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Was machst du, wenn plötzlich eine Geisterfüchsin vor dir steht? Mitten in der Nacht steht plötzlich eine Geisterfüchsin in Noras Zimmer. Das Mädchen ist davon überzeugt, dass das Tier Antworten für sie bereithält. Vielleicht weiß die Füchsin sogar, warum Noras Mutter immer häufiger schlechte Tage hat, und wie Nora ihr helfen kann. Zusammen mit ihrem neuen Freund Kwame folgt sie der glitzernden Geisterfüchsin, einem Hasen, einem Raben und einem Otter in das Abenteuer ihres Lebens. Auf ihrer schillernden und aufregenden Reise entdeckt Nora nicht nur eine geheimnisvolle Insel, sondern noch so viel mehr ... Ein einzigartiges Buch über ein starkes junges Mädchen, eine besondere Freundschaft und die Kraft der Fantasie.
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Seitenzahl: 248
Sarah Ann Juckes
Aus dem Englischen übersetzt von Meritxell Piel
Mit Schwarz-Weiß-Illustrationen von Sharon King-Chai
© der deutschsprachigen Ausgabe: Atrium Verlag AG, Imprint WooW Books, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Published by arrangement with Simon & Schuster UK Ltd, 1st Floor, 222 Gray’s Inn Road, London, WC1X 8HB
A Paramount Company
Text © Sarah Ann Juckes, 2023
Cover und Illustrationen © Sharon King-Chai, 2023
Aus dem Englischen übersetzt von Meritxell Piel
Lektorat: Barbara Schlichtmann
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN978-3-03967-043-7
www.WooW-Books.de
www.instagram.com/woowbooks_verlag
Mum und Dad – dieses Buch ist
für euch
S.A. J.
Für Adrian und Emma
S. K.-C.
Es ist tiefste, dunkelste Nacht, als sie kommt.
Ich träume gerade davon, auf einer wilden, einsamen Insel gestrandet zu sein, als ich plötzlich die Pfoten auf meinem Oberkörper spüre wie zwei feste Nichtse. Sie fühlen sich an wie Eiswürfel, die man in der Hand hält – so kalt, dass alles taub wird.
Und dann öffne ich meine Augen und blicke sie an.
Sie hat den gleichen merkwürdigen mattweißen Schimmer wie die anderen Tiere, doch ich kann trotzdem Rostrot in ihrem Fell und hungriges Gelb in ihren Augen ausmachen. Mein Nachtlicht leuchtet wässrig, aber es wird von den Krallen der Füchsin, die sich in mein Pyjamaoberteil pressen, reflektiert. Und von ihrer Nase, während sie mich beschnüffelt. Ihre Ohren mit den schwarzen Spitzen sind nach hinten in Richtung meiner Zimmertür gedreht, um zu lauschen.
Vielleicht sollte ich Angst haben, doch ich verspüre keine. Denn ich habe schon andere Tiere wie sie gesehen. Allerdings ist das schon länger her, und so nah sind sie mir auch noch nie gekommen. Manchmal konnte ich sie nur als regenbogenfarbenen Dunst am Himmel erkennen, wenn ich mich verloren gefühlt habe; oder als Farbspritzer unter der Wasseroberfläche eines Schwimmbeckens, wenn ich mich nicht hineingetraut habe.
Doch dieses Wesen sitzt jetzt auf meiner Brust – in meinem Zimmer, in meinem Zuhause, mitten in der Nacht.
Eine Füchsin. Oder besser gesagt: eine Geisterfüchsin.
Mein Herz flattert wie ein gefangener Vogel.
Die Geisterfüchsin starrt mich an und bewegt sich kaum. Auch ich bin wie eingefroren, obwohl sich der leere Druck ihrer Pfoten auf meinem Brustkorb merkwürdig anfühlt.
Im ganzen Haus ist es mucksmäuschenstill. Kein Licht strömt unter meiner Tür hindurch, was bedeutet, dass Mum alles ausgeschaltet hat und ins Bett gegangen ist. Mein Fenster ist geschlossen, sodass ich die Autos in der Ferne nicht hören kann, genauso wenig wie den Wind, der sich zwischen die Äste der Bäume schleicht. Es kommt mir vor, als würde die ganze Welt nur noch der Geisterfüchsin und mir gehören.
Ich wollte schon immer ein Geistertier aus der Nähe sehen. Am nächsten bin ich dem Tiger gekommen, als mein Dad nach Indien abgereist ist. Dabei haben sich die Tigerstreifen auf seinem Koffer plötzlich in eine gigantische, brüllende Raubkatze verwandelt, die sich neben mich gesetzt hat. So habe ich mich stärker gefühlt. Doch Dad konnte das Tier nicht sehen, als ich es ihm gezeigt habe, und auch Mum hat noch keines zu Gesicht bekommen. Aus diesem Grund habe ich mich irgendwann gefragt, ob ich sie mir vielleicht nur eingebildet habe.
