Weiß ich es denn selbst, wer ich bin? - Max Frisch - E-Book

Weiß ich es denn selbst, wer ich bin? E-Book

Max Frisch

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Beschreibung

Worin besteht der Sinn des Lebens? Was ist das Wesentliche? Und: Weiß ich es denn selbst, wer ich bin? Fragen, die jeden umtreiben, die auch das Werk von Max Frisch wie ein roter Faden durchziehen. Seine scharfsinnigen Antworten sind erhellend, unterhaltsam und immer überraschend. »Daß ein Leben ein wirkliches Leben gewesen ist, es ist schwer zu sagen, worauf es ankommt. Ich nenne es Wirklichkeit, doch was heißt das! Sie können auch sagen: daß einer mit sich selbst identisch wird. Andernfalls ist er nie gewesen!«

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Worin besteht der Sinn des Lebens? Was ist das Wesentliche? Und: Weiß ich es denn selbst, wer ich bin? Fragen, die jeden umtreiben, die auch das Werk von Max Frisch wie ein roter Faden durchziehen. Seine scharfsinnigen Antworten sind erhellend, unterhaltsam und immer überraschend.

Margit Unser, 1956 in Walldorf bei Heidelberg geboren, studierte Geschichte, Philosophie und Pädagogik in Mainz. Sie ist seit Juli 2008 Leiterin des Max Frisch-Archivs in Zürich, wo sie auch lebt.

Max Frisch

Weiß ich es denn selbst, wer ich bin?

Herausgegeben von Margit Unser

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Einbandgestaltung: Göllner, Michels

eISBN 978-3-518-78580-5

www.suhrkamp.de

»Einmal muß man erwachsen werden.«

Wen er allein war, wußte Reinhart alles viel klarer ... Was bin ich denn? Ein Mann von dreißig Jahren, der just sein eignes Brot verdient. Hälfte des Lebens, Menschenkind, Hälfte des Lebens! Wann wird man denn endlich erwachen und aufstehen? Wann, du lieber Gott, wann kommt denn die Reife, die man als Jüngling in jedem Erwachsenen neidvoll vermutete? Wann fängt es denn an, das wirkliche, das sinnvolle, wesentliche Leben? Hälfte des Daseins, die hinter ihm liegt, ein Haufen von verbrannten Bildern, verkohlt, in Asche verblasen, vergangen, nie gewesen. Heute, wenn er sich umsieht, und wäre es auch bloß nach verkäuflichen Werten, was hat er denn in der Hand? Was unterscheidet sein ganzes Erleben von einer Welle, die über den Wasserspiegel läuft, um nichts zurückzulassen, eine schillernde Flüchtigkeit, ein Glitzern in Augenblicken? So habe ich über die Welt gelebt, ganz ohne Spur eines wirkenden Daseins, ohne jedes Erzeugnis, das bleibt, so ohne Wurzel in einem größeren, gültigeren Leben, ohne einzugehen in ein kommendes Geschlecht! ... Eines Morgens liegt man im Bett und greift sich an die Stirne: Mein Gott, das ist mein Leben! ...

Im Grunde, so dünkt es Reinhart, war alles ganz einfach, wennschon er vergeblich nach genauen Worten suchte, um dem Mädchen klarzumachen, was ihn bewegte – sie spürte bloß, daß etwas mit ihm geschehen war –. Einmal muß man erwachsen werden! sagte er immer wieder. Eines Tages stehen wir vor der Wahl. Das eine ist die Wehmut, jugendlicher Trauergenuß, der nicht weiterführt, Wehmut vor jedem kommenden Herbst, ein heimliches Wundsein an allem, ein Grauen vor jeder Bewegung, jedem fallenden Blatt, jedem Reifen und Welken, jedem Strömen des Wassers, Grauen vor aller Vergängnis! Das ist das eine ... Oder wir finden zum andern: Wir gehen hindurch, wir nehmen es an, das große Stirb und Werde, wir treten über die Schwelle unsrer Jugend, ein für allemal. Es fallen die schillernden Schleier der Wehmut; es kommt eine kühle, klare Härte in alles, hinter alles, und man erschrickt nicht mehr, wenn jemand aufsteht und jünger ist. Man spielt nicht mehr mit dem Schrecken, mit dem Grauen vor dem Tod. Es öffnet sich über allem ein ganz andrer Raum. Was hilft uns der Rausch? Er hat keine Flügel, er trägt nicht in Gottes kühler Geräumigkeit. Es tut nichts, ob einer schwärmt, ob einer stehen bleibt wie ein störrischer Esel und ohne ein Wozu nicht weiter will. Es trägt nicht, sowenig wie der Schrei der Verzweiflung, wie das Grinsen des Spötters. Man tritt in den Dienst von Leben und Tod; gemeint ist ein Leben, das über uns ist, das auch in Herbsten nicht trauert, ein außerpersönliches. Zum erstenmal denkt auch der Mann an das Kind, das ihn überdauert, und will es, ohne Verstellung. Es öffnet sich über allem ein ganz andrer Raum.

Schwierigen, S. 497f.

