Anfangs sonnig, später Herbst - Martin Schult - E-Book

Anfangs sonnig, später Herbst E-Book

Martin Schult

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Beschreibung

Deutsche Zeitgeschichte als warmherziger Coming-of-Age-Roman Frankfurt am Main, 1977. Johannes ist 15, ein ganz normaler Teenager, der Musik liebt. Doch als sich sein Vater der RAF als Helfer anschließt und die Familie untertauchen muss, verläuft Johannes' Leben alles andere als normal. Da begegnet er Paul, einem Jungen, der ihn noch tiefer in die Welt der Musik einführt, in die sich auch Eli Meissner, eine unverheiratete Frau in den Fünfzigern, geflüchtet hat. Während die beiden Jungen sich an allem berauschen, was der Kult-Plattenladen der Stadt zu bieten hat, wird Eli mit den Verbrechen ihrer Familie in der Nazi-Zeit konfrontiert. Ohne einander kennenzulernen, müssen sich alle drei im Deutschen Herbst entscheiden, wo sie stehen. Ob sie zu Mittätern werden, sich der Vergangenheit stellen oder zu Helden werden – just for one day.

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Anfangs sonnig, später Herbst

Der Autor

Martin Schult, Jahrgang 1967, studierte Afrikanistik und Ethnologie in Frankfurt und Berlin. Nach mehreren Aufenthalten in West- und Ostafrika und Lehrtätigkeiten in Berlin und Zürich arbeitet er seit 2004 beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Er ist der stellvertretende Leiter des Berliner Büros und betreut den Friedenspreis. Martin Schult lebt mit seiner Frau in Berlin.

Das Buch

Frankfurt am Main, Sommer 1977. Das ganze Land steht unter dem Einfluss des Terrorismus. Auch der 15-jährige Johannes bekommt das zu spüren. Seitdem es seine Mutter nach Indien verschlagen hat und sein Vater Botengänge für die RAF übernimmt, steht sein Leben kopf: eine neue Stadt, keine Schule mehr, kein Kontakt mehr – zu niemandem. Sein einziger Trost ist die Musik. Erst Paul, den er auf einer seiner heimlichen Erkundungstouren durch die Stadt kennenlernt, vermag es, ihn aus seiner Deckung zu locken, mit ihm fühlt Johannes sich wieder wie ein normaler Teenager. Doch so einfach ist es nicht, sich eine neue Identität überzustreifen. Besonders, wenn einem zusätzlich ein hübsches Mädchen die Sinne verwirrt.Auch im Leben von Eli Meissner, Anfang fünfzig und ledig, wird einiges auf den Kopf gestellt. Endlich von der Last befreit, sich zu Hause um die Eltern kümmern zu müssen, will sie einen Neuanfang wagen, beginnend mit der Suche nach einem Mitbewohner. Dass ihr dieser Neuanfang nur über Umwege gelingt, die sie in eine schmerzhafte Vergangenheit und bis nach Buchenwald führen, damit hat sie nicht gerechnet. Als schließlich auch noch Hanns Martin Schleyer entführt wird, muss Eli sich entscheiden, wer sie sein will.

Martin Schult

Anfangs sonnig, später Herbst

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage November 2019© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Tom Chance / Westend61 / plainpictureE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2150-9

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

La Grange

If You Could Read My Mind

Lust For Life

Ich bin der Welt abhanden gekommen

You Really Got Me

Je te veux

»Heroes«

In eigener Sache

Quellennachweis

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

La Grange

Widmung

Für UA und Bee

Motto

Then we could be heroes just for one day.

»Heroes« (David Bowie)

La Grange

1

Er sitzt oben auf einer Mauer. Auf dem Platz in der Innenstadt, dort, wo man sich nach der Schule trifft, bemerke ich ihn zum ersten Mal. Wir sehen uns ähnlich. Er ist ungefähr in meinem Alter, fünfzehn, dunkelblond wie ich, genauso groß wie ich, und er macht, genau wie ich, ein gelangweiltes Gesicht.

Ich bin schon ein paarmal hier gewesen, habe mich zu den anderen gestellt und darauf gewartet, ob was passiert. Nicht einen habe ich mit Namen kennengelernt, und am nächsten Tag war ich wieder vergessen. Heute, am letzten Schultag, ist außer ihm und mir noch niemand da, also raffe ich mich auf und schlendere wie zufällig an ihm vorbei. »Und? Alles paletti?«

Keine Antwort. Vielleicht hat er mich auch nicht gehört. Ich bin schon einen Schritt weiter, die Füße sind schneller als das Ohr, da senkt er doch, wenn auch unendlich langsam, den Kopf und schaut auf mich herunter. »Paletti?«

Na prima, denke ich. Frage – Gegenfrage. Und jetzt sieht er wieder in den Himmel. »’ne Fünf in Bio!«, ruft er, als wäre ich taub. »Ich wäre fast von der Schule geflogen. Also nein: nix paletti.«

Ich verdrehe die Augen und will weitergehen, da grinst er und hält mir einen Streifen Kaugummi hin. »Und selbst?«

Ich zögere. Gehen oder bleiben? Tatsächlich antworten oder einfach nur Tschüss sagen? Es siegt das Schulterzucken: Was soll’s? Genau das habe ich doch gewollt: ein bisschen schwätzen und sich dabei vorstellen, so normal zu sein wie alle anderen. Dieser Typ auf der Mauer wäre vielleicht der richtige dafür. Also hieve ich mich hoch und lasse neben ihm die Beine baumeln. »Mathe«, lüge ich und nehme ihm den Streifen ab. »Gerade so die Kurve gekratzt.«

Er geht nicht darauf ein. Ich wickele das Kaugummi aus und stecke es mir in den Mund. Was ist das denn? Ich verziehe das Gesicht. Kann sowas schlecht werden? Ich schiebe den Batzen auf die Zunge. Er sieht, dass ich ihn ausspucken will.

»Neue Sorte«, lacht er, »mit Zimt.«

»Schmeckt eher nach Milchreis als nach Sommer!«

Schweigend starren wir auf den Platz, saugen aus diesen Big Reds den Geschmack heraus und beobachten das Geschehen – nichts Besonderes, alles schon mal da gewesen, ob hier, ob woanders: Autos im Stau, bimmelnde Straßenbahnen, vereinzelte Fahrradfahrer. Bei der Häuserzeile uns gegenüber bauen sie gerade ein Hamburger-Restau­rant aus. Das erste in Frankfurt, habe ich gehört. Wir schauen einfach nur zu.

Doch irgendwann merken wir, dass wir dasselbe sehen, denselben beobachten, dieselbe Meinung dazu haben. Und plötzlich wird alles anders. Mal treffen sich unsere Blicke. Mal lächeln wir dabei. Schaut einer von uns weg, mustert der andere ihn.

Er trägt ein gelbverwaschenes Hemd, das lässig aus seiner Hose hängt. Ihm missfallen die drei weißen Streifen auf meinen blauen Turnschuhen. »Kapitalistenlatschen!«, nennt er sie, und überhaupt würde ich in meiner Bundfaltenhose und meinem grauen Sweatshirt – »Sowas gibt’s tatsächlich zu kaufen?« – echt langweilig aussehen. Und dieser lächerliche Seitenscheitel, wie bei einem »Beamtensöhnchen«.

Ich gehe auf das Spiel ein, lache über das rotgefärbte Tuch, das er wie ein Cowboy um den Hals gebunden hat, und mache mich über die Sandalen an seinen Füßen lustig, zu denen er auch noch Tennissocken trägt. »Das passt doch gar nicht!«

Das kommt nicht gut an. Wir schweigen wieder. Ist der Zimtgeschmack weg, ist das Zeug ziemlich fade.

»Hast du auch so viele Pickel?«, fragt er mich auf einmal ohne jede Vorwarnung. Merkwürdigerweise klingt es wie ein Friedensangebot.

Ich nehme es an und nicke. »Die Hölle.« Bei ihm ist es sogar schlimmer als bei mir. Wir grinsen uns an. Hübsch sind wir beide nicht. Wir spucken die Kaugummis nacheinander auf den Boden. Er hält mir den nächsten Streifen hin.

