Jasper und das Lied der Nachtigall - Sarah Ann Juckes - E-Book

Jasper und das Lied der Nachtigall E-Book

Sarah Ann Juckes

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Beschreibung

An einem besseren Ort Jasper und seine Schwester Rosie lauschen jedes Jahr derselben Nachtigall. Doch in diesem Jahr kehrt der Singvogel nicht zurück – und Rosie auch nicht. Nie wieder. Als Jasper erfährt, dass Rosie nun an einem besseren Ort sei, schnappt er sich seinen Rucksack und sein Vogelbuch und läuft los. Denn eines weiß Jasper genau: Geliebte Dinge sind nie ganz verloren, sie sind bloß woanders. Er muss Rosie und die Nachtigall also nur wiederfinden und alles wird gut, oder? Auf seiner Reise begegnet Jasper Menschen, die ebenfalls auf der Suche nach großen und kleinen Dingen sind. Doch wo führt sein Weg ihn hin? Und was hält er am Ende für ihn bereit? Eine bewegende und tröstende Geschichte Ein gefühlvolles und bewegendes Buch rund um Trauer, Zuversicht und die Kraft der Natur. Die zeitlose Geschichte rund um Jasper ist nicht nur ein Liebesbrief an die heimische Vogelwelt, sondern zugleich ein Plädoyer an die Bedeutung von Freundschaft und Familie. Dieser besondere Einzeltitel spendet Trost und Zuversicht und kombiniert diese mit Themen wie Verlust und Einsamkeit. Kindgerecht geschrieben und mit hochwertigen schwarz-weiß-Illustrationen begleitet. Für Jungs und Mädchen ab 8 Jahren und starkem All-Age-Charakter. Für Fans von Wunder und Margos Spuren.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Vogelinfo Nr. 1Es ist sehr schwer, eine Nachtigall zu Gesicht zu bekommen.

Vogelinfo Nr. 2Die Nachtigall wird auch die „Königin der Nacht“ genannt.

Vogelinfo Nr. 3Das Lied der Nachtigall setzt sich aus etwa 200 verschiedenen Strophentypen zusammen.

Vogelinfo Nr. 4Das Nest der Nachtigall hat die Form einer Tasse und befindet sich in Bodennähe.

Vogelinfo Nr. 5Der Körper einer Uferschwalbe ist kaum größer als eine Streichholzschachtel.

Vogelinfo Nr. 6Fasanenküken können schon zwölf Tage nach dem Schlüpfen fliegen.

Vogelinfo Nr. 7Einige Eulenarten können ihren Kopf um mehr als 270 Grad drehen.

Vogelinfo Nr. 8Man vermutet, dass Tauben zu den intelligentesten Vögeln auf der Welt gehören.

Vogelinfo Nr. 9Vögel können beim Singen mehrmals in der Sekunde Luft holen.

Vogelinfo Nr. 10Es heißt, dass Dohlen zu den wenigen Vögeln gehören, die menschliche Gesichter erkennen und unterscheiden können.

Vogelinfo Nr. 11Dohlen sind meistens einsilbig. Ihre bevorzugten Laute sind „Kja“, „Kjä“ und „Tschack“.

Vogelinfo Nr. 12Vögel haben hohle Knochen, damit sie besser fliegen können.

Vogelinfo Nr. 13Das Gefieder der Mehrheit der Vögel ist wasserabweisend, weil sie ein Öl absondern, das sich auf ihre Federn legt.

Vogelinfo Nr. 14Wasser hilft Vögeln, ihre Körper innerlich und äußerlich zu kühlen.

Vogelinfo Nr. 15Das Lied der Nachtigall hat schon viele Künstler inspiriert.

Vogelinfo Nr. 16Man glaubt, dass die meisten Vögel Menschen als Raubtiere betrachten.

Vogelinfo Nr. 17Singdrosseln gehören zu den Vögeln in Europa, die Schnecken fressen.

Vogelinfo Nr. 18Die Amerikanische Rohrdommel tarnt sich in Schilfgräsern, indem sie ihren langen Hals und den Schnabel senkrecht nach oben reckt.

