Amerika! - Max Frisch - E-Book

Amerika! E-Book

Max Frisch

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Beschreibung

Max Frisch bereiste 1951 das erste Mal die USA und Mexiko. Der Besuch des fremden Kontinents prägte ihn und sein Schreiben nachhaltig. Immer wieder zog es ihn, auch für längere Zeit, nach Amerika, das für ihn zum Inbegriff von Offenheit und Weite wurde – im Gegensatz zu europäischer Enge und Engstirnigkeit. Von April 1981 bis September 1984 besaß er sogar eine eigene Wohnung in Manhattan. Der Band "Amerika!" versammelt Texte aus Frischs Tagebüchern, Romanen und Erzählungen, die die Erfahrungen und Erlebnisse des Schweizer Schriftstellers mit den USA anschaulich machen. Literarisches und Essayistisches summieren sich zu einem Panorama Amerikas, in dem es an Liebesbezeugungen, aber auch an Kritik nicht fehlt. Und sie dokumentieren die scharfe Beobachtungsgabe und das hellwache politische Bewusstsein eines großen Schriftstellers.

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EPUB
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Seitenzahl: 189

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Max Frisch

Amerika!

Herausgegeben von Volker Hage

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe des 1995

im Schöffling Verlag erschienenen Bandes

Max Frisch, In Amerika

Umschlagfoto: Max Frisch-Archiv, Zürich

eBook Insel Verlag Berlin 2011

© Insel Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: HildenDesign, München

www.hildendesign.de

eISBN 978-3-458-74940-0

www.insel-verlag.de

Inhalt

Amerika, 1951

An Kurt Hirschfeld

Glossen zum amerikanischen Theater

Unsere Arroganz gegenüber Amerika

Begegnung mit Negern

Eine betörende Stadt

Sinfonie und Limonade

Elf Jahre in Manhattan

Was Amerika zu bieten hat

Lunch im Weißen Haus

Nachtrag zur Reise

Vorkommnis

Es waren Schwarze

Women's Liberation

Gestern in der Nachbarschaft

Wall Street

Alles ist Park

School of the Arts

Aufmarsch der Kriegsgegner

Brownsville

Freiheit, Anstand und Moral

Unterhaltung in der Fremde

Die Tapferkeit des Chlorophylls

Gedächtnis der Haut

Entwürfe zu einem Amerikabild

Nachbemerkung

Quellennachweise

Amerika, 1951

Pioniere

Viele amerikanische Erscheinungen erklären sich, wenn man sich den Pionier-Hintergrund bewußt macht. Daher wichtig die Kenntnis des Mittelwestens und des Westens. Alles von gestern auf heute gebaut. Die Pionierzeit ist überall noch spürbar. San Francisco, Oakland usw. Aus den Bedingungen des Pionierlebens dürften folgende Erscheinungen zu erklären sein: Help yourself. Es ist nicht möglich, dem andern beizustehen. Überraschung am Anfang, daß sehr freundliche Leute einem Fremden nichts abnehmen, z. B. Telefon, Adressenfinden usw. Es wird nicht »bedient«. Vorteil: auch kei­ne Bemutterung. Der Pionier muß alles können; es genügt, wenn er es einigermaßen kann, man geht weiter, es spielt keine große Rolle, daß die Dinge lange halten und daß sie schön aussehen. Bild der Ortschaft im Westen. Das Provisorische. In der Schule werden praktische Dinge unterrichtet, jedermann muß einen Schalter reparieren können usw. Die Umgangsform des betonten Positivismus und Optimismus als eine Umgangsform der Pioniere. Man muß sich gegen­seitig Mut machen; es geht nicht an, daß der andere mich mit seinen persönlichen Sorgen belastet. How are you? Fine. Das Problem der geringen menschlichen Beziehung; die Pioniere ziehen weiter, man sieht sich oft nur einmal kurz. Heu­te noch sehr stark alles in Bewegung, verhältnismäßig viele Ortsveränderungen innerhalb eines Lebens. Then I ­moved. Der Mangel an Ansässigkeit, daher auch kein Handwerk. Vorteilhaft die Beweglichkeit gegenüber materiellen Dingen, man ist bereit, alles wieder zu verlassen. Häuser nicht für die Ewigkeit gedacht, sondern wie ein Kleid zum Verbrauch. Überhaupt der Verbrauch, es wird nicht geschont. Rohstoff ist genügend vorhanden. Wenigstens bisher. Erinnerung an den Jeep-Fahrer in St. Margrethen, wie er die Benzintanks wegwarf. Im Pionierland hat man soviel Holz, als man schlagen kann; es ist keine Besorgtheit im Hinblick auf den Rohstoff, das Problem ist nur die Gewinnung. Es wird hier nicht geflickt, sondern produziert. Kapitalistische Grundlage, die ganze Wirtschaft ist nur durch laufende Produktion zu halten, daher ist der Verschleiß erwünscht. Im allgemeinen große Freigiebigkeit. Kein Geiz. Der Pionier und Nomade glaubt nicht ans Sparen. Merkwürdige Widersprüche zu der sonst deutlichen Bürgerlichkeit. Erinnerung an die Pionierzeit: der Drugstore, wo alles zu haben ist, Getränk und Werkzeug. Treffpunkt der Leute gewesen in den ersten Siedlungen.

