An meiner Wand ein leuchtend blauer Ozean - Sarah Ann Juckes - E-Book

An meiner Wand ein leuchtend blauer Ozean E-Book

Sarah Ann Juckes

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Beschreibung

Ein chronisch krankes Mädchen, ein Street-Artist – und zwischen ihnen eine ganze Welt

Zwar kann die schwer kranke Alice nicht aufstehen, aber jeden Tag bringt ihr Stream Cast die Welt ins Zimmer. Von den Straßen Tokios bis zu Video-Games-Welten lebt sie die wilden und aufregenden Leben anderer Leute, ohne jemals das Haus zu verlassen. Doch alles verändert sich, als Alice einen neuen Streamer entdeckt.
Rowan ermutigt Alice dazu, nicht nur zuzusehen, sondern selbst die Kontrolle zu übernehmen. Gleichzeitig versucht Rowan etwas vor Alice zu verbergen – und vor sich selbst.
Gemeinsam bauen Alice und Rowan sich eine schönere Welt, doch ihrer beider Geheimnisse drohen sie auseinanderzureißen. Wollen sie wirklich alles riskieren für ihre Liebe?
Eine herzzerreißende und doch hoffnungsvoll lebensbejahende Geschichte über eine unmögliche Liebe für alle Leser*innen von »Drei Schritte zu dir« und »All die verdammt perfekten Tage«.

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Seitenzahl: 346

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Sarah Ann Juckes

Aus dem Englischen von Anja Galić

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2021 Sarah Ann Juckes

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The World Between Us« bei Penguin Random House Children’s, London, in der Verlagsgruppe global.penguinrandomhouse.com

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Anja Galić

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München

Umschlagmotive: Shutterstock.com (Babkina Svetlana, Alenka Karabanova, BrSav, maritime_m, Laura Reyero, STOP_WAR, Olga_C, aarrows)

kk · Herstellung: AW

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN:978-3-641-27813-7V001

www.cbj-verlag.de

Für Ryan

Willkommen zurück bei Stream Cast, Alice

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WesleyCycles67

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1 WesleyCycles67

Und jetzt bin ich am Oberkörper von einem mittelalten Mann festgeschnallt, der gerade einen Fuß in die Pedalriemen seines Fahrrads schiebt.

Es ist noch dunkel, trotzdem kann ich seine Hand erkennen, als er den Timer seiner Uhr auf null setzt, bevor er losfährt.

Die kleine Straße mit den Monopoly-Häusern, in der er wohnt, geht nach einer Kurve in eine Hauptstraße über, und heute müssen wir nicht anhalten und auf eine Lücke im Verkehr warten – wir fahren mitten hinein und rollen schneller und schneller, während die Straßenlaternen hinter uns allmählich verlöschen und die Welt von Dunkelheit verschluckt wird. Autos überholen uns und im Licht ihrer Scheinwerfer sehe ich Vogelscheuchen auf den Feldern. Augen, die aus Büschen hervorleuchten.

Er wirft einen Blick auf seine Uhr und beschleunigt. Wir könnten heute seinen Pendler-Rekord brechen. Dieser Morgen könnte in die Geschichte eingehen.

Die Straße wird abschüssig und die Umgebung unscharf, aber wir treten weiter in die Pedale. Seine Beine bewegen sich so schnell, dass ich nicht sicher bin, ob er mit ihnen mithalten kann, aber er kann. Und als die Straße wieder eben wird, zischen wir an den im Stau steckenden Autos vorbei, die uns vorhin überholt haben. Wir werfen einen Blick durch ihre Fenster und sehen für den Bruchteil einer Sekunde ihren überraschten Gesichtsausdruck, bevor wir sie abhängen.

Die Sonne hebt eine Braue über den Horizont und die Lichter der Autos bilden grell leuchtende Zickzacklinien auf der Fahrbahn, eine Stampede aus Metall, und wir sind mittendrin, kurven um Stoßdämpfer herum, schießen über bernsteinfarbene Ampeln, wechseln auf Gehwege und springen von Bordsteinen, um reflektierenden Pollern und parkenden Autos auszuweichen.