Vogelinfo Nr. 19Das braune Gefieder von Schneehühnern wird im Winter weiß, sodass sie im Schnee nicht auffallen.

Vogelinfo Nr. 20Kubatrogone sind oft zu zweit unterwegs.

Vogelinfo Nr. 21Flugunfähige Vögel, wie etwa Emus, legen bei der Nahrungssuche oft weite Strecken zu Fuß oder auf dem Wasser zurück.

Vogelinfo Nr. 22Einige Zugvögel fliegen bei ihrer Wanderung über zwanzigtausend Kilometer weit.

Vogelinfo Nr. 23Es gibt auf der Welt mehr Hühner als Menschen.

Vogelinfo Nr. 24In den Winterquartieren der Stare leben manchmal mehrere Millionen Vögel.

Vogelinfo Nr. 25Die Nachtigall gehört zur Familie der Drosselvögel.

Vogelinfo Nr. 26Alle Höckerschwäne in England und Wales gehören streng genommen dem König von Großbritannien.

Vogelinfo Nr. 27Kolibris können rückwärtsfliegen.

Vogelinfo Nr. 28Die Flügel von Reihern können doppelt so groß sein wie ihr Körper.

Vogelinfo Nr. 29Raubvögel wie Turmfalken sieht man oft in Straßennähe am Himmel stehen.

Vogelinfo Nr. 30Das Lied der Nachtigall gehört zu den schönsten Klängen auf diesem Planeten.

Vogelinfo Nr. 31Der Nachwuchs der Nachtigall verbringt nur zehn bis zwölf Tage im Nest.

Vogelinfo Nr. 32Wenn man Nachtigallen in Käfige sperrt, sterben sie oft vor lauter Verzweiflung, ihrem Wandertrieb nicht nachkommen zu können.

Vogelinfo Nr. 33Die Nachtigall gehört zu den gefährdeten Vogelarten.

Vogelinfo Nr. 34Nachtigallen gelten als Symbol für die Liebe.

Vogelinfo Nr. 35Kein Vogel ist ganz und gar still.

Vogelinfo Nr. 36Schwanzmeisen sind beim Bau ihrer Nester auf die Hilfe von Spinnen angewiesen.

Vogelinfo Nr. 37Amseln benutzen in der Regel nicht mehr als ein Mal dasselbe Nest.

Vogelinfo Nr. 38Es ist noch nicht zu spät, etwas zum Schutz der Nachtigall zu tun.

Anmerkung der Autorin

Danksagung der Autorin

Für Amelia, Edward und alle,

die sich die Zeit nehmen zuzuhören.

Liebe Mama, lieber Papa,

ihr habt gesagt, dass Rosie an einen besseren Ort gegangen ist. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo das ist. Sie ist bestimmt bei der Nachtigall. Ich gehe beide suchen, und wenn ich sie gefunden habe, bringe ich sie zurück.

Ich schaue ganz bestimmt nach links und rechts, wenn ich über die Straße gehe. Und ich will versuchen, keine Angst zu haben.

Euer Jasper

Vogelinfo Nr.1

Es ist sehr schwer, eine Nachtigall zu Gesicht zu bekommen.

Aus Rosies und Jaspers Buch der Vögel

Wenn man sich verirrt hat, sollte man als Erstes versuchen, die Orientierung wiederzufinden, sagt meine große Schwester Rosie.

Anfangs dachte ich, das hätte etwas mit dem Orient zu tun, aber das stimmt nicht. Es heißt, dass man herausfinden muss, wo man ist. Und man darf nicht in Panik geraten.

Herauszufinden, wo ich bin, ist nicht schwer: Ich hocke auf dem Baum in dem Feld hinter unserem Haus. Er ist hoch, hat aber viele Äste, sodass wir wie auf einer Leiter bis weit nach oben klettern können. In der Mitte ist ein flacher Ast, wie eine Bank, die in der Luft hängt.

Im Frühling sitzen Rosie und ich immer zusammen hier. Wir machen die Augen zu, halten uns aneinander fest und lauschen der Nachtigall, die in der tintigen Dämmerung singt. Ihr Tschilpen kleckst über den dunklen Himmel wie über eine Seite in einem Malbuch.

