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»Eine Oper im Dreivierteltakt – Heimatfilm, Bergdrama und Krimi – Martin Schult bringt mit Frassek und Sprotz den Berliner Wedding in die Steiermark, lässt Menschen sterben und wieder auferstehen und höchst unterhaltsam zwei Welten aufeinanderprallen.« Christoph Schröder, freier Literaturkritiker und Mitglied der Jury des Deutschen Buchpreises 2016 Dem Kroisleitner Karl sein Vater ist tot. 104 war der alte Kroisleitner, aber noch topfit, das lag an der guten Luft oder am Marillenschnaps. Schon bald ermittelt die Kriminalpolizei aus der nahen Bezirkshauptstadt, was der wortkarge Wanderer mit der schlechten Ausrüstung damit zu tun hat. Ebenjener mit dem Namen Frassek, seines Zeichens Polizeiobermeister aus Berlin, hatte sich doch nur in der Steiermark von seinem letzten, gelinde gesagt unglücklich verlaufenen, Fall erholen wollen - und von seiner pubertierenden Tochter. Inmitten von Lügen, Intrigen und Dorfklatsch wird Frassek unversehens vom Tatverdächtigen zum Ermittler.
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Das Buch
Da hatte der Hinterberger Bruno sich Öl und Fett von den Händen gewischt, ein paar lästige Fliegen verwedelt und war mit schwerem Schritt zum Kroisleitner Karl gegangen. Und eine seiner nicht mehr ganz so schmutzigen Hände hatte er dann zart auf die fliehende Schulter vom Schuhmacher gelegt. »Deinen Vater, Kalli, haben’s gefunden, droben beim Toten Mann.« Mit aufgerissenen Knien und einer blau verfärbten Zunge, hätte er noch hinzufügen können, aber das würde der Kroisleitner Karl noch früh genug erfahren.
Der Autor
Martin Schult, Jahrgang 1967, studierte Afrikanistik und Ethnologie in Frankfurt und Berlin. Der stellvertretende Leiter des Berliner Büros vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels betreut den Friedenspreis. Martin Schult lebt mit seiner Frau in Berlin, verbringt die Sommer aber schreibend in Österreich und Italien.
Martin Schult
Dem Kroisleitner sein Vater
Kriminalroman
Ullstein Verlag
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ISBN 978-3-8437-1610-9
© 2017 © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Covergestaltung: zero-media.net, München Covermotiv: FinePic®, München
E-Book: L42 AG, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
O Schande, wenn die Fliege, tapfern Muthes voll, Auch Helden anfällt, und in ihrem Blute schwelgt, Der Krieger aber vor des Feindes Lanze bebt!
Lukian von Samosata
Frassek klappte den Deckel zu. Er schob den Umzugskarton zurück in den engen Kellerraum und zog den nächsten heraus, eine letzte Hoffnung, den schwarzen Anzug zu finden.
Küche stand auf den Pappflügeln. Das hatte er damals mit schwungvoller Schrift auf den Karton geschrieben, als Bärbel und er zusammengezogen waren. Wie schnell die Zeit vergangen war, wunderte er sich, während er den Inhalt, alte T-Shirts, Hemden und Hosen, durchwühlte. Warum hatte er das alles eigentlich aufgehoben? Erinnerungen an eine schöne Zeit? War es das, was seine Tochter gemeint hatte, als sie das letzte Mal bei ihm gewesen war? Du bist ja so was von alt!
So was von alt. Sie hatte seine Haltung kritisiert. Dabei hatte er sie nur vor einem Fehler bewahren wollen. Ein Piercing in der Zunge – Frassek hatte es sich einfach nicht vorstellen können, und auch jetzt widerstrebte es ihm, daran zu denken. Was, wenn man beim Stechen einen Nerv treffen würde? Was, wenn das Piercing herausreißen würde? Das Gejammer wäre riesig.
Nein, er war nicht alt. Er war knapp über vierzig. Aber wohl schon vergesslich. Anzüge verschwinden doch nicht einfach so.