»Hab sogar einen am Pimmel. Juckt wie blöde.«

Eigentlich zu alt für so einen Quatsch, lachen wir trotzdem. Es ist seltsam, dass wir so tun, als wären wir jünger. Aber vielleicht lernt man sich so besser kennen. Unser Gelächter ebbt ab, schwillt an, richtig kindisch führen wir uns auf, bis wir Luft holen müssen und wieder auf den Platz schauen. Alte Menschen, pickende Tauben, mal ein Hund dazwischen. Er schnüffelt an jedem Laternenpfahl. Ich überlege, wie unser Gespräch weitergehen könnte, was ich jetzt wohl sagen sollte und wieso mir nicht ein guter Spruch einfallen will. Bis er wieder das Wort ergreift und mich völlig aus dem Nichts fragt, ob ich gerne ZZ Top höre. Ich murmele irgendetwas Nichtssagendes.

»Auf dem Bett liegen, Paprikachips bis zum Umfallen und La Grange in den Ohren – was gibt’s Besseres?«

Wieder kichere ich mit, obwohl ich das Lied gar nicht kenne. Ganz ehrlich? Ich kenne noch nicht einmal die Band. Seitdem wir in Frankfurt sind, hocke ich an den Wochenenden mit meinem Kassettenrekorder vor Großvaters altem Röhrenradio. Ich schalte AFN an und nehme mit dem Mikrophon die American Top 40 auf. Der Empfang ist schlecht, das Magische Auge wird oft nicht richtig grün, aber das macht nichts.

Denn ich kenne jedes Lied, das in letzter Zeit gespielt wurde, und ich habe alles auf Kassette, um es mir noch einmal, zweimal, immer wieder anzuhören. Aber ZZ Top? Ich sollte ihn anlügen. Stattdessen frage ich, ob es gut ist.

»Ob es gut ist? Na, hör mal! La Grange!« Er dehnt dabei jeden Buchstaben, als würde es wirklich nichts Besseres geben. Dann zieht er seine Tennissocken aus und wirft sie einfach hinter sich. »Das ist so cool, als würdest du ganz relaxed in einem Cabrio sitzen und durch Mexiko heizen.«

Er spricht wirklich so lässig, ich denke mir das nicht aus. Erwartungsvoll schaut er mich an. »Na, nun mach schon.«

Ich grinse. Meine Turnschuhe landen auch auf dem Asphalt, gefolgt von den Strümpfen. Dann rufe ich mit meinem besten amerikanischen Akzent: »Hello and welcome to American Top 40. I am Casey Kasem and this is our week­ly countdown for the forty best-selling songs in the nation!« Mindestens zwanzig Kassetten hätte ich schon aufgenommen, erzähle ich ihm. Daraufhin springt er von der Mauer.

»Man hat dich echt versaut, Kumpel. Komm mit!«

Erst als er vor mir steht, fällt mir die schwarze Lederhose auf. So steif, wie er läuft, scheint sie ziemlich eng zu sitzen. Seine Klamotten – das gelbverwaschene Hemd, die Lederhose, die Sandalen –, das alles passt, selbst ohne Socken, überhaupt nicht zusammen. Trotzdem sieht es unglaublich gut aus. Das Wort Kumpel gefällt mir.

Er – mit den Socken in der Hosentasche – lotst mich – mit zusammengeknoteten Schuhen um den Hals – zu einem Schallplattenladen in der Nähe. An den hohen Wänden mit Holzvertäfelungen aus einer längst vergangenen Zeit hängen Plattenalben, die ich noch nie gesehen habe: Jazz, Blues und Rock, und ein bisschen Klassik dazwischen. Abba oder Queen sind nicht darunter. Barry Manilow, die Nummer eins in den letzten Top 40, schon gar nicht.

Begleitet von einer hellen, jammernden Gitarre singt eine heisere Frauenstimme Summertime. Ich rutsche mit meinen nackten Füßen über den Holzfußboden. Vor Ewigkeiten hat mir meine Großmutter das Lied vorgespielt, diese Version aber höre ich zum ersten Mal. Das Lied zieht sich dahin, es ist langsam und zäh, aber es ist auch aufregend – jedenfalls passt es zu diesem heißen Tag, und es passt auch zu dem Langhaarigen, der an der Verkaufstheke steht. Er brummt das Lied mit und zieht hin und wieder an seiner Zigarette. In einem Regal hinter ihm sind Abertausende von Schallplatten einsortiert.

Zigarettenrauch und der chemische Geruch der Schallplatten – das ist der süßliche und leicht abgestandene Duft von Duke’s Records. So lautet der Name des Ladens. So steht es in einem Halbkreis auf der Schaufensterscheibe. Der Langhaarige kennt meinen Kumpel. Bei mir schaut er auf die nackten Füße.

»Ihr wollt euch was anhören?«

Wir nicken. Ich soll mich an den Plattenspieler stellen, bei dem er jetzt auf Stopp drückt. Es wird still, nur die heisere Frauenstimme hallt in dem hohen Raum nach. »Janis«, murmelt er, und während er behutsam die Platte wegnimmt, stöpselt mein Kumpel einen Kopfhörer ein. Er hält ihn mir hin. Hinter ihm schleppt ein Mädchen mit dunklem Pferdeschwanz einen Stapel Platten durch den Laden. Ich staune über den Kopfhörer in meinen Händen. Die Ohrkissen sind aus echtem Leder.

»Aufsetzen«, sagt mein Kumpel.

»Tschüss, Welt!«, rufe ich, grinse und tauche ab. Ich höre mich atmen. Höre dumpf, wie mein Kumpel »La Grange« zu dem Langhaarigen sagt. Der zaubert eine Scheibe aus einem grünen Album und legt sie auf den Plattenteller. Ein gelbes Lämpchen beleuchtet schwach die sich drehende Platte. B-Seite, erkenne ich. Sanft pustet er die Nadel an und setzt sie perfekt auf die glatte Rille zwischen Lied Nummer zwei und drei. Es knistert leise. Ich drücke mir den Kopfhörer auf die Ohren und schließe die Augen.

Das Lied beginnt mit einer Gitarre und einem trippelnden Schlagzeug, der Rhythmus ist leicht und locker. Rock oder Blues, irgendetwas, wozu man gut mit dem Kopf nicken kann. Eine kratzige Männerstimme setzt ein und quält sich durch den Text – nein, das ist kein Quälen! Das ist stark, wie der Sänger die Worte herauspresst. Just let me know if you wanna go. Mehr als das verstehe ich zuerst nicht, und es klingt, als hätte er mindestens zehn Kaugummis im Mund.

Dann wird der Rhythmus härter – a how how how –, eine zweite Gitarre steigt ein – if you got the time –, klar, ich habe alle Zeit der Welt! Hart, hell und laut gibt die Gitarre den treibenden Rhythmus vor – mmh mmh mmh, and I here it’s fine. Der Sänger. Die Gitarren. Das Schlagzeug. Ich bin total überfordert, ich weiß nicht mehr, was ich tue. Und dann kommt es … das Solo: völlig übersteuert. Es reißt mir fast den Kopfhörer von den Ohren.

Als ich die Augen kurz öffne, sehe ich meinen Kumpel, wie er mit seiner Luftgitarre perfekt das Solo imitiert, die linke Hand am Gitarrenhals, die rechte schrammt über seinen Bauch. Obwohl er doch wirklich nichts hören kann! Der Langhaarige lacht. Er brüllt mich an, Headbanger oder sowas Ähnliches. Ja!

Ich habe meinen Kopf wirklich nicht mehr unter Kontrolle. Ich werfe ihn hin und her, vor und zurück, und meine Augen bleiben an dem Mädchen hängen, das im Laden auf und ab läuft, ich sehe, wie sie Platten sortiert und mich durch ihre Brille die ganze Zeit seltsam anschaut. Warum sie das tut? Weil ich verrückt bin, warum sonst?

Das Lied – La Grange – geht zu Ende, oder? … Nein, es geht noch mal von vorne los! Wieder dieses geniale trippelnde Schlagzeug, aber die Gitarre hört sich jetzt an, als würde sie mich auslachen. Die Aufnahme wird langsam ausgeblendet. Ich setze den Kopfhörer ab. Ich strahle.

So etwas habe ich noch nie gehört.