Krieg

Gespräch mit einem Motel-Wirt in Kalifornien. Er sagt: Amerika ist für den Frieden, aber es kann sein, daß Krieg gemacht werden muß, um die Krise zu vermeiden. Als Zeichen der amerikanischen Friedensliebe erwähnt er, daß Amerika den Krieg nicht im eigenen Land wünscht. Meine Frage: Lieber in Europa? Seine unscherzhafte Entgegnung: Yes, they are used to have wars. Ich erzähle die Anekdote öfters, wo­bei mir in intellektuellen Kreisen versichert wird, der Mann spreche die Ansicht von einigen Millionen aus. Grundsätzlich: Die Angst vor der Krise ist größer als vor dem Krieg, wenigstens bei den mittleren und unteren Schichten, die wenig lesen. Die Depression ist für die Amerikaner eine eigene Erfahrung, die sie nicht vergessen haben. Nicht so der Krieg. Die Anzahl der Leute, die im Krieg waren, ist proportional sehr gering. Die Familien sind nicht betroffen wie in irgendeinem europäischen Land. Keine Zerstörungen im eigenen Land. Die Heimkehrer erzählen meistens nicht vom Krieg, sondern von ihren europäischen Eindrücken: Paris, Rom, Wien, Switzerland. Daher belletristische Färbung des Kriegserlebnisses. Für manche Amerikaner ist tatsächlich die Begegnung mit Europa (kulturell) ein entscheidendes Erlebnis geworden. Bekanntschaft mit einer anderen Lebensart. Die allgemein geringe Vorstellung davon, wie der Krieg aussieht, gibt der Propaganda ein leichtes Spiel. Schmucke Plakate in den Straßen: Job for a man, proudly serve, alles mit blanken, gesunden, strahlenden Gesichtern. Im allgemeinen das eindeutige Selbstbewußtsein, daß man den Krieg nur gewinnen kann. Mit wenigen Ausnahmen habe ich keine Leute getroffen, die kriegslustig waren. Viele aber halten den Krieg für unvermeidlich und für eine Angelegenheit in fernen Ländern. Korea völlig unpopulär. Bleistiftanschriften in der Subway: President Truman stop shooting in Korea, make peace my brother in Korea.

Schweizer

Es fällt mir auf, daß auch in Amerika (nicht nur wie bisher in Deutschland) die Tatsache, daß man Schweizer ist, immer besonders bemerkt wird; es folgt Lob oder auch offene Abneigung. Die Indifferenz, die ich mir wünschte, ist selten. Lob der Landschaft, der Produkte wie Uhren, Käse, Schokolade. Schon Maschinenindustrie und chemische Industrie nicht bekannt. Kulturell kaum gefragt; Erscheinungen wie Arthur Honegger, C. G. Jung, Frank Martin, Karl Barth werden nicht als Schweizer realisiert. Was wird von der Schweiz aus dagegen getan? Persönliche Erfahrung: Stelle mich vor auf Schweizer Gesandtschaft in New York, Dr. Gygax und Dr. Pestalozzi. Es erfolgt überhaupt nichts, weder eine Einladung in den Schweizer Club noch eine persönliche Einladung zu einem Lunch.