Allerdings ist diese Füchsin gerade hier und wirkt, als wäre sie lebendig. Wenn ich noch nie Geistertieren mit ihren farbig schillernden Umrissen begegnet wäre, würde ich die Füchsin vermutlich für ein echtes Wildtier halten, das gekommen ist, um mir das Fleisch von den Knochen zu reißen.
»Bist du hier, um mich zu fressen?«, flüstere ich sicherheitshalber.
Die Ohren der Füchsin schnellen nach vorne, und sie gleitet von meinem Brustkorb hinunter, woraufhin der Druck augenblicklich nachlässt. Ich richte mich auf und setze meine Brille auf, um einen genauen Blick auf meine Besucherin zu werfen. Sie sitzt da, den buschigen Schwanz um ihre Vorderpfoten gelegt, und verharrt reglos. Lediglich ihre farbigen Umrisse flackern und wabern so flink, als würde ich sie träumen.
»Ich bin Nora«, wispere ich.
Die Füchsin neigt den Kopf zur Seite, doch sie sagt ihren eigenen Namen nicht. Denn auch wenn sie ein Geist ist, ist sie trotzdem nur ein Fuchs.
Allerdings habe ich das Gefühl, als würde sie mir eine Frage stellen. Etwas Stilles und Dringendes und auf leise Weise Lautes, das ich nicht greifen kann.
»Ein Geist zu sein ist bestimmt einsam«, sage ich.
Da springt die Füchsin auf mich, ihre kalten Nichts-Pfoten landen wieder auf meinem Oberkörper. Mein Herz krampft sich zusammen. Ich schließe die Augen und kämpfe gegen das Gefühl, das gerade in mir aufsteigt. Denn ich weiß nur zu gut, wie es sich anfühlt, einsam zu sein: kalt und leer.
Ich balle meine Hände zu Fäusten. »Ich bin stark, ich bin stark, ich bin stark«, murmle ich vor mich hin.
Auf einmal verschwindet der Druck von meiner Brust, und mein Herz beginnt wieder zu flattern wie ein Vogel. Doch als ich die Augen öffne, starre ich bloß auf ein leeres Stück Raum, wo vielleicht einmal ein Fuchs gesessen hat.
Heute ist ein Guter Morgen. Das erkenne ich daran, dass Mum vor mir auf den Beinen ist und in der Küche leise singt.
Normalerweise stolpere ich an einem Guten Morgen schon im Pyjama die Treppe hinunter, bevor ich meine Brille aufgesetzt habe. Doch heute schlage ich stattdessen meine Bettdecke zurück und suche nach Spuren der Füchsin.
»Hallo?«, flüstere ich, während ich in allen Ecken nach einem regenbogenfarbenen Schimmer oder einem buschigen Schwanz Ausschau halte. Aber ich finde nichts, nicht einmal ein rotes Fellbüschel auf meinem Federbett oder einen Pfotenabdruck auf dem Teppich.
Ich schätze, das ist nicht ungewöhnlich. Schließlich sind Geister da, aber irgendwie auch nicht da. Deshalb kann man auch nicht erwarten, dass sie etwas zurücklassen. Trotzdem breitet sich die Enttäuschung darüber, dass alles nur ein Traum gewesen sein könnte, wie ein Hohlraum zwischen meinen Rippen aus.
»Nora?«, singt Mum die Treppe herauf. »Bist du wach, Schätzchen?«
»Ja, ich komme!«, rufe ich zurück.
Ich ziehe mich so schnell an, dass ich mir die graue Schürze meiner Schuluniform verkehrt herum überstreife. Dann renne ich die Treppe hinunter und lasse meinen Pulli auf meinen Schulrucksack fallen. Mum hat den Rucksack schon für mich gepackt, also muss heute ein Extraguter Morgen sein. Ich stürme in die Küche und schlinge meine Arme um ihre Taille, während sie Butter auf kleine Pfannkuchen streicht, die ich am liebsten zu meinen pochierten Eiern esse.
»Guten Morgen, Schlafmütze«, sagt Mum und gibt mir einen Kuss auf den Kopf.
Ich drücke mein Gesicht in ihren Pullover. Sie riecht nach Parfum und Waschpulver, und ich möchte den Duft einatmen, bevor er genauso wieder verschwindet wie die Geisterfüchsin.
»Möchtest du ein Ei oder zwei?«, fragt Mum, während sie mich sanft von sich wegschiebt.
