich Faust insgeheim, wie hier wohl der Transport vonstattengehen würde, ob mit Schiff, mit LKW oder mit Flugzeug.
Abgeschlossen wurde der Artikel mit dem Hinweis, dass die Deutsche Bundesbank mit der Zurückholung des Goldes beauftragt worden war und, dass in Zusammenarbeit mit dem Verkehrsministerium und der Fa. Bosch neue intelligente Logistiksysteme zum Einsatz kommen würden. „Da haben sich wieder die richtigen Pappenheimer gefunden“ dachte Faust, denn sowohl von der Politik als auch von den großen deutschen Industrieunternehmen hielt er nicht viel. „Zu groß, zu schwer und zu schwerfällig“ war dazu in der Vergangenheit oft in Kurzform seine Kritik. „Hast du was gesagt“, wollte Bernd wissen, als er sich zu Faust auf das Sofa setzte. „Du, nein, ich habe nur laut gedacht.“ Faust war erst jetzt aufgefallen, dass er seine Kritik hörbar geäußert hatte. Schnell faltete er die Zeitung wieder in seine ursprüngliche Form und legte sie neben das Sofa auf den kleinen Beistelltisch, auf dem sein Americano und sein süßes Stückchen standen, sowie alte Zeitungen und Magazine sich stapelten. Bernd, der mit einem geübten Auge schnell festgestellt hatte, dass alle seine Gäste ihre Bestellungen genossen und zumindest für den Augenblick zufrieden mit der Welt und der kurzen Rast schienen, sog geräuschvoll die Luft ein, zog ein kurzes Grinsen auf sein Gesicht und ließ sich entspannt in das Sofa sinken. „Jetzt kennen wir uns schon fast zwei Jahre und ich kenne dich nur als Faust“, suchte Bernd das Gespräch. „Es ist doch sicherlich nicht dein Rufname, wie heißt du eigentlich richtig?“ „Mein voller Name lautet: Friedrich August Stein. Das war meinem damaligen Schulfreund Werner zu lang, deshalb nannte er mich entsprechend den Anfangsbuchstaben meines vollen Namens „Faust.“ Und da ich Zeit meines Lebens auch ein Grübler und kleiner Philosoph war und bin, hat der Name auch Besitz von mir ergriffen und meine Freunde und Bekannten nennen mich nur noch „Faust.“
Leopold von Rügen war ein leiser, zurückhaltender und zuweilen in sich gekehrter Mann. Als einer von vier Abteilungsleitern im Zentralbereich Controlling des Dezernats drei bei der Deutschen Bundesbank kamen ihm diese Eigenschaften natürlich zugute und neben seiner beruflichen Qualifikation waren diese mitentscheidend, dass er es in der Deutschen Bundesbank soweit geschafft hatte. Wobei, hier war sich Leopold auch sicher, auch sein Name und der Einfluss seines Großvaters vieles leichter gemacht hatten. In den ersten Berufsjahren begegnete er auch des Öfteren alten Weggefährten seines Großvaters, die ihn daran erinnerten, was für ein wertvoller Mitarbeiter und Führungskraft Friedrich von Rügen für die Bank gewesen war und, dass er, Leopold, sicherlich ähnlich erfolgreich sein werde.
Nach der Beerdigung tat sich Leopold in den kommenden Wochen schwer im Geschäft wieder richtig Fuß zu fassen. Zu viele Gedanken schwirrten in seinem Kopf: was wird mit dem Familiengold, kann und muss er sich darum kümmern, wann weiht er seine Frau Cheryl ein, kündigt er vorher oder nachher? Vor allem musste er ausfindig machen, woher das Gold stammte und ob das Gold noch wirklich in Buenos Aires bei der Zentralbank lag? Alles Fragen auf die Leopold momentan noch keine Antworten hatte. In diesem Moment erschien seine Assistentin, Frau Mohns in seiner Tür, die wie gewöhnlich immer offenstand.