Die Ziellinie kommt in Sicht – der sich den Wolken entgegenreckende Glockenturm der Schule, in der Wesley arbeitet. Wir haben nur noch sechzig Sekunden und eine Ampel vor uns. Die Ampel steht auf Rot, aber da die Straße frei ist, werden wir nicht langsamer.

Und dann.

Wie aus dem Nichts.

Ein Wagen.

Wir bremsen und wir bremsen und wir bremsen.

Und ich schreie, weil wir viel zu schnell sind und der Wagen vor einer Sekunde noch nicht da war und jetzt da ist.

Ich höre, wie Wesley das Herz aus dem Brustkorb springt und der Rest von ihm still wird.

Karbonfasern zersplittern.

Die Kamera, die er sich an die Brust geschnallt hatte. Zerspringt.

WesleyCycles67 hat den Stream beendet.

Wechsle zu einem anderen Kanal.

3 daddycool-007

Und jetzt bin ich mit meinem Dad auf einer Beerdigung.

Wir sitzen ganz hinten, aber er hält mich so hoch, dass ich über die Köpfe hinwegschauen kann. Vor uns sind ungefähr hundert Leute, die wie Krähen auf Stromkabeln in den Bankreihen hocken.

Und da ist er. Wesley. Derjenige, der in dem Sarg liegt und in dessen Brust noch immer die Splitter der Kamera stecken.

Genau so eine habe ich letztes Jahr zu Weihnachten bekommen. Dad hat sie mir besorgt, weil ich anfing, die Wände zu sehen, und er mir ein Fenster schenken wollte. Am Anfang hat er sie, vor die Brust geschnallt, auf Streifzüge mitgenommen und mir die Aufnahmen später gezeigt. Aber dann hat er Stream Cast entdeckt – eine private Streaming-Seite, in die ich mich zu jeder Tages- und Nachtzeit mit einem eigenen Zugang einloggen und das LEBEN da draußen in der Welt live mitverfolgen konnte. Und das hatte etwas absolut Magisches.

Wesley war mein erster Streamer. Er arbeitete mit Mum in der Schule, die am anderen Ende unserer Straße liegt, und sie überredete ihn, die Strecke, die er jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Schule zurücklegte, live zu streamen. Dann hat Dad noch meinen Cousin Roy rekrutiert, der einen Tag nach mir geboren wurde und leidenschaftlicher Gamer ist. Und ein Freund von Dad aus seiner Taekwondo-Schule nimmt mich zum Training mit und meine frühere Babysitterin Hana streamt Tausende von Kilometern weit weg von Tokio aus, wo sie mittlerweile lebt.

Aber am liebsten war ich mit Wesley unterwegs. Wenn ich mit ihm auf dem Fahrrad saß, war es, als gäbe es keine KRANKHEIT und ich könnte im Zeitraffer LEBEN. Ich sah Fasane, die wie gefiederte Regenbögen aus Büschen hervorbrachen, und Kaninchenschwänze, die wie auf und ab springende Pingpongbälle in Erdhöhlen verschwanden. Ich sah hoch aufragende, hell lodernde Getreideähren, die das ganze Feld in ein wogendes Flammenmeer verwandelten. Ich sah Pfützen, die sich in Flüsse verwandelten, die sich in Seen verwandelten, in denen sich der Himmel spiegelte.

Mit Wesley habe ich am allerbesten GELEBT, deswegen fühlt es sich so an, als wäre das irgendwie auch meine Beerdigung.

Aber wenn es meine Beerdigung wäre, würde Dad wohl nicht ganz hinten sitzen und sich so viele verärgerte Blicke einfangen wegen der Kamera, die er hochhält.

Ein Mann, von dem ich annehme, dass es der Pfarrer ist, stellt sich vorne hin und beginnt zu sprechen. Ich verstehe nicht, was er sagt, weil wir zu weit weg sind, aber wahrscheinlich ist es so etwas wie, dass Wesley sein Leben nach der Uhr GELEBT hat und es nun, da er nicht mehr LEBT, scheint, als sei die Zeit stehen geblieben.