Aber jetzt ist die Sonne schon untergegangen. Und Rosie sitzt nicht neben mir. Am Himmel keine Nachtigall, die singt.

Alles, was ich höre, ist Stille.

Vogelinfo Nr.2

Die Nachtigall wird auch die „Königin der Nacht“ genannt.

„Mama? Wo ist Rosie?“

Mein Ruf dringt durch die Tür des Arbeitszimmers und Mama kommt aus der Dunkelheit. Sie kneift die Augen leicht zusammen und reibt sich über das Gesicht. „Jasper? Warum bist du noch auf? Geh ins Bett, Liebling – dein Papa und ich sind momentan sehr beschäftigt.“

Ich mache einen Schritt rückwärts, weil ich meine Eltern eigentlich nicht stören darf, wenn sie arbeiten. Und es ist schon längst Schlafenszeit. Aber sie haben sich die ganze Woche in ihr Arbeitszimmer verkrochen und ständig telefoniert. Ich kann einfach nicht länger warten. „Das ist ein Notfall“, erkläre ich. „Und ihr habt gesagt, dass ich in einem Notfall stören darf.“

Mama sieht echt müde aus, aber sie kniet sich auf den Boden und nimmt meine Hand. „Geht es wieder um den Vogel? Jasper, wir haben doch darüber geredet. Dein Vater und ich können da nichts machen. Er ist ein Wildtier und verglichen mit allem, was passiert ist, nun …“

„Ich weiß, dass ihr nichts machen könnt“, sage ich. „Rosie aber schon. Sie sollte doch letzte Woche von der Uni heimkommen und mir helfen, die Nachtigall zu finden. Jetzt sind beide weg.“

Mama wird plötzlich so bleich wie ein Pelikan. Sie lässt meine Hand fallen, atmet dann einmal tief durch und nimmt sie wieder. Sie hält sie fester als vorher.

„Ich weiß, dass das alles sehr schwer ist, Jasper.“ Sie schluckt. „Es ist auch schwer für mich und deinen Vater. Rosie ist …“

Sie verstummt und ich ziehe meine Hand weg. Ich schaue auf meine Stiefel und den daran klebenden Matsch. Ich soll sie eigentlich nicht im Haus anziehen, aber ich glaube nicht, dass Mama es bemerkt hat. Normalerweise achtet sie immer darauf, dass alles ordentlich und sauber ist. Aber die ganze Woche schon ist ihr Haar durcheinander und sie riecht, als hätte sie ein paar Tage lang nicht geduscht.

Papa kommt aus dem Büro und ich sehe, dass ein Zeh aus einem Loch in seiner Socke lugt. „Jasper?“, fragt er. „Was machst du denn noch so spät hier?“

Mama steht auf und flüstert ihm etwas zu. Ich kann hören, was sie sagt: „Es ist wieder der Vogel. Er will, dass Rosie ihm hilft, das Tier zu finden.“

Papa seufzt tief und lang. Ich hebe den Blick, um herauszufinden, ob er nun aussieht wie ein schlaffer Luftballon. Er kneift hinter seiner Brille die Augen zu und öffnet sie wieder. Er schaut mich an. „Deine Mama und ich brauchen ein bisschen Zeit, um wichtige Dinge zu erledigen, Kumpel. Vielleicht in ein paar Wochen – nach der Beerdigung. Dann können wir dir helfen, deine Nachtgall zu finden …“

„Nachtigall!“, falle ich ihm ins Wort.

Papas Kiefer verkrampft sich. Dann klingelt das Telefon im Arbeitszimmer und er eilt hin, um das Gespräch anzunehmen.

Also schaue ich stattdessen zu Mama. „Die Suche ist aber auch wichtig.“

Sie lächelt mich an, doch es ist kein echtes Lächeln. „Versuche, nicht in Panik zu geraten, Liebling. Auch wenn es dir schwerfällt. Lies doch in deinem Buch. Lenk dich ein bisschen ab, ja? Dein Papa meint, dabei bekommt er immer einen freien Kopf.“

„Aber Mama …“

„Julia!“, ruft Papa aus dem Arbeitszimmer.