*
Zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk fiel es ihm wieder ein. Auf der Beerdigung seiner Mutter hatte Frassek ihn getragen, vor ein paar Monaten, kurz nachdem er hierher gezogen war. In der Abstellkammer seiner Wohnung, in der er sich noch immer fremd fühlte, fand er Jackett und Hose, nachlässig mit Weste, Hemd und Krawatte über einen Bügel geworfen. Er hatte damals einfach alles an den Staubsaugerschlauch gehängt. Was hatte Bärbel ihn bei der Trauerfeier in der Kirche auch so entsetzt anschauen müssen. Dein Hochzeitsanzug?! Er hatte doch nur den einen.
Die Narbe pochte. Er fuhr sich durch die abstehenden Haare, nahm den Anzug, ging ins Schlafzimmer und warf ihn auf das Bett. Das T-Shirt riss ein wenig ein, als er es über den Kopf zog.
In Steglitz hatte er noch keinen passenden Frisör gefunden. Deswegen hatte Frassek sich vor kurzem selbst ein paar der längsten Strähnen abgeschnitten. Das Ergebnis sah fürchterlich aus. Sein Kollege lachte noch immer, und sein Chef schüttelte jedes Mal missbilligend sein schön gelegtes goldbraunes Lockenhaar. Beide hatten sie ihm zu einem Kurzhaarschnitt geraten – kernig und radikal. Aber diese Zuschreibungen passten einfach nicht zu ihm. Außerdem würde man noch mehr von seinen Geheimratsecken sehen. Und was sich bei drei Millimetern oder gar einer Glatze offenbaren würde, das kannte er bereits, wenn er mit nassem Haar aus der Dusche kam: ovaler Schädel, am Hinterkopf eine Delle und dann die Narbe: diese fünf Zentimeter Gedankenlosigkeit.
Er war zu alt für eine Glatze. Oder zu jung. Oder und.
*
Mittendrin. Midlife-Crisis: Krise des Übergangs vom verbrachten zum verbleibenden Leben. Bärbel hatte es ihm vorgelesen, weil sie meinte, dass er sich zu sehr gehen lassen würde. Aber das war Unsinn. Frassek hatte einfach nur ein paar Pechsträhnen gehabt.
Er packte seine Sachen ein: drei hellblaue Hemden, Ersatzhose, ein paar Unterhosen und die Socken, gestern gekauft als Sechser-Pack in einer Filiale dieses Schonkaffeeanbieters beim Forum Steglitz – alles langweilig, konservativ, solide. Aber immer noch besser als bei seinem Kollegen, der in allen Farben des Regenbogens herumlief. Sprotz und er hatten sich gemeinsam für den gehobenen Dienst beworben – ein Karriereschritt, von dem Frassek immer noch nicht wusste, ob er ihn wirklich gehen wollte. Aber wenn, dann in Hellblau, da war er sich sicher.
*
Er entschied, den Anzug nicht mehr zu bügeln. Er würde sowieso bei der Fahrt zerknittern. Er trat vor den Spiegel und betrachtete seinen nackten Oberkörper – langweilig, konservativ, solide. In dem Bewerbungsformular hatte gestanden, dass Piercings und sichtbare Tätowierungen nicht erlaubt waren. Er hatte keins von beiden. Aber jetzt entdeckte er auch auf der Brust erste einzelne weiße Haare. Fast hätte er sie übersehen. Die Haut war bleich und das mitten im Sommer.
Frassek zog das weiße Hemd an und wieder aus. Das hätte er waschen und bügeln sollen. Schmutzig war es nicht, aber es roch nach dem Schweiß, der nur so an ihm heruntergelaufen war, als er die Abschiedsrede auf seine Mutter gehalten hatte. Sein Vater war dazu nicht in der Lage gewesen. Und jetzt war es wieder so weit.
