Flokati oder mein Sommer mit Schmidt - Martin Schult - E-Book

Flokati oder mein Sommer mit Schmidt E-Book

Martin Schult

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Beschreibung

»Als das mit Frau Schellack passiert ist, waren mir Mädchen zwar nicht egal, aber sie gehörten der gleichen Gruppe von Menschen an wie meine Schwester. Und wenn ich schon das zwischen David Cassidy und meiner Schwester nicht verstehen konnte, wie sollte ich dann überhaupt den Rest begreifen?« Es ist der WM-Sommer 1974. Der 12-jährige Paul lebt in behüteten Verhältnissen: Der Vater ist ein fußballverrückter Friseur, der sich durch Zettels Traum kämpft, die Mutter eine emanzipierte Linke, die mit dem taxifahrenden RAF-Sympathisanten Bruder Kolja lange, ominöse Ausfahrten unternimmt. Seine Schwester redet nur in Abkürzungen. Mit seinem besten Freund Boris träumt sich Paul ins Weltall und stromert durch die Nachbarschaft. Dort führt der seltsame Emil Bartoldy seine Schildkröte spazieren. Als am Ende des Sommers die Ehe der Eltern zerbricht und seiner Freundin, der alten Nachbarin Frau Schellack, etwas Schreckliches passiert, flüchtet Paul, um sich final der Welt zu stellen. Martin Schult erzählt einfühlsam und mit Liebe zum Detail eine Geschichte über Freundschaft, Schuld und einen unvergesslichen Sommer. »Martin Schult hat einen rasanten, warmherzigen und unwiderstehlich witzigen Debütroman geschrieben. Diese Coming-of-Age-Geschichte zwischen Fußball, Anarchie und Arno Schmidt winkt aus dem Frankfurter Jahr 1974 dauernd der Gegenwart zu. Dieser Flokati kann fliegen!« Felicitas von Lovenberg

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Das Buch

»Ich habe ein Verbrechen begangen. Ich bin schuld daran, dass jemand gestorben ist. Die Geschichte ist wahr. Und leider lässt sich die Wahrheit nicht einfach wegradieren. Sie ist nicht mit Bleistift geschrieben, sondern mit Blut … oder mit einem Kugelschreiber. Sie bleibt, egal was man tut, man kann sie allerhöchstens verdrängen.«

Der 12-jährige Paul lebt in behüteten Verhältnissen: Der Vater ist ein fußballverrückter Friseur, der sich durch Zettels Traum kämpft, die Mutter eine emanzipierte Linke, die mit dem taxifahrenden RAF-Sympathisanten Bruder Kolja ominöse Ausfahrten unternimmt. Seine Schwester spricht nur in Abkürzungen. Mit seinem besten Freund Boris träumt sich Paul ins Weltall und stromert durch die Nachbarschaft, wo der seltsame Emil Bartoldy seine Schildkröte spazieren führt. Am Ende des Sommers zerbricht die Ehe der Eltern und der Nachbarin Frau Schellack passiert etwas Schreckliches. Getrieben von Schuldgefühlen beschließt Paul, reinen Tisch zu machen.

Der Autor

Martin Schult, Jahrgang 1967, studierte Afrikanistik und Ethnologie in Frankfurt und Berlin. Nach mehreren Aufenthalten in West- und Ostafrika und Lehrtätigkeiten in Berlin und Zürich, arbeitet er seit 2004 beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Er ist der stellvertretende Leiter des Berliner Büros und betreut den Friedenspreis. Martin Schult lebt mit seiner Familie in Berlin.

MARTIN SCHULT

FLOKATI

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mein Sommer mit Schmidt

ROMAN

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-1325-2

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016Umschlaggestaltung: semper smile Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © ClassicStock / Masterfile; nito / Shutterstock

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Alle Rechte vorbehalten

Für Birgit

Einst fand Herr nütz ein lich,er nahm es mit und freute sich,warf Pünktchen weg, das u war bloß,das lich lief fort, Herr nutz war’s los.

(Paul Neumann)

Dienstag, 15. Oktober 1974

Sehr geehrte Frau Ludwig!