„Bitte den Termin mit ihrem Chef nicht vergessen“, erinnerte sie ihn in ihrem fast freundschaftlichen Ton. Leopold hatte den Termin zwar auch in seinem Outlook-Kalender schon gesehen, war aber trotzdem froh, dass Frau Mohns ihn auf ihre charmante Art auf den Termin nochmals aufmerksam machte. „Bin gleich weg. Wissen Sie worum es geht?“, fragte er neugierig, wissend, dass die Assistentinnen manchmal mehr an Hintergrundinformationen hatten, als man selber. „Nein, leider nicht. Ich habe nur gehört, dass es mit der Bundesregierung hierzu mit dem Präsidenten letzte Woche einen Termin gab.“
„Na dann kann es ja nichts Wichtiges gewesen sein“, witzelte Leopold von Rügen. Es war seine Art auf unbequeme Situationen zu reagieren, zumal wenn er nicht wusste was man von ihm erwartete. Schnell nahm er seine Schreibkladde vom Schreibtisch, kippte noch eines seiner Bürofenster und durchmaß mit eiligen Schritten das Vorzimmer seines Büros, indem Frau Mohns saß in Richtung Lift. Wenige Minuten später saß er im Büro seines Chefs, dessen Räumlichkeiten doppelt so groß war wie seine eigenen, allerdings keinen so tollen Blick auf Mainhatten bot, da es sich nur im achten Stock befand. „Na, Herr von Rügen haben Sie den Tod Ihres lieben Großvaters bereits gut überstanden?“, fing Günther Rasch, Leiter aller vier Controlling-Abteilungen des Zentralbereiches, die Konversation mit Leopold von Rügen an. „Ja sicherlich“, log von Rügen, der sich nicht gern in sein Gefühlsleben schauen ließ und um schneller in Erfahrung zu bringen, worum es sich bei diesem Termin mit seinem Chef handelte. „Wie Sie wissen“, begann Herr Rasch, “liegen noch etliche Tonnen Goldreserven von Deutschland in den USA, England und Frankreich. Die Bundesregierung hatte schon vor Jahren beschlossen fast alles nach Deutschland zu holen. Nun ist es soweit und wir sind von der Bundesregierung offiziell mit dem schnellen Rücktransport der Restmengen nach Deutschland und der Einlagerung bei uns im Tresor Bereich hier in Frankfurt beauftragt worden. Wobei ich gar nicht weiß, ob wir noch ausreichend Platz in unserem Keller haben.“ Aus den kurzen Ausführungen von Herrn Rasch, hörte sich das Ganze an, als ob man nur ein paar alte Koffer im Keller aufbewahren wollte. Leopold von Rügen wurde jedoch schnell klar, dass es sich hier um ein großes und komplexes Projekt handelte.
„Sie, von Rügen werden das Projektteam als Controller begleiten. Und ich brauche ja wohl nicht zu erwähnen, dass hierbei absolut präzises und diskretes Arbeiten erwartet wird, da Sie direkt mit den ausländischen Banken und Behörden in Verbindung stehen werden. Der Projektleiter ist übrigens Rainer Rambouille. Er wird sie auch zu der ersten Teambesprechung in den nächsten Tagen einladen. Alle Details erfahren sie dann von ihm. Ich muss gleich zur Dezernats Besprechung.“ „Dann warte ich auf die Einladung von Herrn Rambouille“, antwortete von Rügen schnell, der wusste, dass seine Zeit nun abgelaufen war und er das Büro seines Chefs schnell werde verlassen müssen.