Wäre ich gestorben, würde er wahrscheinlich darüber sprechen, wie ich war, bevor mich die KRANKHEIT erwischt hat, weil es den Leuten anscheinend leichter fällt, sich daran zu erinnern. Er würde über mich reden, als wäre ich mit zehn gestorben, zu einer Zeit, als ich Dad auf seinen Streifzügen begleitete, die Medaille im Brustschwimmen gewann, Anisbonbons tütenweise verschlang, in voller Lautstärke Musik hörte und mir nichts mehr wünschte, als eines Tages Meeresbiologin zu werden.

Er würde nicht darüber sprechen, wie ich war, als ich KRANK wurde. Als ich mir einen blöden Virus einfing, der an der Schule rumging und den ich einfach nicht loswurde, obwohl alle anderen schon wieder gesund waren. Er würde nicht über das Mädchen sprechen, das irgendwann nicht mehr in der Lage war, zur Schule zu gehen. Dann nicht mehr nach draußen gehen konnte. Dann ihr Bett nicht mehr verlassen konnte. Er würde kein Wort über die KRANKHEIT verlieren und dass niemand wirklich wusste, was das eigentlich für eine KRANKHEIT war, selbst nach all den Jahren nicht, nach all den Tests, nach all den Recherchen zu Symptomen auf Google. Ich würde es ihm ehrlich gesagt nicht übel nehmen. Wer will schon etwas über ein Mädchen hören, das schon völlig erschöpft ist, wenn es sich bloß gewaschen hat?

Nur verstehen die meisten Leute nicht, dass ich mein Leben nicht innerhalb dieser vier Wände verbringen muss. Ich muss nicht in meinen Körper eingeschlossen sein. Ich kann an die Brust toller Menschen geschnallt werden und ihnen dabei zusehen, wie sie ein LEBEN haben, das vielleicht mein eigenes sein könnte, und das ist ein reines Wunder.

Das heißt, bis einer von ihnen stirbt.

Der Pfarrer tritt zur Seite, und eine Frau, von der ich denke, dass sie Wesleys Frau war, steht auf, und ich brauche meinen allerletzten Spoon auf, um mich vorzubeugen und den Laptop zuzuklappen.

Willkommen zurück bei Stream Cast, Alice

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WesleyCycles67

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4 destroy_roy

Und jetzt balanciere ich auf dem Schreibtisch von meinem sechzehnjährigen Cousin Roy, der gerade auf seine Tastatur einhämmert, als würde er ein wütendes Stück auf einem Klavier spielen.

Aber ich höre keine Musik. Stattdessen betrachte ich seinen Bildschirm, auf dem ich sehen kann, wie er mit einem Maschinengewehr durch eine apokalyptische Landschaft auf ein verfallenes Gebäude zuläuft.

Dieses Spiel kenne ich nicht. Normalerweise streamt Roy sich bei Videospielen, in denen er aus dem Nichts ganze Welten erschafft. Er nimmt die Kamera nie mit nach draußen, aber es ist irgendwie großartig, ihm dabei zuzuschauen, wie er Bauklötzchen Leben einhaucht.

Dieses Spiel ist völlig anders. Die Knöchel seiner Finger, die auf der Tastatur herumhacken, sind weiß. Er öffnet die Tür des Gebäudes, duckt sich unter ein leeres Fenster und wickelt sich einen Verband um seine computergenerierten Hände.

Im nächsten Moment höre ich Schüsse. Zuerst aus weiter Ferne, dann immer lauter. Ich will ihn warnen, aber er kann mich nicht hören und weiß wahrscheinlich noch nicht mal, dass ich bei ihm bin. So funktioniert Stream Cast nicht. Es ist keine Zweiwege-Kommunikation. Ich kann bloß zuschauen; meine Schreie verhallen ungehört.

Er reagiert zu spät. Als sein Soldat sich etwas aufrichtet und aus dem Fenster späht, sehen wir den Geländewagen auf ihn zurasen, in dem sich blechhelmtragende Killer aus den Fenstern lehnen und ihre Waffen auf ihn abfeuern.

