Am Tor zur Hölle - Claude AnShin Thomas - E-Book

Am Tor zur Hölle E-Book

Claude AnShin Thomas

4,8

Beschreibung

Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe von "Krieg beenden - Frieden leben".Mit einem Vorwort von Robert Atzorn und zwölf Abbildungen."Dieses Buch ist mehr als ein biografi sches Dokument, es ist ein Lehrbuch über verrohende Zusammenhänge und Tendenzen in unserer Gesellschaft, die wir nicht wahrhaben wollen. Es ist auch eine Pflichtlektüre für alle jungen Menschen, die sich ihre Zeit mit Kriegsspielen am Computer vertreiben. Gleichzeitig ist es ein Buch über die Verarbeitung und Transformation solcher Gewalt-Traumata. Für mich ist es eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe, und es ist eine Ehre für mich, Claude AnShin Thomas persönlich zu kennen, einen Mann, der mir aus dem Herzen spricht, wenn er sagt, dass Gewaltlosigkeit die einzige Überlebenschance für unseren Planeten ist." Robert Atzorn

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Claude AnShin Thomas

Am Tor zur Hölle

Der Weg eines Soldaten zum Zen-Mönch

Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe von

Krieg beendenFrieden leben

Aus dem Amerikanischen vonAndrea Krug und Wiebke KenShin Andersen

Theseus im Internet: www.theseus-verlag.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89901-795-3

ISBN E-Book 978-3-89901-801

Copyright © 2003 by Claude AnShin ThomasCopyright der deutschen Ausgabe © 2003, 2008 Theseus Verlag in J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH, Bielefeld 2013

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe, sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar.Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld,www.mbedesign.de unter Verwendung eines Fotos von © Ron SeymourLektorat: Ursula Richard / Susanne KleinGestaltung und Satz: Ingeburg Zoschke, Berlin

An meinen Sohn, Zachary Alan Thomas,

dessen Gegenwart und Liebe

eine Inspiration für meine Heilung

und Transformation waren.

Und an Arnie Kotler,

dessen konstante persönliche Unterstützung

und professionelle Begleitung mir geholfen

haben, aus dem, was meine größte Tragödie

zu sein schien, ein Buch zu machen,

das möglicherweise anderen helfen kann.

Inhalt

Vorwort

von Robert Atzorn

Einleitung

Gebet eines Soldaten

Kapitel 1

Die Saat des Krieges

Kapitel 2

Die Flamme der Kerze

Kapitel 3

Die Glocke der Achtsamkeit

Kapitel 4

Wenn du eine Brücke in die Luft jagst, bau eine Brücke

Kapitel 5

Gehen, um zu gehen

Kapitel 6

Frieden finden

Nachwort

von Claude AnShin Thomas zur Neuauflage

Danksagung

Anhang

Meditationsübungen zum Einstieg

 

Fragenkatalog für Diskussionen

 

Die Zaltho Foundation

 

Weiterführende Literatur

Über den Autor

Zen Meister Guichen fragte: »Wohin gehst du?«

Fayan antwortete: »Auf eine immerwährendePilgerreise.«

Guichen fragte: »Warum pilgerst du?«

Fayan anwortete: »Das weiß ich nicht.«

Guichen sagte: »Nicht-Wissen geht sehr nahe.«

aus: Die Aufzeichnungen des Meisters Fayan Wenyi

Vorwort

Vor einigen Jahren spielte ich einen Bundeswehrgeneral in einem Film mit dem Titel »Das Kommando«. Er handelte von einem geheimen Spezialeinsatz im Kaukasus gegen islamistische Terroristen. Zur Einstimmung empfahl uns der Regisseur Thomas Bohn die Lektüre von Claude AnShin Thomas’ Buch »At Hell’s Gate«*. Ich war zutiefst beeindruckt und berührt von der Lebensgeschichte dieses Mannes, der sich vom gewaltbereiten US-Army-Soldaten zum buddhistischen Bettelmönch entwickelte und wandelte.

Ich selbst war nicht bei der Bundeswehr und hatte auch sonst kaum Vorstellungen vom Militär und von militärischen Vorgängen. Das änderte sich nach der Lektüre von »At Hell’s Gate« allerdings. Nie zuvor hatte ich so genaue, ehrliche und selbsterlebte Beschreibungen von Brutalität, Gewalt und von deren Entstehung gelesen. Claude AnShin Thomas berichtet auf eindringliche und zwingende Weise, wie Gewalt den Menschen bricht und zerstört, wie der Mensch entmenscht wird und schließlich den »Feind« überhaupt nicht mehr als menschliches Wesen wahrnimmt.