Als Leopold von Rügen kaum wieder an seinem Schreibtisch saß, meldet sich auch schon sein elektronischer Posteingang und teilte ihm eine Einladung zur Kick-off Besprechung mit dem Titel „Goldener Herbst 2016“ für den kommenden Donnerstag mit. Herr Rambouille war im Hause dafür bekannt seinen Projekten zuweilen vielsagende Namen zu geben. Auf jeden Fall blieben sie einem so besser im Gedächtnis. Von Rügen bestätigte umgehend per Mausklick die Einladung, wobei er am unteren Rand der Einladung noch einen Anhang wahrnahm. Dieser entpuppte sich als Agenda für die Kick-off Besprechung. Rambouille führte hierin auf, wie er die Besprechung anzugehen gedachte. Im Mittelpunkt der Agenda stand zum einen die verschiedenen Aufgabenbereiche der insgesamt sechs Fachbereiche der am Projekt beteiligten Abteilungen und wohl die Erarbeitung einer Strategie über die Rücktransporte der Goldmengen aus den verschiedenen ausländischen Lagerorten. Leopold von Rügen ahnte, dass hier viel Arbeit auf ihn zukam, zumal er mit seiner Assistentin alleine dieses Projekt werde stemmen müssen, zu wichtig und diskret war das Projekt im Hause.
„Vielleicht wird es ja das letzte große Projekt für mich sein“, dachte er hintergründig, schloss das Outlook-Programm, schaltet seinen Computer aus und verabschiedete sich bereits am frühen Abend von Frau Mohns in den herbstlichen Feierabend von Frankfurt.
Faust lungerte in den nächsten Tagen fast jeden Abend in der Oase, wobei er jedoch zusah, dass er nicht zu spät nach Hause kam. Tagsüber brachte er sein Loch, was es wirklich nötig hatte, einmal wieder auf Vordermann, wusch und bügelte seine Wäsche und kaufte für die kommenden Tage das Wichtigste ein.
Bei der Durchsicht seiner Kontoauszüge fiel ihm wieder schmerzlich auf, dass seine Ersparnisse von Monat zu Monat dramatisch schwanden. „Wenn das so weitergeht, werde ich Ende nächsten Jahres wohl pleite sein.“ Bei diesem Gedanken kroch Kälte über seinen Rücken und ließ ihn kurz erschaudern. „Vielleicht finde ich ja noch einen Schatz oder gewinne im Glücksspiel“, kam es ihm dabei ironisch in den Sinn. Bis zur Rente musste er noch acht Jahre überbrücken und natürlich konnte er sich auch noch arbeitslos melden, was er auch dann sicherlich ab kommenden März ins Auge fassen werde. Faust hoffte immer noch, dass ihm etwas Passendes zufallen werde, denn bis heute hatte ihm das Schicksal im letzten Moment immer noch ein Ass zugespielt. Während er so über seine nahe Zukunft nachdachte klingelte sein Handy. „Ja, Faust“, meldete er sich kurz. „Hier ist Ron“, antwortete die Gegenseite, „letzte Woche hatte ich dir doch versprochen, dass ich mich melde, wenn bei mir die nächste Pokerrunde stattfindet. Hast du Lust?“ Faust fühlte sich unwohl zu antworten, denn einerseits hatte er kein Geld, aber andererseits könnte er seine Ersparnisse ja bei etwas Glück aufstocken. „Na klar habe ich Lust, wann geht´s los?“, entgegnete er forsch, um nicht zu zögerlich zu wirken. „Wir treffen uns am Freitag bei mir in Kelsterbach. Du musst aber schon ein paar hundert Euro mitbringen. Und frag nicht wer die anderen sind. Den anderen geht es nur ums Spielen und nicht ums Quatschen. Also, dann bis Freitag“, beendete Ron das Telefonat und ließ Faust alleine in der Leitung. „War das jetzt Zufall oder nähert sich mein Schicksal schneller dem Ende, als ich bis jetzt gedacht habe“, philosophierte Faust über den kommenden Freitag.