»Zwei«, antworte ich und setze mich auf meinen Stuhl. Mum hat den Tisch bereits mit Tellern und Besteck gedeckt, außerdem stehen frischer Orangensaft und eine Vase mit feuerwerksbunten Blumen dabei.
Es ist ewig her, dass wir so gemütlich gefrühstückt haben. Ich vermute, das liegt daran, dass Mums Schlechte Tage immer mehr werden. Und dann ist sie einfach zu müde, um Frühstück zu machen. Oder zu traurig, um überhaupt aufzustehen. Aber trotzdem geht es mir gut, denn ich kann ja für mich selbst sorgen. Doch Mum glücklich zu sehen, ist schon eine große Erleichterung. Zufrieden lasse ich mich gegen meine Stuhllehne sinken.
Ich ärgere mich, dass heute Freitag ist und nicht Wochenende. Denn dann könnten wir gemeinsam in den Park oder in den Zoo gehen; oder einfach nebeneinander im Garten sitzen – Hauptsache, wir wären zusammen.
»Darf ich heute zu Hause bleiben?«, frage ich, während Mum mir mein Frühstück hinstellt.
Sie legt ihre Hand auf meine Stirn. »Fühlst du dich nicht gut?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Ich dachte nur, wir könnten vielleicht in den Zoo?«
Mum setzt sich mir gegenüber, und ich bemerke, wie müde sie immer noch aussieht. Früher hatte sie mehr Sommersprossen auf der Nase, als es Sterne am Himmel gibt. Doch die sind zusammen mit ihrer restlichen Haut verblasst. Außerdem sind ihre Augen geschwollen, und ihr lockiges braunes Haar ist sogar noch zerzauster als meins. Aber zumindest sieht sie heute ein bisschen mehr wie sie selbst aus.
»Vielleicht am Wochenende«, erwidert sie, bevor sie fragt: »Gibt es einen besonderen Grund, warum du nicht in die Schule willst?«
Ich überlege einen Moment. Der Hauptgrund ist, dass ich gerade meine alte Mum zurückhabe und sie so lange wie möglich bei mir behalten will. Aber es gibt auch noch ein paar andere Gründe …
»Letzte Nacht war eine Füchsin in meinem Zimmer«, erzähle ich. »Und ich möchte gucken, ob sie zurückkommt.«
Mum lässt ihren Löffel sinken, und wir beide zucken zusammen, als er mit einem lauten Klirren auf dem Glastisch aufschlägt. »Eine lebendige Füchsin?«
Schnell schüttle ich den Kopf. »Nein, ich glaube, es war eine Geisterfüchsin. Du weißt schon – so wie die Tiere, die ich als kleines Kind gesehen habe.«
Mum entfährt ein erleichtertes Lachen, und sie tippt mir mit ihrem Löffel auf die Nasenspitze. »Ich habe schon gedacht, wir hätten eine echte Füchsin im Haus.«
Langsam tauche ich ein Stück meines Pfannkuchens in das flüssige Eigelb. »Du glaubst also, sie war nicht echt?«
Mum umklammert ihre Teetasse und lächelt. »Ich bin mir sicher, du hast sie nur geträumt, Schätzchen. Schließlich gibt es Geister nicht wirklich, hab ich recht?«
Ich zucke mit den Schultern und beiße von meinem Pfannkuchen ab. »Deine Geister gibt es wirklich«, entgegne ich.
Mum kneift die Lippen zusammen, und sofort wünschte ich, ich hätte den Guten Morgen nicht mit meinen schlimmen Worten verdorben.
Über die Tischplatte hinweg greife ich nach Mums Hand. »Du hast recht. Wahrscheinlich war es nur ein alberner Traum.«
Sie drückt meine Hand, doch ich kann sehen, wie sich Sorgenfalten auf ihrem Gesicht bilden.
Mum hat eine psychische Erkrankung, die PTBS heißt – Posttraumatische Belastungsstörung. Bevor sie ihren Job aufgegeben hat, war sie Rettungssanitäterin und ist mit dem Krankenwagen umhergefahren, um Menschen das Leben zu retten. Aber vor ein paar Monaten ist sie auf einmal immer trauriger geworden, so als würden die Ereignisse des Tages sie auch abends und nachts, wie Geister, verfolgen. Und diese waren keine regenbogenfarbenen Tiere, sondern dunkle Schatten, die ihr wütende Dinge zuflüsterten.