»Nicht mit der Tür ins Haus fallen.« Sie erinnern sich sicher noch daran, dass Sie das zu uns gesagt haben, als wir einmal als Hausaufgabe einen Brief schreiben sollten. Denn es sollte kein normaler Brief sein, so wie »Liebe Oma, wie geht es dir, mir geht es gut«. Nein, wir sollten uns überlegen, wie man jemanden mit einem Brief von etwas überzeugen kann, das der gar nicht will. Meine Kleine Oma hätte das Intrige genannt, und ihr wäre sicherlich irgendein passendes Sprichwort dazu eingefallen. Und die Böse Omi vermutet sowieso hinter jeder Postkarte, die ich ihr schreibe, ein Komplott.

Ich habe meinen Brief an Breschnew geschrieben, den Chef von der Sowjetunion. Schaffen Sie die Atombomben ab, habe ich gefordert, ganz direkt. Ohne Hintertür.

Sie haben geseufzt.

»Als Elfjähriger kann man das natürlich so machen, kindliche Ungeduld hat ihren Reiz, Paul, gerade bei einem solchen Thema. Aber nimmt man dich dann wirklich ernst?«

Damals habe ich mit den Schultern gezuckt. Jetzt frage ich mich, wie dieser Brief an Sie bloß beginnen soll. Breschnew oder Hintertür?

Außerdem: Ich bin schon zwölf. Fast dreizehn.

Und ich stecke in Schwierigkeiten.

Wenn Sie das hier lesen, werden Sie zum Teil schon wissen, was passiert ist. Damit meine ich, dass ich nicht in die Schule gegangen bin. Sie denken, ich sei krank. Aber das ist gelogen. Seit gestern sitze ich nämlich hier unten. Im Keller. Direkt bei der Heizungsanlage. Ich bin auf Tauchstation, allerdings nur am Vormittag. Danach gehe ich nach oben und tue so, als wäre alles normal. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand merkt, dass Mutters Unterschrift gefälscht ist.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich nicht gleich ganz weggelaufen bin. So, wie man das normalerweise tut: Tasche packen, nachts aus dem Fenster klettern, mit dem Bus, mit dem Zug oder per Anhalter aus der Stadt raus, in Scheunen schlafen, vor Hunden wegrennen, bei einem Bauern unterkommen, der einen als Knecht anstellt, später dann die Tochter des Bauern heiraten, den Hof übernehmen und als reicher Mann und verlorener Sohn zurückkommen, und die Mutter, Sie wissen schon, die nimmt einen dann in die Arme.

Ich bin tatsächlich einmal weggelaufen, als kleines Kind, aber das ist völlig schiefgegangen. Man braucht nämlich ein Ziel. Man sollte unbedingt wissen, wohin man will. Das habe ich damals nicht gewusst … und heute auch nicht.

Gestern habe ich zuerst vorne im Keller auf einer Holzkiste gesessen, die meiste Zeit im Dunkeln. Es war echt mühselig, jede Minute auf den Lichtschalter zu drücken. Eine Schaltuhr für ein Kellerlicht zu benutzen, ist so ziemlich der größte Unsinn, den man sich vorstellen kann, und ich war nahe daran, das Ganze sein zu lassen. Dann, als ich wieder einmal den Lichtschalter gedrückt hatte, bemerkte ich zufällig, dass weiter hinten, in der Eisentür zum Heizungskeller, ein Schlüssel steckte.

Früher ist der Raum der Luftschutzkeller im Haus gewesen, kurz »LSK«, das steht auch an der Tür. Während des Zweiten Weltkriegs haben sich hier die Mieter versteckt. Für die hat man in Schnörkelschrift »Ruhe bewahren« an eine Wand geschrieben. Aber dann haben die Amerikaner das Haus doch nicht bombardiert.

Ich habe mir den Keller sofort genauer angeschaut. Ein bisschen gruselig war es schon, sich vorzustellen, wie die Menschen hier unten gesessen haben und bei jeder Explosion zusammenzuckten. Aber trotzdem: Der Keller sah ziemlich in Ordnung aus, ein bisschen muffig vielleicht, aber wegen des Heizkessels schön warm. Das perfekte Versteck. Es gibt ein eigenes, unglaublich grelles Neonlicht mit einem normalen Schalter, eine Steckdose und sogar eine Toilette. Sie hat zwar kein Wasser. Aber das kann ich vom Wasserhahn gleich neben der Kellertreppe holen.