„Ich komme!“, antwortet Mama. Dann fährt sie mir schnell mit den Fingern durch die Haare. „Ich komme gleich nach oben, um Gute Nacht zu sagen.“

Papa ruft noch einmal. Mama seufzt und zieht die Tür hinter sich zu.

Vogelinfo Nr.3

Das Lied der Nachtigall setzt sich aus etwa 200 verschiedenen Strophentypen zusammen.

Ich verliere nicht gern Dinge. Dann tut mir immer der Bauch weh und mir wird schwindelig und schlecht.

Irgendwie bekomme ich viel schneller Angst als alle anderen in der Schule. Papa meint immer, dass ich mir unnötig Sorgen mache. Er sagt so was wie: „Die anderen in deiner Klasse lachen doch gar nicht über dich, Jasper“ oder: „Seine Hausaufgaben zu verlegen, bedeutet nicht das Ende der Welt, weißt du?“

Ich bin mir da nicht so sicher. Weil Rosie nicht hier ist, fühlt es sich irgendwie doch wie das Ende von allem an. Und vermutlich habe ich deshalb die ganze Woche schon solche Angst. Aber Mama hat recht: Normalerweise verfliegt die Panik, wenn ich an etwas Gutes, Wahres denke – wie die Einträge in unserem Buch der Vögel.

Am Buch der Vögel schreiben Rosie und ich schon seit einer Ewigkeit und da steht alles drin, was wir über Vögel wissen. Es ist die Karte meines Gehirns, voller Federn und Fakten darüber, wie man die verschiedensten Vögel aufspüren kann. Und wenn ich es lese, dann überdecken die Gedanken über Vögel die Angst und ich fühle mich nicht mehr so elend.

Es gibt viele Seiten über die Nachtigall. Man sagt, sie sei ein Zugvogel. Das bedeutet, dass sie im Sommer wegfliegt und jedes Jahr im April auf das Feld hinter unserem Haus zurückkehrt. Und Rosie ist zur Universität geflogen, weil sie neun Jahre älter ist als ich. Aber sie hat versprochen, jedes zweite Wochenende im April und Mai nach Hause zu kommen, damit wir zusammen in unserem Baum sitzen und der Nachtigall zuhören können. Weil das wichtig ist.

Vor zwei Wochen, als die Nachtigall immer noch nicht da war, obwohl sie eigentlich schon längst hätte zurückkehren sollen, saß Rosie mit mir in der Dunkelheit und Stille.

„Das gefällt mir nicht“, sagte ich. „Normalerweise müsste sie doch längst da sein, oder? Wir haben schon Mai und trotzdem noch nichts gehört.“

Sie hatte meine Hand in ihre gelegt. „Also, ich habe gehört, dass an der Raststätte an der Autobahn M23 eine Nachtigall gesehen wurde. Das ist bestimmt unsere, Jasper. Ich wette, sie hat sich bloß verflogen. Ein Vogel ist nur so lange verschwunden, bis man ihn wiederfindet. Und ich finde ihn – versprochen.“

Ich konnte zwar nicht ihr Gesicht sehen, aber Rosie sagt immer die Wahrheit. Ich glaubte ihr.

„Ich helfe dir“, versprach ich.

Sie drückte fest meine Hand. „Wir machen das zusammen. Ich komme nächstes Wochenende wieder.“

Das hat sie gesagt. Sie hat es sogar in unser Buch der Vögel geschrieben.

Rosie und Jasper suchen die Nachtigall NÄCHSTES WOCHENENDE

Sie hätte am Freitag heimkommen sollen. Das ist jetzt schon eine ganze Woche her. Nach der Schule habe ich unsere Einfahrt beobachtet und darauf gewartet, dass Rosies rostiges lila Auto stotternd um die Kurve biegt, mit den fedrigen Sitzbezügen und der Sonnenschein-Musik, die Rosie immer in voller Lautstärke laufen lässt. Aber ich konnte nur kurz Wache stehen, weil Mama und Papa plötzlich wegmussten und mich ziemlich lange mit Oma allein ließen, die gegenüber wohnt. Bei Oma durfte ich dann das ganze Wochenende lang Cartoons gucken. Aber sie hat mir nicht gesagt, wo Mama, Papa oder Rosie waren, obwohl ich gefragt habe. Und sie ist ganz oft in ihr Zimmer gegangen. Warum, weiß ich nicht.