Pam-pam-pam-pam.

Und die Kugeln durchsieben ihn und auf dem Bildschirm explodiert eine blutrote Wolke und der Lebensbalken sinkt auf null und Roy schreit und flucht, wie ich ihn noch nie schreien und fluchen gehört habe, und …

Du hast den Stream verlassen.

6 Alice

Und jetzt träume ich.

Ich treibe in einem unendlichen Ozean umgeben von sattem Königsblau. Und ich fühle mich schwerelos. Ruhig. Als würde ich mich auf etwas zubewegen, eingefangen von einer unsichtbaren Strömung, die unter den Wellen einen Tunnel gräbt und mich irgendwohin mitnimmt.

Aber dann drehe ich mich. Und unter mir ragen Felsen aus dem Meeresboden. Felsen, in denen Glasscherben und Karbonsplitter glitzern.

Ich strample. Ich schlucke Wasser und die Strömung wirbelt mich herum, und ich weiß nicht mehr, wo oben und wo unten ist. Und plötzlich ist der Meeresboden der Himmel und über mir ist meine Mutter. Dad. Cecelia. Die alle an der Wasseroberfläche paddeln, mit Beinen wie Sonnenstrahlen, die mich in der Dunkelheit hier unten nicht erreichen.

Ich strecke die Arme nach ihnen aus. Ich trete so kräftig aus, wie ich nur kann.

Aber es nützt nichts. Ich sinke trotzdem.

7 Alice

Manchmal verbraucht die KRANKHEIT schneller Spoons, als ich zählen kann, und dann nimmt sie mir nicht nur meinen Körper, sondern auch MICH.

Das ist der schlimmste Teil. Ich kann mittlerweile ganz gut damit umgehen, wenn meine Glieder aufhören zu funktionieren, als würden sie von einer billigen Batterie betrieben, die nur eine Stunde hält. Aber wenn mir die KRANKHEIT den Verstand raubt, weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Ich verliere mein ICH. Dann brauche ich eine volle Stunde, nur um eine kurze Nachricht zu schreiben oder mich an den Namen von meinem Goldfisch zu erinnern. Brainfog. Das fühlt sich an, als würde ich auf einem Floß inmitten eines Ozeans aus undurchdringlichem Nebel ins Nichts treiben.

»Ich komm schon wieder zu spät.« Mum macht sich hektisch für die Arbeit fertig. »Meinst du, du kommst heute allein klar, Alice?«

»Kein Problem«, sage ich und greife nach meinem Laptop. »Ich hab wieder meinen vollen Satz Spoons am Start.«

Aber als sie mich zum Abschied küsst, auf ihre Uhr schaut und leise flucht, frage ich mich, ob das wirklich stimmt.

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Hana ist online. Und obwohl ich einen leichten pochenden Schmerz über meinem Auge spüre, klicke ich auf Verbinden und verschwinde.

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8 tokyo--drifter

Und jetzt stecke ich an einem Selfie-Stick und schaue meiner früheren Babysitterin Hana dabei zu, wie sie breite Fußgängerwege entlanggeht, die durch einen dichten Gebäudewald führen.

Sie hat die Kamera so gedreht, dass ich sie sehen kann. Das macht sie immer so, und ich weiß nicht, warum. Dadurch ist es unmöglich, zu glauben, ich würde gemeinsam mit ihr durch Tokio streifen. Warum sollte ich rückwärtsgehen?

Sie hat die Haare zu Pigtails hochgebunden und lächelt jeden an, der ihr entgegenkommt, aber ich versuche an ihrem Gesicht vorbeizuschauen und mir die Stadt hinter ihr anzusehen.

Tokio besteht aus Häuserschluchten und verglasten Passagen und Lichtern, die wie Weihnachtsbäume blinken. Überall sind Menschen, die Hände und Kameras halten und auf Dinge zeigen, die so hoch sind, dass ich sie nicht sehen kann.