Und wissen Sie, was ich gemacht habe? Ich habe heimlich aus unserer Garage einen Eimer geholt und gleich auch noch die Stehlampe und den Sessel vom Großvater – Dinge, die wir seit seinem Tod dort lagern. Und natürlich seinen Schreibmaschinentisch. Total praktisch! Ich habe ihn auf meine Größe heruntergekurbelt, und jetzt sitze ich an ihm und schreibe in dieses Heft. Folgendes habe ich mir überlegt: Ich will ein paar Vormittage hier unten bleiben und aufschreiben, was passiert ist. Im Gefängnis werde ich das nicht tun können. Stifte, Gürtel und Schnürsenkel sind dort verboten. Man könnte sich ja was antun.

Tja. Da bin ich also wirklich bei der Frage aller Fragen angelangt, die ich mir jetzt stellen würde, wenn ich Sie wäre: Was hat Paul eigentlich getan?

Ich habe ein Verbrechen begangen, Frau Ludwig. Ich bin schuld daran, dass jemand gestorben ist.

Ich sehe vor mir, wie Sie jetzt seufzen. Sicher denken Sie, wieder so eine erfundene Geschichte von Paul, warum nur muss er immer übertreiben? Aber das stimmt nicht. Die Geschichte ist wahr. Und leider lässt sich die Wahrheit nicht einfach wegradieren. Sie ist nicht mit Bleistift geschrieben, sondern mit Blut … oder mit einem Kugelschreiber. Sie bleibt, egal was man tut, man kann sie allerhöchstens verdrängen.

Das ist mir nach den Sommerferien auch ganz gut gelungen. Ich habe wirklich geglaubt, dass alles wieder in Ordnung kommt. Aber dann, in den Herbstferien in Österreich, kam die Frage nach der Schuld wieder hoch. Ganz plötzlich. An dem Tag, als wir in die Kirche gegangen sind …

»Nichts in der Welt passiert durch Zufall, denn Er hat Seine Finger im Spiel!«

… ich habe in einer der hinteren Reihen gesessen und aufgehorcht. Es war der Pfarrer, der das mit dem Zufall und den Fingern gesagt hat, ein vollkommen schwarz gekleideter Riese mit einem kleinen Kopf und Igelfrisur. Er war mit großem Eifer bei der Sache …

»Nichts, was in der Welt passiert, ist Schicksal, denn Er ist es, der die Geschicke lenkt!«

… das mit dem Eifer hat unser Tiroler Pensionswirt behauptet. Er hat uns mit seinem alten Opel Admiral vor der Kirche abgesetzt. »A Zugreister. Aus Halberstadt. Spricht nur Hochdeitsch«, hat er über den Pfarrer gesagt, und Mutter hat sich zu uns umgedreht. »Euer Vater hätte jetzt gesagt, Jürgen Sparwasser kommt auch aus Halberstadt.« Und meine Schwester hat geantwortet, wie könnte jemand, der mit ihm – also Vater – verwandt sei, das wohl jemals vergessen …

»Zufall und Schicksal, sie sind gottgewollt.«

… ich hatte nicht mitkommen wollen. Der Berg ruft. Haha! Aber so war es wirklich. Draußen rauschten die Bäche, und die Wälder waren voller Geheimnisse! Am Tag zuvor hatte ich eine Höhle entdeckt, und wegen der Taschenlampe, mit der ich sie erforschen wollte und die in meiner Hosentasche steckte, konnte ich kaum laufen. Außerdem auf einer harten Bank sitzen müssen, noch dazu bei bestem Wetter! Meine Mutter hat jedoch darauf bestanden. Die Religion würde in dieser Gegend nun mal zum Leben dazugehören, und wir wären ja schließlich nicht nur da, um Pilze zu sammeln.