2

Wir schlendern durch den Nachmittag, La Grange im Kopf und in den Beinen, Luftgitarren in den Händen. Just let me know if you wanna go. Wir übertrumpfen uns gegenseitig, bis mein Kumpel die Menschen, an denen wir vorbeigehen, nachahmt oder kommentiert, verunsichert oder wütend macht. Man dreht sich nach uns um, wenn er Grimassen schneidet und »Guten Morgen, Herr Meier! Was machen die Eier?« ruft. Bei Keine Macht für Niemand! kann ich natürlich mitbrüllen. Einer ruft uns »Lausbuben!« hinterher, ein anderer »Rotzlöffel!«. Wir lachen schallend über beides. Er scheint sich um nichts Gedanken zu machen. Und ich? Ich mache es ihm nach.

Lässig, fast gleichgültig laufen wir durch die Frankfurter Innenstadt. Er zeigt mir Orte, die ich allein nie entdeckt hätte. Er bleibt bei Grün stehen, geht bei Rot weiter, und über seine Lieblingslieder weiß ich bald alles, während er über meine American Top 40 nur lacht.

»Dieser Mist aus den Hitparaden? Die Lieder sind doch echt das Letzte. Boney M singt nicht mal selbst. Alles ist nur darauf ausgelegt, dass man nicht mehr nachdenken muss. Der Rhythmus ist bei jedem Lied der gleiche, und die Texte sind einfach nur zum Schämen. Sorry, I’m a Lady – reinste Mainstream-Kacke.«

Ich könnte ihm antworten, dass mich Boney M kein Stück interessiert und ich Baccara einfach nur lächerlich finde. Ich könnte ihm erklären, dass meine Mainstream-Kacke direkt aus Amerika kommt, manche Lieder echt gut sind und sogar Tiefgang haben. Aber ich tue es nicht. Ich kann mich nämlich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so viel Spaß hatte. Dabei bin ich bis vor ein paar Monaten noch genauso gewesen wie er: lässig, vorlaut, in Klamotten, die ich mir selbst ausgesucht habe. Und mit einer wirren Frisur, wie selbst er sie nicht hat.

»An die Waffeln, Brüder!« Etwas abseits vom Trubel lädt mich mein Kumpel zum Eis ein und spricht gleichzeitig über etwas anderes. Immer wieder springt er von einem Thema zum nächsten. Ich bin überfordert, hänge aber trotzdem an seinen Lippen. Während ich ihm auf dem Oeder Weg hinterherlaufe, spüre ich den Dreck an meinen Füßen, und für die Eiswaffel in der Hand brauche ich mich nicht einmal zu bedanken. Alles fühlt sich so selbstverständlich an! Als hätte ich nicht nur einen Kumpel gefunden, sondern gleich einen Freund.

So mache auch ich den Mund auf und erzähle ihm aus meinem Leben – vom Schweiß, der nach Erbsensuppe riecht, von den bevorstehenden, ziemlich langweilig werdenden Ferien und von der Angst, nicht dazuzugehören, wozu auch immer – eben ein bisschen von dem, was mich gerade beschäftigt. Damit kann ich etwas von mir erzählen, ohne ihm allzu viel zu verraten.

Aber ich merke es selbst: Es hört sich ziemlich kläglich an. Ich komme mir selbst blöd dabei vor, doch ich kann nichts dagegen tun. Die Worte sprudeln einfach aus mir heraus und machen mein Leben kleiner, als ich es beabsichtigt habe.

Er übertrumpft mich einfach.

Mit seinen schlechten Noten – er sei ja schließlich fast sitzen geblieben –, mit dem bevorstehenden Urlaub am Strand – »Okay, nur Nordsee, aber immerhin!« – und mit seinem Schweißgeruch. »Linsen«, grinst er. »Aber hier …«, er riecht an seiner Achselhöhle, »… das sind alles nur Lockstoffe. Das finden die Girls unglaublich gut, auch wenn sie es niemals zugeben würden. Also Duschen – das ist Vergangenheit, okay?«

Da lachen wir noch, aber als er mehr von meiner Angst wissen will, weiß ich nichts zu sagen. Sie wird zu einer Art Stoppschild, vor dem wir nun stehen. Wir schweigen, eine ganze Weile, ich ziehe meine Turnschuhe an, bis er schließlich »Na gut« sagt und sich aus heiterem Himmel verabschiedet. »Wir sehen uns, Kumpel.«

Erstaunt richte ich mich auf und schaue ihm nach, wie er hinter einer Hausecke verschwindet. Natürlich kommt er nicht zurück. Trotzdem starre ich auf dieses blöde Stück Mauer, bis es vor meinen Augen verschwimmt. Übrig bleibt das Gefühl, betrogen worden zu sein. Wie bei einem Wettlauf, bei dem man kurz vor dem Ziel abgefangen wird und sich fragt, warum man sich das überhaupt angetan hat.

Wir sehen uns, Kumpel. Netter Spruch, aber was bedeutet er schon? Wie soll das funktionieren, wenn ich seinen Namen nicht kenne? Wenn ich keine Ahnung habe, auf welche Schule er geht – ja, ich weiß nicht mal, wo er wohnt. Und so renne ich los. Es ist wie ein Reflex.

Ich denke überhaupt nicht nach.

Gleich an der ersten Kreuzung muss ich mich entscheiden. Ich nehme die Straße nach rechts, zwinge einen Ford Granada zu einer Notbremsung, klopfe – da bin ich noch frech – auf die Motorhaube und laufe weiter, während der Fahrer mir was hinterherruft. Auf dem großen Platz, den man Hauptwache nennt, bahne ich mir den Weg durch die Menschenmassen, laufe die Treppen hinunter zur U-Bahn und ratlos wieder hoch. Eine alte Frau keift mich an, als ich mich an ihr vorbeidrängeln will.

»Blöde Kuh«, rufe ich ihr zu.

Ein Mann hält mich fest und fordert mich auf, mich gefälligst bei der Frau zu entschuldigen. Guten Morgen, Herr Meier, müsste ich jetzt sagen. Stattdessen reiße ich mich nur los und renne davon. »Dreckspack!« und »Jaja, schlimm, schlimm, schlimm, diese Jugend!« rufen sie mir hinterher. Als ich wieder aufschaue, habe ich die Orientierung verloren. Ohne eine Ahnung, wo ich bin und wohin ich gehen soll, laufe ich kreuz und quer durch die Straßen. Frankfurt ist mir viel zu groß. Doch gerade, als ich aufgeben will, entdecke ich es in der Ferne: das gelbverwaschene Hemd.

Abrupt bleibe ich stehen.

Er voraus, ich hinterher, so folge ich ihm über den Platz, auf dem wir uns kennengelernt haben, dann eine Straße entlang, die ›Freßgass‹ heißt, und weiter an der Ruine des alten Opernhauses vorbei. Am Hochhaus daneben dreht er sich plötzlich um. Ich verschwinde hinter einer Säule. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich mich wieder hervortraue. Er ist weitergegangen. Er hat mich nicht entdeckt. Ich nehme die Verfolgung wieder auf.

Zwanzig Meter hinter ihm durchquere ich den Rothschildpark, kurz abgelenkt von überlebensgroßen Skulpturen, die einen Kreis bilden. Sie sind aus schwarzem Stein, schlanke, kräftige Männer und schöne Frauen, allesamt nackt. Während ich darüber nachdenke, sie mir irgendwann näher anzuschauen, folge ich ihm weiter durch ein paar Straßen mit Altbauten. Kreuz und quer laufen wir durch diese ruhige Wohngegend, ein Bäcker, ein Kiosk, eine Pizzeria, ich merke, wie hungrig ich bin. Ich überlege, zu ihm vorzulaufen – Hey, was für ein Zufall! –, doch dann sehe ich ihn in einem der Häuser verschwinden.

An der Haustür lese ich die Namen. Müller, Bartoldy, Neumann, Sorge – und noch ein paar mehr Klingelschilder. Ich trete zurück auf die Straße und schaue an der Fassade hoch. Chance verpasst? Chance verpasst. Aber ich weiß nun immerhin, wo er wohnt und dass er wahrscheinlich Teil einer ganz normalen Familie ist. In einem ganz normalen Haus in einer ganz normalen Straße. Und ich? Ich habe ihn verfolgt, heimlich und ohne dass er es bemerkt hat.

Auf einmal komme ich mir sowas von lächerlich vor.