Sie schwingt den Selfie-Stick im Kreis und ich komme mir wie auf einem Helikopter-Rundflug vor. Irgendwann setzt sie sich auf etwas, von dem ich denke, dass es eine Bank ist, und schaut sich etwas an, von dem ich nicht weiß, was es ist, weil es sich hinter der Kamera befindet. Musik ertönt und jemand fängt an zu singen, und ich warte die ganze Zeit darauf, dass sie die Kamera in Richtung des Geschehens dreht. Stattdessen schaue ich ihr dabei zu, wie sie mit offenem Mund beobachtet, was auch immer dort gerade passiert.

»Dreh die Kamera um«, sage ich laut, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht hören kann. Das können die Streamer nie.

Ich überlege, die Verbindung zu trennen, als mein Blick auf den riesigen Flatscreen im Schaufenster eines Geschäfts hinter ihr fällt. Vorhin ist dort noch Werbung für ein Erfrischungsgetränk gelaufen, aber jetzt hat er sich in ein gigantisches Aquarium verwandelt – als wäre er gar kein Bildschirm, sondern ein Portal in eine Welt innerhalb einer anderen Welt.

Ich sitze nicht mehr auf meinem Bett, noch nicht mal auf einer Bank im Zentrum von Tokio, sondern auf dem Grund des Meeres auf dem Bildschirm. Tausende Fische verschiedenster Farben schnellen in alle Richtungen, huschen zwischen langfingrigen Korallen und kurzfingrigen Tauchern hindurch. Schildkröten gleiten über meinen Kopf hinweg und an der Oberfläche stoßen Wale Fontänen aus.

Und ich werde daran erinnert, dass das Meer voller LEBEN ist. Von winzigen grünen Partikeln bis zu riesigen Ungetümen. Es ist ein Ort, an dem man schwebt. An dem man alles und nichts ist, jeder und niemand. An dem es keine Spoons gibt, die eingeteilt werden müssen – nur Stille. Nur Licht.

Ich atme es ein und die Welt scheint einen Moment lang stillzustehen.

Und dann ist die Band, die Hana sich angeschaut hat, fertig, und der Stream löst sich in schäumende Bläschen auf, als sie zum Klatschen beide Hände benutzt.

Du hast den Stream verlassen.

9 Alice

Ich klappe meinen Laptop zu. Es ist still im Haus ohne Mum und Dad, die bei der Arbeit sind. Die einzigen Geräusche sind mein Atem, das Summen des Lichts von Mantas Aquarium und die Brise, die durch das offene Fenster mit den Vorhängen spielt.

Und draußen sehe ich in der Ferne den Glockenturm. Wesleys persönliche Ziellinie und das Letzte, was er gesehen hat, bevor –

Ich schüttle den Kopf. Früher fand ich es schön, wenn das Fenster auf war und ich nur eine Straße weiter die Schule sehen konnte, auf die Cecelia geht und in der meine Mum als Berufsberaterin orientierungslosen Schülern dabei hilft, den richtigen Kurs für ihr Leben nach dem Abschluss zu finden.

Bevor die KRANKHEIT mich erwischt hat, war Mum Sängerin. Sie ist mit einer Spice-Girls-Coverband als Posh Spice auf Tour gewesen – dass sie, die sich privat gern mal Krümel vom BH pickt und in den Mund steckt, die Vornehme war, fanden Dad und ich immer ziemlich lustig. Aber auf der Bühne war sie ein Star. Und ich habe es geliebt, mir ihre Auftritte anzuschauen und mitzuerleben, wie sie der Menge ihr Mikro entgegenreckt und einen ganzen Saal zum Tanzen bringt.

Mittlerweile singt sie nur noch leise und nur noch unten, wo die Musik mich nicht erreichen und Spoons verbrauchen kann. Und statt ein Mikro zu halten, hält sie Meetings über die Träume anderer Leute ab.