Ich verstand zum ersten Mal mein kompliziertes Verhältnis zu meinem Vater, der gebrochen aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrte und nicht fähig war, das Erlebte zu verarbeiten. Traumatisiert bis an sein Lebensende war er nie in der Lage gewesen, über seine Erlebnisse zu sprechen, hatte alles in Alkohol ertränkt.

Dieses Buch ist mehr als ein biografisches Dokument, es ist ein Lehrbuch über verrohende Zusammenhänge und Tendenzen in unserer Gesellschaft, die wir nicht wahrhaben wollen. Es ist auch eine Pflichtlektüre für alle jungen Menschen, die sich ihre Zeit mit Kriegsspielen am Computer vertreiben. Gleichzeitig ist es ein Buch über die Verarbeitung und Transformation solcher Gewalt-Traumata.

Für mich ist es eins der besten Bücher, das ich je gelesen habe, und es ist eine Ehre für mich, Claude AnShin Thomas persönlich zu kennen, einen Mann, der mir aus dem Herzen spricht, wenn er sagt, dass Gewaltlosigkeit die einzige Überlebenschance für unseren Planeten ist.

Februar 2008

Robert Atzorn

* Titel der amerikanischen Originalausgabe (Anm. d. V.)

Einleitung

Gebet eines Soldaten

Im Alter von siebzehn Jahren trat ich in die U.S. Army ein und meldete mich freiwillig für den Dienst in Vietnam. Indem ich zu den Waffen griff, war ich direkt für das Töten von mehreren hundert Menschen verantwortlich, und das Töten hörte erst auf, als ich ehrenhaft entlassen und mit zahlreichen Orden, einschließlich einem Purple Heart, einem Verwundetenabzeichen, nach Hause geschickt worden war. Doch als ich die Granatsplitter meines Lebens wieder zusammenfügte und das Herz entdeckte, das durch den Krieg zerbrochen war, begriff ich, dass es kein gerechtfertigtes Töten gibt, keine Trennung zwischen guter und schlechter Gewalt und dass echte Moral oder Redlichkeit im Krieg nicht existiert. Krieg ist niemals moralisch. Er ist einfach ein Ausagieren von Leid. Handeln, das aus Leiden resultiert.

Dies zu begreifen und die erste buddhistische Richtlinie (zugleich das fünfte christliche Gebot) zu akzeptieren – nicht zu töten – erforderte einen langen Marsch, nicht nur durch Vietnam, durch Obdachlosigkeit, Heimatlosigkeit und Gefängnisse, sondern auch durch von Krieg in Mitleidenschaft gezogene Gebiete auf der ganzen Welt, von Bosnien bis Afghanistan, von Auschwitz bis Hiroshima.

Dieses Buch enthält Aufzeichnungen, die ich auf diesen Märschen niedergeschrieben habe; ich will damit versuchen weiterzugeben, was ich nicht nur in Klöstern, in denen ich unterwiesen wurde, gelernt habe, sondern auch in Schützengräben, auf der Straße und in Heimen, wo ich die Einsicht des Buddha über die Wirklichkeit des Leidens als Wahrheit entdeckt habe. Wir alle streben nach Glück – nach dem, was gut, angenehm, richtig, von Dauer, freudvoll, harmonisch, befriedigend und einfach ist. Doch das Leben bringt oft Enttäuschung, Unzufriedenheit, Unvollkommenheit und Kummer mit sich. Und genau dieses Leiden führt uns zu Gewalt gegen uns und andere, und der einzige Weg, Gewalt ein für allemal zu beenden, besteht darin, sich mit diesem Leiden zu versöhnen. Dieser Weg, der Weg des Buddha, kann uns helfen, Leiden zu lindern und mit größerem Frieden in der Welt zu leben.

Ich hoffe, dass dieses Buch denen von Nutzen sein wird,

die von Gewalt betroffen sind

und sich nach etwas anderem sehnen – Frieden.

Ein jeder hat sein Vietnam. Eine jede hat ihren Krieg. Machen wir uns gemeinsam auf eine Pilgerreise, um diese Kriege zu beenden und wahrhaft in Frieden zu leben.

Kapitel 1

Die Saat des Krieges

Bitte stellen Sie sich vor, es regnet. Schließen Sie die Augen und beobachten Sie, welche Gefühle, Gedanken und Empfindungen sich einstellen, wenn Sie an Regen denken.