Sehr häufig Ausdrücke der Antipathie gegenüber der Schweiz, die man in Empfang zu nehmen hat. Zum Beispiel amerikanische Schriftstellerin: Die Schweiz ist übersauber, sehr an Geld interessiert, die Leute sind dem Amerikaner gegenüber devot. Andere: Die Schweiz hat ein gutes Geschäft im Krieg gemacht. Mein Widerspruch dagegen. Ein Junge in New Orleans: Die Schweiz ist die einzige wahre Demokratie, weil keine Diskrimination. Weil keine Neger! Es ärgert mich immer wieder, daß wir auf die Touristenherrlichkeit unseres Landes hin angesprochen werden, gelobt für Landschaft, im Grunde nicht voll genommen. Vor allem aber immer mit einer besonderen Beachtung der Nation betrachtet, Erinnerungen an schöne Ferientage und GI-Fun. Im Ganzen kennt man von den Qualitäten, die uns wichtig scheinen, so gut wie nichts. Wir werden sehr viel geringer eingeschätzt, als wir es aus dem Spiegel unserer Presse anzunehmen gewohnt sind.

Allgemeines

Quantität. Die Quantität spielt eine entscheidende Rolle. Quantität als Maß der Dinge. Beispielsweise bei Sightseeing. Über Architektur: wie lang, wie breit, wie viel gekostet. Dazu der Superlativ: one of the longest X in the world. Es wird nie von der Qualität gesprochen. Die Lust am Superlativ geht bis ins Komische: world's biggest little town (Reno). Dadurch, daß alles sich auf die ganze Welt bezieht, bekommt es oft etwas merkwürdig Provinzielles, Enttäuschung, daß die Welt nichts anderes übrig hat, als was man hier sieht. Die Sucht, sich in Superlativen auszudrücken oder in gesteigerten Ausdrücken, findet sich auch in der Umgangssprache. The nicest wine I ever had. Was man nicht mag: I hate it, nämlich einen vollen Aschenbecher. Das letztere erklärbar aus der Gefühlsarmut, übertriebene Betonung der Gefühlsurteile.

Das Heimweh nach Historie. Es genügt, daß ein Gebäude sehr alt ist, nämlich 50 oder 80 Jahre, um daraus einen point of interest zu machen, unabhängig davon, ob es als Architektur belanglos oder geradezu schlecht ist. Selbst Leute von Niveau betonen: it is really old. Der Mangel an Histo­rie als Quelle eines allgemeinen Unsicherheitsgefühls. Ich weiß nicht, woher ich komme. Dazu das Minderwertigkeitsgefühl des Parvenu. Es äußert sich teilweise im Wettstreit: der Amerikaner, der mir die Lichter am Times Square zeigt und mich fragt, ob das nicht mehr Leben sei als die Champs-Elysées, dabei kommt er von Paris. Der Hinblick auf Paris. Eine an­dere Äußerung von diesem Minderwertigkeitsge­fühl ist die erwähnte Sucht nach dem Superlativ: man muß immer an der Spitze sein, und wenn es auf die belanglose­ste Art ist. Das wunde Verhältnis zu Europa, Haßliebe ge­gen die Väter, vergleiche das Buch »Die Amerikaner«. Das Parvenuhafte auch in Umgangsformen, Staiger berichtet von einer Party in New York: Brötchenessen mit Glacéhandschuhen. In diesem Zusammenhang die sehr verbreitete Gehässigkeit gegenüber den Engländern bezüglich Sprache und ­Lebensart. Hier wird betont, daß man unformell ist, was teilweise gar nicht stimmt. Sehr formelle Wichtigkeiten, wei­ßes Hemd etc. Bei Intellektuellen ist das Verhältnis zu Europa meistens gelöster, man blickt nach Europa, bewundert, lernt, ohne deswegen das eigene Selbstbewußtsein aufzugeben. Bei Künstlern, vor allem bei den ganz kleinen, viel Nachahmung. Die Boheme spielt Paris, Village, etwas originaler in Santa Fe.