Ich schaue Mum zu, wie sie ihr Leben aufschiebt, um sich um mich zu kümmern, und meine Schuldgefühle lasten wie tausend Tonnen Wasser auf meinen Knochen. Es macht, dass ich mich schwer fühle und die Wände in meinem Zimmer ein bisschen näher rücken und die Stille im Haus fast –

Ich atme tief durch und klappe meinen Laptop wieder auf. Der Pfeil meiner Maus schwebt über dem Stream-Cast-Icon auf meinem Desktop.

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Rowan

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destroy_roy

WesleyCycles67

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Mein Herz scheint ruckartig zum Stehen zu kommen.

Rowan. Online seit zwei Minuten.

Ein neuer Streamer. Sein Thumbnail ist dunkel, als würde er genauso gut auf dem Grund eines schwarzen Ozeans existieren können.

Mein Herz schlägt weiter, und jetzt zittere ich, weil ich ein neues Fenster habe. Ein Fenster, das vielleicht eine Welt weit weg von schlimmen Dingen oder einem Leben ist, das jeden Moment enden könnte. Ein Fenster, das offen steht und darauf wartet, dass ich hindurchklettere und meinen Körper und all seine defekten Bestandteile zurücklasse.

Ich reibe über den stärker werden Schmerz direkt über meinem Auge. Ich tippe auf das Mousepad.

Und klettere hindurch.

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10 Rowan

Und jetzt bin ich an die Brust einer Person geschnallt, die ich nicht kenne und die gerade durch etwas hindurchläuft, was vermutlich eine lange Unterführung ist.

Weiter vorne ist Licht und die Sicht schaukelt im Rhythmus ihres wiegenden Gangs hin und her. Ich höre widerhallende Schritte und halte die Luft an wie früher, wenn ich mit Dad vor der KRANKHEIT durch einen Tunnel gefahren bin. Und ich kann fast hören, wie das Geräusch bumerangartig zurückkommt und mich antreibt – mir das Gefühl gibt, dass ich vielleicht nie wieder Luft holen werde –, während über uns gelbes Neonlicht im Takt meines Herzschlags flackert. Und wir rasen – rasen auf die Ziellinie zu, wo ein völlig neues Leben und klare frische Luft warten. Aber wir sind nicht schnell genug, und der Nervenkitzel, es vielleicht nicht zu schaffen, vibriert bis in meine Knochen hinein.

Aber das Licht kommt jetzt näher und blitzt hell in der Kamera auf, bevor das Objektiv sich angepasst hat. Und ich will, dass wir weiter in dieses Licht laufen. In dieses neue Leben, in dem es so etwas wie Schatten nicht gibt.

Stattdessen bleibt der neue Streamer stehen. Dreht sich halb um. Und schaut auf die Wand der Unterführung.

Ich stoße die angehaltene Luft aus.

Warum schauen wir auf die Wand in einer Unterführung, wenn in dem Licht eine völlig neue Welt wartet? Es ist bloß eine Wand. Eine rissige Betonwand, auf die auch noch jemand ein Graffiti aus kreuz und quer verlaufenden Zeichen und Symbolen gesprüht hat, das wie ein riesiges Tic-Tac-Toe-Spiel aussieht. Ich will, dass wir uns wieder nach vorn drehen und weiter auf das Licht zugehen, dorthin, wo das LEBEN passiert. Aber wir rühren uns nicht von der Stelle. Wir starren weiter die Wand an.

Enttäuschung macht sich in mir breit. Das hier sollte ein neues Fenster sein, und jetzt bin ich bei jemandem gelandet, der sich gern Wände anschaut, statt irgendetwas von den Dingen zu tun, die ich tun würde, wenn mein Körper noch wie früher funktionieren würde. Zum Beispiel an unfassbare Orte zu schwimmen und wie aus dem Nichts explodierende Farben zu sehen.

Aber dann schaue ich genauer hin. Und nun erkenne ich, dass die kreuz und quer verlaufenden Linien an der Wand in etwas übergehen, das größer ist. Größer als ich und sogar größer als die Wand selbst. Die kleinen Farbstriche schlängeln sich ineinander, bilden einen Umriss. Ein Auge. Acht Arme mit winzigen Saugnäpfen.