Den Weg, den wir gekommen sind, gehe ich auch wieder zurück. An der Pizzeria vorbei, am Bäcker – ich kaufe mir ein Brötchen – und an den seltsamen Skulpturen im Park. Doch auch dieses Mal bleibe ich nicht stehen, denn in meinem Kopf läuft gerade das Hätte-Wäre-Wenn-Spiel ab. Dafür komme ich an eine Straße, die ich kenne: die Bockenheimer Landstraße, die mit dem Postamt, vor dem ich mal auf meinen Vater gewartet habe. Hier gehe ich weiter in Richtung Westen, überquere die Miquelallee, bis ich das Viertel mit den prächtigen Villen und den noch prächtigeren Gärten erreiche. Beim weißen VW-Bus, der wie immer als Einziger in Großvaters Straße parkt, öffne ich das Gartentor. Wie mein Vater es von mir verlangt hat, drehe ich mich noch einmal um.

Keine Menschenseele ist zu sehen.

Ich schaue auf die rosafarbene Fassade, auf die Jahreszahl, die oben auf den Giebel gemalt ist, 1910, und auf Villa Eden, was daruntersteht. Ich lehne mich ans Gartentor und komme zur Ruhe. Die Sonnenstrahlen, die durch die zwei hohen Tannen fallen, tauchen den Vorgarten in ein seltsames Licht. Es lässt den Nachmittag wie einen frühen Abend erscheinen. Doch es ist immer noch warm, fast schwül. In der Ferne höre ich die Autos auf der Miquelallee. Selbst hier, in diesem grünen Viertel, kann man den Smog riechen. Frankfurt ist ganz schön dreckig.

Die Klappe am Briefkasten quietscht. Ich ziehe die Werbeprospekte heraus, gehe an der mit Moos bewachsenen Treppe vorbei und tätschele dem kleinen Engel aus Marmor, den Großmutter hier aufgestellt hat, den Kopf. Dann betrete ich die Villa Eden durch die Hintertür.

Großvater sitzt mit einem Kaffee am Küchentisch.

»Ist er schon wieder da?«, frage ich ihn.

Großvater schüttelt den Kopf.

»Bitte sag ihm nichts.«

Großvater nickt.

Erst spät am Abend kommt mein Vater zurück. Wieder mal hat er ein Paket dabei und fragt, ob etwas gewesen sei. Ich lüge, und Großvater schweigt. Seitdem wir hier sind, haben sie kaum ein Wort miteinander gesprochen. Es herrscht eine angespannte Atmosphäre, und wie so oft ist sie nicht zu ertragen. Ich lasse die beiden allein und gehe ins Zimmer meiner Großmutter. Dort wohne ich jetzt. Dort drücke ich auf die Starttaste an meinem Kassettenrekorder, nur um den Universum gleich wieder auszuschalten.

Mainstream. Habe ich über Monate wirklich die falsche Musik gehört? Auf dem Bett liegend, denke ich an den erlebten Tag. An meinen Kumpel mit seiner schwarzen Lederhose, an die nackten Skulpturen, an das Eis, an die Verfolgungsjagd. Warum nicht einfach wieder hingehen und so lange vor seinem Haus herumstehen, bis er wieder herauskommt? Doch das würde vielleicht ein Zwölfjähriger vor dem Haus eines Mädchens machen, in das er unsterblich verliebt ist. Alles andere ist lächerlich.

Also denke ich an La Grange. Gleich morgen, so nehme ich mir vor, würde ich mich wieder aus dem Haus schleichen und mir bei Duke’s Records die Platte besorgen: Tres Hombres von ZZ Top.

Mein ganzes Geld würde ich dafür zusammenkratzen.

3

Eine Schallplatte kaufen ist etwas völlig anderes, als sich in irgendeinem Laden Musikkassetten zu besorgen. Bei denen muss man sich nur entscheiden, ob man 60, 90 oder 120 Minuten haben will. Natürlich gibt es verschiedene Marken oder Qualitäten, und jeder schwört auf seinen Favoriten. Doch solange es keinen Bandsalat gibt, solange es eine Chromdioxidkassette ist und solange die Aufnahme nicht dumpf, sondern klar klingt, ist es irgendwie auch egal.

Aber auf die Theke eines Plattenladens den geforderten Betrag legen, die Schallplatte in einer Plastiktüte entgegennehmen, mit ihr nach Hause laufen, dort die Schutzfolie abziehen, die Innenhülle erst aus dem Album nehmen und daraus dann mit den Fingerspitzen und, ohne auf die Rillen zu fassen, ganz vorsichtig die Platte herausziehen, sie auf den Plattenteller legen und sie zum ersten Mal anhören, noch ohne Knistern, aber mit dem leisen Brummen der Lautsprecher, bis die Nadel aufsetzt – das ist etwas Besonderes.

Man kann sie auch nicht mehr zurückgeben oder umtauschen. Einmal angehört, und sie bleibt dir für dein ganzes Leben erhalten. Ob sie gut ist oder nicht.

»Viel Spaß damit, Gringo«, wünscht mir der Langhaarige hinter der Theke und zieht an seiner Zigarette. Gerne würde ich etwas sagen, so etwas wie Man sieht sich. Nur lässiger. Mir fällt aber nichts ein. Ich nicke ihm zu und gehe. Es gibt ein Wort, das heißt Gelegenheit. Das beschreibt einen Moment, in dem sich die Welt kurz ein wenig öffnet und eine zweite Möglichkeit zulässt. Diesen Moment habe ich gerade verpasst.

Trotzdem: Auf dem Weg nach Hause trage ich die Plastiktüte wie einen Schatz vor mir her. Stolz, als hätte ich nicht einfach nur eine Platte gekauft, sondern etwas Heldenhaftes vollbracht, laufe ich durch die Straßen, bis ich das Villenviertel erreiche. Als ich beim weißen VW-Bus das Gartentor öffne, denke ich kurz daran, was mein Vater zu mir gesagt hat. Schau dich um. Erst will ich es sein lassen, denn was soll mir mit ZZ Top in der Tüte schon passieren? Aber dann mache ich es doch.

Hinten an der Straßenkreuzung sehe ich, wie jemand um die Ecke biegt. Erst scheint es harmlos zu sein, nur ein Passant, der zufällig den gleichen Weg hat. Dann erkenne ich den Jungen von gestern wieder. Meinen Kumpel.

Verdammt!

Wenn ich von jemandem verfolgt werde, soll ich weitergehen. Ich soll die Straße entlanglaufen, bis zur nächsten Ecke und aus dem Viertel hinaus, so weit wie möglich weg von der Villa. Das ist sehr, sehr wichtig, hat Vater gesagt. Such dir ein Versteck, das nur du kennst. Das habe ich getan, vor ein paar Tagen, mein Versteck ist ein Schuppen im Botanischen Garten mit halb aufgerissenen Säcken voll trockener Erde, einem alten, verrosteten Moped und einem Berg von Gerümpel, hinter dem man sich noch besser verstecken kann. Alles staubig. Tausende von Spinnweben. Aber sicher. Und dort wartest du, bis die Luft wieder rein ist. Klingt vernünftig. Doch dafür ist es jetzt zu spät.

Ich renne in den Vorgarten, laufe um die Hausecke herum, durch die Hintertür in die Küche und drinnen im Flur die Treppe hoch. Das einzige Zimmer, das nach vorne rausgeht, ist das von Großvater. Er scheint nicht da zu sein. Ich schleiche mich hinein. Am Fenster spähe ich durch die halbdurchsichtigen Vorhänge. Vielleicht hat er mich ja nicht entdeckt, als ich wie ein Irrer ins Haus gerannt bin. Vielleicht ist er einfach weitergegangen …

… ist er nicht. Mein Kumpel steht auf dem Gehweg vor dem Haus und betrachtet die Fassade. Er liest 1910 und Villa Eden. Dann schaut er plötzlich zu dem Fenster, hinter dem ich stehe. Natürlich kann er mich nicht sehen, aber das ist nicht das Entscheidende. Er hat mich verfolgt! So wie ich gestern ihn. Und jetzt geht er sogar zum Gartentor, das ich nicht richtig geschlossen habe.

Die Klospülung rauscht. Das muss Großvater sein.

Ich beuge mich vor und sehe, wie mein Kumpel auf den bemoosten Treppenstufen ins Rutschen kommt. Dann steht er vor der Haustür und klopft mit dem Eisenring einmal gegen das Holz. Es hallt dumpf durchs Haus.