So saß ich in der Kirche fest, und es war dann erst einmal gar nicht so übel, auch wenn wir eigentlich nicht gläubig sind. Besonders das viele Singen gefiel mir. Auf das ständige Aufstehen und Hinsetzen hätte ich verzichten können, aber die Pause, die der Pfarrer dann machte, fand ich beeindruckend. Die Leute hielten den Atem an. Alle waren gespannt, wie es weitergehen würde. Ich auch …

»Er macht uns die Welt, wie sie Ihm gefällt.«

… ich musste mich verhört haben! Meine Schwester neben mir gluckste. Mutter zischte sie an. Ich war von der Holzbank aufgesprungen. Meine Schwester puffte mir in die Rippen. Sie hat es nicht kapiert, aber Sie, Frau Ludwig, verstehen sicher, warum ich mich nicht wieder hinsetzen konnte. Diesen Satz hat sich nämlich der Pfarrer eindeutig nicht selbst ausgedacht. Fast alle, die dasaßen, waren uralt, und bestimmt hatten sie noch nie etwas von Pippi Langstrumpf gehört, aber trotzdem: Es bleibt Diebstahl!

Und dann passierte es: Der Pfarrer schaute nacheinander alle Menschen in der Kirche an, sein Blick blieb an mir hängen, wie ich da so stand, er hob einen Zeigefinger, und seine Stimme durchbrach noch einmal die Stille …

»Und Er vergibt dir deine Schuld, deine große, große Schuld.«

… ich wollte im Boden versinken. Tatsächlich habe ich mich nur wieder hingesetzt. Und ohne es zu wollen, habe ich laut »Meine Schuld?« gefragt. Alle haben mich angestarrt …

Nach dem Gottesdienst sind wir ins Gasthaus Koreth gegangen. Ein paar Tage zuvor hat mir dort der Koch gezeigt, wie er Schnitzel zubereitet. Da bin ich noch glücklich und unbesorgt gewesen, denn wir essen gerne Schnitzel, besonders Vater hätte zugeschlagen. Er ist jemand, der selbst in einem Feinschmeckerrestaurant eine halbe Stunde lang die Speisekarte studieren kann und dann ein »Ich glaube ich nehme heute mal ein«-Schnitzel bestellt. Ich sage dann meistens: »Ich auch.« Und Mutter: »Aber nur ein kleines.«

Doch an jenem Sonntag in Tirol war alles anders. Der Pfarrer hatte mir den Appetit verdorben. Ich schob sogar die Palatschinken zu meiner Schwester rüber. Anschließend sonnte sie sich draußen auf der Terrasse. Meine Mutter sah ihr dabei zu und trank Kaffee. Die beiden waren glücklich. Und ich? Ich versank in der dunklen Gaststube in tiefes Grübeln. Ich hatte keine Ahnung, wie der Pfarrer dahintergekommen war. Wie konnte er von meiner Schuld wissen, wo wir doch Hunderte Kilometer von zu Hause weg waren? Oder gibt es wirklich Menschen, die anderen ihre Schuld ansehen können? Dieser Spruch »Das habe ich dir an der Nasenspitze angesehen!« muss doch irgendwoher kommen.

Ich entschied, mich möglichst unsichtbar zu machen. Niemand sollte von meiner Schuld erfahren. So blieb es auch die restlichen Ferien. Berge, Kühe, Bäche, all das interessierte mich nicht mehr. Am liebsten hätte ich mich damals schon versteckt, vielleicht in der Höhle, die ich doch nicht erforscht habe. Und dann hörte ich zufällig, wie meine Schwester Mutter etwas zuraunte.

»Was hat der Paul bloß?«

»Lass ihn, vielleicht ist er verliebt.«

Mittwoch, 16. Oktober 1974

Sehr geehrte Frau Ludwig,

gestern habe ich noch lange auf dieses Heft hier gestarrt. Aber aus irgendeinem Grund konnte ich nichts mehr hineinschreiben. Meine Gedanken sind hin und her gesprungen und ließen sich nicht einfangen. Wäre es doch nur so einfach wie bei »Hänschen klein«: grundlos in die Welt hinaus, Mutter weint, und der kleine Hans kommt einfach wieder zurück. Wer sich so etwas als Kind anhören muss und danach einen Gutenachtkuss bekommt, muss einfach denken, die Welt wäre frei von Problemen. Wie konnten wir nur auf so etwas reinfallen!