Ich bin jedes Mal im Krieg, wenn es regnet, berühre wieder den Krieg. Zwei Regenzeiten hindurch habe ich schwerste Kämpfe durchlebt. Während der Monsune in Vietnam hinterlassen die gewaltigen Wassermassen alles nass durchtränkt und schlammig. Wenn es heute regnet, gehe ich noch immer über Schlachtfelder voller junger Männer, die schreien und sterben. Ich sehe noch immer Baumreihen vor mir, die vom Napalm zersetzt werden. Ich höre noch immer siebzehnjährige Jungen nach ihren Müttern und Vätern und Freundinnen rufen. Erst danach gelange ich an den Ort, an dem es einfach nur regnet.

In Ermangelung eines besseren Wortes schlage ich vor, diese Erfahrungen »Erinnerungsblitze« zu nennen. Es handelt sich dabei um das Wiedererleben von Erfahrungen, die ich noch nicht verarbeitet habe. Es kann passieren, dass ich in einem Lebensmittelladen eine Dose Gemüse aus dem Regal nehmen will und plötzlich von der Angst überwältigt werde, dass die Dose eine getarnte Sprengstoffladung enthält. Verstandesmäßig weiß ich, dass das nicht so ist, aber ich habe ein Jahr lang in einer Umgebung gelebt, in der es so war – und bis zum heutigen Tag bin ich nicht in der Lage, diese Erfahrung in ihrer ganzen Tiefe wirklich zu verarbeiten.

Dies ist nicht nur meine Geschichte. Sie wiederholt sich jeden Tag überall auf der Welt. Jeden Tag durchleben Menschen ihre Kriegserlebnisse und ihre Kindheitstraumata aufs Neue.

Bevor wir an einen Ort des Friedens gelangen, müssen wir mit unserem Leiden in Berührung kommen – wir müssen es umarmen und halten. Das habe ich in den letzten Jahren gelernt. Während der langen Jahre davor habe ich einzig gelernt, wie man Krieg führt.

Lernen, Krieg zu führen

Während der ersten siebzehn Jahre meines Lebens habe ich die Saat der Gewalt in mir gewässert. Nichts, was ich erlebte, sagte mir, dass Krieg nicht in Ordnung sei. Krieg war überall. Ich wuchs in einer Kleinstadt in Pennsylvania auf. Mein Vater hatte wie die meisten Männer im Ort am Zweiten Weltkrieg teilgenommen. Wenn die Männer über den Krieg sprachen, sagten sie nicht die Wahrheit. Weil sie nicht in der Lage waren, die Saat des Leidens zu berühren, die der Krieg tief in sie hineingelegt hatte, sprachen sie über ihn wie über ein großartiges Abenteuer. So wurde es an mich weitergegeben.

Als ich siebzehn wurde und mein Vater mir vorschlug, Soldat zu werden, hinterfragte ich dieses Ansinnen nicht. Ich wusste auch nicht viel über Politik; Politik spielte keine Rolle in meinem Leben. Heute weiß ich, warum politisches Interesse wichtig ist: Wir müssen wissen, was in der Welt vorgeht, denn was immer geschieht, hat seine Auswirkungen auf jeden von uns.

Mein Vater und die Männer und Frauen seiner Generation waren von Illusion und Verleugnung erfüllt; sie waren nicht in der Lage, Zugang zu der Wirklichkeit ihrer Erfahrungen zu finden. Das wurde weder bei ihnen noch bei mir auf irgendeine Weise gefördert. Doch während des Krieges in Vietnam geschah etwas Ungewöhnliches, etwas, das es vielen von uns unmöglich machte, die Kriegsrealität zu verleugnen.

Ich habe mich freiwillig für den Einsatz in Vietnam gemeldet, weil ich es für richtig hielt. Ich wusste nichts von der Natur des Krieges oder der Natur der Gewalt. Drei Tage nach meiner Ankunft in Vietnam begann ich zu begreifen. Es war irrsinnig. Ich kann es nicht genau beschreiben. Ich konnte und kann es schmecken und riechen und die Leere in den Augen aller um mich herum sehen. Es war, als befände ich mich in einem surrealistischen Horrorfilm. Während ich auf den Befehl wartete, der mich einer Einheit zuweisen würde, verbrachte ich meine ersten drei Tage in Vietnam damit, Tausende von verdorbenen Schokoriegeln in einem Vorratslager zu vernichten. Außerdem konfiszierte ich – das ist der militärische Ausdruck für stehlen – mit Unterstützung des diensthabenden Unteroffiziers eine Halskette aus gezüchteten Mikimoto-Perlen – eine Anschaffung, die meine finanziellen Mittel bei weitem überstiegen hätte. Zwei Tage später brachte ich die Kette zurück, denn ich wusste, dass es unrecht war, zu stehlen.