»Was machst du hier?« Großvater ist ins Zimmer gekommen und stellt sich neben mich. »Wer ist das?«

»Keine Ahnung«, murmele ich. Wir beobachten ihn zu zweit, wie er nach einer Minute ein weiteres Mal klopft, kräftiger, und dann mehrmals. Man hört es im ganzen Haus.

»Ist das ein Freund von dir?« Bevor ich ihn aufhalten kann, zieht Großvater den Vorhang zur Seite. Genau in dem Moment tritt die Nachbarin vor die Tür. Sie hat einen Staubwedel in der Hand und ruft meinem Kumpel zu, was zum Teufel er da mache. Er stemmt die Hände in die Hüften und ruft zurück, dass er einfach nur jemanden besuchen wolle. »Das ist doch nicht verboten, oder?«

»Da kannst du lange klopfen. Da wohnt nur ein alter Mann. Und der macht niemandem die Tür auf. Niemandem, verstehst du? Dir schon gar nicht.«

»Die alte Schreckschraube«, murmelt mein Großvater und geht zu seinem Bett.

Dankbar, dass die alte Schreckschraube meinem Kumpel nichts von Vater und mir erzählt hat, trete ich vom Fenster zurück in die Dunkelheit des Zimmers. So kann ich ihn erst sehen, als er wieder auf dem Gehweg steht. Gleich wird er bemerken, dass der Vorhang zur Seite geschoben wurde. Ich versuche, es mir vorzustellen. Ich beame mich runter und schaue mit ihm zu dem Fenster hoch, an dem ich stehe. Deshalb trete ich oben noch einen Schritt zurück, während ich unten neben ihm die Hand an die Stirn lege. Zum Glück blendet die Abendsonne.

Nach ein paar weiteren Minuten scheint er aufzugeben. Er läuft noch mal die ganze Straße auf und ab, bis er schließlich doch wieder vor Großvaters Villa steht. Dort lehnt er sich an die Beifahrertür des VW-Busses, und während er so tut, als würde er auf jemanden warten, schaut er sich das Auto an.

»Hau doch endlich ab«, flüstere ich.

»Warum lässt du ihn nicht einfach rein?«, fragt Großvater vom Bett aus. Er hat sich hingelegt.

»Du weißt, dass ich das nicht darf, Opa.«

»So ein Unsinn, Johannes! Dein Vater, also da könnt mir wirklich der Kragen …«

»Ach, Opa!«

»Ist doch wahr!«

Der etwas ramponierte Bus hat ein Kölner Kennzeichen. Das wird er sich bestimmt merken. Und ich weiß, an was sich mein Kumpel sonst noch erinnern wird: an den Tennisschläger auf der Rückbank, an den übervollen Aschenbecher und an den Riss im Stoff vom Beifahrersitz.

In dem Moment erinnere ich mich daran, wie ich mich gefühlt habe, als ich gestern in seine Straße eingebogen bin. Als ich ihn verfolgt habe und voll Vorfreude war, weil ich vielleicht einen Freund gefunden hatte, einen Kumpel, dessen Namen ich zwar nicht kannte, von dem ich aber immerhin wusste, wo er wohnt. Vielleicht hat er sich genauso gefreut, als er in meine Straße eingebogen ist. Wie ich ihn, so muss auch er mich durch die halbe Stadt verfolgt haben.

Der Tag gestern war schön. Der beste Tag seit langem. Der Junge war nett, sogar mehr als das. Aber heute sollte er nicht hier sein. Und gerade, als ich zum ersten Mal in meinem Leben an den Fingernägeln kaue und ihn zum hundertsten Mal fortwünsche, schaut er zum Fenster hoch, winkt mir zu und geht.

Es sieht nicht so aus, als würde er wiederkommen.

4

Auf Tres Hombres sind alle Lieder gut, doch eins wie Jesus Just Left Chicago habe ich noch nie gehört, so wie die Gitarre wabert, so wie der Sänger wimmert: der reine Blues – muddy water turned to wine –, was auch immer das bedeutet.

Doch La Grange ist und bleibt das beste Lied. Es wird mir nicht langweilig, auf dem Teppich vor Großvaters Plattenspieler zu liegen und es mir immer wieder anzuhören, manchmal nur dieses eine Solo nach dem ersten Refrain, meistens aber das ganze Lied. Bis mein Vater die Wohnzimmertür aufreißt und die Lautstärke herunterdreht.

»Was hörst du da überhaupt?« Er greift nach der Plattenhülle und spricht es einwandfrei aus. »ZZ Top. Wo kommt die denn her?«

»Du kennst ZZ Top?« Ja natürlich, von früher, fällt mir ein. Die Platte ist ja bereits vier Jahre alt, und er ist schließlich nicht immer so gewesen wie jetzt.

»Wo hast du die her?«, fragt mein Vater ein zweites Mal.

»Von einem Plattenladen in der Stadt.« Was für eine überflüssige Frage. »Sie ist super, oder?«

»Du sollst doch vorsichtig sein, wenn du rausgehst. Eine halbe Stunde, habe ich gesagt, mehr nicht. Geh da nie wieder hin, verstehst du?« Er schiebt mich beiseite, geht zum Plattenspieler und ratscht mit dem Tonarm über die Platte.

Ich stehe auf. »Aber warum nicht? Es ist doch nur eine Schallplatte.«

»Nur eine Schallplatte«, murmelt mein Vater und schüttelt den Kopf. »Du weißt es doch genau. Es ist zu gefährlich.« Er steckt die Platte zurück in ihre Hülle und will sie mitnehmen. Da sieht er mein Gesicht. Zum ersten Mal seit langem sehe ich ihn lächeln. Er drückt mir das Album in die Hand und tätschelt mir, wie ich dem Engel, den Kopf. »Aber leise, in Ordnung? Und morgen …« – er fährt mir durchs Haar – »sind die wieder mal dran.«

Den letzten Satz ignoriere ich. Das erhöht die Chancen, dass es nicht passiert.

Mit meinem Universum und einer 60-Minuten-Chromdioxidkassette nehme ich die Lieder auf. Ich hoffe, dass man den Kratzer, den Vater gemacht hat, nur in den Pausen hört. Doch bei einem Lied springt die Platte. Jesus just left Chicago, Jesus just left Chicago, Jesus just left Chicago – es nervt, aber es ist auch lustig. Der arme Kerl käme gar nicht mehr zur Ruhe, wenn ich nicht kurz den Tonarm anheben würde. Anschließend breche ich die kleinen Laschen an der Kassette ab, damit ich sie nicht aus Versehen überspiele, und verdrücke mich in Großmutters Zimmer.

Großvater hat hier alles so belassen, dieses Sammelsurium von alten Erinnerungsstücken, mit denen ich groß geworden bin. Die lange, schmale Muschel von einer Reise an die Côte d’Azur, ein halbrunder Haarkamm, dem eine Zacke fehlt, ein silbernes Seifendöschen aus Salz­burg: Großmutter ist irgendwie immer noch da. Manchmal klopft Großvater, kommt herein und betrachtet den Spitzweg – ein an der Wand hängendes Bild von einer Flusslandschaft mit Burgruine. Dann ist er ganz still. Vor diesem Bild haben sie sich kennengelernt.

… in einer Galerie, er als Kunde mit Interesse für französische Impressionisten, die nicht als entartet galten, sie auf der Suche nach Kunstpostkarten für ihre Sammlung. Man kam sich näher. Sie war wunderschön. Man ging Kaffee trinken. Er war so geistreich. Und so wurde der Spitzweg zu ihrem Kompromiss, wie mein Großvater immer noch sagt. Zu einer Übereinkunft, wie meine Großmutter es genannt hat …

Ich stelle den Universum auf das Beistelltischchen, auf dem auch die Fotos von unserer Familie stehen. Ich drücke auf Start und höre weiter. Flüsternd singe ich A how how how, ich hauche Have mercy, brülle lautlos Well, I hear it’s fine, if you got the time. Großmutter hätte sich im Grab umgedreht. Aber nicht, um es mir zu verbieten, sondern um mich zu verteidigen, damit ich endlos weiterhören könnte, selbst wenn ich mir sicher bin, dass ihr meine Musik überhaupt nicht gefallen hätte.