Mum hat mir das alles erklärt, als wir zusammen bei der Ärztin waren. Ich durfte lauter Fragen stellen, zum Beispiel: ›Hat die Krankheit etwas mit mir zu tun?‹ Oder: ›Wird sich jetzt unser ganzes Leben verändern?‹Und: ›Was kann ich tun, um zu helfen?‹
Beide haben mir versichert, dass die Krankheit auf keinen Fall etwas mit mir zu tun hat; und dass sich nicht allzu viel verändern wird, weil Mum immer meine Mum bleiben wird. Nur wird sie halt manchmal wütend oder traurig werden. Außerdem hat die Ärztin gesagt, dass es nur eine einzige Sache gibt, die ich tun kann: Mum in Ruhe lassen, wenn sie Ruhe braucht.
Aber ich weiß, dass ich noch viel mehr tun kann: Ich kann Mum beschützen, so wie sie als Rettungssanitäterin andere Menschen beschützt hat. Und damit kann ich ihr helfen, wieder gesund zu werden.
Jetzt gerade, am Frühstückstisch, drückt Mum mir einen Kuss auf die Hand. »Du bist so erwachsen geworden, meine Kleine.«
Ich spüre, wie ich rot werde, obwohl es sich schön anfühlt, so etwas Nettes zu hören. »Ich bin nicht klein«, protestiere ich trotzdem.
Lächelnd beißt Mum in ihren Pfannkuchen, was bedeutet, dass sie wieder Appetit hat. »Na gut, dann bist du eben eine starke, unabhängige Frau«, erwidert sie. »Und wir beide kämpfen zusammen gegen den Rest der Welt, stimmt’s, Große?«
Ich nicke und wische den letzten Rest Eigelb von meinem Teller. Mum und ich waren schon immer ein eingespieltes Team, und deshalb brauchen wir niemanden außer uns. Denn egal, was passiert – wir kommen alleine klar.
Ich mag meine Lehrerin Miss Omar, nur nicht, wenn sie eine Ewigkeit braucht, um die Anwesenheit zu prüfen.
Die Heizung unter meinem Tisch bollert und macht mich schläfrig, obwohl der Schultag gerade erst begonnen hat. Und sonderlich lang war ich gestern Nacht auch nicht wach. Trotzdem lege ich meinen Oberkörper auf den Tisch, stütze mein Kinn auf meine Faust und starre aus dem Fenster.
Unser Klassenzimmer liegt auf einem Hügel, von dem ich bis zum Kriegsdenkmal und dem Kaulquappenteich hinunterschauen kann. Außerdem sehe ich das Klettergerüst und – auf der anderen Seite des Schulhofs – den Fußballplatz, wo ein paar Kinder aus der Dritten Sport haben. Aus der Entfernung wirken sie wie kleine Flöhe, die immer wieder auf und ab hüpfen.
Ich vermisse es, in der dritten Klasse zu sein. Denn das Einzige, worüber man sich mit acht Jahren Sorgen machen muss, ist, ob man beim Fußball ein Tor schießt oder ob der Vanillepudding beim Mittagessen eklige Klumpen hat. Damals war ich noch mit allen anderen aus meiner Klasse befreundet, und wir haben in der Pause zusammen Fangen gespielt oder uns nach der Schule gegenseitig besucht.
Doch jetzt kann ich niemanden mehr zu mir nach Hause einladen. Schließlich könnte eins der Kinder zu laut sein oder etwas Unüberlegtes sagen, wodurch sich Mums Symptome verschlimmern würden. Natürlich geht es mir trotzdem gut, denn es ist sowieso leichter, die Mittagspause allein zu verbringen. Dann kann ich nämlich meine Lieblingsbücher lesen und muss mir keine Ausreden ausdenken, warum bei Mum und mir die Dinge nicht mehr so sind wie früher.
Gerade, hier in der Klasse, werden meine Lider schwer, und ich schwitze in meinem warmen Schulpullover. Mein Rücken beginnt zu jucken.
Ich blinzle träge, doch kurz bevor ich die Augen ganz schließe, sehe ich etwas aufblitzen: einen regenbogenbunten Schwanz, der hinter der Winterkirsche neben dem Kaulquappenteich verschwindet.
Ich richte mich so ruckartig auf, dass ich dabei meine Federmappe vom Tisch fege. Miss Omar hält einen Moment inne. »Nora, könntest du bitte deine Stifte nicht durch die Gegend werfen?«
Hitze schießt mir ins Gesicht, und obwohl mir klar ist, dass ich eigentlich mein Mäppchen aufheben sollte, suche ich die Landschaft weiter nach meiner Geisterfüchsin ab. Ein paar andere Kinder, die mit mir am Tisch sitzen, haben gemerkt, was ich tue, und richten ihre Blicke ebenfalls nach draußen. Auch wenn sie nicht wissen, warum.
Und natürlich gucken bald nicht nur die Kinder an meinem Tisch, sondern auch alle anderen. Fast alle meine alten Freundinnen und Freunde rennen zum Fenster und suchen den tristen Morgen nach etwas ab, das sich ihnen sowieso nicht zeigen würde.