Während der Grundausbildung lehrte man mich zu hassen. Auf dem Schießstand schossen wir auf Zielscheiben, die Menschen darstellten. Wir lernten, MENSCHEN zu töten. Das ist die Aufgabe des Militärs. Nach den Schießübungen waren wir angehalten, unsere Waffen einzusammeln und zu einer Pyramide aufzustellen. Als ich mich anschickte, mein Gewehr dazuzustellen, ließ ich es fallen. Der Ausbilder, ein Oberfeldwebel, brüllte los, dass ich schlampig mit meinem Gewehr umgehe und dass mein Gewehr das Allerwichtigste in meinem Leben sei, denn von ihm hänge ab, ob ich überlebte oder starb.

Der Typ war einsfünfundneunzig groß, ich hingegen bin nur gut einssiebzig. Er baute sich vor mir auf, seine Brust wölbte sich vor meinem Gesicht, und er erdolchte mich fast mit dem Finger. Dann holte er seinen Penis heraus und pinkelte mich an, vor aller Augen. Ich durfte mich zwei Tage lang nicht waschen. Ich war so tief beschämt, dass ich an das Ausmaß meiner Gefühle nicht im Entferntesten zu rühren vermochte. Ich verspürte nichts als Zorn. Ich konnte es dem Oberfeldwebel nicht heimzahlen, denn dann hätte man mich in den Bau geschickt. Also habe ich meinen Zorn auf DEN FEIND gerichtet. Der Feind war jeder, der anders war als ich, jeder, der kein amerikanischer Soldat war. Diese Konditionierung, diese Entmenschlichung, ist notwendig, um ein guter Soldat zu werden. Ein guter Soldat kann sich dem Feind nicht verbunden fühlen. Soldaten werden darauf getrimmt, alles andere und jeden anderen als bedrohlich, gefährlich und potenziell tödlich wahrzunehmen. Du entmenschlichst den Feind. Du entmenschlichst dich selbst. Von diesem Zeitpunkt an ging eine Veränderung mit mir vor, die schlimme Konsequenzen haben sollte.

Meine Militärausbildung lehrte mich, ein ganzes Volk zu entmenschlichen. Es wurde nicht unterschieden zwischen dem Vietkong, der regulären vietnamesischen Armee und der allgemeinen vietnamesischen Bevölkerung. Doch wäre ich durch mein früheres Leben nicht auf die Militärausbildung vorbereitet gewesen, dann hätte diese Art Unterweisung nicht funktioniert. Als junger Mann wurde ich ermutigt, zu kämpfen, voller Voreingenommenheit zu sein und nationalistisch zu denken. Ich lernte, dass man Probleme durch Gewaltanwendung löst. Im Falle eines Konflikts gewinnt der Stärkere. So lernte ich es von meiner Mutter, von meinem Vater, von meinen Lehrerinnen und Lehrern und von meinen Freunden.

Als ich sechs Jahre alt war, lebte ich mit meinen Eltern in einem Apartment in einer ganz gewöhnlichen amerikanischen Gemeinde im nordwestlichen Pennsylvania. Mein Vater war Lehrer, und meine Mutter machte anderer Leute Wäsche, ging putzen und jobbte manchmal als Kellnerin oder Barfrau, um Geld dazuzuverdienen. Eines Tages wollte ich Fahrrad fahren, aber meine Mutter erlaubte es mir nicht. Ich fing an zu quengeln. Daraufhin gab mir meine Mutter einen Schubs, und ich flog mitsamt meinem Fahrrad die Treppe hinunter – zwanzig Stufen. Ich habe keine Ahnung, wieso ich mir keine ernsthaften Verletzungen zuzog. Vielleicht weil Kinder geschmeidig sind. Aber sie lernen auch entsprechend ihrer Umgebung.

Meine Mutter hat oft Gewalt angewendet. Einmal hat sie mir die Hand in den Nacken gelegt, mich herumgerissen und mein Gesicht an die Wand gedrückt – ohne ersichtlichen Grund. Anschließend hat sie mir gesagt, wenn ich ein besserer Mensch wäre, müsste sie mich nicht so behandeln. Ich lernte, keinen Schmerz zu empfinden und niemandem zu trauen, besonders Autoritätspersonen nicht.