Auf der grünen Hülle sind drei seltsam überbelichtete Fotografien abgebildet. Jedes zeigt ein Bandmitglied, zwei tragen Cowboyhüte, der Dritte sitzt mit wilden dunklen Haaren auf einer merkwürdig gewölbten Mauer. Billy Gibbons, Dusty Hill und Frank Beard. Ihre Gesichter sind kaum zu erkennen. Die Qualität der Bilder ist ziemlich schlecht.

Unsere Familienfotos auf dem Tischchen hat ein richtiger Fotograf aufgenommen: eins mit Mutter aus einer glücklichen Zeit, eins mit mir – ›der kleine Bub‹, so hat Großmutter mich immer genannt – und ein altes von meinem Großvater, jung, mit ausrasiertem Nacken, nachdenklich die dichten Augenbrauen zusammengezogen, damals noch rauchend. Ich mag das Bild, besonders sein Grübchen am Kinn. Wir sehen uns ähnlich, heißt es in der Familie, nur dass ich nicht rauche.

Mein Vater raucht hingegen eine nach der anderen. Das Bild von ihm steht aber schon länger nicht mehr hier. Ich finde es in der Nachttischschublade. Ich sammle die anderen Rahmen ein und lege sie dazu. Dann schiebe ich am Universum den Lautstärkeregler weiter hoch und tue den Rest des Tages nichts anderes, als die Kassette vor- und zurückzuspulen. Ich perfektioniere mein Luftgitarrenspiel und lerne die Liedtexte auswendig. Was sie bedeuten? Keine Ahnung. Aber das ist auch egal. ZZ Top macht einfach nur Musik. Und das verdammt gut.

Was ein paar Zentimeter ausmachen können, das begreife ich wieder einmal, als ich in den Spiegel schaue. Von Mal zu Mal wird mein Vater besser, wenn es darum geht, mir den biedersten Haarschnitt zu verpassen, den die Welt je gesehen hat. Es stimmt nicht, wenn man sagt, dass Kleider Leute machen. Es sind die Frisuren.

Doch einem Friseur kannst du vorher sagen, wie du es haben willst. Baut er Mist, gehst du beim nächsten Mal einfach woandershin. Bei deinen Eltern geht das nicht. Wenn dir deine Mutter oder dein Vater die Haare schneidet, kannst du dich nicht dagegen wehren. Deswegen werde ich wieder mindestens eine Woche warten müssen, bis ich langsam, ganz langsam anfange, wieder normal auszusehen.

»Fegst du die Haare bitte auf?«, sagt Vater zu mir und geht aus dem Badezimmer. Das ist auch sowas: Eltern stellen keine Fragen, denen du antworten kannst. Sie äußern keine Bitten, denen du dich verweigern kannst. Eltern geben Befehle, vielleicht schön verpackt, doch nicht verhandelbar.

Abends nach dem Essen schauen wir im Wohnzimmer fern. Großvater, Vater und der frisch gestutzte Sohn sitzen auf den Sesseln vor dem riesigen alten Schwarz-Weiß-Apparat. Geht Vater hinaus, stellt Großvater die Lautstärke hoch. Kommt Vater wieder herein, dreht der den Ton leiser. Dieses Spiel können sie den ganzen Abend über so weitermachen. Am Ende würden sie beide mit Wut im Bauch ins Bett gehen.

An diesem Abend schauen wir einen Western mit John Wayne. »Sattle kein Pferd, auf dem du nicht reiten kannst«, sagt der mitten im Film zu einem anderen, jüngeren Cowboy und drückt ihm die Zügel eines Maulesels in die Hand. Daraufhin frage ich meinen Vater, ob ich eine Gitarre haben könnte.

»Du?!«

»Ja. Eine E-Gitarre.«

»Du kannst doch gar nicht spielen.«

Ich stelle mich vor ihm hin und zeige es ihm auf meiner Luftgitarre. Ich merke zu spät, wie lächerlich das für ihn aussehen muss. Selbst wenn Eltern sich ihre Kinder jünger denken, als sie in Wirklichkeit sind, reduziere ich mich gerade selbst um die Hälfte. Großvater aber lacht. Er versucht sogar, mich zu imitieren, zupft aber die nicht vorhandenen Saiten mit der falschen Hand.

»Was ist das denn für ein Mist, Junge?«, sagt Vater zu mir, und zu Großvater: »Also von mir hat er das nicht.«

»Lass meine Tochter aus dem Spiel«, antwortet der.

Das ist alles, was an diesem Abend geredet wird. Die Gitarre ist schnell vergessen. Mein achtjähriges Ich sitzt wieder auf seinem Sessel und ärgert sich. Der junge Cowboy hätte am Ende des Films dann doch ein richtiges Pferd reiten dürfen, aber er lehnt ab. Siehst du? So schaut Vater mich an. Er und John Wayne – zwei völlig unterschiedliche Menschen und doch so gleich. Großvater und ich sind hingegen nur zwei Statisten, die nun aufstehen und ins Bett gehen. Dabei klopft mir Großvater auf die Schulter und murmelt zum vielleicht hundertsten Mal: »Ach, wenn deine Mutter doch hier wäre!«

Meine Mutter ist die Tochter meines Großvaters. Früher hat sie sich über seine altmodischen Ansichten lustig gemacht, jetzt lebt sie in Indien. Hätte sie mich damals mitgenommen, würde ich jetzt wie sie rotgefärbte Kleidung tragen, neben ihr in einem Aschram im Schneidersitz »Ohm« rufen und mein Karma suchen. Meine Haare wären lang, und ich würde nicht mehr an den Fingernägeln kauen. Ein guter Kompromiss. Aber dann hätte ich wahrscheinlich nie ZZ Top kennengelernt.

Warum sich meine Mutter so verändert hat, warum aus der braven Tochter eines Professors eine Frau geworden ist, die erst aufmüpfig wurde und jetzt nach einem anderen Sinn des Lebens sucht, warum sie uns verlassen hat, warum sie sich einen roten Punkt auf die Stirn gemalt hat – das alles habe ich nie richtig verstanden.

»Sie kommt mit der Realität nicht mehr zurecht«, hat Vater mir damals – kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag – am Flughafen erklärt. Und während ich sie in der Menschenmenge verschwinden sah, führte er alles an, was in seinen Augen an der Realität schlecht ist: der Kapitalismus, die Unterdrückung der Arbeiterklasse, der Radikalenerlass – vor allem der – und die fehlende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

»Immer noch sitzen Nazis in den Parlamenten, in den Ministerien, sogar in den Gerichtssälen. Und auch in der Industrie haben sie das Sagen.« Sie würden, so Vater – wie immer wütend, wenn er darüber spricht –, die Gesellschaft weg von dem einzigen Weg bringen, der für ihn denkbar sei: der Weg des Sozialismus, die Befreiung der Arbeiterklasse, der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems. Nur was das mit meiner Mutter zu tun haben soll, habe ich nicht begriffen.

Nach ihrem Abflug habe ich eine Zeitlang zwei Arten von Postkarten bekommen, Postkarten von meinen Großeltern aus dem Urlaub im Allgäu – Lieber Johannes, das Wetter ist wunderbar, wir wandern jeden Tag über Wiesen und durch Wälder. Und das Essen ist einfach köstlich! – und Postkarten aus Pune – Lieber Johnny, das Wetter ist wunderbar, ich sitze den ganzen Tag am Strand und meditiere. Und das Essen, sie machen hier alles ohne Fleisch, ist einfach köstlich!

Ich habe nie zurückgeschrieben, und seit April, nach dem Mordanschlag auf Siegfried Buback, sind auch keine Postkarten mehr gekommen. Als wir damals zu Großvater gezogen sind, war meine Großmutter bereits ein paar Wochen tot. Da Vater keinen Nachsendeantrag gestellt hat und niemandem, nicht einmal meiner Mutter, gesagt hat, wo wir jetzt wohnen, haben wir sowieso keine Post mehr bekommen. Oft liege ich in der Nacht wach und denke an die Nachrichten, die mich nun nicht mehr erreichen können.

Was würde sie mir schreiben? Hätte sie mir irgendwann erklärt, warum sie wirklich weggegangen ist? Dass sie mit der Realität nicht mehr klarkam, das glaubt nur Vater. Politik hat sie nämlich nie interessiert. Vaters lange Monologe haben sie einfach nur genervt.

Eine Woche später ziehen wir aus.

5

»Warum gehst du nicht mal raus?« Großvater zum Ersten.

