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Tauche ein ins Edinburgh des Jahres 1817! Eine Stadt, infiziert mit Geheimnissen. Und eine junge Frau, die sie seziert. Lady Hazel Sinnett möchte unbedingt Chirurgin werden – was für sie als Frau jedoch unmöglich ist. Bis der Dozent Dr. Beecham sich auf einen Deal einlässt: Wenn sie die medizinische Prüfung ohne Unterricht besteht, darf sie bei ihm studieren. Zum Glück trifft die junge Frau auf Jack Currer – einen Auferstehungsmann, der Leichen ausgräbt und sie zu Lehrzwecken verkauft. Jack hilft Hazel nicht nur beim Lernen, sondern weckt auch ungeahnte Gefühle in ihr. Als sie an den Toten immer mehr Besonderheiten entdecken, finden sich die beiden plötzlich in einem Netz aus Geheimnissen und Intrigen wieder … Der New York-Times-Bestseller rund um eine rasante, absolut fesselnde Regency Romance voller Geheimnisse, Glamour und weiblicher Stärke. Dana Schwartz verbindet in diesem historischen Roman geschickt Liebe, Feminismus und Medizin mit spannenden Thrillerelementen. Dabei wechselt sie zwischen düsteren Friedhöfen, Vorlesungssälen und schottischen Schlössern.
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Seitenzahl: 396
Inhalt
Prolog
1Der Frosch war …
2Während sie in …
3Bitte.« »Nein.« »Bitte.« …
4Sterben war in …
5Ganz bestimmt konnte …
6Er hatte dem …
7Im chirurgischen Theater …
8Hazel hatte zumindest …
9Für die Premierenaufführung …
10Hazel wusste, was …
11Die Wände des …
12Für Hazel vergingen …
13Die weibliche Anatomie«, …
14Hazel verließ ihr …
15Es war ein …
16Hazel hatte erwartet, …
17Vorsicht!«
18Hawthornden Castle war …
19Das leise Klopfen …
20Sie mussten Hazels …
21Hazel hatte sich …
22Jack wartete bereits …
23Zu Hazels Überraschung …
24Ohne eine frische …
25Als er das …
26Die Zuneigung, die …
27Hazels erster Todesfall …
28Munro trank zwei …
29Keiner der Patienten …
30Sie würde einen …
31Haben Sie schon …
32Wochenlang hatte der …
33Der steinerne Durchgang …
34Bevor Hazel sich …
35Es dauerte zwei …
36Am ersten Weihnachtstag …
37Im Gefängnis waren …
38Als der Frühling …
Epilog
Danksagung
Für Jan,
Um die Wurzeln des Lebens ergründen zu können, müssen wir uns zunächst mit dem Tod befassen.
Prolog
Edinburgh, 1817
Beeil dich!«
»Mach ich doch. Ich grab schon, so schnell ich kann, Davey.«
»Dann mach schneller.«
Die fast mondlose Nacht verhinderte, dass Davey einen Blick ins Grab werfen und so Munros Augenrollen sehen konnte. Es dauerte länger als sonst – der Holzspaten, den Munro hinter einem Gasthaus unten in Farbanks hatte mitgehen lassen, war kleiner als der aus Metall, mit dem sie heute Nacht angefangen hatten. Doch vor allem war er um einiges leiser und darauf kam es an. Seit es auf dem Thornhill Kirkyard einen Wachmann gab, der die Gräber bewachte, war leises Vorgehen das Allerwichtigste. Drei ihrer Freunde hatten sich bereits erwischen lassen und waren nicht in der Lage gewesen, die Strafgelder zu zahlen. Seitdem hatte Davey sie nicht mehr gesehen.
Etwas stimmte nicht. Der junge Mann konnte nicht genau sagen, was es war, aber irgendetwas kam ihm heute Nacht seltsam vor. Vielleicht lag es an der Luft. Wie immer hing fettiger Rauch, bestehend aus angebratenem Öl, Tabak und einer ungesunden Mischung aus menschlichen Ausscheidungen und Abfällen, über der Innenstadt von Edinburgh. Der Gestank war es, der die Wohlhabenden in ihre schicken neuen Häuser auf der anderen Seite der Princess Street Gardens getrieben hatte. Doch im Gegensatz zu sonst war es heute windstill.
Munro gegenüber hatte Davey nichts von seiner Vorahnung erwähnt. Der hätte ihn nur ausgelacht. Du sollst nach Nachtwächtern Ausschau halten, nicht nach komischen Gefühlen.
Im Fenster des Pfarrhauses, das sich hinter der Kirche befand, brannte eine Kerze. Der Pfarrer war also noch wach. Würde er von dort aus erkennen können, dass sie auf dem dunklen Friedhof zugange waren? Höchstwahrscheinlich nicht. Doch was, wenn er nun beschloss, einen kleinen Nachtspaziergang zu machen?
»Kannst du nicht ein bisschen schneller machen?«, flüsterte Davey.
Als Antwort ertönte das unverwechselbare Geräusch von Holz, das auf Holz trifft. Munro war bis zum Sarg vorgedrungen. Angesichts dessen, was jetzt kommen würde, hielten die beiden den Atem an: Munro hob den Spaten so hoch, wie er konnte, um ihn dann mit voller Wucht hinunterkrachen zu lassen. Das lautstarke Bersten des Deckels ließ Davey zusammenzucken. Sie warteten – auf Rufe, einen bellenden Hund –, doch nichts geschah.
»Wirf das Seil runter«, wies Munro Davey vom Grab aus an. Davey folgte der Anweisung, sodass Munro den Strick um den Hals der Leiche binden konnte. »Jetzt zieh.«
Während Davey am anderen Ende zog, half Munro von unten, den Leichnam durch das enge Loch im Sarg an die Erdoberfläche zu manövrieren. Es war die groteske, umgekehrte Geburt eines verstorbenen Körpers. Die Schuhe hatte Munro der Toten bereits abstreifen können, während er sie aus dem Sarg zog. Doch die restliche Kleidung würde Davey ihr ausziehen und wieder in die Grube werfen müssen. Menschliche Überreste zu stehlen, war zwar eine Ordnungswidrigkeit, doch Eigentum aus dem Grab zu entwenden, wäre ein echtes Verbrechen gewesen.
Die Leiche war weiblich, wie Jeanette gesagt hatte. Jeanette arbeitete als Spionin, immer für denjenigen Auferstehungsmann, der sie gerade am besten bezahlte. Sie schlich auf Beerdigungen herum und wagte sich gerade nahe genug heran, um sicherzugehen, dass keine schwere Steinplatte auf den Sarg gelegt wurde, um ebenjenes Vergehen zu verhindern, das die Männer gerade begingen.
»Kein Eisenkäfig als Mortsafe zur Sicherung der Grabstätte, keine Familie«, hatte das Mädchen gesagt, nachdem sie an der Tür zu Munros Wohnung in Fleshmarket Close aufgetaucht war. Sie hatte sich am Hals gekratzt und ihm ein Grinsen geschenkt, das hinter einem Vorhang aus kupferroten Haaren hervorgeblitzt war. Obwohl sie kaum älter als vierzehn sein konnte, fehlten ihr bereits eine ganze Menge Zähne. »Oder zumindest nicht viel Familie. Der Sarg sah billig aus. Kiefer oder so.«
»Schwanger war sie nicht, oder?«, fragte Munro, die Augenbrauen hoffnungsvoll hochgezogen. Ärzte waren so darauf erpicht, Leichen von schwangeren Frauen zu sezieren, dass sie dafür gerne das Doppelte zahlten. Jeanette schüttelte lediglich den Kopf, ehe sie eine Hand aufhielt, um ihren Lohn entgegenzunehmen. Nachdem sie weg war, hatten sich die beiden Auferstehungsmänner mit Spaten, Seil und Schubkarre auf den Weg gemacht.