»Seit ich Ragusa verlassen habe, erfüllt mich eine Glücklichkeit, die ich eigentlich nicht verstehe. Wenn ich diese letzten Tage überblicke: ich sehe abermals das untrügliche Zeichen der Unreife, daß die Umgebung immer stärker ist. Weil ich in meiner weichen Seele noch kein großes und grundlegendes Erlebnis besitze, das ein Gerüst abgäbe, keine tiefe Erinnerung, woraus sich mein Denken und Fühlen formt. Sehen Sie: wenn ich ringsum von fertigen Menschen gestoßen werde, wenn ich sozusagen von Hand zu Hand gereicht werde und mich jedermann formen kann nach seinem Bilde, so zerbröckelt man schließlich. Jetzt bin ich wieder allein; das bedeutet: man hat Raum, um nach seiner eigenen Anlage heranzuwachsen. Denn ich glaube, man muß sein Ich austragen, ehe man es in Gespräche hinausstellt, mühsam austragen, bis sein neunter Monat gekommen ist. Und Sie haben recht: auch dann ist es noch sehr klein; aber ich meine: dann ist es lebensfähig. Ich bin so zuversichtlich, trotz allem, daß einmal ein Mann aus mir wird.

Reinhart, S. 303

Einmal muß es sich erfüllen, daran glaubt er noch immer, auch wenn er langsam älter und in seinem Reden verhaltener geworden ist. Eine Gnade läßt sich ja nicht zwingen, das hat man langsam eingesehen, und man lernt Geduld, auch wenn es ihm mitunter schwerfällt. Zumal unter Menschen, die ihn nur nach seiner Gegenwart werten, nicht nach seiner Zukunft. Aber man schweigt und wartet, und während man wartet, tut man, was eben die gewöhnlichen Menschen tun; man lächelt natürlich im geheimen, denn man weiß, daß man nur so tut und daß man nicht gewöhnlich ist, man weiß, daß man eigentlich wartet, nur wartet auf das Besondere, auf den Aufbruch, auf die Gnade, auf die Erfüllung, auf den Sinn ...

Antwort, S. 13f.

Gespräch mit dem Staatsanwalt, meinem Freund, über Stiller: – »Die weitaus meisten Menschenleben werden durch Selbstüberforderung vernichtet«, sagt er und erklärt es sich etwa folgendermaßen: »Unser Bewußtsein hat sich im Laufe einiger Jahrhunderte sehr verändert, unser Gefühlsleben sehr viel weniger. Daher eine Diskrepanz zwischen unserem intellektuellen und unserem emotionellen Niveau. Die meisten von uns haben so ein Paket mit fleischfarbenem Stoff, nämlich Gefühle, die sie von ihrem intellektuellen Niveau aus nicht wahrhaben wollen. Es gibt zwei Auswege, die zu nichts führen; wir töten unsere primitiven und also unwürdigen Gefühle ab, soweit als möglich, auf die Gefahr hin, daß dadurch das Gefühlsleben überhaupt abgetötet wird, oder wir geben unseren unwürdigen Gefühlen einfach einen anderen Namen. Wir lügen sie um. Wir etikettieren sie nach dem Wunsch unseres Bewußtseins. Je wendiger unser Bewußtsein, je belesener, um so zahlreicher und um so nobler unsere Hintertüren, um so geistvoller die Selbstbelügung! Man kann sich ein Leben lang damit unterhalten, und zwar vortrefflich, nur kommt man damit nicht zum Leben, sondern unweigerlich in die Selbstentfremdung. Beispielsweise können wir uns den Mangel an Mut, einmal in die Knie zu gehen, unschwer als gute Haltung auslegen, die Angst vor Selbstverwirklichung unschwer als Selbstlosigkeit und so fort. Die meisten von uns wissen nur allzu gut, was sie in dieser oder jener Situation empfinden sollten, beziehungsweise nicht empfinden dürften, und haben selbst bei gutem Willen bereits die allergrößte Mühe herauszufinden, welcher Art ihre tatsächlich vorhandenen Gefühle sind. Das ist ein übler Zustand. Sarkasmus allem Gefühl gegenüber ist das klassische Symptom dafür ... Zur Selbstüberforderung gehört unweigerlich eine falsche Art von schlechtem Gewissen. Einer nimmt es sich übel, kein Genie zu sein, ein anderer nimmt es sich übel, trotz guter Erziehung kein Heiliger zu sein, und Stiller nahm es sich übel, kein Spanienkämpfer zu sein ... Es ist merkwürdig, was sich uns, sobald wir in der Selbstüberforderung und damit in der Selbstentfremdung sind, nicht alles als Gewissen anbietet. Die innere Stimme, die berühmte, ist oft genug nur die kokette Stimme eines Pseudo-Ich, das nicht duldet, daß ich es endlich aufgebe, daß ich mich selbst erkenne, und es mit allen Listen der Eitelkeit, nötigenfalls sogar mit Falschmeldungen aus dem Himmel versucht, mich an meine tödliche Selbstüberforderung zu fesseln. Wir sehen wohl unsere Niederlage, aber begreifen sie nicht als Signale, als Konsequenzen eines verkehrten Strebens, eines Strebens weg von unserem Selbst. Merkwürdigerweise ist ja die Richtung unserer Eitelkeit nicht, wie es zu sein scheint, eine Richtung auf unser Selbst hin, sondern weg von unserem Selbst.«

Stiller, S. 621f.

Was bin ich? (I)