»Wasch dich doch mal.« Großvater zum Zweiten.

»Johannes! Diese fürchterliche Musik!« Dabei behauptet er immer, dass er schwerhörig ist.

Und überhaupt: Eine Woche lang zucke ich bei allem, was mein Großvater zu mir sagt, immer nur mit den Schultern. Ich weiß es ja selbst: Seitdem ich ZZ Top höre, ist mit mir kaum noch was anzufangen. Einmal probiere ich meine alten Kassetten aus, doch gleich das erste Lied nervt. Dann, eines Morgens, Vater ist schon weg, merke ich, dass ich anfange, mit mir selbst zu reden.

Daraufhin wasche ich mich. Ich ziehe mich an und gehe tatsächlich hinaus in diese Welt, die Vater Realität nennt und beschimpft. Ich habe gedacht, ich komme ohne sie zurecht, aber genau das ist das Problem mit dem Denken: Wenn du denkst, denkst du, du denkst dir das alles schon richtig zurecht. Falsch gedacht, denn natürlich hat sie sich in den vergangenen Tagen nicht verändert. Ich bin ein anderer geworden. Jesus just left Chicago – dreimal hintereinander.

Im stillen Frankfurt ist er jedenfalls nicht. Die Stadt ist verlassen, als hätte man alle Menschen weggebeamt. Jeder ist in den Urlaub gefahren, ich aber laufe in langen Hosen und einem grauen Sweatshirt durch die sommerheißen Straßen und schwitze. Begegne ich doch mal jemandem, wechsele ich die Straßenseite. Mein Kopf ist voll mit Texas und mit Blues. Have mercy.

Ich bin so richtig asozial, und das gefällt mir. Wenn mein Sweatshirt eine Kapuze hätte, ich würde sie mir über den Kopf ziehen – über den Kopf mit dem furchtbaren Haarschnitt, in dem alle Lieder, die ich gehört habe, abgespeichert sind. Been waiting for the bus all day.

Ich liebe meinen Universum, aber wenn ich durch die Straßen laufe, brauche ich ihn nicht. Die Musik ist in mir, und ich weiß, wo der Startknopf ist, selbst wenn die Leute sich umdrehen, wenn ich summe, selbst wenn sie sich abwenden, wenn ich mitsinge. And you know what I’m talkin’ about.

Ich gehe am Palmengarten vorbei und besuche mein Versteck im Botanischen Garten, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Ich laufe die Bockenheimer Landstraße entlang und erreiche – was für ein Zufall – den Platz, auf dem ich diesen Jungen kennengelernt habe. An die Mauer gelehnt, überlege ich, was ich sagen könnte, würde er jetzt kommen und mich fragen, was ich hier tue. Just let me know if you wanna go. Ich würde ihm auf meiner Luftgitarre die ersten Griffe von La Grange vorspielen – nur besser und schneller, als wir es damals zusammen gemacht haben. Aber mein Kumpel ist ja im Urlaub.

Zwei Stunden bleibe ich auf dem Platz, sehe mir die vorbeilaufenden Menschen an, kaue mir die Fingernägel wund und schaue zu, wie man ein großes, geschwungenes und gelbes M an dem Hamburger-Restaurant anbringt, bis ich es vor Langeweile nicht mehr ertragen kann.

Um zwei Uhr macht der Plattenladen auf.

»Nimm doch einfach alle, wenn du dich nicht entscheiden kannst.«

Ich grinse. Was soll er als Besitzer eines Plattenladens auch sonst sagen? Trotzdem kaufe ich die Schallplatten, Led Zeppelin und Deep Purple mit dem Geld, das ich dabeihabe, und auf Kredit eine neue, unbekannte australische Band namens AC / DC.

»Du bist auf dem richtigen Weg«, sagt der Langhaarige und schenkt mir – als wäre ich bereits Stammkunde – noch eine Single. Love Is The Drug von Roxy Music. Sie hat ein ziemlich billig aussehendes Cover. »Vielleicht gefällt es dir ja.«

Ich stecke die Platten ein, aber anstatt nur lässig zu brummen und es als Selbstverständlichkeit zu nehmen, bedanke ich mich artig für das Geschenk.

»Dad!«, höre ich von irgendwoher eine Stimme rufen.

»Was ist?« Der Langhaarige grinst mich an und flüstert: »Pass auf, jetzt schimpft sie wieder.«

»Du hast doch nicht schon wieder was verschenkt?«

Er grinst noch breiter. Ich lächele und gehe zur Tür. »Eine Investition in die Zukunft«, höre ich ihn noch sagen.

Während ich nach Hause gehe, schrillen Polizeisirenen durch die Stadt. An der Miquelallee, die ich überqueren muss, fahren unzählige Streifenwagen mit Blaulicht an mir vorbei. Man richtet sogar eine Straßensperre ein. Es ist etwas passiert, aber was, interessiert mich nicht. Schließlich bin ich jetzt der Besitzer von drei neuen Langspielplatten und einer Single. Ich kann es kaum erwarten.

»Wo bist du gewesen?« Mein Vater wartet die Antwort gar nicht erst ab. Er zieht mich hinein in die Küche und sagt, ich solle meine Sachen packen. »Aber die Platten bleiben hier!« Er selbst schleppt bereits ein paar Taschen hinaus zum VW-Bus.

Ein Mann in einem spießigen Anzug und ein Junge, der einen Tennisschläger in der Hand hält – so fahren wir mit dem Bus durch die Gegend. Den Tennisschläger soll ich schön hoch vor mich halten, damit ihn jeder sehen kann. Vater selbst trägt Autofahrerhandschuhe. Er raucht Kette und sucht vor allem die kleinen Straßen, die uns im Zickzack durch die Stadt führen. Nachdem wir problemlos die erste Straßensperre passiert haben, geht mir ein Licht auf. Ich bin sein Alibi.

Welcher Polizist würde schon einen Vater anhalten, der mit seinem Sohn auf dem Weg zum Tennistraining ist? Nie im Leben würde man auf die Idee kommen, dass mein Vater verdächtig sein könnte. Irgendwann überqueren wir den Fluss. Wir fahren an einem riesigen Krankenhaus vorbei, unter einer Autobahn hindurch und kommen schließlich zu einem Schild, auf dem der Name des Stadtteils steht.

Schwanheim.

Das hört sich schön an. Das will ich zu meinem Vater sagen, aber er schaut so verbissen auf die Straße, dass ich es bleiben lasse. Bei einem großen Hochhauskomplex, in dessen Tausenden von Fenstern sich die Abendsonne spiegelt, fahren wir in die Tiefgarage. Im Fahrstuhl drückt mein Vater auf den Knopf für die vierzehnte Etage.

Ich weiß nicht, was mich erwartet. In den Monaten bei Großvater habe ich mich wohlgefühlt, fast wie zu Hause, fast in Sicherheit – auf jeden Fall anders als zuvor … und anders als jetzt.

»Die Villa ist nicht mehr sicher«, sagt mein Vater zwischen der fünften und sechsten Etage. »Fürs Erste bleibst du oben in der Wohnung. Sie hat einen Balkon. Das muss reichen.« Ein paar Stockwerke weiter murmelt er noch etwas: »Ich habe damit nichts zu tun, Johnny. Das musst du mir glauben.«

Ich nicke. Aber ich habe keine Ahnung, wovon er spricht.

Die Wohnung hat tatsächlich einen Balkon, aber es wohnt auch schon jemand hier. Als uns eine Frau die Tür öffnet, sehe ich als Erstes den verschlafen aussehenden Blick, den ich auch von dem Langhaarigen aus dem Plattenladen kenne. Dann erst bemerke ich, dass sie unter dem dünnen Morgenmantel nichts anhat. Für einen Moment raubt mir das den Atem, während Vater sich einfach an ihr vorbeidrängt und »Komm jetzt!« sagt.

Nach meiner Mutter ist Heidi die zweite nackte Frau in meinem Leben. Doch während ich Mutter immer nur zufällig so gesehen habe, läuft Heidi die ganze Zeit in ihrem offen stehenden Morgenmantel herum. Manchmal ist sie sogar ganz nackt, zum Beispiel morgens am Küchentisch, wenn sie ihren Kaffee trinkt. Immer lässt sie die Klotür offen. Nur ihr Zimmer ist tabu, ansonsten bekomme ich alles, was sie tut, hautnah mit.