Davey wandte den Blick ab, während er die Leiche von ihrem dünnen grauen Kleid befreite. Er spürte, wie er trotz der Dunkelheit rot wurde. Eine lebendige Frau hatte er zwar noch nie entkleidet, aber wie viele er bereits ausgezogen hatte, einen Tag nachdem sie beerdigt worden waren, konnte er gar nicht mehr sagen. Der junge Mann blickte auf den Grabstein, der, halb verdeckt von Erde und Dunkelheit, einen Namen offenbarte: PENELOPE HARKNESS. Danke für die acht Guineen, Penelope Harkness, dachte er.
»Wirf alles her«, raunte Munro von unten. Sobald die Kleider der Frau wieder in dem ansonsten leeren Sarg lagen, stemmte er sich aus dem Loch und landete auf dem feuchten Gras. »Nun denn. Schütten wir es zu, damit wir hier wegkommen«, verkündete er und klopfte sich den Dreck von den Händen. Munro sprach es zwar nicht aus, doch auch er spürte, dass etwas merkwürdig war. Die Luft schien ungewöhnlich dünn zu sein und machte es ihm schwer zu atmen. Die Kerze im Pfarrhausfenster war mittlerweile erloschen.
»Du glaubst doch nicht, dass sie am Fieber gestorben ist, oder?«, flüsterte Davey. Auf der Haut der Toten waren zwar keine Beulen oder Blut zu sehen, aber die jüngsten Gerüchte ließen sich unmöglich ignorieren. Wenn das Römische Fieber wirklich wieder in Edinburgh war …
»Natürlich nicht«, sagte Munro entschieden. »Sei nicht albern.«
Davey atmete erleichtert auf und lächelte in die Dunkelheit. Munro schaffte es immer, dass er sich besser fühlte – er konnte die Ängste vertreiben, die sich in Daveys Kopf einschlichen wie Nagetiere ins Mauerwerk.
Schweigend brachten die beiden ihre Arbeit zu Ende. Das Grab war nun wieder mit Erde und Unkraut bedeckt, so wie am Morgen zuvor, und die steife Leiche lag, in einen grauen Umhang gewickelt, in der Schubkarre.
Plötzlich war da eine Bewegung am Rande des Friedhofs – ein vorbeihuschender Schatten an der niedrigen Steinmauer, die an der gesamten Ostseite des Kirchhofs entlangführte. Davey und Munro bemerkten ihn beide und rissen die Köpfe herum, doch bevor sie die genaue Stelle ausmachen konnten, war er bereits verschwunden.
»Nur ein Hund«, sagte Munro mit mehr Zuversicht, als er empfand. »Komm jetzt, der Arzt will uns vor Tagesanbruch treffen.«
Davey schob die Karre, Munro direkt neben ihm, den Griff des Spatens fester umklammernd als sonst. Sie hatten den Ausgang des Friedhofs fast erreicht, als ihr Weg plötzlich von drei Männern in Umhängen versperrt wurde.
»Hallo«, grüßte einer von ihnen. Er überragte die anderen beiden ohnehin bereits um Längen, doch der Zylinder, den er trug, ließ ihn sogar noch größer erscheinen.
»Wunderschöner Abend«, sagte der Zweite, kahlköpfig und kleiner als die anderen.
»Ideal für einen Spaziergang«, ergänzte der Dritte, dessen gelbliches Grinsen hinter seinem Schnurrbart sogar in der Dunkelheit zu sehen war.
Das waren keine Nachtwächter, erkannte Davey. Vielleicht waren es Auferstehungsmänner, so wie sie.
Munro dachte offenbar dasselbe. »Aus dem Weg. Sie gehört uns. Sucht euch eu’r eignes Wurmfutter.« Er trat vor Davey und die Schubkarre. Seine Stimme zitterte nur ganz leicht.
Als er den Blick nach unten richtete, sah Davey, dass die Herren allesamt feine Lederschuhe trugen. So was trug kein Leichenräuber.
Die drei Männer lachten beinahe einstimmig los. »Da hast du recht«, brachte der Kleine schließlich hervor. »Und natürlich kämen wir nicht im Traum auf die Idee, den Nachtwächter zu rufen.« Als er einen Schritt auf sie zukam, sah Davey ein Stück Seil unter dem Aufschlag seines Umhangs hervorblitzen.
Und dann ging alles unglaublich schnell: Die drei Männer preschten vor, doch Munro war mit einem Satz an ihnen vorbei und rannte, so schnell er konnte, den Weg Richtung Stadt hinauf. »Davey!«, rief er. »Lauf, Davey!«
Doch Davey stand wie erstarrt hinter der Schubkarre. Er überlegte noch, ob er Penelope Harkness zurücklassen sollte, während er Munro in eine Gasse verschwinden sah. Als seine Füße ihm dann endlich gestatteten, seinem Freund zu folgen, war es zu spät.
»Hab dich«, sagte der große Mann mit dem Hut und packte mit seiner großen, fleischigen Hand Daveys Unterarm. »Das wird jetzt vielleicht ein bisschen wehtun.« Der Mann zog ein Messer aus der Tasche.
Der junge Mann wehrte sich gegen den Griff, doch sosehr er auch zog und zerrte, er konnte sich nicht befreien. Der Fremde führte die Klinge geschickt über Daveys Unterarm und hinterließ damit eine blutige Spur, die in der Dunkelheit fast schwarz aussah.
Davey hatte zu viel Angst, um zu schreien. Mit panisch aufgerissenen Augen sah er, wie der Kahlköpfige, der etwas abseits stand, eine Phiole mit violettem Inhalt hervorholte. Er entkorkte das Fläschchen und kam auf sie zu.
Der Riese positionierte das Messer über dem Gläschen und wartete, bis ein einzelner Tropfen von Daveys Blut in die zähe Flüssigkeit fiel. Das Lila verdunkelte sich augenblicklich, nur um dann in ein klares, leuchtendes Goldgelb zu wechseln. Der glühende Inhalt warf einen Lichtschein auf die Gesichter der drei Männer, die jetzt lächelten.
»Wunderschön«, sagte der mit dem Schnurrbart.
Während seines Morgenspaziergangs am nächsten Tag fand der Priester eine verlassene Schubkarre vor. Darin befand sich die starre Leiche einer Frau, die er am Tag zuvor beerdigt hatte. Er schüttelte den Kopf. Die Leichenräuber in dieser Stadt wurden immer frecher – und gefährlicher. Was wurde nur aus Edinburgh?
Aus Dr.Beechams Abhandlung über die Anatomie oder: Vorbeugung und Heilung moderner Krankheiten
(17. Auflage, 1791), von Dr.William R. Beecham:
Jeder Arzt, der eine Krankheit oder eine alltägliche Verletzung wirksam behandeln will, muss sich zuerst mit der Anatomie vertraut machen. Ein umfassendes Verständnis des menschlichen Körpers sowie all seiner Funktionen ist für unseren Beruf von elementarer Bedeutung.
In dieser Abhandlung werde ich die Grundlagen der Anatomie, die ich im Laufe meiner jahrzehntelangen Studien ausgearbeitet habe, umreißen und sie mit eigens angefertigten Abbildungen illustrieren. Die visuellen Beispiele sind allerdings kein Ersatz für die aktive, eigenständige Erfassung medizinischer Grundkenntnisse durch Sektionen, und kein angehender Arzt kann erwarten, unserem Berufsstand Ehre zu machen, ohne mindestens ein Dutzend menschliche Körper zergliedert und ihre Einzelteile studiert zu haben.