Gegen sieben Uhr am Morgen landete die Lufthansa Maschine LH510 fast pünktlich auf dem Aeropuerto de Ezeiza in Buenos Aires. Leopold von Rügen hatte während des langen Fluges kaum geschlafen, obwohl der Sitz, in der Business-Class neben ihm nicht besetzt war. Schuld war zum einen der unruhige Flug über den Atlantik und zum anderen die Frage, was ihn wohl in Buenos Aires bei der Argentinischen Zentralbank erwarten würde. Von Rügen war klar, dass er nicht als Privatmann die Zentralbank besuchte, sondern als Vertreter der Deutschen Bundesbank. Somit würden ihn viele Augen und Ohren beobachten und eventuell falsche Äußerungen oder Fragen seinerseits diskreditieren. „Ich bin in Buenos Aires, um für das Projekt „Goldener Herbst 2016“ den Transport der ersten Goldmenge zu organisieren“, rief er sich in Erinnerung.
Das Projekt „Goldener Herbst 2016“ war im November 2015 gut gestartet. Herr Rambouille verstand sein Handwerkszeug als Projektleiter und somit gingen die Arbeiten in den ersten Wochen schnell voran. Erschwerend kam jedoch hinzu, dass erstmals ein externer Partner mit im Boot saß. Die Firma Bosch war verantwortlich für den Transport der ankommenden Goldmengen vom Flughafen Frankfurt bis zum unterirdischen Tresor-Bereich der Deutschen Bundesbank. Hierfür sollte erstmals ein neues digitales Logistiksystem inklusive autonom fahrender LKWs zum Einsatz kommen. Leopold von Rügen verstand wenig von den neuen Technologien, die zum Einsatz kommen sollten, jedoch spürte er förmlich, dass dieser Part des Projektes sicherlich der kritischste im Projekt zu sein schien. Leopold von Rügen war innerhalb des Projektes für die Überwachung der Projektkosten und was wesentlich wichtiger war für die korrekte Einbuchung der im Ausland lagernden Goldmengen im heimischen Tresor zuständig. Eine heikle Aufgabe, denn es gab zwar eine offizielle Liste über die Goldmengen, die noch in den USA, England und Frankreich lagerten, jedoch waren die Bestände in den betreffenden Ländern seit Jahrzehnten nicht kontrolliert worden. So meldeten die Federal Reserve Bank in New York nach mehrmaligen Rückfragen an, dass einige Goldbestände noch in den südamerikanischen Ländern Mexiko und Argentinien zwischengelagert seien. Die USA hatten beide Länder im Zuge von deren Wirtschaftskrisen kurzfristig mit mehreren hundert Tonnen Gold unterstützt. Aufgrund der Komplexität des Projektes wurde kurz vor Weihnachten noch eine Projektverlängerung bis Frühjahr 2017 entschieden. Darüber hinaus kamen die Projektteilnehmer zu dem Schluss, dass man einen sogenannten „Piloten“ brauchte, insbesondere um das neue Logistiksystem der Firma Bosch zu testen. Exemplarisch sollte ein Transport mit überschaubarer Goldmenge und Logistik den restlichen Verlagerungen vorauseilen, um bei auftretenden Problemen im Verlauf des gesamten Prozesses für den Rest noch Korrekturen einbauen zu können. Am 18. Dezember kam es für von Rügen zu der schicksalsentscheidenden Projektbesprechung. An diesem Tage wurde erstmals über den „Piloten“ des Projektes diskutiert. „Für London und Paris sprechen die Nähe zu Frankfurt, wobei das Logistiksystem von Bosch aber erst auf deutschem Boden zum Einsatz kommen darf. Für New York spricht die gute Anbindung zum Frankfurter Flughafen“, startete Rambouille die Diskussion. „Bei New York müssen wir aber die beiden Länder Mexiko und Argentinien noch berücksichtigen“, entgegnete Inge Krämer, die für den Transport innerhalb der USA, England und Frankreich zuständig war.
„Gibt es eigentlich für Argentinien und Mexiko genaue Angaben zu den Goldmengen, die dort vor Ort lagern?“, wollte Rambouille wissen. „In Argentinien liegen exakt noch 50 Tonnen und in Mexiko ist von 70 Tonnen die Rede. Mit beiden Ländern muss aber noch gesprochen werden“, antwortete Leopold von Rügen.