In der Stadt, in der ich lebte, gab es einen See, und im Frühjahr stieg der Wasserpegel wegen der Schneeschmelze ziemlich an. Als ich etwa acht Jahre alt war, ging ich eines Tages hinaus, um zu spielen. Ich hatte ein Paar neue Turnschuhe bekommen, die noch ein sehr sauberes, klares Profil besaßen, und ich sollte spätestens um vier Uhr wieder zu Hause sein. Doch was weiß ein Kind schon von der Zeit? Als ich um vier Uhr nicht zu Hause war, geriet mein Vater in Sorge und machte sich auf die Suche nach mir. Er ging zum See hinunter und fand kleine Fußspuren, die zum Wasser führten, aber nicht mehr zurück. Die Fußspuren wiesen ein Profil auf wie das meiner neuen Turnschuhe. Mein Vater dachte, ich sei in den See gefallen, und der Gedanke, ich könne ertrunken sein, erfüllte ihn mit großer Furcht. Er eilte nach Hause, und als er ankam, war ich bereits dort.

Seine Reaktion auf seine Angst bestand darin, sie auf mich zu übertragen. Mein Vater konnte seine Angst nicht zulassen, er konnte das Gefühl seiner Machtlosigkeit nicht ertragen, also drückte er seine Angst durch das einzige Gefühl aus, zu dem er Zugang hatte: seine Wut. Er zerrte mich ins Badezimmer, zog mir die Hosen herunter, nahm seinen Gürtel ab und schlug mich damit, bis ich grün und blau war und vom Nacken bis zu den Fesseln blutete. Plötzlich merkte mein Vater, dass er mich ernsthaft verletzte, und hielt inne. Er begann Heilsalbe auf meine Wunden aufzutragen und erzählte mir, dass er mich geschlagen habe, weil er mich liebe. Das wiederholte er die ganze Zeit, während er mich verarztete: Er habe mich geschlagen, weil er mich liebe. Das war der Anfang einer langfristigen Beziehung, der Beziehung zwischen Liebe und Gewalt.

Mein Vater hatte nicht die Absicht, mir wehzutun. Er hatte keine andere Wahl. Mein Vater war nicht in der Lage, mit seinem Leiden in Berührung zu kommen. Und deshalb agierte er sein Leiden auf diese Weise an mir aus. Meine Mutter hatte nicht die Absicht, mir wehzutun. Sie war nicht in der Lage, mit ihren Gefühlen in Berührung zu kommen, sich ihr Leiden anzusehen, also ließ sie es an mir aus. Mein Vater, ein Soldat, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, starb im Alter von dreiundfünfzig Jahren an Alkoholismus.

Liebe und Gewalt

Liebe und Gewalt: Wenn ich mein Land liebe, müsse ich bereit sein, für mein Land zu kämpfen und zu sterben – so wurde es mir beigebracht. Als ich mit meiner Militärausbildung begann, meldete ich mich freiwillig, um in Vietnam zu kämpfen. Man sagte mir, dass ich dorthin gehe, um Frieden zu bringen. Dass Frieden mit vorgehaltenem Gewehr geschaffen werden könne. Und warum sollte ich etwas anderes glauben?

Im Alter von siebzehn Jahren verließ ich die High School und ging direkt zur Armee. Mein Vater ermutigte mich dazu. Ich brauchte seine schriftliche Einwilligung. Mir war ein Sportstipendium an der Universität angeboten worden, aber mein Vater drängte mich, es abzulehnen, denn er meinte: »Du bist nicht charakterfest genug. Du wirst versagen, und sie werden dich rauswerfen. Du bist zu wild.« Unterdessen habe ich durch die Unterweisungen des Buddha gelernt, »andere Menschen, Kinder eingeschlossen, auf keinerlei Weise zu nötigen, unsere Ansichten zu übernehmen«. Mein Vater teilte diese Überzeugung nicht.

Es steckte ein Körnchen Wahrheit in dem, was er sagte: Ich war ein ungebärdiges Kind. Wenn ich heute das eine oder andere von dem täte, was ich damals tat, würde man mich vermutlich verhaften und ins Gefängnis stecken. Damals war einfach eine andere Zeit. Ich habe regelmäßig Autos geklaut. Ich habe Autos geklaut, einzig um damit durch die Gegend zu kutschieren. Ich ging einfach nach Geschäftsschluss zum nächsten Plymouth-Händler und spähte die Gebrauchtwagen aus, bis ich einen fand, dessen Zündschlüssel steckte. Ich stieg einfach ein, fuhr los und gondelte die ganze Nacht aus reinem Vergnügen durch die Gegend. Anschließend brachte ich den Wagen wieder zurück. Weder die Autos noch ich haben je Schaden genommen. Reines Glück, glaube ich.