Einige meiner Kollegen in Edinburgh greifen zu ruchlosen Mitteln, indem sie die illegalen Dienste von Leichenräubern in Anspruch nehmen. Während diese sogenannten Auferstehungsmänner die Überreste Unschuldiger stehlen, sind die Versuchspersonen, die meinen Studenten an der Anatomists’ Society zur Verfügung stehen, stets jene unglückseligen Männer und Frauen, welche durch den Strick des Henkers zu Tode kamen und nach britischem Recht dazu verpflichtet sind, ihren Landsleuten diesen Dienst als letzte Buße zu erweisen.
1
Der Frosch war tot, daran gab es keinen Zweifel. Er war es bereits, als Hazel Sinnett ihn fand. Sie hatte gerade ihren täglichen Spaziergang nach dem Frühstück gemacht, als sie das Tier auf dem Gartenweg entdeckt hatte. Es lag auf dem Rücken, als wollte es ein Sonnenbad nehmen.
Hazel konnte ihr Glück kaum fassen. Ein Frosch, der einfach so dalag. Fast konnte man meinen, er sei eine Opfergabe, ein Zeichen des Schicksals. Der Himmel war an diesem Tag hinter schweren grauen Wolken verschwunden, die einen baldigen Regen ankündigten. Anders ausgedrückt: Das Wetter war perfekt. Doch lange würden die idealen Bedingungen nicht anhalten. Sobald es anfing zu regnen, wäre ihr Experiment ruiniert.
Versteckt hinter den Azaleenbüschen, stellte Hazel sicher, dass niemand sie beobachtete (ihre Mutter schaute doch nicht etwa aus dem Schlafzimmerfenster im zweiten Stock, oder?), ehe sie sich hinkniete, den Frosch wie beiläufig in ihr Taschentuch wickelte und ihn in den Bund ihres Unterrocks steckte.
Die Wolken kamen näher. Da die Zeit begrenzt war, brach die junge Lady ihren Spaziergang frühzeitig ab, machte kehrt und lief eilig zurück Richtung Hawthornden Castle. Sie würde den Hintereingang nehmen, damit sie von niemandem behelligt werden und auf direktem Wege in ihr Zimmer hinaufhuschen konnte.
Eilig betrat sie die Küche, in der eine wahnsinnige Hitze herrschte. Der gusseiserne Topf auf dem Herd spie große Dampfwolken und an allem haftete ein penetranter, stechender Geruch. Eine halb gehackte Zwiebel lag verlassen auf einem Holzbrett und jemand hatte offensichtlich das Messer fallen gelassen. Alles war mit Blut verschmiert. Hazel folgte der roten Spur und entdeckte Cook, die auf einem Hocker am Herd saß und sich die Hand hielt, während sie sich hin und her wiegte und leise stöhnte.
»Oh!«, rief die Köchin, als sie Hazel sah. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und noch röter als sonst. Cook wischte sich über die Augen, stand auf und versuchte, ihre Röcke glatt zu streichen. »Miss, ich habe Sie hier unten nicht erwartet. Ich … ruhe nur ein wenig meine schmerzenden Beine aus.« Sie versuchte, ihre Verletzung unter der Schürze zu verstecken.
»Du blutest ja!« Hazel trat an Cook heran, um sich die Wunde aus nächster Nähe anzuschauen. Kurz dachte sie an den Frosch, der in ihrem Unterrock zerquetscht wurde, und an das aufziehende Unwetter, aber der Gedanke währte nur kurz. Sie musste sich jetzt auf den Fall konzentrieren, den sie unmittelbar vor sich hatte. »Lass mich mal sehen.«
Die Köchin zuckte zusammen, als Hazels schlanke Finger die ihren berührten. Der Schnitt reichte bis tief in den fleischigen Ballen der mit Schwielen überzogenen Hand.
Die junge Lady wischte sich ihre eigenen Hände am Rock ab und schenkte Cook ein aufmunterndes Lächeln. »Das ist gar nicht so schlimm. Bis zum Abendessen bist du wieder wie neu. He, du«, rief sie einer Spülmagd zu, »Susan, richtig? Holst du mir bitte eine Nähnadel?« Die scheue junge Frau nickte und huschte davon.
Mit eiligen Schritten holte Hazel eine Spülschüssel, stellte sie vor Cook ab und wies sie an, die verletzte Hand darin zu waschen und anschließend mit einem Geschirrtuch abzutrocknen. Ohne das Blut und den Ruß war der Schnitt nun deutlich zu erkennen. »Wenn alles erst mal abgewaschen ist, sieht es gar nicht mehr so schlimm aus«, erklärte Hazel.
Susan kehrte mit der Nadel zurück. Die junge Lady hielt sie so lange ins Feuer, bis sie schwarz wurde, ehe sie ihren Rock anhob und einen langen Seidenfaden aus ihrem Unterkleid zog.
Cook keuchte auf. »Ihre guten Sachen, Miss!«
»Ach, papperlapapp, das macht doch nichts, wirklich. Ich fürchte, das wird jetzt ein bisschen wehtun. Bereit?« Die Köchin nickte. So zügig wie möglich führte Hazel die Nadel in die verletzte Handfläche und begann, die Wunde mit engen Stichen zu verschließen. Alle Farbe wich aus Cooks Gesicht und sie presste fest die Augen zu.
»Ist gleich vorbei … fast geschafft … uuund fertig.« Hazel versah den Seidenfaden mit einem raffinierten Knoten und biss das überstehende Stück ab. Als sie ihre Arbeit begutachtete, musste sie lächeln: winzige, saubere und gleichmäßige Stiche. Endlich waren die todlangweiligen Stickübungen aus ihrer Kindheit mal zu etwas zu gebrauchen. Erneut hob Hazel ihren Rock an – vorsichtig diesmal, als würde sie den Frosch nicht bei seinem Schlaf stören wollen – und riss einen breiten Streifen Stoff von ihrem Unterkleid ab, noch ehe Cook Einspruch erheben oder wegen des weiteren Schadens erschrocken aufschreien konnte. Sie wickelte ihn fest um die frisch genähte Hand. »Also, nimm heute Abend bitte den Verband ab und wasch die Wunde. Morgen komme ich wieder und lege eine Heilpackung an. Und sei vorsichtig mit dem Messer.«
Cook hatte zwar noch immer Tränen in den Augen, schaute jedoch auf und schenkte Hazel ein dankbares Lächeln. »Vielen Dank, Miss.«
Danach schaffte es Hazel ohne weitere Zwischenfälle in ihr Zimmer, von wo aus sie sofort auf den Balkon hinauslief. Der Himmel war nach wie vor grau, es hatte noch nicht geregnet. Sie atmete auf und fischte das Taschentuch mit dem Frosch darin aus ihrem Rocksaum. Sie wickelte es auf und ließ das Tier mit einem nassen Platschen auf die steinerne Balkonbrüstung fallen. Hazels liebste Orte auf Hawthornden waren die Bibliothek – mit der grün marmorierten Tapete, den ledergebundenen Büchern und dem Kamin, in dem jeden Nachmittag ein Feuer entzündet wurde – und der Balkon vor ihrem Zimmer, von dem aus sie meilenweit auf nichts als Natur blicken konnte. Ihr Zimmer lag zur Südseite des Schlosses, sodass sie den aus dem Herzen Edinburghs aufsteigenden Rauch nicht sah und sich leicht vorstellen konnte, hier, nur eine Stunde von der Stadt entfernt, ganz allein auf der Welt zu sein. Eine Forscherin am äußersten Rand allen menschlichen Lebens, die in diesem Moment ihren Mut zusammennahm, um einen großen Schritt nach vorn zu tun.
Hawthornden Castle war auf Felsklippen erbaut, seine efeubedeckten Steinmauern erhoben sich über den ungezähmten Wäldern Schottlands und einem schmalen Bachlauf, der weiter führte, als Hazel ihm je hatte folgen können. Hier lebte ihre Familie väterlicherseits bereits seit über hundert Jahren. Die Mauern, der Ruß, das Gras und das Moos auf den alten Steinen – die Geschichte der Sinnetts haftete an allem hier.