Eine Woche lang, während der man fieberhaft die Mörder von Jürgen Ponto sucht, verfolge ich Heidis schlanken Körper mit meinen Blicken. Sie erinnert mich an etwas, was ich vor kurzem erst gesehen habe, doch je länger und öfter ich sie beobachte, umso normaler wird ihre Nacktheit für mich. Ich hingegen bin nur Luft für sie, einer, der sie anstarrt, ohne selbst ein Wort sagen zu können, einer, den sie anschaut, ohne ihn wahrzunehmen. Wir leben nebeneinander in der Wohnung, teilen uns das Essen, das Vater besorgt, aber sonst?

So gut wie jeden Tag verlässt mein Vater die Wohnung, aber meistens nur für kurze Zeit, ein, zwei, drei Stunden vielleicht. Er geht mit einem Paket weg und kommt irgendwann – man weiß aber nie genau, wann – mit einem anderen wieder zurück. Heidi und ich sitzen währenddessen auf dem Balkon, ich schweigend und komplett angezogen in einer schattigen Ecke, sie nackt und ausgestreckt auf einer Liege, selbst wenn es mal regnet. Es ist, als ob sie keinen einzigen Sonnenstrahl verpassen will.

Und wenn sie da so liegt, schließt sie meistens die Augen. Dann kann ich sie noch einfacher anschauen. Sie ist am ganzen Körper braun, fast dunkelbraun sogar. Selbst unter den Achseln. Dort sind die Haare blond, wie auch ihre Schamhaare, und nicht mit Henna gefärbt. Sie redet nicht. Vielleicht kann sie es auch nicht, keine Ahnung. Es ist mir egal.

Einmal, Vater ist weg, schläft sie auf dem Balkon ein. Sie schnarcht leise. Nach einiger Zeit beuge ich mich aus meiner Schattenecke zu ihr. Ich lasse meine Hand über ihrem Busen schweben, und wenn sie einatmet, berührt ihre Brustwarze fast meine Handfläche. Ich beuge mich näher zu ihr. Wie auch die Wohnung riecht ihre Haut nach Patschuli. Sie sieht seltsam aus, nicht weich und zart, sondern eher wie Leder. Kurze Härchen flimmern darauf, winzige blaue Äderchen schimmern durch sie hindurch.

Ich ziehe die Hand fort. Heidi schläft einfach weiter.

6

Ein paar Tage später hat sich die Lage beruhigt. Und nachdem Susanne Albrecht, die Schwester von Jürgen Pontos Patentochter, ein Bekennerschreiben veröffentlicht hat, wird auch mein Vater wieder etwas gelassener. Der Brief ist in allen Zeitungen abgedruckt. »zu ponto und den schüssen, die ihn jetzt in oberursel trafen, sagen wir, dass uns nicht klar genug war, dass die typen, die in der dritten welt kriege auslösen und völker ausrotten, vor der gewalt wenn sie ihnen im eigenen haus gegenübertritt fassungslos stehen.«

Auch die Polizei wird zitiert: Susanne Albrecht und die anderen beiden Terroristen hätten Jürgen Ponto entführen wollen, ihn dann aber, als er sich gewehrt habe, erschossen. Auf den Zeitungsfotos sieht er ganz nett aus. Aber das behalte ich für mich.

Mein Ausgehverbot wird gelockert. Ich bin froh, endlich aus der Wohnung rauszukommen, und sei es nur für ein paar Stunden. Die kleinen Punkte, denen ich vom Balkon aus zugesehen habe, wie sie zur Straßenbahn laufen, ihre Einkaufstaschen schleppen oder Hunde Gassi führen, werden nun wieder zu normal großen Menschen. Manche sind sommerlich gekleidet. Andere tragen dasselbe wie das ganze Jahr über auch. Auf jeden Fall sind sie hier in Schwanheim, das trotz der Hochhäuser wie ein Dorf wirkt, anders als die Menschen im Villenviertel oder in der Innenstadt. Auch wenn sie es nicht wissen, sind sie es jetzt, in deren Mitte wir uns verstecken. Deswegen muss ich so tun, als gehörte ich zu ihnen. Aber eigentlich will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Ich bin anders.

Seltsamerweise haben wir nun reichlich Geld, und Vater zeigt sich großzügig. Im Plattenladen bezahle ich meine Schulden. Ich streife durch Frankfurt und lerne die Stadt auch von der anderen Seite des Flusses aus kennen. Gleich bei meinem ersten Ausflug gehe ich auch zu Großvaters Villa, um mir die Platten anzuhören, die ich habe zurücklassen müssen. Die Besuche bei ihm werden zur Gewohnheit, selbst wenn Schwanheim weit weg ist. Je schwüler der August wird, umso verwilderter ist der Vorgarten. Das Moos auf der Eingangstreppe ist ausgetrocknet, die Hintertür zur Küche quietscht jetzt genauso wie die Klappe am Briefkasten.

Wahrscheinlich sind es seine tauben Ohren, jedenfalls merkt Großvater oft nicht, dass ich da bin. Dass ich im Wohnzimmer meine Scheiben anhöre. Dass ich mitsinge, manchmal mittanze, manchmal aber auch einfach nur auf dem Boden liege und mich von der Musik einfangen lasse. Natürlich nehme ich mit meinem Universum alles auf, um es mir auch in Schwanheim anhören zu können. Aber den wahren Musikgenuss erlebe ich nur vor dem Plattenspieler in Großvaters Wohnzimmer.

Eines Tages liege ich mal wieder auf dem Teppich und habe das Gefühl, ich könnte meinen Körper verlassen und mich aus einer Zimmerecke betrachten. Ich denke über das seltsame Leben nach, das ich führe, also das dieser Junge dort auf dem Boden führt, der in zwei Wochen sechzehn wird. Die braven, nichtssagenden Klamotten, der biedere, immer wieder gestutzte Haarschnitt – immerhin habe ich mich geweigert, diese blöde Brille aus Fensterglas aufzusetzen.

»Mich sucht niemand«, habe ich damals zu Vater gesagt, und da er wusste, dass ich im Recht bin – wer außer meiner Mutter in Indien sollte mich schon vermissen? –, hat er sich die Brille einfach selbst aufgesetzt.

Die Leute von früher, seine Freunde und die Arbeitskollegen aus der Schule, würden ihn heute aber sowieso nicht mehr wiedererkennen. Aus dem Hippie mit dem blonden Lockenkopf und den bunten Klamotten ist jemand geworden, der dem netten Herrn Kaiser von der Hamburg-Mannheimer aus der Fernsehwerbung ähnlich sieht. Das habe ich einmal zu ihm gesagt. Er fand es aber überhaupt nicht witzig. Seinen Humor hat mein Vater nämlich auch verloren. Das geschah an dem Tag, an dem er sich zum ersten Mal die Haare schwarz färbte. Seitdem ist er ernst geworden. Alles ist ernst geworden, viel zu ernst.

»Mach dir und dem Jungen das Leben nicht so schwer.« Das war nach Lass meine Tochter aus dem Spiel! der zweite von den beiden Sätzen, die mein Großvater in der Zeit, die wir bei ihm waren, zu seinem Schwiegersohn gesagt hat. Dem darauffolgenden Monolog über das Schlechte in der Welt, das nur durch große Veränderungen aus dem Weg geschafft werden könnte, hat Großvater stoisch zugehört, sich dann den Finger an die Stirn gehalten und abgedrückt.

Ganz ehrlich? Trotz der Musik, trotz Heidi und ihrer nackten Lederhaut, trotz Großvater, ja trotz allem, was ich aus diesen langen, sich dahinziehenden Tagen herauszuholen versuche, merke ich, wie schrecklich der Sommer ist. Dass es mir beschissen geht. Dass man mich aus der Wirklichkeit verbannt hat. Bleib in deiner Welt, Johnny, hat man zu mir gesagt, und ich habe mich daran gehalten. Doch in meiner Welt fühle ich mich wie der Frosch im immer heißer werdenden Wasser, der nicht herausspringt, sondern stirbt. Ja, ich bin der verdammte Frosch! Ich habe mich langsam kochen lassen. Wie sonst hätte ich auf die Idee kommen können, dass Jürgen Ponto nett aussieht? Schließlich wird er nie mehr so aussehen. Er ist von Menschen, mit denen mein Vater zu tun hat, ermordet worden.

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