Als es Zeit wurde, bin ich nach oben gegangen und habe so getan, als käme ich gerade aus der Schule. Ich war fast erstaunt, wie problemlos meine Teilzeitflucht auch am zweiten Tag noch funktionierte. Auf Mutters Frage, wie es in der Schule gewesen sei, antwortete ich einfach mit einem Schulterzucken. Ich musste nicht einmal lügen.

Ist das nicht komisch: Während ich jetzt wieder im Keller sitze und das hier aufschreibe, genau diesen Satz, sind Sie in der Schule und denken, ich wäre noch immer krank. Vielleicht haben Sie sogar Mitleid mit mir. Aber sollten Sie irgendwann einmal dieses Heft hier lesen, werden Sie sich sicher ärgern. Tun Sie es bitte nicht! Was hätte ich denn sonst machen sollen? Ich habe keine andere Wahl! Hier im Keller komme ich wenigstens zur Ruhe. Ich muss einfach über so vieles nachdenken.

Nach der Predigt war nämlich alles wieder hochgekommen, und ich hatte das Gefühl, als würde ich wie damals bei unserem Klassenausflug bei heftigem Wind oben auf dem Goetheturm stehen. Ich würde mich gerade so am Geländer festhalten können, und wenn ich doch abstürzen sollte, würde jeder mir dabei zusehen. Hier im Keller kann man wenigstens nicht noch tiefer fallen.

Können Sie sich noch an den ersten Schultag nach den Herbstferien erinnern? Da haben Sie uns eine Reizwortgeschichte aufgegeben. Drei oder vier Wörter und daraus eine Geschichte machen, es gibt nichts Schöneres in der Schule. An jenem Montag aber bin ich tatsächlich vom Goetheturm gefallen.

»Ich möchte, dass ihr bis Mittwoch eine Reizwortgeschichte schreibt«, haben Sie gesagt, »und zwar nicht über das, was ihr gerade in den Herbstferien erlebt habt. Nein, ihr sollt über den Sommer schreiben. Ich möchte wissen, an was ihr euch noch erinnern könnt.«

Ich wurde etwas nervös, weil im Sommer diese unglaubliche Geschichte mit unserer Nachbarin Frau Schellack passiert ist und ich mich an jede Einzelheit erinnern konnte. Aber was Sie dann taten, hatte so große Ähnlichkeit mit dem Erlebnis mit dem Pfarrer, dass mir schlecht wurde. Sie haben gesagt: »Und dafür gebe ich euch ein paar einfache Reizwörter vor: Fußball – natürlich Fußball, schließlich sind wir Weltmeister geworden –, Teppich, Katze, Buch und … warum nicht? … Waschmaschine. Sucht euch drei davon aus. Die helfen euch beim Erinnern.« Und während Sie das sagten, haben Sie uns alle angeschaut, bis Ihr Blick an mir hängenblieb. Und dann haben Sie auch noch den Finger gehoben.

Kurz dachte ich, Sie hätten sich mit dem Pfarrer abgesprochen. Aber das war ja nicht möglich. Woher sollten Sie sich kennen? Und überhaupt: Noch weiß niemand – Sie nicht, der Pfarrer nicht und auch sonst keiner –, was ich getan habe.

Ich habe versucht, mit diesen Reizwörtern eine harmlose Geschichte aufzuschreiben. Ich habe mir echt viel Mühe gegeben. Aber ich konnte nichts erfinden. Immer wieder kam mir die Wahrheit in den Sinn. Denn ob Sie es glauben oder nicht, nicht nur drei dieser fünf Wörter haben direkt mit dem zu tun, was mit Frau Schellack passiert ist, sondern alle! Zwei Tage habe ich Blut und Wasser geschwitzt und bin dann mit einem leeren Heft in die Schule gegangen.