Infolge einer kleinen Serie von Küchenbränden im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts war ein Großteil des Schlosses auf seinen eigenen Überresten neu erbaut worden. Die einzigen Überbleibsel des ursprünglichen Castles waren das Tor unten an der Zufahrt und ein in den Berghang gehauenes Verlies. Letzteres wurde jedoch seit Menschengedenken nicht mehr genutzt, außer als Drohung, wenn MrsHerberts Percy dabei erwischte, wie er vor der Teestunde Pudding stahl. Abgesehen davon hatte der Diener Charles einmal gewettet, sich einen ganzen Tag lang darin einschließen lassen zu können, nur um dann doch nur eine Stunde durchzuhalten.
Die meiste Zeit hatte Hazel das Gefühl, vollkommen allein auf Hawthornden Castle zu wohnen. Percy war meist in seinem Zimmer und spielte oder hatte Unterricht. Ihre Mutter, die noch immer Trauer trug, verließ kaum ihr Schlafzimmer oder schwebte umher wie eine schwarzgewandete Seele aus dem Totenreich. Auch wenn sie sich manchmal ziemlich einsam fühlte, war Hazel meistens doch dankbar, allein zu sein. Vor allem dann, wenn sie experimentieren wollte.
Der tote Frosch war klein und schlammbraun. Seine dünnen Beinchen, die vorhin, als sie ihn vom Weg aufgelesen hatte, schlaff auf ihrer Hand gelegen hatten wie die Arme einer Stoffpuppe, fühlten sich jetzt steif und unangenehm klebrig an. Doch immerhin war er tot und ein Gewitter zog auf. Es war perfekt. Alles war so, wie es sein sollte.
Hinter einem Stein auf dem Balkon holte sie einen Schürhaken und die Küchengabel hervor, die sie vor einigen Wochen heimlich eingesteckt hatte, während sie noch darauf wartete, dass genau diese Situation eintreten würde. Bernard war furchtbar unpräzise in Bezug auf das Metall gewesen, das der Wissenschaftszauberer in der Schweiz benutzt hatte. (»War es Messing? Verrate mir doch wenigstens, welche Farbe es hatte!« – »Ich sage doch, ich weiß es nicht mehr.«) Daher hatte Hazel beschlossen, es einfach mit denjenigen Metallgegenständen zu probieren, die sie leicht und unauffällig entwenden konnte. Der Schürhaken stammte aus dem Studierzimmer ihres Vaters. Es war ein Raum, den selbst die Bediensteten nicht mehr betraten, seit ihr Vater und sein Regiment vor Jahren auf St.Helena stationiert worden waren.
Ein fernes Donnergrollen hallte von dem vor ihr liegenden Tal wider. Die Zeit war gekommen. Nun würde sie die Barriere zwischen Leben und Tod durchbrechen, würde totes Fleisch mithilfe von Elektrizität wiedererwecken. Wunder waren nichts anderes als Wissenschaft, die der Mensch nur noch nicht verstand. Und wurde das alles nicht noch viel wunderbarer dadurch, dass die Geheimnisse des Universums irgendwo da draußen waren und man sie entschlüsseln konnte, wenn man nur klug und hartnäckig genug war?
Behutsam platzierte Hazel den Schürhaken an die eine Seite des Froschs, um anschließend zur Küchengabel zu greifen und sie mit feierlicher Ehrfurcht an der anderen Seite anzulegen.
Nichts geschah.
Sie schob Gabel und Schürhaken näher an den Frosch heran, bis beide seine Haut berührten. Sollte sie …? Nein. Wenn der Kopf des Sträflings aufgespießt worden wäre, hätte Bernard das erwähnt. Als er von seiner großen Reise zurückkam, hatte sie ihn atemlos mit Fragen über diese Vorführung gelöchert, die er in seinem Brief aus der Schweiz nur beiläufig erwähnt hatte. Eine Vorführung vom Sohn des großen Wissenschaftlers Galvani persönlich. Mithilfe von Elektrizität hatte dieser die Beine eines Frosches zum Tanzen gebracht und den abgetrennten Kopf eines Verurteilten blinzeln lassen, als wäre er wieder lebendig.
»Es war wirklich beängstigend«, hatte Bernard gemeint, während er eine Tasse Tee an die Lippen führte und dem Bediensteten mit einem Wink zu verstehen gab, ihm einen weiteren Ingwerkeks zu bringen. »Aber auf eine ganz eigene, merkwürdige Weise auch wundervoll, findest du nicht auch?«
Das fand Hazel allerdings. Auch wenn Bernard sich geweigert hatte, weiter darüber zu sprechen (»Sei doch nicht immer so morbide, Cousine!«), konnte sie sich die Einzelheiten der Szene so leicht vorstellen, als wäre sie selbst dabei gewesen. In ihrer Vorstellung stand der Mann in einer nach französischem Vorbild geschneiderten Jacke auf der Bühne eines winzigen Theaters. Fast konnte sie die schwere Staubschicht auf den roten Samtvorhängen hinter ihm riechen und sie sah die aufgereihten Froschschenkel, die in die Höhe schnellten wie Beine von Cancan-Tänzerinnen, ehe Galvani schließlich die Hauptattraktion enthüllte: den Kopf eines Erhängten. Hazel stellte sich den Schnitt am Hals des Toten so weit unten vor, dass man noch die violetten Blutergüsse sah, die der Strick hinterlassen hatte.
Wir Menschen fürchten den Tod, sagte Galvani in Hazels Vision mit starkem italienischen Akzent. Der Tod – wie grausam und schrecklich! Unausweichlich und sinnlos. Wir tanzen ihm entgegen wie einer wunderschönen Frau (Italiener liebten es, über schöne Frauen zu reden), und der Tod kommt, ewig lockend, im Walzerschritt auf uns zu. Wer einmal hinter den Schleier getreten ist, kehrt nie wieder zurück. Doch nun, meine lieben Freunde, ist ein neues Jahrhundert angebrochen.
Anschließend würde er, so malte Hazel es sich aus, einen Metallstab in die Höhe halten wie Hamlet den Schädel, bevor er den zweiten Stab anheben und den Blitz zwischen ihnen überspringen lassen würde. Währenddessen würde das Publikum jubeln. Und der Mensch wird die Gesetze der Natur überwinden.
Das Publikum hatte kollektiv nach Luft geschnappt, als die Bühnenlichter knisternd zu leuchten begannen, Schießpulverdampf zur Verstärkung des dramatischen Effekts aufstieg und der Kopf des Verurteilten zum Leben erwachte.
All dies hatte Bernard in seinem Brief beschrieben, und Hazel hatte ihn so oft gelesen, dass sie jede Zeile auswendig kannte: wie der Kopf des Hingerichteten gezuckt hatte, sobald die Metallstäbe mit seinen Schläfen in Berührung gekommen waren. Wie er seine Augen geöffnet hatte. Für einen Moment hätte man meinen können, er sei wieder bei Bewusstsein. Als hätte der Tote die Szene, die sich ihm bot – all die Männer mit ihren Frauen, die ihre besten Hüte und Handschuhe trugen –, erblicken und wirklich sehen können. Bernard schrieb zwar nichts darüber, ob der Mund ebenfalls eine Bewegung gemacht hatte, doch Hazel malte sich aus, wie der abgetrennte Kopf eine schwarze Zunge herausstreckte, als wäre er es überdrüssig, schon wieder für die nächste Vorführung und die nächste Zuschauerschar herhalten zu müssen.