Das heilige Tier der Amerikaner, das nicht gestört werden darf: der Halbwüchsige. Er darf pfeifen und tun, was ihn lockt, wird nicht zurechtgewiesen, damit keine Frustration eintritt. Beispiel bei Verebes. Wir wollen uns ernsthaft unterhalten, was aber nicht möglich ist, weil der Bub vor der Television sitzt, es ist nicht möglich, ihm das zu verbieten oder auch nur anzuordnen, daß er leiser stellt. Die Hemmungslosigkeit der Jungen, trotzdem sehr viel Frustration bei den Erwachsenen. Was stimmt nicht? Positive Seite, Besuch bei Marshall, wir sprechen über die UNESCO, ein 14jähriger Junge sitzt dabei, der bisher ein Autoheft studiert hat, plötzlich aber am Gespräch teilnimmt: in my opinion. Dabei sehr kluge Fragen, die das Gespräch nicht stören. Vor allem aber, Mr. Marshall wird nicht ungeduldig, sondern unterrichtet den Jungen ohne jede Herablassung. Der junge Mensch ist gleichwertig und hat ein Recht, sich zu äußern ohne Angst vor Autorität.

An Kurt Hirschfeld

Berkeley, 15. 8. 51Otis Street 2928 1/2

Mein lieber Hirschi!

[…]

Hier, Du wirst es gehört haben, habe ich ein kleines Haus zwischen Negern und Chinesen, wunderbar allein, Arbeitszimmer mit Blick auf Wäsche, einen Garten, Eisschrank, Radio und viel Platten. Klima wie Herbst bei uns, köstlich, die Tage vergehen mir, ich weiß nicht wie. Ich arbeite nur. Dazwischen habe ich hin und wieder Gäste, sehr nette junge Menschen, Amerikaner, Studenten und Leute von jungen Theatern. Über Theater schreibe ich darum nichts, weil nichts Nennenswertes war; Gutes, ja, und viel Dilettantisches auch. Aber ich habe ja noch den Winter in New York. Uta Hagen ist in Paris. Sie kochte mir ein himmlisches Essen in ihrer himmlischen Wohnung, aber ich bin dieser Frau gegenüber immer befangen, ich könnte sie lieben, blödsinnig, doch muß ich anfangen, mit dem Einsammeln von Niederlagen etwas sorgfältig zu werden. Sonst küsse ich mich so oberflächlich durchs Land, das ja groß ist, und das ist die eine Offenbarung für mich, dieses Meer von Land, viel Wüste auch, Gestirnlandschaft, man reist so von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang, ich verstehe die Brüder, die da gegen Westen zogen, Gold war die Ausrede, wirklich meinten sie das ungeheuerliche Gefühl von runder Erde, deren Gast wir sind. Das andere: die Neger, ein Gottesdienst nur unter Negern. Ich habe versucht, es am Radio zu erzählen. Und das Dritte: die Eremitage, Begegnung mit mir, ein grobes Ding, dem man bestenfalls mit Schreiben beikommt. Ich habe hier, meine Arbeit von New York betrachtend, nochmals von vorne begonnen, was hinwiederum nicht heißt, daß ich jetzt besser schreibe, aber ich bin völlig in der Arbeit, ohne Zeit, nach San Francisco zu fahren, das keine Stadt ist, aber viele Reize hat – neben dem allgemeinen Reiz, fremd zu sein, so daß man keine Klumpen an den Füßen hat, man kann bleiben und gehen, was man auch in Zürich kann, aber ich mußte gehen, um es zu wissen.

Zuhanden Deiner Neugierde: Eva geht es gut, so wie es den sogenannt selbständigen Frauen gut geht, noch immer mit ihm (ob wir den selben meinen?), mein eigentlicher Engel in New York, aber wir werden älter, die Frauen kommen zuerst in den kühlen Schatten. Und Cleveland: zehn Tage bei Benno, der unverdrossen wuchtet, wie immer Mittelpunkt der Welt, Karamu geht es gut, aber viel Dilettantismus, finde ich, rührender Art. Natürlich läßt Dich alles grüßen, ich bin Dir auf den Spuren –

Was macht Ihr? Trudy kommt im September, dann auf nach Mexiko, hoffe ich. Grüße von mir – der Brief ist an Dich allein – Otto, Oberer, Böppli, Weber, Bischof und Vergessene – Dir, lieber Hirschi, alles Gute. Herzlich Dein

 Max

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