Ich kam immer sehr spät abends nach Hause. Niemand kümmerte sich um mich. Ich war auf mich selbst gestellt. Es gab keine festen Regeln. Mein Vater war wohl nicht in der Lage, Regeln aufzustellen, denn er war zu beschäftigt mit seiner Trinkerei, war zu sehr mit seinem eigenen Leiden befasst.

Außerdem war er oft fort. Seit ich zwölf war, wuchs ich auf, ohne dass sich jemand groß um mich kümmerte. Ich stand nicht unter elterlicher Aufsicht. Ich musste meine eigenen Regeln aufstellen.

Wie kam es, dass ich schließlich bei der Armee landete? Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun können. Ich hatte keine Ahnung. Mein Vater schlug es mir vor, und er war der Vater. Selbst ein abwesender Vater ist eine mächtige Figur im Leben einer Familie, insbesondere im Leben eines Sohnes. Er und seine Freunde, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, saßen oft herum und betranken sich und erzählten Geschichten, die den Krieg verherrlichten und ihn aufregend und romantisch erscheinen ließen. Ich lauschte diesen Geschichten nicht bloß – ich sog sie begierig ein und wollte Teil von ihnen sein. Ich verinnerlichte diese Geschichten, ohne sie zu hinterfragen, ich hörte meinem Vater zu, ohne ihn zu hinterfragen, und wurde Soldat. Doch man muss nicht unbedingt mit einem Ex-Soldaten als Vater aufwachsen, um romantisch-verklärende und irreführende Geschichten über den Krieg zu hören. Die amerikanische Massenkultur produziert am laufenden Band Filme, die den Krieg romantisch verklären und verherrlichen. Sie zeigen den Krieg fast nie so, wie er wirklich ist.

Doch der Krieg, ob echt oder im Film, ist nicht der einzige Ort, an dem eine kriegerische Mentalität kultiviert wird. Sie wird auch durch den Sport an den Schulen befördert. In der High School war ich ein guter Sportler. Im Grunde hatte ich es meiner sportlichen Begabung zu verdanken, dass ich nicht von der Schule gewiesen wurde; ich war in allen Sportarten, die angeboten wurden, ziemlich gut: Baseball, Football, Ringen. Und in all diesen Sportarten, in all den Mannschaften herrschte diese kriegerische Mentalität. Auf diese Weise wurde ich konditioniert: durch die Gesellschaft, die Kultur (Filme, Literatur …), die Geschichten meines Vaters, die Geschichten der Freunde meines Vaters und meine eigenen Erfahrungen auf dem Sportplatz. Ich kannte die Wahrheit nicht; ich hatte nicht klar vor Augen, was wirklich geschah. Ich besaß eine romantische Vorstellung von Wettstreit, von Kampf und Krieg. Für mich waren kriegerische Auseinandersetzungen nur ein weiteres Spiel.

Gleichzeitig war ich sehr unsicher, extrem unsicher, schüchtern und zurückhaltend und äußerst misstrauisch. Wenn ich Soldat wurde und in den Krieg zog, so stellte ich mir vor, würde ich eine Menge Orden einheimsen und als Held heimkehren, geliebt und geachtet und versorgt werden. So lautete der Kern der Geschichten: Genau so würde es sein, und ich würde mir über nichts groß Gedanken machen müssen. Romantische Vorstellungen bewogen mich, Soldat zu werden. »Geh zur Armee«, sagte mein Vater, »dort werden sie einen Mann aus dir machen.« Und wenn ich ein Mann war, so dachte ich, würde man mir mit Respekt, Liebe und Fürsorge begegnen.

Ich erinnere mich genau daran, wie mein Vater mich zum Bus brachte. Wir fuhren von Waterford, Pennsylvania, nach Erie, Pennsylvania, eine Strecke von etwa vierzig Kilometern. Mein Vater brachte mich zu der Stelle, an der der Bus halten sollte. Ich hatte einen kleinen braunen Koffer bei mir … den Koffer eines Pfadfinders. Ja, pfadfinderbraun. Und ich hatte mit schwarzem Filzstift meinen Namen auf den Koffer geschrieben. Mein Vater fuhr mich zur Bushaltestelle, kaufte mir eine Fahrkarte und ließ mich dort allein zurück. Er wartete nicht auf den Bus. Er ließ mich einfach allein zurück. Verließ mich. Ließ mich im Stich. Meine Gefühle waren so heftig, so stark, dass ich sie nicht zuzulassen vermochte.