»Alle bitte zurück auf ihre Plätze!«, ruft Miss Omar und klatscht in die Hände. Gleichzeitig reckt auch sie den Hals, um hinauszuschauen. Murmelnd und murrend kehren die Kinder zu ihren Tischen zurück, wobei mir einige von ihnen komische Blicke zuwerfen. Aber das ist mir egal, und ich schaue weiter nach draußen.
Ich bin mir sicher, dass ich mich nicht geirrt habe. Es war die Füchsin mit den regenbogenfarbenen Umrissen von letzter Nacht.
Den Rest der Stunde verbringe ich unruhig auf meinem Stuhl und zeige nicht ein einziges Mal auf. Dabei haben wir Sachkunde, und ich weiß von Mum, wie man gebrochene Oberschenkel- und Mittelhandknochen versorgt.
Als es endlich zur Pause klingelt, renne ich ohne meinen Mantel auf den Schulhof, obwohl es gerade anfängt zu regnen. Dann stehe ich eine Weile da und drehe mich im Kreis, um in dem Gewirr aus Kindern nach einem bunten Schimmer Ausschau zu halten.
»Nora! Nora, komm, wir spielen Fangen!« Saffie zieht mich am Arm.
»Hab dich! Du bist dran!«, ertönt Rachaels Stimme hinter mir, während sie mir auf den Rücken tippt.
Ich weiche beiden Mädchen aus, obwohl sich meine Brust dabei genauso kalt und leer anfühlt wie unter den Geisterpfoten der Füchsin.
Und plötzlich sehe ich sie: Wie ein Komet mit regenbogenfarbenem Schweif huscht die Geisterfüchsin über den Schulhof.
Ich sprinte los, und die Regentropfen hinterlassen gepunktete Linien auf meinen Brillengläsern. Mühsam blinzle ich zwischen den Pünktchen hindurch, während ich nach Luft schnappe und mein Blut vor Aufregung prickelt. Meine Füße trommeln über den Asphalt – da dreht sich die Füchsin auf einmal hechelnd zu mir um. Ich bin so gebannt von ihrem Anblick, dass ich den Jungen vor mir übersehe und direkt in ihn hineinrenne.
»Hey, pass doch auf!«, schreit er mich an, als ich seine knochige Schulter anremple. Er lässt den Ball fallen, den er in der Hand gehalten hat.
»Sorry, tut mir leid«, entschuldige ich mich, während ich immer noch der Füchsin hinterherschaue. Sie verschwindet zwischen den herunterhängenden Zweigen der Winterkirsche.
Ich hebe den Ball auf, um ihn dem Jungen zurückzugeben, aber anstatt ihn zu nehmen, schubst er mich und rammt seine spitze Schulter in meine.
Ich blinzle überrascht und stolpere rückwärts.
Ein paar Kinder um uns herum bleiben stehen, starren uns an und flüstern etwas hinter vorgehaltenen Händen. Ich werfe dem Jungen einen finsteren Blick zu. Ich kenne ihn, er heißt Joel und geht in meine Parallelklasse. Seine Miene ist unfreundlich, sein Kinn schmutzig und sein Gesicht so knallrot, als könnte er jeden Moment explodieren.
»Guck gefälligst, wo du hinrennst!«, brüllt er mich noch einmal an und schlägt mir den Ball so fest aus der Hand, dass er hart auf dem Boden aufprallt.
»Tut mir …«, beginne ich noch einmal, doch da kommen mir die anderen aus meiner Klasse zu Hilfe.
»Lass Nora in Ruhe, Joel!«, sagt jemand.
»Sie hat sich bei dir entschuldigt!«, fügt jemand anderes hinzu.
Aber anstatt mich zu freuen, fängt mein Rücken vor Wut an zu kribbeln. »Ich brauche keine Hilfe«, brumme ich.
Joel ballt die Fäuste und schreit die anderen an. Sie schreien zurück, sodass es mir bald schon vorkommt, als würde der ganze Schulhof schreien.
Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, bleibt mir die Luft im Hals stecken. Denn das Ganze erinnert mich an das letzte Mal, als Mum und ich zusammen im Supermarkt einkaufen waren. An dem Tag hat sie mich von der Schule abgeholt, und ich habe den Einkaufszettel festgehalten, während sie die Sachen in den Einkaufskorb gelegt hat. Alles lief prima, bis eine Gruppe Teenager hereinkam, die laut herumgebrüllt hat. Zwar haben die Jungen und Mädchen nichts Schlimmes gesagt, doch von dem Lärm ist Mum plötzlich ganz blass geworden. Laute Geräusche können nämlich starke PTBS-Symptome auslösen.