Bei seiner Antwort verstand von Rügen im ersten Moment überhaupt nicht, warum sich in ihm plötzlich die Aufmerksamkeit mithilfe eines Adrenalin-Schubes drastisch steigerte. Einzig ausgelöst durch das Wort „Argentinien.“ Klar hatte er den Landesnamen „Argentinien“ des Öfteren in den Projektunterlagen gelesen und klar wusste er, dass wohl das Familiengold derer von Rügen in der Argentinischen Zentralbank lag. Aber bis jetzt war das für ihn nur Zufall, aber heute schien aus Zufall Schicksal zu werden. Und obwohl er seit einigen Wochen das Familiengold-Thema insgeheim schon bis auf weiteres aufgegeben hatte, blitzte heute nun durch die Rambouillesche Frage während der Projektbesprechung erstmals wieder ein Hoffnungsschimmer am Horizont auf. Zügig sah sich von Rügen um, ob niemand bemerkt hatte, dass er plötzlich hellwach geworden war. Sicherlich hat ihm das Adrenalin die Röte ins Gesicht getrieben, jedenfalls fühlte er sich so, was allerdings nicht stimmte. Um sein Schicksal mitzubeeinflussen, musste von Rügen nun schnell und präzise argumentieren. „Zur Zentralbank in Argentinien haben wir exzellente Verbindungen schon seit den Tagen nach der Militärdiktatur in den Siebzigern. Außerdem gibt es derzeit keine politischen Tretminen, und mit 50 Tonnen ist die Goldmenge doch für einen Piloten recht übersichtlich, oder? Also ich wäre für Argentinien“, schloss von Rügen seine kurzen präzisen Ausführungen. Eine kurze Pause entstand und nach einer kleinen Ewigkeit schaute von Rügen in bejahende Gesichter.
„Also dann nehmen wir Argentinien“, formulierte Rambouille den unausgesprochenen einstimmigen Beschluss, „und sie von Rügen klären bitte mit der Federal Reserve ab, dass wir uns hier mit den Argentiniern hinsichtlich des Rücktransportes der 50 Tonnen direkt abstimmen werden. Zu viele Player können wir bei dem Piloten jetzt nicht gebrauchen.“
Im Todesjahr seines geliebten Großvaters entschloss sich von Rügen diesmal nicht über die Feiertage mit der Familie nach Lech in den Wintersport zu verreisen. Anstatt dessen verlebte die Familie ein ruhiges und in sich gekehrtes Weihnachten, wobei Cheryl von Rügen das Haus besonders stimmungsvoll schmückte und auch nicht versäumte einige Bilderrahmen mit Fotos von Friedrich von Rügen im Haus zu platzieren, als Erinnerung an den geliebten Großvater, Mentor und liebevollen Menschen.
Bereits am 05. Januar saß von Rügen wieder im Büro, allerdings diesmal mit dem Plan nach Buenos Aires zur Zentralbank zu reisen, um den Piloten des Projektes vorzubereiten und nach dem „Rügengold“ zu forschen. „Frau Mohns, übernächste Woche muss ich für fünf Tage nach Buenos Aires zur Argentinischen Zentralbank reisen. Organisieren Sie doch bitte schon einmal einen Lufthansa-Flug und die Hotelübernachtung. Mit meinem Ansprechpartner habe ich für Dienstag, den 19. Januar unsere erste Besprechung vereinbart. Rückflug dann am 23..“ „Wie üblich Business-Class und Hotel nahe dem Besprechungsort?“, wollte Frau Mohns noch wissen, die nun nach über zehn Jahren die Reise-Gewohnheiten ihres Chefs sehr gut kannte. „Ja, das wäre perfekt“, antwortete er.
Während der Weihnachtstage hatte, sich von Rügen überlegt, wie er während einer Dienstreise zur Argentinischen Zentralbank in Erfahrung bringen könnte, ob der Familienschatz überhaupt vor Ort lag und, was noch viel interessanter wäre, den Schatz überhaupt einmal zu sehen, ohne dass dies auffallen würde.