*
So was von alt! Vielleicht hatte seine Tochter doch recht. Aber das hatte nichts mit einer Midlife-Crisis zu tun. Was kommen wird, und darum ging es ja bei solchen Krisen, machte ihm keine Sorgen. Was hinter ihm lag, das hatte er verbockt. Das hatte er in den Fotoalben entdeckt, die er nach dem Tod der Mutter zusammen mit seinem Vater durchgeblättert hatte. Die Schlichtheit seines Lebens hatte ihn erschüttert.
Nichts, worauf man stolz sein könnte. Nichts, was sich für den Anfang eines Buches eignen würde. Wer sollte sich schon für einen Menschen interessieren, dessen aufregendstes Ereignis, das sein Onkel auf einem Foto festgehalten hatte, der Erwerb des Seepferdchen-Abzeichens gewesen war? Sprung vom Becken, fünfundzwanzig Meter Schwimmen, Tauchen, um einen Gegenstand vom Boden hochzuholen – auch heute noch war auf dem Abzug zu erkennen, wie viel Mühe Frassek sich gegeben hatte, stolz auszusehen. Fotoalben konnten so gnadenlos sein.
Er nahm ein weiteres Hemd aus dem Schrank. Zur Not ging auch hellblau. Er zog den Bauch ein. Die Anzughose ließ sich gerade noch zuknöpfen.
In St. Margarethen werden die Menschen alt. Das liegt am Wasser, sagen manche, das nah beim Dorf kurz unter dem Gipfel des Hausbergs entspringt. Es fließt durch den moosigen Waldgrund, rauscht am Toten Mann vorbei und irgendwo beim alten Wasserwerk umspült es den Schatz, den ein Mönch vom nahen Stiftskloster zum Schutz vor Deutschen und Russen hier vergraben haben soll und der nie wieder aufgetaucht ist. Da sei auch die kleine Klosterglocke aus purem Gold darunter, sagt die Legende. Einst habe sie zart die Mönche zum Gebet gerufen. Nun veredele sie das Wasser.
Es ist die Luft, sagen andere. Nirgendwo sei sie so rein. Warum auch sonst sollten die Wiener Pensionisten sich jeden Sommer mit dem Gästeabholdienst vom Automechaniker Bruno Hinterberger für vierzig Euro pro Nase an der eigenen Haustür abholen und hier herunterfahren lassen – seit Jahrzehnten bald und gerne mit Südbalkon. Als hätten sie immer schon gewusst, dass hier in St. Margarethen die Sonne warm und die Luft mit der Würze unzähliger Heilkräuter angereichert sei.
Dem Wirt vom Gasthof Zum Valentiner ist es das hiesige Kernöl, in der Café-Konditorei Schönblick vertraut man auf die heilenden Kräfte der schonend in Marmelade verwandelten Marillen, und wenn auch noch die Johanna vom Kerschbauerhof frühmorgens einen Eid auf ihre destillierten Früchte ablegt, hat ein jeder für sich die Formel für ein langes und gesundes Leben entdeckt, mit dem der Touristikverein die Urlauber zu locken versucht.
Und doch weiß es von allen der Kroisleitner Karl am besten. In knapp tausend Metern Seehöhe durch die sanften, nicht zu steil ansteigenden Hügel und »ja, manche nennen wir auch Berge, gell« zu wandern, was könnte gesünder sein, noch dazu, wenn man das richtige Schuhwerk trage.
Das sagte er auch zu dem fremden Wandersmann, der in seinem Schuhgeschäft Bergstiefel anprobierte. In Turnschuhen war der Wanderer hierhergekommen, man stelle sich das vor, und an der Ladentür, die vom Schuhmacher mit einem verlegenen Lächeln, da etwas verspätet, aufgeschlossen wurde, hatte er bereits gewartet.