Der Bus brachte mich von Erie nach Buffalo, New York, hundertfünfzig Kilometer weiter, wo ich gemustert werden sollte. Als ich in Buffalo ankam, erhielt ich einen Gutschein für ein Hotel. Das Zimmer war ziemlich groß, und ich musste es mir mit mehreren anderen jungen Männern teilen. Ich ging als Erstes los und kaufte mir was Alkoholisches zu trinken. Ich war nicht bewusst auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, aber ich muss entsetzliche Angst gehabt haben. Also zog ich los und besorgte mir Alkohol – oder jemand anders besorgte ihn – und betrank mich. Auf diese Weise konnte ich vor meiner Angst flüchten.

Am nächsten Morgen hatte ich einen ziemlichen Kater, aber ich musste aufstehen und zur Musterung erscheinen. Wir alle mussten uns der ärztlichen Untersuchung unterziehen und eine Menge Papierkram ausfüllen. Dann wurden wir in einen anderen Raum geführt und legten den Eid ab. Ich war nun Soldat.

Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Zug nach Fort Dix in New Jersey. Das letzte Stück zur Kaserne legten wir mit dem Bus zurück. Als wir ausstiegen, begrüßte uns ein Feldwebel, indem er uns unflätig beschimpfte, uns anschrie und uns demütigende Obszönitäten an den Kopf warf. Ich dachte sofort: »Meine Entscheidung war falsch. Ich habe eine schlechte Wahl getroffen. Das hier gefällt mir nicht. Mein Vater hat mich belogen. Das hier ist kein Spaß.« Ich wollte einfach nur nach Hause. Aber ich konnte nicht nach Hause gehen. Mein Leben hatte eine unwiderrufliche Wende genommen.

Als Erstes bekamen wir unsere Grundausrüstung: Decken, Uniform und Stiefel, Unterwäsche, Handtücher und eine Tasche, in der wir alles verstauen konnten. Dann mussten wir uns die Haare schneiden lassen. Wir schrieben das Jahr 1965; mein Haar war ziemlich lang. Der Einfluss der Beatles. Als ich vor dem Friseur stand, tauften die anderen mich Professor – vermutlich wegen meiner langen Haare. Ich begriff letztlich nicht, was da vor sich ging. Doch dann war ich auch schon an der Reihe, nahm auf dem Stuhl Platz, und der Friseur schor mir den Kopf. Es war demütigend.

Die achtwöchige Grundausbildung war eine schwierige Zeit für mich. Ich wollte nicht dort sein. Es war ein echter Kampf für mich. Die körperlichen Herausforderungen der Grundausbildung meisterte ich vorzüglich, aber ich hatte enorme Probleme mit der Disziplin, denn sie erschien mir sinnlos. Sie ergab für mich einfach keinen Sinn. Ich begriff nicht, dass es einzig darum ging, meinen Willen zu brechen. Meinen Willen zu brechen und mich nach ihrem Bilde wieder aufzubauen. Ich legte großen Widerstand an den Tag, und die Zeit war sehr schwer für mich.

Nach der ersten Hälfte der Grundausbildung kam ein Zeitpunkt, an dem ich äußerst mutlos war. Ich betrat die Kaserne und schlug mit der Faust jedes einzelne Fenster ein, an dem ich vorüberkam. Meine Fäuste waren voller Schnittwunden und bluteten. Ich ging nach oben und ging in ein Zimmer, schloss die Tür, verbarrikadierte sie mit einem Spind und kletterte zum Fenster hinaus. Ich setzte mich auf das Dach. Ein Oberleutnant, ein sehr aggressiver, zorniger, unsensibler junger Mann von Anfang zwanzig, kletterte zu mir hinaus. Ich weinte und wusste nicht, was ich tun sollte. Die Gefühle überschlugen sich in mir. Er reagierte darauf, indem er mich schlug. Er schlug mich ins Gesicht und boxte auf mich ein. Wenn ich das gemeldet hätte, wäre er in ernste Schwierigkeiten geraten. Doch ich kapierte gar nicht, dass er mich nicht hätte schlagen dürfen – misshandelt zu werden war für mich nichts Ungewöhnliches.