Mama und Papa waren so lange weg, dass ich schon vermutete, sie hätten sich auch verirrt. Und vielleicht stimmt das ja, denn als sie endlich zurückkamen, sahen sie so aus, als wüssten sie gar nicht, wo sie gelandet waren. Und Rosie war nicht bei ihnen.

Der Ausdruck auf ihren Gesichtern gefiel mir nicht. Sie sahen verängstigt aus und das machte mir Angst. Sie wollten mich in den Arm nehmen und mit mir reden, aber ich konnte ihnen nicht zuhören, weil mein Bauch so wehtat. Wenn ich mich so fürchte, habe ich das Gefühl, ich würde auf einem tobenden schwarzen Meer treiben. Und es gibt nur eins, was dieses Gefühl zurückdrängen kann: Vögel.

Während Papa weinte, rief ich mir ins Gedächtnis, dass Nachtigallen jedes Jahr viertausendachthundert Kilometer fliegen, um nach Afrika zu gelangen.

Und während Mama mir ganz fest die Hände rieb, dachte ich daran, dass man die Nachtigall überall in Europa und Asien antrifft.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich meinen Eltern nicht richtig zuhörte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich soll mich doch mit schönen Gedanken ablenken, wenn ich Panik bekomme. Und am Ende war das Einzige, was mir von dem Gespräch im Kopf blieb, ein Satz, den Papa sagte.

„Rosie ist an einen besseren Ort gegangen.“

Das hätte eigentlich schön klingen sollen, aber ich war verwirrt. Welcher Ort konnte besser sein als unser Baum, von dem aus wir der Nachtigall zuhörten? Ich bin ihr besserer Ort.

Wo also ist sie?

Ich hole mein Smartphone und wähle erneut ihre Nummer, lausche der knisternden Stille am anderen Ende, bis sich der Anrufbeantworter einschaltet. Und das mache ich wieder und wieder, bis Mama kommt und mir Gute Nacht sagt. Aber vielleicht bin ich immer noch sauer auf sie, weil sie so getan hat, als ob unsere Nachtigall nicht wichtig wäre, denn ich tue so, als ob ich schlafe.

Sie setzt sich auf die Bettkante und betrachtet mich lange. Ich gebe die ganze Zeit vor zu schlafen und irgendwann schlafe ich wirklich ein. Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist sie weg.

Ich springe aus dem Bett und renne in meinem Schlafanzug nach draußen zum Baum. Und als ich Rosie nicht oben auf dem Ast sitzen sehe, renne ich zurück ins Haus und suche zum millionsten Mal alle Zimmer im Haus ab. Aber ich entdecke nur Fisch, unsere Katze, die auf der Badematte liegt und ein Nickerchen hält.

Ich gehe nach unten und hüpfe auf das Sofa im Wohnzimmer, damit ich die Vorhänge aufziehen und nachschauen kann, ob Rosies lila Auto in der Einfahrt steht. Doch ich sehe nur unseren überwucherten Vorgarten und die leere Stelle neben dem Wagen meiner Eltern.

Papa kommt herein. Er hat seinen Pullover falsch herum angezogen, sodass die Innenseite nach außen zeigt. Er bemerkt, dass ich am Fenster stehe, und schaut mich traurig an. „Vielleicht solltest du wieder in die Schule gehen …“

Die gesamte letzte Woche war ich nicht in der Schule. Mama meinte, ich müsste nicht hin, wenn ich nicht wollte. Und ich will nie in die Schule, also blieb ich zu Hause. Aber irgendwann wurde mir doch langweilig, vor allem, weil ich ständig zu Oma geschickt wurde. Und bei ihr gab es nichts, was mich von dem Bauchwehgefühl ablenken konnte, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.

„Es ist Samstag“, sage ich und rutsche von der Lehne auf die Sitzfläche des Sofas.

Papa blickt überrascht auf seine Armbanduhr. Dann kommt er zu mir aufs Sofa und drückt mir sehr fest die Schultern.