Nach der Vorführung würde Galvani sich unter ungläubigem Applaus verbeugen und alle Gentlemen würden in ihre Châteaus und Villen zurückkehren, um dort ihre Gastgeber bei einem Glas Portwein mit der Beschreibung dieses Abends zu unterhalten.
»Es war wie Zauberei«, schrieb Bernard. »Wobei ich mir keinen Zauberer vorstellen kann, der so schlecht sitzende Hosen trägt.« Ihr Cousin hatte außerdem erwähnt, er habe sich für vierhundert Franken einen Jagdumhang gekauft und Prinz Friedrich von Hohenzollern in exakt dem gleichen Modell gesehen.
Hier und jetzt, unter einem Himmel voller Elektrizität und mit Metall zu beiden Seiten des Frosches, blieb Hazels Versuch jedoch – anders als jener von Galvani – langweilig, zutiefst frustrierend und unübersehbar erfolglos. Hazel warf einen Blick in das leere Zimmer hinter ihr. Ihr Zimmermädchen Iona war mit dem Aufräumen stets fertig, bevor das Frühstück geendet hatte. Durch das offene Fenster des Musikzimmers vernahm sie das Klimpern des Klaviers, was darauf schließen ließ, dass Percy gerade Unterricht hatte. MrsHerberts bereitete vermutlich soeben das Mittagessen vor, das sie Hazels Mutter in deren Gemach an einem Schreibtisch vor einem mit durchsichtigem schwarzem Stoff verhüllten Spiegel servieren würde.
Hazel hielt den Atem an und hob noch einmal den Schürhaken an. Eine Sache hatte sie noch nicht probiert, doch – plötzlich überkam sie ein Schwindelgefühl, ihre Gedanken wurden ganz leicht, als würden sie an einer Schnur zur Schädeldecke emporgezogen. Ihre Finger zitterten. Bevor ihr Mitgefühl sie davon abhalten konnte, stach sie den Schürhaken durch den Rücken des Frosches in dessen Bauch. Die Haut ließ sich erstaunlich leicht durchdringen, und der Haken glitt mühelos durch das Fleisch, bevor er schließlich am anderen Ende wieder austrat, bedeckt von einer zähen, glänzenden Flüssigkeit.
»Tut mir leid«, flüsterte Hazel und kam sich gleich darauf albern vor. Es war nur ein Frosch. Ein toter Frosch. Wenn sie Chirurgin werden wollte, würde sie sich an so etwas früher oder später gewöhnen müssen. Wie um sich selbst von ihrer Tapferkeit zu überzeugen, drückte sie den Schürhaken noch etwas tiefer in den kleinen Körper. »So«, murmelte sie. »Geschieht dir recht.«
»Was geschieht wem recht?« Mit geröteten Augen und zerzaustem Haar entdeckte sie Percy hinter sich. Er trug nur einen Strumpf. In ihrer Aufregung hatte Hazel nicht bemerkt, dass das Klavierspiel verstummt war.
Ihr kleiner Bruder war zwar schon sieben, doch ihre Mutter ließ ihn immer noch anziehen, als wäre er erst halb so alt: ein Baumwollhemd mit blauen Zierstreifen und offenem Kragen. Lady Sinnett verhätschelte ihn unablässig, als bestünde er aus kostbarem und unendlich zerbrechlichem Kristallglas. Der kleine Junge war verwöhnt und selbstsüchtig, doch Hazel brachte es nicht übers Herz, es ihm übel zu nehmen, denn in Wahrheit tat er ihr leid. Da ihre Mutter so damit beschäftigt war, Percy mit all ihrer Aufmerksamkeit zu erdrücken, genoss Hazel ungewöhnliche Freiheiten, während er kaum das Haus verlassen durfte, damit er sich nicht, Gott behüte, im Garten das Knie aufschrammte.
»Gar nichts.« Hazel drehte sich um und verbarg den Frosch hinter ihrem Rock. »Geh wieder. Müsstest du nicht in der Klavierstunde sein?«
»Meister Poglia hat mich früher entlassen, weil ich so fleißig war.« Er grinste und zeigte dabei eine Reihe kleiner, spitzer Zähne, von denen in der oberen Reihe einer fehlte. Ungeduldig wippte er auf den Fußballen vor und zurück. »Spiel mit mir. Mummy sagt, du musst alles machen, was ich sage.«
»Sagt sie das, ja?« Der Himmel klarte langsam auf, sodass fern am Horizont jetzt ein schmaler Streifen Blau zu erkennen war. Sie musste sich beeilen, wenn es funktionieren sollte. Solange noch Elektrizität in der Luft lag. »Frag doch Mummy, ob sie mit dir spielt.«
»Mummy ist lang-wei-lig«, sang Percy, von einem Fuß auf den anderen hüpfend. Er schüttelte sich die blonden Locken aus den Augen. »Wenn ich in Mummys Zimmer gehe, kneift sie mich nur in die Wangen und lässt mich meine Lateinübung aufsagen.«
Hazel fragte sich, ob ihr älterer Bruder George früher auch so gewesen war, ein weinerliches Kind, das ständig Aufmerksamkeit forderte und für jede Reitstunde und gelernte Lektion Applaus und Küsschen brauchte. Es erschien ihr unvorstellbar. Außerdem war ihr ihre Mutter damals noch nicht so ängstlich und erdrückend vorgekommen.
George war still und in sich gekehrt gewesen. Sein Lächeln wirkte jedes Mal wie ein Geheimnis, das er vom anderen Ende des Raums mit einem teilte. Percy hingegen wusste schon mit sieben Jahren, wie er sein Lächeln als Waffe benutzen konnte. Ob er sich überhaupt an George erinnerte? Er war noch so klein gewesen, als ihr Bruder starb.
Percy seufzte. »Also gut. Wir können Piraten spielen«, verkündete er, als wäre es ein Zugeständnis und Hazel diejenige gewesen, die in sein Zimmer gestürmt und ihn angefleht hätte, mit ihr Piraten zu spielen.
Hazel verdrehte die Augen.
Wie auf Kommando schob er seine Unterlippe zu einem übertriebenen Schmollmund vor. »Wenn du nicht Ja sagst, schreie ich und hole Mummy und die ist dann böse auf dich.«
Die nächste Wolke zog an ihr vorbei. Ein kleiner Fleck Sonnenlicht kroch an Hazels Kleid empor, dessen Wärme durch die mehrlagigen Röcke noch verstärkt wurde. »Wieso gehst du nicht in die Küche und fragst Cook, was es zum Tee gibt? Ich wette, wenn du sie jetzt fragst, macht sie bestimmt deinen Lieblingszitronenkuchen.«
Percy überlegte. Stirnrunzelnd betrachtete er Hazel und das, was sie da wohl hinter ihrem Rücken verbarg, doch nach einem Augenblick machte er schließlich kehrt und rauschte davon. Zweifelsohne rannte er gleich die schmale Treppe hinunter, um die Köchin und MrsHerberts zu quälen. Hazel hatte richtiggelegen: Mit ihr zu spielen kam gegen Zitronenkuchen nicht an.
Der jungen Lady blieb zwar nicht mehr viel Zeit, doch bevor sie fortfuhr, musste sie die Tür abschließen. Weitere Eindringlinge konnte sie nicht gebrauchen. Sie betrat ihr Zimmer und drehte den schweren Schlüssel im Schloss, bis sie das befriedigende Klicken hörte. Anschließend flitzte sie zurück auf den Balkon, wo in den wenigen Sekunden ihrer Abwesenheit bereits die ersten Regentropfen gefallen waren und immer mehr dunkle Flecken auf dem moosigen Stein hinterlassen hatten. Jetzt oder nie.