Warum Sie ausgerechnet mich aufgerufen haben, ist mir heute noch ein Rätsel. Von einunddreißig Schülern in der Klasse! Jedenfalls bin ich nach vorne gegangen, und als ich vor den anderen stand, da konnte ich Ihnen nicht mehr sagen, dass ich die Hausaufgaben nicht gemacht habe. Ich wollte nicht ausgelacht werden, und ich wollte nicht, dass Sie schlecht von mir denken. Es war aussichtslos: Hätte ich zugegeben, dass mein Heft leer war, hätte ich Ihnen auch sagen müssen, warum. Mit Sicherheit hätten Sie die Polizei gerufen. Hätte ich gelogen und einfach behauptet, ich hätte meine Hausaufgaben vergessen, dann wären Sie enttäuscht gewesen, und ich hätte eine Sechs bekommen. Ich hatte keine Chance.

Doch plötzlich fiel mir Bruder Kolja ein. Er sagt immer: »hast du keine chance, paul, dann nutze sie.« Ich habe Boris, Chiara und all die anderen angeschaut und tief Luft geholt.

Zehn Minuten habe ich durchgehalten. Mit dem leeren Heft in der Hand habe ich eine Geschichte über Zorro erfunden, und sie war gar nicht mal so schlecht. Es gab ein paar Lacher, und an der Stelle mit der dreibeinigen Katze, die in der Waschmaschine geschleudert wurde, haben einige sogar aufgeschrien. Doch dann rief Henning-Johann-Pröll-der-Zweite, ich solle die Seite doch endlich mal umblättern. Das könne ja gar nicht sein, dass das alles nur auf einer Seite stehe.

Ich tat ihm den Gefallen, warum auch nicht? Ich habe umgeblättert und auf die neue Seite gestarrt, die natürlich genauso leer war wie die davor. Und plötzlich war alles weg. Ich wusste nicht mehr weiter. Alle saßen da und haben mich angesehen.

Sie haben mich gerettet, als Sie mir das Heft aus der Hand genommen haben, hineinschauten und sagten, ich solle beim nächsten Mal weiterlesen. Die Geschichte sei zu lang.

Keiner meiner Klassenkameraden hat gewusst, dass nichts in dem Heft stand! Die haben geglaubt, sie würden das Ende in der folgenden Stunde hören. Aber ich weiß, Ihnen hat die Geschichte nicht gefallen. Sie haben mir mal gesagt, Sie mögen es nicht, wenn ich über Zorro schreibe. Zorro sei kein Vorbild, er kämpfe mit Degen und Peitsche. Und deswegen sei er kein bisschen besser als seine Gegner. Ein richtiger Held würde nur mit Worten kämpfen.

Aber Sie müssen zugeben: Mit Zorros Hilfe habe ich alle Reizwörter miteinander verwoben, selbst die Waschmaschine. Das eine ergibt sich aus dem anderen, nichts ist dem Zufall überlassen, und Schicksal kommt schon gar nicht drin vor. Und am Montag, also vorgestern, wäre es so weit gewesen. Da hätte ich weiterlesen müssen.

Und ja, das war auch ein Grund, warum ich Mutters Unterschrift gefälscht habe. Das Heft ist nämlich bis auf die Seiten, die ich gerade vollschreibe, immer noch leer. Sie hätten mir das nicht noch einmal durchgehen lassen.

Deswegen schulde ich Ihnen eine Geschichte, und ich habe mir vorgenommen, sie hier unten im Keller aufzuschreiben: die wahre Geschichte über den Tod von Frau Schellack, über Fußball und was Vater damit zu tun hatte, dass wir Weltmeister geworden sind, über unseren Teppich, den Kater meiner Schwester, die Waschmaschine und über das Buch, das Vater von Großvater geerbt hat. Und was sonst alles passiert ist seit dem Tag, an dem Frau Schellack ihre Handtasche verloren hat. Mir wird die Geschichte vielleicht dabei helfen können, die Ereignisse noch mal zu hinterfragen. Deswegen bleibe ich hier im Keller, bis ich fertig bin. Und vielleicht entdecken Sie dann später beim Lesen irgendetwas, was mich entlasten kann. Dann können Sie als Zeugin der Verteidigung mein Leben retten.

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