»Wer hier lebt, lebt länger«, erzählte er dem Wandersmann, »so wie mein Vater«, der vor ein paar Tagen seinen 104. Geburtstag begangen habe, und reichte ihm ein neues Paar. »Mit denen rennen S’ die Berge schneller hinauf als herunter«, so leicht, so elastisch, so federnd, wie die Sohle gefertigt sei, »und eh’ man sich’s versieht«, würde aus einem Kürbis »ganz schnell wieder eine Bohnenstange, gell?«
Der fremde Wandersmann blieb aber wortkarg, und das war dem Kroisleitner Karl nicht ganz geheuer. Fernab der alpinen Bergrouten kamen nur wenige in die Gegend um sein Dorf, und die meisten von ihnen pilgerten weiter nach Mariazell. Beseelt von dem Gedanken, dort im Wallfahrtsort religiöse Läuterung zu erfahren, sprudelten die Erlebnisse ihrer Wanderung nur so aus ihnen heraus. Und wenn der Kroisleitner Karl ihnen das spröde gewordene Leder aufpolierte, eine lose Sohle leimte oder manchmal gar ein neues Paar Wanderstiefel verkaufte, dann hörte er ihnen gerne zu, wie schon sein Vater, der vor ihm der Schuhmacher des Dorfes gewesen war. Es war sogar die erste Regel, die ihm der Vater mit auf den Weg gegeben hatte und es auch heuer noch manchmal tat: »Zuhören musst, dann verkauft sich selbst der teuerste Schuh.« Doch dazu brauchte es auch einen anderen, der was erzählt.
Den nächsten Karton zog der Kroisleitner Karl aus dem Regal, »ein ganz besonders guter Schuh«, den trage er selbst auch, und recht beiläufig, fast, als würde er eine Antwort gar nicht erst erwarten, ließ er dieser Feststellung noch eine Frage folgen.
»Wo kommen S’ denn her?«
Mit einer kleinen Verzögerung brummte der fremde Wanderer etwas, das mit einem B begann, es war ein strenges Brummen, zu scharf, um nachzufragen, zu brumm, ums zu verstehen. Fragend blickte er auf die Schuhe.
»Ja, die Neuneinhalb müsst’ schon passen. Vorn ein wenig Luft, das ist wichtig.« Der Mann zog sich die Stiefel an und während er sie mit ungeübten Fingern zuschnürte, nutzte der Kroisleitner Karl die Gelegenheit, sich ihn genauer anzuschauen, denn neugierig waren sie schon in seinem Dorf, wie überall auf der Welt. Dunkle Ringe hatte der Wanderer um die Augen und eine arg wirre Frisur, der ein Schnitt und etwas Shampoo guttun würde, und so sehnte sich der Schuhmacher erst recht nach einem richtigen Kundengespräch, in dem er dezent auf die Dagmar mit ihrem Salon hätte hinweisen können.
»Aber lang sind S’ noch nicht unterwegs, gell?«
Der frische Sonnenbrand im Gesicht und die von der Hitze aufgesprungenen Lippen bezeugten diese mit einem Fragezeichen versehene Feststellung. Doch bei diesem jüngsten Versuch des Schuhmachers, in die Konversation einzusteigen, brummten sie nicht, die Lippen. Der Wandersmann atmete vielmehr scharf aus, und darauf sagte sich der Kroisleitner Karl, dass er erst einmal nichts mehr sagen würde. So viel Kundschaft hatte er in diesem heißen und trockenen Sommer auch noch nicht gehabt, und wer es nicht mag, das Miteinanderplaudern, den, bittschön, wollte er auch nicht weiter belästigen, sondern lieber schweigen. Zumindest so lange, bis der Fremde selbst wieder etwas sagen und hoffentlich – aber lieber nicht mit einer Kreditkarte – zum Bezahlen an den Kassentisch treten würde … aber ach!
Sein Lebtag hat sich der Kroisleitner Karl nicht an jene Kunden gewöhnen können, die, so wie jetzt auch dieser Wanderer, die noch nicht bezahlten Schuhe unbedingt draußen auf der Straße ausprobieren mussten. Nicht einer hatte sich jemals auf diese Weise illegal der Ware bemächtigt oder gar das Schuhwerk ruiniert, dennoch war es dem Kroisleitner Karl ein Graus. Da flatterten die Hände in der Luft, ein »uiuiui« und ein »solang‘s noch nicht bezahlt sind, tun’s quietschen« lagen ihm schon auf der Zunge. Und erst, nachdem der Mann den Laden wieder betreten und »Zahlen!« gebrummt hatte, beruhigte sich der Schuhverkäufer und entspannte seine ein Meter neunzig.