Und jetzt gerade, auf dem Schulhof, habe ich das Gefühl, selbst kreidebleich zu werden. Hastig stolpere ich an den anderen vorbei, schlingere und schlittere mit meinen Turnschuhen über den Rasen und steuere auf die Winterkirsche zu. Dabei halte ich weiter nach der Füchsin Ausschau.
»Bitte, liebe Füchsin«, flüstere ich. »Mach mich stärker. So wie die anderen Geistertiere.«
Auf einmal wird aus dem leichten Regen ein unbarmherziger Schauer, und das Geschrei der Kinder verwandelt sich in aufgeregtes Kreischen. Alle stürmen nach drinnen.
»Pssst! Hier unten!«, ertönt plötzlich eine Stimme unter mir. Sie kommt aus der Kuppel von Ästen, die wie eine Fontäne aus dem Stamm der Winterkirsche herausquellen.
»Füchsin, bist du das?« Meine Stimme quietscht, und meine Gedanken rasen. »Seit wann kannst du …«
»Schnell!«, spricht die Stimme weiter. »Komm rein, bevor die Lehrer uns sehen!«
Ich spähe zwischen den Zweigen hindurch und entdecke eine kleine Gestalt, die im Schutz des Baums kauert. Sofort suche ich sie nach schillernden Farben ab, doch in dem Moment streckt sie eine Hand aus und zieht mich zu sich in die Baumkuppel. Ein Junge mit kurzem Afro-Haarschnitt und einer tarnfarbenen Jacke sitzt vor mir und guckt mich mit großen Augen an.
»Alles okay?«, fragt er mich. »Ich hab gesehen, wie Joel dich geschubst hat. Mit mir macht er das auch immer.«
»Mir geht’s gut«, antworte ich und winde mich aus seinem Griff. Dann betrachte ich die Kuppel aus Ästen um uns herum. Hier drin sieht es aus wie in einer komplett anderen Welt. Das Kindergeschrei ist verschwunden, sodass ich nur noch meinen eigenen keuchenden Atem und das Prasseln des Regens hören kann. Überall um mich herum wachsen Äste mit sprießenden Knospen daran. Sie rahmen den gewundenen Stamm und den Jungen ein, der mich immer noch anschaut, als wäre etwas Schlimmes passiert. Dabei ist alles in bester Ordnung.
»Du bist Nora, oder?«, fragt er. »Nora Frost aus der 4a?«
Ich ignoriere ihn und schaue mir die Stelle an, an der der Baumstamm aus dem Boden austritt.
Die Geisterfüchsin ist nirgendwo zu sehen, deshalb schiebe ich mich an dem Jungen vorbei nach draußen. Dort betrachte ich die Umrisse der Kinder, die mit ihren Strickjacken über den Köpfen in die Schule rennen. Überall sehe ich grauen Asphalt, graue Wolken und graue Uniformen – aber keine regenbogenfarbene Füchsin.
Hinter mir raschelt es, und wieder schließen sich Finger um mein Handgelenk, die mich zurück in die Arme des Baums ziehen.
»Was machst du da?«, will der Junge wissen, der inzwischen aufgestanden ist. »Es regnet. Und wenn die Lehrer uns erwischen, müssen wir rein.«
»Hör auf, an mir rumzuzerren!« Ich reiße mich los, wobei sich Zweige in meinen Haaren verfangen und mein Rücken heiß kribbelt. »Du hast sie vertrieben!«, sage ich lauter, als ich wollte.
Der Junge tritt einen Schritt zurück und schaut sich um. »Wen?«
Schnaufend befreie ich meine Haare aus den Zweigen. Am liebsten würde ich sofort wieder nach draußen stürmen und weiter nach der Füchsin Ausschau halten, doch der Junge hat recht. Der Regen hämmert nur so auf den Boden, und in der Ferne kann ich die Pausenaufsicht rufen hören. Und obwohl es mir normalerweise gefällt, die Pausen im Schulgebäude zu verbringen, weil ich einfach dasitzen und lesen kann, will ich nicht reingehen. Noch nicht.
Also hocke ich mich wieder hin und suche meine Umgebung nach Regenbögen ab.
Verwirrt schaut der Junge mich an. »Bist du … hier mit einer Freundin verabredet, oder so was?«
Ich erwidere seinen Blick nicht, denn ich will ihm nichts von der Füchsin erzählen. Nicht, weil ich mich schämen würde; sondern weil es besser ist, manche Dinge geheim zu halten. Zum Beispiel Mums Diagnose. Denn sobald die Leute von ihrer PTBS erfahren, verändern sich ihre Gesichtsausdrücke. Sie bekommen schrecklich viel Mitleid und tun so, als wäre PTBS etwas ganz Schlimmes, obwohl das nicht stimmt.