Erneut hob Hazel die Küchengabel an und schwenkte sie wie eine Schamanin über den Gliedmaßen des Frosches. Nichts. Vielleicht hatte es sich bei der Vorführung, die Bernard gesehen hatte, um einen Trick gehandelt. Vielleicht war es gar kein Toter gewesen, sondern ein lebendiger Mann, der unter dem Tisch gehockt und den Kopf durch ein Loch im Holz gesteckt hatte. Vielleicht hatte man seine Haut auch einfach mit Theaterschminke tot und farblos aussehen lassen. Wie mussten der Schauspieler – der Lügner – und der junge Galvani gelacht haben, als sie im Nachhinein die eingenommenen Geldscheine zählten, während sie sich zusammen mit den anderen dick geschminkten Schmierenkomödianten betranken.
Der Frosch zuckte.
Hatte er sich bewegt? Oder war es nur eine optische Täuschung gewesen? Ein Windstoß, der durch das Tal strich? Hazel hatte nichts gespürt und auch ihre Röcke waren nicht hochgeweht worden. Wieder und wieder schwenkte sie die Gabel über dem toten, aufgespießten Frosch, immer schneller, doch nichts geschah. Und dann begriff sie.
Sie holte den riesigen Schlüssel aus ihrer Tasche, führte ihn langsam an den kleinen Körper heran … und der Frosch begann zu tanzen. Der Frosch, der noch Augenblicke zuvor leblos am Schürhaken gebaumelt hatte, zuckte jetzt scheinbar voller Energie. Es war, als besäße er noch einen Lebenswillen, als versuche er zu entkommen. Es war wie im Märchen, dachte Hazel. Mach mich los, schien der Frosch zu sagen, dann erfülle ich dir drei Wünsche. Vielleicht glich der Anblick aber auch eher einem Albtraum, als wäre er einer dieser Geschichten in den Groschenromanen entsprungen, die Percys Hauslehrer ihr manchmal augenzwinkernd zusteckte. Die Toten wurden lebendig und wollten sich an den Lebenden rächen.
Es funktionierte! Was war das? Magnetismus? Der Schlüssel leitete elektrischen Strom, so viel war klar, doch aus welchem Metall bestand er eigentlich? Sie musste eine umfassende Untersuchung durchführen, eine Versuchsreihe mit allen Arten von Metallen, die sie auftreiben konnte.
Voller Freude strich Hazel wiederholt mit dem Schlüssel über die Gliedmaßen des Froschs, doch schon nach etwa einer Minute wurden die Zuckungen schwächer, bis sie schließlich gänzlich aufhörten. Was für Magie das auch gewesen sein mochte, die im Wetter, in den Körpersäften des Froschs, im Schürhaken oder im Zimmerschlüssel gesteckt hatte – nun war sie verbraucht.
Das Tier war wieder tot und Hazel fühlte sich, als wäre sie eben aus einem Traum erwacht. Wieder im Hier und Jetzt, konnte sie im Nebenzimmer ihre Mutter weinen hören. Seit George vom Fieber geholt worden war, weinte sie fast jeden Tag.
Aus Dr.Beechams Abhandlung über die Anatomie oder: Vorbeugung und Heilung moderner Krankheiten
(24. Auflage, 1816), von Dr.William Beecham III.:
Das Römische Fieber (Plaga romanus) äußert sich zunächst durch Eiterbeulen auf dem Rücken des Patienten. Binnen zweier Tage platzen die Geschwüre schließlich auf und beflecken das Hemd des Kranken mit Blut (daher die Bezeichnung »Römisches Fieber«: Die Flecken erinnern an die Stichwunden im Rücken von Julius Caesar). Zu weiteren Symptomen zählen schwarz gefärbtes Zahnfleisch, Teilnahmslosigkeit, Harnstau und Gliederschmerzen. Im Volksmund verwendete Namen für die Krankheit sind darüber hinaus: Römische Krankheit, die Beulen, Maurerfieber, der Rote Tod. Der Verlauf ist fast immer tödlich. Ein Ausbruch in Edinburgh im Sommer des Jahres 1815 forderte mehr als fünftausend Todesopfer.
Obwohl die Überlebenschancen äußerst gering sind, gelten die Genesenen fortan als immun. Ein Heilmittel ist nicht bekannt.
2
Während sie in der Kutsche nach Almont House fuhr, versuchte Hazel vergeblich, die schwarze Tinte an ihren Fingerknöcheln und unter den Nägeln wegzureiben. Sie war die ganze Nacht aufgeblieben und hatte Notizen aus dem alten Anatomiebuch ihres Vaters abgeschrieben. Auf ihrem Tisch hatte dabei die ganze Zeit eine Zeitungsannonce gelegen, die sie kurz vorher im Vorbeifahren an der Tür einer Gaststätte hatte hängen sehen.
»Halt, anhalten!«, hatte sie dem Kutscher zugerufen und gegen die Wagentür gehämmert. Sie war hinausgesprungen, hatte die Anzeige abgerissen und war atemlos wieder eingestiegen – zu aufgeregt, um sich darum zu kümmern, ob sie von jemandem gesehen worden war.
Die Annonce befand sich nun zusammengefaltet in ihrer Rocktasche. Hazel holte sie mit ihrer farbverschmierten Hand hervor und strich über das Papier, damit es ihr gleichermaßen Trost spendete und Glück brachte.
Bernard würde sich an der Tinte nicht stören – Hazel bezweifelte, dass er sie überhaupt bemerken würde –, was man von Lord Almont jedoch nicht behaupten konnte. Bei seinem Hang zu Anstand und Schicklichkeit würde dieser Vorfall sicherlich postwendend an ihre Mutter berichtet werden. Ich wünschte wirklich, du würdest mich vor deinem Onkel nicht blamieren, Hazel, würde Lady Sinnett sagen und dabei eine Teetasse an die Lippen führen oder einen Faden aus ihrer Stickarbeit ziehen, während ein Bediensteter im Vormittagssalon Holz im Kamin nachlegte. Mich persönlich kümmert es ja nicht, wenn du während deiner Besuche in der Stadt wie ein Bettelweib herumläufst, aber es wird dir nun mal im Wege stehen, wenn es um die Einladungen für die nächste Ballsaison geht.
Wie Lord Almont oder ihre Mutter reagieren würden, wenn sie von der Annonce in ihrer Tasche wüssten, mochte sich Hazel nicht einmal vorstellen. Es handelte sich dabei um die Ankündigung einer Anatomievorführung des berühmten Dr.Beecham III., Enkel einer großen Legende. Er war mit Sicherheit der bekannteste lebende Chirurg Edinburghs, wenn nicht sogar des gesamten Königreichs.
Hazel bebte förmlich vor Aufregung, wenn sie nur daran dachte.
LEBENDES VERSUCHSOBJEKT! KOSTENLOSE ANATOMIEVORFÜHRUNG!
Sehen Sie Dr.Beecham, Leiter der Chirurgie an der Universität von Edinburgh, während einer Sektion und Amputation mithilfe eines neuen Verfahrens. Interessierte können sich im Anschluss nach dem Anatomieseminar des Doktors erkundigen. Acht Uhr morgens. Royal Edinburgh Anatomists’ Society
Das war die Art von Veranstaltung, an der Hazel teilnehmen wollte. Nicht an trostlosen Mittagessen mit alten Witwern und unausstehlichen Debütantinnen oder an langweiligen, endlosen Bällen. An Hazels fünfzehntem Geburtstag hatte ihre Mutter begonnen, sie zur Ballsaison nach London zu schicken. Dort wurde sie in Reifröcke, so groß wie kleine Sofas, gequetscht, nur um dann in den Armen diverser junger Männer mit schlechtem Atem durch verschiedene Ballsäle zu rauschen.