„Du weißt doch, dass Mama und ich dich sehr lieb haben.“

Ich nicke, weil ich das natürlich weiß. Aber wie er das so sagt, fängt mein Herz aus irgendeinem Grund an zu flattern. Deshalb löse ich mich aus seinem Griff und laufe weg, bevor er merkt, dass ich wieder Panik kriege.

„Wo willst du denn hin?“, ruft er mir nach, als ich die Tür erreiche.

Ich bleibe stehen, schaue ihn aber nicht an. „Ich muss rausfinden, wo dieser ‚bessere Ort’ ist“, murmele ich.

Papa stößt einen komischen Ton aus. „Wahrscheinlich da, wo sich dein blöder Vogel rumtreibt“, sagt er bitter.

Ich will schon widersprechen, dass Vögel ganz toll sind und gar nicht blöd, da macht es plötzlich Klick.

„Papa, du bist ein Genie!“ Ich lasse ihn einfach im Wohnzimmer sitzen und renne die Treppe hoch in mein Zimmer, wo unser Buch der Vögel auf dem Bett liegt. Ich blättere es durch, bis ich die richtige Seite erreiche.

Rosie und Jasper suchen die Nachtigall NÄCHSTES WOCHENENDE

Papa hat recht. Wenn Rosie nicht hier bei mir ist, dann muss der bessere Ort dort sein, wo auch die Nachtigall ist. Und wenn die Nachtigall auf der Raststätte an der Autobahn ist, wie Rosie sagte, dann weiß ich jetzt, wo ich nach ihr suchen muss.

Am letzten Wochenende meinte sie, dass etwas nur so lange verschwunden ist, bis man es findet. Wenn ich sie beide wiederfinden kann, wird vielleicht alles wieder wie früher.

Vogelinfo Nr.4

Das Nest der Nachtigall hat die Form einer Tasse und befindet sich in Bodennähe.

Bevor Rosie ihr Auto bekam und anfing, zur Universität zu gehen, mussten wir immer ewig warten, bis Papa uns zu Orten fuhr, wo es wichtige Dinge gab, zum Beispiel Vögel. Papa denkt nur selten an Dinge, die nichts mit seiner Arbeit zu tun haben, weshalb Rosie und ich meistens auf eigene Faust loszogen.

Ich kann nicht mit dem Auto zur Raststätte fahren, weil ich erst neun bin. Und ich kann meine Eltern nicht fragen, ob sie mich hinbringen, weil sie die Tür zum Arbeitszimmer zugemacht haben und ich nicht einfach reingehen darf. Aber es gibt auch ohne Auto Möglichkeiten, von A nach B zu kommen.

Zuerst einmal brauche ich eine Karte. Rosie hat ein paar Landvermessungskarten in ihrem Zimmer und ich hole mir die passende aus ihrem Bücherregal. Auf einer Seite des großen Faltplans sehe ich die Autobahn und auf einer ganz anderen unser Haus. Alles, was ich tun muss, ist, den farbigen Linien von einer Seite zur nächsten zu folgen.

Karten können auf den ersten Blick ganz schön verwirrend sein. All diese Linien, die sich ineinander verheddern, und überall Symbole, wie ein Code von Geheimagenten. Aber über allem liegt ein Raster aus Quadraten. Rosie hat mir beigebracht, dass man sich am besten ein Quadrat nach dem anderen vornimmt und den „Schlüssel“ benutzt, um nachzusehen, welche Farbe was bedeutet.

Über die Karte in meiner Hand schlängelt sich eine blaue Linie. Der Schlüssel sagt, das ist die Autobahn, die Rosies Universität mit unserem Haus verbindet. Aber da darf man nur drauf, wenn man ein Auto hat. Es gibt schmalere, gelb und weiß markierte Straßen, die ich wahrscheinlich nutzen kann, weil sie meistens Gehwege haben. Eine verbindet mein Haus mit Littleworth, dem nächsten Ort. Eine andere Linie führt von dort aus zu einer Stadt, die Dunton Mayfield heißt. Und dann gibt es ganz dünne Linien, die aussehen wie zottige schwarz-rote Haare. Das sind Fußwege, auf denen Rosie und ich manchmal unsere Spaziergänge machen.