Später sprach ein Feldwebel mit mir. Er war ein freundlicher Mann, ein guter Mensch, und er zeigte ein gewisses Maß an Mitgefühl mit mir. Sein Handeln hat mich wirklich berührt. Er schien sich wahrhaftig um mich zu sorgen und hat mich sehr unterstützt; er half mir, in einer Welt zurechtzukommen, auf die ich in keinster Weise vorbereitet gewesen war. Er sagte: »Hör zu. Du wirst nicht nach Hause zurückkehren. Du wirst die nächsten drei Jahre hier sein, also mach das Beste daraus.« Die Art, wie er das sagte, veranlasste mich, emotional dichtzumachen – mich gegen all meine Gefühle vollkommen abzuschotten. Ich sagte: »Okay, dann werde ich das eben durchziehen. Ich werde mein Bestes tun, um ein guter Soldat zu sein. Ich werde einfach all meine Gefühle unterdrücken. Ich werde mein Bestes geben.«

Ein Teil von mir wollte sich wirklich davonmachen. Ich wusste bloß nicht, wie ich es anfangen sollte. Ich war auch so jung, viel jünger als all die anderen dort. Während meiner ganzen Soldatenlaufbahn war ich immer und überall der Jüngste. Ich war der Jüngste bei meiner Grundausbildung, ich war der Jüngste bei meiner weiteren Ausbildung und war der Jüngste in meiner Einheit in Vietnam. Ich war jung und hatte nicht den geringsten Durchblick.

Angesichts des ganzen Irrsinns, der Misshandlungen, der Manipulation, der Zwangsmaßnahmen und auch angesichts der Art von Menschen, mit denen ich zu tun hatte, fühlte ich mich völlig überfordert. Ich stammte aus einem kleinen Ort in einer ländlichen Gegend und wusste nicht mit dieser Art von Menschen umzugehen. Ich wurde ziemlich schikaniert, wurde häufig ausgenutzt, häufig von älteren Menschen manipuliert. Ich hatte keine Kontrolle über mein Leben, trank eine Menge Alkohol und war fast die ganze Zeit über mehr oder weniger betrunken. Ich trank jeden Tag. Sobald wir die Erlaubnis hatten auszugehen, hing ich jeden Abend in den Bars herum. Ich begann ernstlich zu leiden. Und ich hatte bald enorme Geldprobleme. Weil ich schwer trank und zunehmend alkoholabhängig wurde, reichte mein Geld nie von einem Zahltag bis zum nächsten. Infolgedessen bekam ich Ärger mit den Leuten, von denen ich mir Geld lieh, denn ich lieh mir stets mehr, als ich zurückzahlen konnte. Mein Leben geriet mir völlig außer Kontrolle. Und doch zeigte sich eine merkwürdige Kontinuität darin. Das Militär war eine natürliche Fortführung der Misshandlungen und der Vernachlässigung, die ich als Kind erlebt hatte.

Um meine zunehmend ausweglose Lage zu verändern, meldete ich mich freiwillig zum Einsatz in Vietnam. Anfangs hieß es, ich könne nicht gehen, weil ich zu jung sei. Ich blieb hartnäckig. Ich musste dem Schlamassel entrinnen, den ich angerichtet hatte. Dann hieß es, ich solle einen Aufsatz über die Frage schreiben, warum ich nach Vietnam gehen wollte, und wenn die Argumentation überzeugend sei, würde ich hingeschickt. Das war 1966. Der Krieg eskalierte, die Gefechte wurden schwerer und verlustreicher, und sie brauchten mehr Soldaten. Außerdem glaube ich, dass die Einheit, bei der ich stationiert war, froh war, mich loszuwerden. Ich war beileibe kein unproblematischer Soldat – ich war ständig betrunken und zertrümmerte Fensterscheiben und schlug sonstwie über die Stränge. Heute verstehe ich, warum ich über die Stränge schlug. Ich agierte all die Ursachen und Bedingungen meines Lebens aus – mein Leiden. Aber die Armee war nicht der rechte Ort dafür; dort scherte man sich nicht um einen jungen Mann, der nicht mit sich zurechtkam. Dort war niemand, der gesagt hätte: »He, mit diesem Jungen stimmt was nicht. Er braucht Hilfe.«

In Vietnam war ich unmittelbar für den Tod vieler, vieler Menschen verantwortlich. Doch ich betrachtete das, was ich tat, nicht als das Töten von Menschen. Das Ziel meiner Ausbildung war es gewesen, den Feind zu entmenschlichen, und dieses Ziel war erreicht worden.

Ich kapierte nicht, dass ich erschossenwerden konnte