Theoretisch bedeutete ihr Zugegensein während der Londoner Saison, dass sich einer dieser übel riechenden Herren Hals über Kopf in sie (oder ihre beträchtliche Mitgift) verlieben und ihr einen Antrag machen würde. Wobei ihr das ziemlich sinnlos erschien, denn es war ohnehin so gut wie beschlossene Sache, dass sie Bernard heiraten würde und der Titel sowie das Geld der Almonts somit in der Familie bleiben könnten.
An ihrem Cousin gab es nichts auszusetzen. Er war wirklich nett und hatte einigermaßen reine Haut. Zwar war er, nun ja, langweilig, aber das waren die meisten anderen auch. Sie fand ihn vielleicht ein bisschen eitel – seine Kleidung war ihm wichtiger als fast alles andere auf der Welt. Doch dafür war er ein guter Zuhörer. Und was am allerwichtigsten war: Da sie bereits als kleine Kinder gemeinsam im Matsch gespielt hatten, würde er nicht erwarten, dass sie dem Beispiel zahlreicher junger Damen folgte und vorgab, ein zerbrechliches Porzellanpüppchen zu sein.
Bernard kannte Hazel schon so lange, dass ihr Wunsch, Chirurgin zu werden, für ihn lediglich eine Marotte war, kein Skandal. Um sich für Seminare einschreiben und die königliche Arztprüfung ablegen zu können, war es von entscheidender Wichtigkeit, einen Mann an ihrer Seite zu haben. Und wenn er, wie Bernard, auch noch mächtig war und einen Titel trug, umso besser. Hoffnungsvoll strich sie über die Knickfalte des Blattes.
Es war ein klarer Herbsttag und die Septemberluft war so frisch wie selten zuvor in dieser Gegend – nahe Edinburghs Old Town, wo die Holzhäuser sich auf dem Hügel aneinanderdrängten wie schiefe Zähne in einer Mundhöhle, die den pfeifenden, rußgeschwärzten Atem des Alltags verströmte. Lord und Lady Almont lebten eigentlich nur in einem Anwesen den Hügel hinunter und doch ein ganzes Universum von Old Town entfernt: in einem eleganten weißen Stadthaus am Charlotte Square in New Town, auf der anderen Seite der Princess Street Gardens. Prächtige Säulen säumten den Eingang des Anwesens, das hintenraus ausreichend Platz für gleich zwei Kutschen bot.
Trotz aller Bemühungen hatte Hazel es nicht geschafft, die Tinte von ihren Fingern zu entfernen, weshalb sie ihre Hände nun stattdessen in die Tasche zu der heimlich mitgebrachten Zeitungsannonce steckte.
Noch bevor Hazel klingeln konnte, wurde ihr von einem Diener die Tür geöffnet. Sein Kragen war schweißgetränkt und die kahle Stelle auf seinem Kopf glänzte.
In der Haupthalle herrschte rege Betriebsamkeit. Irgendetwas ging vor sich. Kurz fing Hazel den Blick des Kammerdieners Samuel auf, der mit einer leeren Waschschüssel und einem Lappen vorbeieilte. Er beschränkte sich darauf, nur andeutungsweise den Kopf zu neigen, ehe er sich wieder abwandte.
Nicht unweit von ihr saß ein fremder Mann, ein Bettler in staubgrauen Lumpen, auf einem einfachen Stuhl. Hazel hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Wahrscheinlich stammte er aus einem der Dienstbotenquartiere. Ein Arzt, gekleidet in einen langen Mantel, untersuchte die Mundhöhle des Mannes.
Der Bettler schien sich in diesem adretten Herrenhaus sichtlich unwohl zu fühlen. Alles an ihm stach heraus, wirkte fehl am Platze. Sein Hemd war im ganzen Saal das einzige, das nicht gebügelt und gestärkt aussah, seine Haare waren als einzige ungekämmt, sein Gesicht als einziges ungewaschen. Hazel erkannte einen Ring aus Schweiß und Schmutz an einer Stelle unter seinem Kinn, als ob er beim Waschen länger nicht hingekommen war. Auffordernd tätschelte der Doktor die Wange des Mannes, woraufhin dieser gehorsam seinen Mund schloss.
Lord Almont – er hatte am anderen Ende der Halle auf einem größeren, gepolsterten Stuhl gesessen, der aus dem Speisezimmer hereingebracht worden war – erhob sich, als er seine Nichte sah. »Ach, Hazel«, begrüßte er sie. »Bitte entschuldige den heutigen Zustand unseres Hauses. Bernard wird sicher jeden Augenblick zu uns stoßen. Samuel, geben Sie meinem Sohn Bescheid, dass Miss Sinnett eingetroffen ist.«
Hazel antwortete mit einem kleinen, förmlichen Knicks, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem fremden Bettler widmete. Sie fragte sich, was hier wohl vor sich gehen mochte. War der Fremde ein Mündel, für den Lord Almont die Vormundschaft übernommen hatte? Ein Begünstigter der Wohltätigkeit seiner Lordschaft? Oder vielleicht doch einfach ein Mann, der sich um eine Dienstbotenstelle bewerben wollte, nur um jeden Augenblick aus dem Haus geworfen zu werden? Hazel konnte sich nicht vorstellen, dass Lord Almont sich persönlich um die Einstellung des Personals kümmerte. Und wozu eine medizinische Untersuchung?
»Können wir weitermachen?«, fragte der Arzt mit ruhiger Stimme.
Zum ersten Mal fiel Hazels Blick auf das Gesicht des Mediziners, das mit tiefroten Striemen und Pockennarben überzogen war. Obwohl er sein linkes Auge mit einer Augenklappe aus Satin verdeckte, konnte Hazel an den Rändern eine rote Schwellung erkennen. Das lange, dunkle Haar des Doktors wirkte strähnig und wurde von einem schwarzen Band im Nacken zusammengehalten. Sein dunkler Mantel wies an den Rändern rostfarbene Flecken auf und in der Hand hielt er etwas Glänzendes, das wie eine Metallklemme aussah.
Die Augen des Bettlers waren so weit aufgerissen, dass das Weiße rings um seine Iriden deutlich zu sehen war. Auf seinem Schoß knotete er mit beiden Händen einen braunen Hut, so als wollte er ihn nach dem Waschen auswringen. Nach einigen Sekunden angstvollen Schweigens nickte er dem Arzt zu, lehnte sich zurück und öffnete den Mund.
»Vielleicht sollte die Dame …«, begann Lord Almont, doch noch bevor er den Satz beenden konnte, hatte der Doktor seinen Auftrag bereits erledigt: Nachdem er die Zange in der Mundhöhle des Bettlers positioniert hatte, führte er eine schnelle Drehbewegung aus, um, begleitet von einem ekelerregenden Knacken, einen Backenzahn herauszuziehen.
Die Schüssel, die Samuel gebracht hatte, erfüllte augenblicklich ihren Zweck. Der Patient hielt sie sich unters Kinn, während ein Rinnsal aus Blut und Speichel zwischen seinen Lippen hervorquoll. Er hatte nicht einmal Zeit gehabt zu schreien.
Der Arzt untersuchte den rot verschmierten Zahn und roch daran. »Jetzt zügig«, sagte er an Lord Almont gewandt. »Wenn wir ihn an Ihrem Zahnfleisch befestigen wollen, muss er ganz frisch sein.«
Seine Lordschaft setzte sich zurück auf seinen Stuhl, lehnte sich gehorsam zurück und öffnete den Mund. In der Zwischenzeit strich der Doktor eine silbrige Paste auf den unteren Teil des Zahns, um ihn schließlich mithilfe eines kleinen Skalpells tief in Lord Almonts Kiefer zu befestigen. Hinter ihnen konnte man das leise Wimmern des Bettlers hören.