Der neue Streamer tritt ein Stück zurück und plötzlich sehe ich einen gigantischen Regenbogenkalmar aus der Tunnelwand hervorbrechen, als hätte er seine Fangarme in Tausende Farbeimer getaucht und sich mit einer einzigen zuckenden Bewegung selbst erschaffen. Im flackernden Licht der Neonröhren scheint er zu atmen, sich auf dem Beton zu krümmen und zu winden, sich darauf vorzubereiten, seine Arme um das Herz der Erde zu schlingen und zuzudrücken.

Während wir dort stehen, schiebt sich ein anzugtragender Mann vorbei. Er hat den Blick auf sein Handy gesenkt. Sieht nichts davon. Aber wir sehen es.

Und ich frage mich, was ein Mensch, der ein LEBEN hat, noch alles verpassen wird, weil er damit beschäftigt ist, zu seinem nächsten Meeting zu hetzen, obwohl sich am Wegrand Wunder aller Art verbergen, Wunder wie dieses hier.

Einen Augenblick später wenden wir uns ab und laufen aus der Unterführung, und ich bin beinahe traurig, mich von dem Kalmar zu verabschieden, der es mit dem Beton aufnimmt, als das Tageslicht mir für einen Moment die Sicht nimmt. Aber dann klärt sich das Bild, und ich sehe einen Fußweg, der sich um einen Spielplatz windet.

Der neue Streamer hat die Hände in die Taschen geschoben, das denke ich zumindest, weil die Welt sich nach links und rechts neigt, während er einen Fuß vor den anderen setzt. Wir folgen dem Weg, bis er uns auf einer schwammartigen Asphaltfläche ausspuckt, die sich in meiner Vorstellung anfühlt, als würde man mitten in einem schwarzen Geburtstagskuchen stehen.

Es ist ein grauer Tag, aber aus allen Richtungen kommen Kinder in blauen Pullovern auf den Spielplatz gerast, springen kreischend auf Schaukeln und klammern sich an den Haltestangen eines Sitzkarussells fest, das sie in Bubblegum-Eiscreme-Wirbel verwandeln.

Ich hätte gedacht, dass die ganzen Kinder den neuen Streamer in die Flucht schlagen würden, aber wer auch immer diese Person ist, es scheint sie nicht zu stören. Stattdessen steigt sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zu einem Klettergerüst hoch, das einer Burg nachempfunden ist, und ich sehe Hände, die nach rostigen Streben greifen und uns hochziehen – die Finger lang und kräftig wie Riesenkrabben.

Oben angekommen, schiebt sie sich auf Knien und mit eingezogenem Kopf in das Turmhäuschen, von dem durch die eine Fensteröffnung eine Rutsche nach unten führt und durch die andere eine Kletterstange.

Ich frage mich, wofür die Person sich entscheiden wird. Zuerst hoffe ich, dass sie die Rutsche nimmt, und dann wünsche ich mir die Stange, weil mir wieder eingefallen ist, wie es sich im Bauch anfühlt, wenn man seinen Körper der Schwerelosigkeit überlässt und einfach fällt. Stattdessen setzt sie sich hin, und ich sehe schwarze Sneaker, die Risse an der Naht haben, und eine Jeans, die an den Fußknöcheln endet und Beine bedeckt, denen es nichts ausmacht, benutzt zu werden.

Ich glaube nicht, dass der neue Streamer wieder ein Lehrer von der Schule ist wie Wes…

Ich schüttle den Kopf.

Ich glaube, dass dieser Streamer jung ist. Aber weil er die Beine anwinkeln und die Füße gegen die Wand stemmen muss, um in den Turm dieser Spielplatzburg zu passen, kann er kein Kind mehr sein.

Und dann sehe ich es. Seine Füße sind ein bisschen im Weg, aber dahinter entdecke ich ein Bild – vom selben Künstler wie der Kalmar, da bin ich mir sicher. Es ist derselbe Stil: unzählige kleine Farblinien, die sich ineinanderflechten, um Schuppen zu formen, die einen Fischschwanz bedecken, der zu einer eher rastlos aussehenden Meerjungfrau gehört. Ihr Schwanz windet sich um die Öffnung zur Rutsche und ihre Arme umklammern die zur Stange, als könnte auch sie sich nicht entscheiden, durch welche sie zuerst rausschlüpfen soll.