Eine Zeit lang schweigen der Junge und ich, doch er betrachtet mich, als wollte er mich lesen wie ein offenes Buch. Um uns herum prasselt der Regen immer fester, doch die Stille im Innern des Baums fühlt sich an wie eine eigene Art Lärm. Wie ein Vorhang aus Lärm.
»Ich bin Kwame James«, sagt der Junge schließlich. »Ich gehe in die 4b. Ich glaube, du wohnst gegenüber von meinem Opa Erwin. Ich bin fast immer da und sehe dich oft auf deinem Fahrrad.«
Als ich nicht antworte, spricht er weiter.
»Der Baum hier ist mein Geheimversteck – gefällt es dir? Ich komme jede Pause hierher, um Joel aus dem Weg zu gehen. Wenn du willst, kannst du auch hierbleiben. Mich stört das nicht.«
Er mustert mich mit zusammengekniffenen Augen, und ich versuche, seinen Blick nicht zu erwidern.
»Wenn du auch gemobbt wirst, können wir zusammenhalten und …«
»Hör zu«, unterbreche ich ihn. »Danke, dass du mir dein Versteck gezeigt hast. Aber ich komme alleine klar.«
Ein Grinsen breitet sich auf Kwames Gesicht aus, und die Grübchen in seinen Wangen werden so groß wie Mondkrater. Außerdem fällt mir auf, dass seine Augen die gleiche Mischung aus Brauntönen haben wie der Stamm hinter ihm. »Ich komme auch alleine klar!«, ruft er begeistert. »Hey – vielleicht können wir zusammen alleine klarkommen? Ich kenne ein paar echt tolle Spiele, aber du kannst auch selbst welche vorschlagen.«
Ich ziehe eine Grimasse, und mir entfährt ein Seufzer. Draußen ruft ein weiteres Mal die Pausenaufsicht.
»Weißt du was … lass mich einfach in Ruhe«, sage ich.
Dann schiebe ich den Vorhang aus Zweigen zur Seite und renne los.
Sobald ich nach der Schule mit dem Fahrrad in unsere Straße einbiege, weiß ich, dass sich der Gute Morgen in einen Schlechten Nachmittag verwandelt hat.
Die Reihe von Einfamilienhäusern, die ich entlangfahre, erstreckt sich einen kleinen Hügel hinunter bis in die Ferne. Alle Haustüren sind entweder braun oder weiß oder grau – mit Ausnahme von unserer. Unsere Tür ist knallrot, genau wie mein Fahrrad. Mum und ich haben sie letztes Jahr gestrichen, und sie sieht richtig schön aus. Allerdings kann ich jetzt immer schon von Weitem erkennen, ob ein weißer Zettel daran hängt oder nicht.
Ich ziehe die Bremsen und lasse mir so viel Zeit wie möglich, das letzte Stück des Weges hinter mich zu bringen. Während ich mein Rad in den Holzschuppen schiebe, den Mum und ich im Vorgarten neben den Mülltonnen gebaut haben, trödle ich noch mehr. Trotzdem kommt es mir viel zu schnell vor, als ich schließlich vor der Haustür stehe und den Zettel lesen muss. In Mums zittriger Handschrift steht dort:
Nora, meine Große,
es tut mir leid, aber mir geht es nicht gut.
Kannst du bitte zu Saffie gehen?
Ich hab dich lieb.
Mum x
Ich starre auf das x, das Kuss bedeutet, und wünschte, ich könnte Mums Kuss in Wirklichkeit spüren.
Saffie ist ein Mädchen aus meiner Klasse, mit dem ich früher oft gespielt habe. Als Mum krank wurde, bin ich nach der Schule regelmäßig zu Saffie geradelt, damit Mum ihre Ruhe hatte. Saffie wohnt mit ihren Eltern in einem großen Haus, wo sie alle zusammen Piroggen und Polskie Naleśniki essen – so heißen Pfannkuchen auf Polnisch. Dann sind Saffie und ich so lange mit dem Fahrrad die Straße rauf und runter gesaust, bis es dunkel wurde und ich nach Hause musste.
Inzwischen rede ich kaum noch mit Saffie – genau wie mit den anderen aus meiner Klasse. Denn einmal, als ich bei Saffie zu Besuch war, habe ich sie und ihre Eltern über meine Mum flüstern gehört. Saffie hat gefragt, ob mit ihr alles okay ist und wie es mir wohl geht. Kurz darauf hat sie dann angefangen, mich bei unseren Wettrennen gewinnen zu lassen. Außerdem hat sie immer ganz leise mit mir gesprochen, so als würde ich mich vor jedem lauten Geräusch erschrecken. Mir ist klar, dass sie nur nett sein wollte, aber trotzdem gefiel mir das Ganze nicht. Schließlich geht es mir gut, und Mum geht es auch gut, und überhaupt ist alles gut. Also brauche ich auch nicht mehr zu Saffie zu gehen, obwohl Mum das immer noch denkt.