Ich schaue im Internet nach und finde einen Bus, mit dem ich fast die gesamte Strecke bis nach Dunton Mayfield fahren kann, in weniger als einer Stunde. Von der Stadt aus muss man nur noch einen Feldweg und einen Radweg entlang bis zu der Raststätte laufen. Ich kann Rosie fast schon sehen, in dem kleinen Fleck, wo auf der Karte „Bäume“ abgebildet sind. Sie winkt mir zu und sagt: „Ich bin hier, Jasper! Komm und hol mich ab!“

Weil ich jetzt einen Plan habe und bald bei Rosie sein werde, wird das Angstbauchweh, das ich die ganze Woche lang hatte, ein bisschen weniger.

Ich gehe nach unten und hole den Geldtopf, in dem meine Eltern das Einkaufsgeld aufbewahren. Da nehme ich mir zehn Pfund heraus. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil Mama und Papa erst letztes Jahr gesagt haben, dass das Geld knapp sei und wir vielleicht das Haus verkaufen müssen. Deswegen arbeiten sie auch die ganze Zeit und stellen Müsliriegel für Abenteurer her – damit wir es uns leisten können hierzubleiben. Aber vielleicht ist es in Ordnung, wenn ich mit dem Geld etwas zu essen und Chips für Rosie und mich kaufe.

Als Nächstes hole ich meine Schulbücher und mein Mäppchen aus dem Rucksack und stecke alles in die Tasche rein, was ich vielleicht brauchen könnte. Und weil ich nichts vergessen will, schreibe ich eine Liste:

Jaspers Gepäck zum Überleben in der Wildnis

Das Buch der Vögel

Eine Karte

Ein Kompass

Mein Fernglas

Proviant (eine Menge Müsliriegel, eine Banane, einen Schokoriegel)

Wasser

Ein Mikrofaser-Handtuch (weil Papa sagt, dass man immer ein Handtuch braucht)

Geld

Mein Handy

Saubere Socken

Eine Kurbel-Taschenlampe

Eine Trillerpfeife für Notfälle

Meine Wanderschuhe, weil die dreckig werden dürfen

Einen Mantel, obwohl es ziemlich sonnig ist

Sonnencreme

Einen Sonnenhut

Wenn ich im Freien übernachten würde, würde ich noch einen Campingkocher und einen Schlafsack und solche Sachen mitnehmen. Aber der Bus fährt in einer halben Stunde ab und wahrscheinlich bleibe ich nur bis kurz nach dem Mittagessen weg, also brauche ich den Kram wohl nicht.

Ich esse ein bisschen Toast, gebe Fisch etwas Futter und Wasser und mache das Katzenklo sauber. Fisch schläft in Rosies Zimmer auf dem Kopfkissen und ich kraule sie zum Abschied ausgiebig unter dem Kinn. Dann stehe ich eine ganze Weile vor Mamas und Papas Arbeitszimmer und überlege, ob ich anklopfen soll. Aber ich höre sie tippen und seufzen und die Kaffeetassen vom Tisch hochheben und wieder absetzen. Diese Geräusche bedeuten, dass ich nicht stören soll.

Also schreibe ich stattdessen eine Nachricht auf einen Zettel, den ich in der Küche auf die Arbeitsplatte lege.

Liebe Mama, lieber Papa,

ihr habt gesagt, dass Rosie an einen besseren Ort gegangen ist. Ich glaube, ich weiß jetzt, wo das ist. Sie ist bestimmt bei der Nachtigall. Ich gehe beide suchen, und wenn ich sie gefunden habe, bringe ich sie zurück.

Ich schaue ganz bestimmt nach links und rechts, wenn ich über die Straße gehe. Und ich will versuchen, keine Angst zu haben.

Euer Jasper

Vogelinfo Nr.5

Der Körper einer Uferschwalbe ist kaum größer als eine Streichholzschachtel.

Mein Haus steht ganz am Ende von Littleworth, dort, wo die Häuserreihen aufhören und die Felder und Schafweiden und Wälder anfangen.