Ihr Haar ist ganz anders als das der Meerjungfrau aus dem Disneyfilm – es schimmert in allen Blautönen des Meers und um manche Strähnen winden sich grüner Seetang und violette Muscheln. Ihr Oberkörper ist nackt, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht scheint zu sagen, dass es dringlichere Dinge auf der Welt gibt, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob jemand ihre Brüste sieht.

Ich folge dem Blick ihrer nach unten gerichteten Augen aus der Fensteröffnung, die sie umklammert. Von hier oben kann man kilometerweit schauen – über ein Feld, wo ein paar Jungen Fußball spielen und ihre T-Shirts als Torpfosten benutzen – über eine Straße mit einer Bäckerei und einem Laden, der Brauselimonade verkauft – über Häuserreihen und Straßenlaternen – bis zu einer riesigen blauen Fläche.

»Das Meer!«, stoße ich hervor.

Ich bin schon dabei, mir vorzustellen, wie ich mich in seine Fluten stürze, und als der neue Streamer etwas sagt, klingt es fast so, als würde die Stimme von irgendwo an der Wasseroberfläche kommen.

»Oh …

Ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass man von hier oben das Meer sieht.

Schräg.«

Ich erstarre.

Und dann schnappe ich keuchend nach Luft, und sie drängt wie Eiswasser in meine Lungen und ich gerate in Panik, weil er –

Er hat mich gehört. Und er hat gerade etwas gesagt. Zu mir.

Du hast den Stream verlassen.

11 Alice

Ich klappe den Laptop zu und stoße ihn vom Bett. Er landet mit einem harten, dumpfen Schlag auf dem Boden. Mein Herzschlag ist genauso hart und dumpf.

Ich sinke ins Kissen zurück und hebe die Decke an, unter der die Luft so warm ist, dass sie langsamer in meine Lungen strömt und ich atmen kann. Atmen.

Und nachdenken.

Der neue Streamer. Er hat mich gehört. Er muss mich gehört haben, weil er mir geantwortet hat, auch wenn es eine komische Antwort war. Wer lebt am Meer und sieht es nicht?

Aber was durch meinen Kopf schwirrt und dafür sorgt, dass der ach so vertraute Schmerz sich wie ein Messer in den Knochen über meinem rechten Auge bohrt, ist die Tatsache, dass ich mit den Streamern nicht spreche. Weder mit Wes…, noch mit irgendeinem von ihnen. Ich schaue ihnen zu, wie sie ihr LEBEN LEBEN, und tue so, als hätte ich noch nicht mal einen Mund, den ich zum Sprechen benutzen kann. Als hätte ich die KRANKHEIT hinter mir gelassen. Die Notwendigkeit, Spoons zu zählen. Dieses Bett.

Ich drücke die Finger gegen die Stirn, um die Migräne zu vertreiben. Wenn ich nur noch einen Moment länger nachdenken könnte, wäre ich vielleicht in der Lage, es zu verstehen.

Der Brainfog senkt sich herab und alle meine Gedanken wabern davon. Ich strecke die Finger aus und versuche nach den Buchstaben zu greifen, während meine Worte

verschwinden.

Dann – wie der Lichtkegel eines Leuchtturms im Nebel –

»In Ordnung, Kleines, du musst nur das hier schlucken und danach kannst du dich ausruhen, okay?«

Tablette. Sie wird den Schmerz auslöschen, aber sie wird auch MICH auslöschen.

Wasser.

Schlucken.

»Der Eimer ist hier, wenn du ihn brauchst, gleich neben dem Bett.«

Bärtiger Kuss. Genau auf die Stelle, wo der Schmerz pulsiert. 

»Danke, Dad«, flüstere ich.

Und ich bin nicht Alice. Ich bin nicht der Streamer. Ich bin noch nicht einmal ICH.

Ich bin eine Migräne.