Leise sperre ich die Haustür auf und schleiche auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Mum hat den Fernseher angelassen, und ich frage mich, ob er der Grund für den Schlechten Nachmittag war. Manchmal können nämlich Dinge, die andere Menschen sagen, Auslöser für Mums Symptome sein. Genau wie Lärm, so wie damals im Supermarkt. Manchmal kommen die Symptome aber auch von ganz allein.
Ich schalte den Fernseher aus und bleibe eine Weile am Fuß der Treppe stehen, um zu lauschen.
Mums Schlafzimmertür ist geschlossen, das ganze Haus still. Früher, als Mum noch gesund war, stand ihre Tür immer offen. Sogar nachts war sie nur angelehnt, damit ich reinkommen konnte, wenn ich einen Albtraum hatte. Dann hat Mum mich zu sich ins Bett geholt und mich ganz fest in den Arm genommen. Außerdem durfte ich meine kalten Füße an ihren wärmen, und sie hat mir schöne Dinge ins Ohr geflüstert.
»Du bist so tapfer, Nora«, hat sie zum Beispiel gesagt. »Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne.«
Jetzt, als ich an der Treppe stehe, umklammere ich den Zettel, der an der Tür hing, und schließe die Augen. Da spüre ich plötzlich eine kalte Nase an meinen Socken, auf denen Tigerstreifen sind, schnüffeln. Und dann sehe ich sie. Meine Geisterfüchsin.
Mein Magen schlägt vor Freude einen Purzelbaum, und ich husche ins Wohnzimmer. Ich ziehe die Tür zu, nachdem die Füchsin hinter mir hereingeflitzt und mit einem Sprung auf dem Sofa gelandet ist.
»Da bist du ja wieder«, flüstere ich.
Die Geisterfüchsin legt ihren Schwanz um ihre Vorderpfoten, und ihre regenbogenfarbenen Umrisse flackern in Windeseile von Violett zu Grün zu Rot. Mein Herz schlägt viel zu laut für das stille Haus, deshalb setze ich mich so weit wie möglich von der Tür weg. Anschließend betrachte ich das helle Brustfell der Füchsin, ihre zusammengekniffenen Augen und die Narbe, die sich über ihre Schnauze zieht.
Ich strecke meine Hand aus, um sie zu streicheln, woraufhin die Ohren der Füchsin nach hinten schnellen, als wollte sie wegrennen.
»Nein, bitte nicht!«, sage ich lauter, als ich sollte – wo Mum doch oben schläft. Ich zucke zusammen und senke meine Stimme zu einem Flüstern. »Geh nicht. Kannst du bei mir bleiben? Bitte?«
Die Geisterfüchsin antwortet nicht, sondern starrt mich, mit dem zerknitterten Zettel in der Hand, bloß an.
Ich werfe einen Blick auf das Stück Papier und schüttle den Kopf. »Ich brauche nicht zu Saffie zu gehen«, erkläre ich ihr. »Es geht mir gut hier, wirklich. Aber … könntest du trotzdem eine Weile bei mir bleiben? Das wäre schön.«
Die Geisterfüchsin neigt ihren Kopf, und plötzlich fühle ich mich wieder so kalt und leer, als würde sie ihre Pfoten auf meinen Brustkorb pressen. Aber zumindest läuft sie nicht weg. Ich schalte Cartoons mit Untertiteln und ohne Ton ein, die wir uns gemeinsam anschauen. Dann mache ich am Tisch meine Hausaufgaben, während die Füchsin sich vor meinen Füßen zusammenrollt. Und als mein Magen knurrt, folgt sie mir in die Küche, wo ich in der Mikrowelle eine Lasagne aufwärme, so wie es in der Anleitung steht. Mum mag es zwar nicht, wenn ich mir mein Abendessen selbst zubereite, aber mittlerweile bin ich richtig gut darin.
Bevor die Mikrowelle ein Ping von sich gibt, schalte ich sie aus und verteile die Lasagne auf drei Teller – einen für mich, einen für Mum und einen für die Geisterfüchsin. Die Füchsin niest, als sie daran schnüffelt. Anschließend schreibe ich Mum einen Zettel und klemme ihn vorsichtig unter den Teller, den ich ihr vor die Tür stelle. Für den Fall, dass ihre Traurigkeit lang genug verschwindet, um Mum merken zu lassen, dass sie hungrig ist.
Ich hab dich auch lieb, Mum.
Nora x