Ich gehe am Laden vorbei, in dem Papa fast jeden Morgen seine Zeitung holt. Da darf ich mir manchmal Süßigkeiten oder eine Zeitschrift über die Natur kaufen, je nachdem, was ich lieber haben möchte. Meistens die Zeitschrift. Und ich laufe an dem Spielplatz vorbei, wo ich einmal einen Sperber gesehen habe. Der Busbahnhof ist auf einer Verkehrsinsel, umgeben von einer Straße, wie ein Kreisel. Auf dem Fahrplan im Internet stand, dass heute nur ein Bus nach Dunton Mayfield fährt. Ich hatte gehofft, es wäre ein Doppeldeckerbus, damit ich oben ganz vorn sitzen und die Welt unter mir hinwegziehen sehen könnte, als ob ich fliegen würde. Aber es ist nur ein einfacher Bus und er sieht ein bisschen schmutzig aus.

Ich bleibe nervös im Hintergrund und warte, bis alle anderen eingestiegen sind. Ich sehe Lulu, ein Mädchen, das ich aus der Schule kenne. Sie ist allein unterwegs, genau wie ich. Lulu ist ein paar Jahre älter als ich und geht schon in die Mittelstufe. Aber ich erinnere mich an ihre dicken Brillengläser und ihre langen Zöpfe, die sie trug, als sie noch in der sechsten Klasse war. Ich weiß auch, dass sie der Star bei unseren Schulkonzerten war, weil sie tanzen kann wie ein Paradiesvogel.

Ich trete von einem Fuß auf den anderen und versuche, „selbstbewusst zu wirken“, wie Papa mich immer ermahnt. Ich straffe die Schultern und hebe das Kinn und hoffe, dass Lulu nicht merkt, wie schwitzig meine Hände sind. Hinter den Brillengläsern sehen ihre Augen riesengroß aus, und als sie in meine Richtung schaut, denke ich, dass sie auch mich vergrößern. In der Schule habe ich manchmal das Gefühl, dass mich die anderen anstarren und über mich lachen, weshalb ich es mir angewöhnt habe, mich so klein wie möglich zu machen. Meine Lehrerin Miss Li sagt, das würde nicht stimmen, aber Lulu macht mich mit ihrem Blick trotzdem nervös.

Ich habe Angst, dass sie zu mir kommt und mit mir reden möchte, aber sie steigt nur vorsichtig in den Bus und ich atme erleichtert auf. Als Nächstes bin ich dran und der Busfahrer mustert mich, als ob er sich fragen würde, warum ich zum Einsteigen so lange brauche.

Ich gebe ihm den Zehn-Pfund-Schein, der an der Stelle, wo ich ihn festgehalten habe, schweißnass ist. Der Busfahrer hat einen strengen Blick und weiße Augenbrauen, dazu noch eine lange Nase, wie ein Schnabel. Er sieht ein bisschen aus wie ein Weißkopfseeadler. Aber anstatt mich bei dem Gedanken besser zu fühlen, habe ich plötzlich Angst, dass er mir in die Finger beißt.

Die Panik in meiner Brust schießt nach oben in meine Kehle und ich schreie: „Dunton Mayfield, hin und zurück, bitte!“

Der Fahrer betrachtet mich von oben bis unten. Ich packe das Buch der Vögel ganz fest und wiederhole im Kopf, was ich über Weißkopfseeadler weiß.

WEISSKOPFSEEADLER

Weißkopfseeadler sind groß und schnell. Sie haben lange Beine und Krallen, was sie befähigt, ihre Beute mitten in der Luft zu schlagen, wenn es nötig ist. Das ist eine ziemlich nützliche Fähigkeit, denn sie fressen oft andere Vögel

Eigentlich beruhigt mich Vogelwissen ja, aber diesmal sorgt es dafür, dass mir der Busfahrer noch bedrohlicher vorkommt. Ich werfe ihm das Geld hin und er gibt mir langsam den Fahrschein und sechs Pfund Wechselgeld. Dann startet er den Motor und ich husche schnell zu dem Sitzplatz, der mir am nächsten ist, weit weg von Lulu, die ganz nach hinten gegangen ist.



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