»Nun«, sagte der Arzt, als er fertig war. »Verzichten Sie einen Monat lang auf Fleisch, außer Ihr Koch bereitet es ganz weich zu. Halten Sie sich an klare Schnäpse, und keine Tomaten.«
Lord Almont stand auf und richtete seine Krawatte. »Gewiss, Doktor.« Er nahm einige Münzen aus seiner Brusttasche, zählte sie ab und reichte das Geld dem Bettler. Dabei hielt er so viel Abstand zu dem Verwundeten, wie seine Armeslänge es zuließ. »Das dürfte wohl der derzeitige Marktpreis für Backenzähne sein?«
Für Hazels Empfinden legte ihr Onkel verblüffend viel Wert darauf, Abstand zu einem Mann zu halten, dessen Zahn er gerade im Mund hatte. Dem mittlerweile verstummten Bettler liefen Tränen über die Wangen, als er die Bezahlung entgegennahm und ging.
»Bitte entschuldige, Hazel«, wiederholte Lord Almont, sobald der Fremde verschwunden und der Nachhall der zufallenden Tür verklungen war, »dass ich dich einer solch furchtbaren Szene ausgesetzt habe. Allerdings hat Bernard erwähnt, du würdest dich mit solcherlei Dingen befassen.« Er rieb sich die Wange. »Ein grausiges Geschäft, doch ein kleiner Preis für Gesundheit und Wohlbefinden. Ich glaube, du kennst den hochgeschätzten Dr.Edmund Straine von der Anatomists’ Society Edinburgh noch nicht? Dr.Straine, darf ich Ihnen Miss Sinnett vorstellen, die Tochter meiner Schwester Lavinia?«
Der Doktor wandte sich Hazel zu und neigte zum Gruß leicht den Kopf. Er war gerade damit beschäftigt gewesen, all seine Instrumente zu verstauen, weshalb er noch ein kleines Skalpell in der Hand hielt, von dem Blut tropfte.
»Guten Tag«, sagte Hazel. Dr.Straine antwortete nicht. Mit seinem gesunden Auge blickte er direkt auf die Tintenflecken an Hazels Fingern. Eilig verbarg sie sie in ihrem Rock, woraufhin die ohnehin schmalen Lippen des Arztes noch schmaler wurden.
Als er sprach, galten seine Worte wieder Lord Almont. »Seien Sie sich bewusst, dass das Kauen dem Zahn auf Dauer schadet, Ihre Lordschaft.« Ohne ein weiteres Wort nahm er seine Tasche auf, machte auf dem Stiefelabsatz kehrt und rauschte mit wehendem Mantel aus dem Raum.
»Nicht der freundlichste Umgang mit Patienten, fürchte ich«, flüsterte Lord Almont, nachdem Dr.Straine durch die Hintertür verschwunden war. »Aber man sagte mir, er sei der Beste in der Stadt. Ein Protegé des mittlerweile verstorbenen Dr.Beecham höchstpersönlich, ist das zu glauben. Du bleibst doch sicherlich zum Tee?«
Es war zwei Jahre her, dass Hazels Vater seinen Posten auf St.Helena angetreten hatte – als Captain der Royal Navy mit dem Auftrag, die Gefangenschaft Napoleons zu überwachen. Seither hatte Lord Almont es sich zur Aufgabe gemacht, ein Auge auf seine Nichte zu haben. Ein- bis zweimal pro Woche fuhr Hazel daher mit der Kutsche nach Edinburgh, um mit den Almonts zu speisen, im Vormittagssalon zu sitzen und in den Büchern ihres Onkels zu lesen oder Bernard zu unvermeidlichen gesellschaftlichen Anlässen zu begleiten. Zumindest wurde man hier in Almont House nicht ständig mit dem Andenken an George konfrontiert. Auf Hawthornden Castle war der Verlust ihres Bruders in jedem Raum greifbar wie schwerer Rauch, der in der Luft hing.
Wenn sie Bernard heiratete und damit die neue Lady Almont wurde, konnte sie mit diesen belastenden Erinnerungen endlich abschließen wie mit einem Kapitel in einem dicken Buch. Sie würde einen neuen Namen und ein neues Zuhause bekommen. Ein ganz neues Leben, in dem sie ein neuer Mensch wäre. Einer, dem Traurigkeit fortan nichts mehr anhaben konnte.
»Ach, Bernard!«, rief Lord Almont, als sein Sohn auf dem Treppenabsatz erschien. »Werdet ihr beide hier zu Mittag essen? Samuel gibt gewiss in der Küche Bescheid.«
»Eigentlich«, schob Hazel ein, »hatte ich gehofft, Bernard würde mich auf einen Spaziergang begleiten.«
Ihr Cousin sprang leichtfüßig die letzte Stufe hinunter und bot ihr seinen Ellbogen an. Als die beiden den großen Saal verließen, hatten die Diener bereits alle Spuren der nur wenige Minuten zuvor stattgefundenen Operation beseitigt.
Aus Schottlands Städte — ein Reisebegleiter
(1802) von J. B. Pickrock:
Edinburgh wird häufig auch als »Athen des Nordens« bezeichnet, was vor allem auf die zahlreichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Philosophie zurückzuführen ist. Ein weiterer Grund ist die Architektur: weißer Stein, gerade, breite Alleen und Säulen. Die Entstehung von New Town auf dem weitläufigen Gelände im Schatten von Edinburgh Castle reicht bis in die 1760er-Jahre zurück (als der Gestank und die Überfüllung in den Häusern an der High Street einer anständigen Kindererziehung immer mehr im Wege standen). Doch erst seit 1810 nahmen die Bauten im romantisch-klassizistischen Stil wahrlich beeindruckende Formen an. In der Tat wage ich nun zu behaupten, dass Edinburgh sich eines schöneren romantischen Klassizismus rühmen kann als alle anderen Hauptstädte Europas.
3
Bitte.«
»Nein.«
»Bitte.«
»Auf gar keinen Fall.«
»Ohne dich lässt man mich nicht rein. Keine Chance. Aber wenn ich in Begleitung des Viscount Almont erscheine, können sie mich nicht abweisen.«
»Des zukünftigen Viscount Almont. Mein Vater ist noch sehr lebendig, vielen Dank auch.«
»Aber irgendeinen Titel wirst du doch jetzt schon tragen, oder? ›Baron‹ vielleicht? Das muss doch auch etwas wert sein, zukünftiger Viscount Almont.«
»Hazel«, sagte Bernard warnend.
»Du brauchst ja nicht einmal hinzusehen. Du kannst dir die ganze Zeit die Augen zuhalten.«
»Aber ich würde es hören.«
Hazel wedelte mit der Zeitungsannonce, die sie die ganze Zeit über umklammert hatte, vor seinem Gesicht herum. »Oh, bitte, Bernard. Habe ich dich je um einen Gefallen gebeten? Wenn ich da nicht hingehe, werde ich mein ganzes Leben lang an nichts anderes mehr denken können. Ich werde es sogar noch bei Dinnerpartys erwähnen, wenn wir beide schon alt und grau sind, und du wirst dir wünschen, du wärst einfach mitgegangen, nur damit ich den Mund halte.«
Ihr Cousin ging weiter. »Nein.« Er trug einen neuen taubengrauen Zylinder, und selbst als er sich von ihr abwandte, konnte Hazel erkennen, dass er darauf achtete, ihn im besten Licht zu präsentieren, damit dieser sein markantes Kinn betonte. Zu der ebenfalls grauen Jacke hatte er eine kanariengelbe Seidenweste kombiniert.
Während noch zu Beginn des Nachmittags eine angenehme herbstliche Kühle in der Luft gelegen hatte, war es während ihres Spaziergangs drückend heiß geworden. Hazel spürte, wie ihr unter den Stoffschichten ein Schweißtropfen den Rücken hinunterrann. »Machst du dir Sorgen, meine Mutter könnte wütend auf dich werden, weil du …«