»Haben S’ an Gästepass? Dann tät ich’s um fünf Prozent rabattieren.«
*
Darauf hätte ihm auch die Wirtsfrau im Gasthof Zum Valentiner eine Antwort geben können. Denn der Lissi, einer kleinen, früher gar zierlichen Frau, die versuchte, das Beste aus ihren mittlerweile fünfzig Jahren herauszuholen, entging nichts und merken konnte sie sich eh alles. Wie neulich, als sie der Frau Moser aus München fünf Jahre nach dem letzten Aufenthalt ungefragt einen Verlängerten und ein Glas kalte Milch auf den Frühstückstisch gestellt hatte und sie über den Ausruf – »Dass Sie sich daran noch erinnern können!« – einfach nur glücklich gewesen war.
Aber mehr noch hatte die Lissi als Frau des Gasthofwirts Jakob Valentiner über die Jahre die Fähigkeit perfektioniert, allein aus der Bestellung eines Gastes seine Herkunft herauszulesen. Und was sie sich da bei dem fremden Wandersmann zurechtgereimt hatte, als der geradezu unverschämt früh am Morgen ins Gasthaus gekommen war und »ein Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln« bestellt hatte, das hatte ihr nicht gefallen.
Deutsche Großstadt, vielleicht sogar aus Berlin, aber auf keinen Fall ein Feinschmecker, denn ein Wiener isst man mit Salzkartoffeln oder warmem Erdäpfelsalat, wer es mag mit Reis, aber nie und nimmer mit etwas, das ebenfalls gebraten oder gebacken wäre, das war ihrem Jakob wichtig, sehr wichtig – und der musste es ja schließlich wissen. Und schon gar nicht um halb neun, wenn die Pensionsgäste gerade erst ihr Frühstück einnehmen. Aber was soll’s, im Valentiner ist der Gast König, selbst wenn er ausschaut wie der Gehörnte höchstpersönlich.
Denn sogar aus der Ferne, von ihrem Platz hinter der Schank, hatte die Lissi Valentiner erkennen können, dass dem Fremden, während er an seinem Tisch eine Postkarte beschrieb, ein Ring am Finger fehlte, sicher ein dicker Ehering, denn die Haut war an der Stelle nicht nur blasser, sondern auch ein bisschen eingedatscht.
Seine verschmutzte Jeans, das verschwitzte hellblaue Hemd und der neue, lächerlich bunte Rucksack – das alles waren Zeugnisse ihres Verdachts, dass er nicht überlegt, sondern überstürzt aufgebrochen sein musste. Als wäre er auf der Flucht – ja, das hatte die Lissi noch gedacht, während sie nach dem Frühstück das ein wenig enge Dirndl zurechtgezogen hatte, und vor allem diesen Gedanken war sie nicht mehr losgeworden. Doch jemand, der auf der Flucht war, der würde nicht gerade hier in St. Margarethen Schutz suchen wollen. Denn was hier getratscht wird, da kann niemand vor niemandem kein Geheimnis nicht bewahren. Und somit hätte der auch keinen Gästepass.
*
Dem Lamberti Josef aber war der fremde Mann zuerst begegnet. In seinem Geschäft. Gleich beim Aufsperren um acht. Am Postkartenkarussell. Hernach beim Kassieren und »pfiat di Gott, auf Wiederschauen«. Nicht einen Laut hatte er von sich gegeben, der Wandersmann. Und im Hinausgehen hatte er bereits die nur mit einem Fingerzeig ausgewählte Zigarettenschachtel aufgerissen. Als wäre der Josef, der »schöne Josef«, wie sie ihn nannten, nichts als Luft.
Das Adjektiv hatte seine Berechtigung. Gleichzeitig könnte man es fast eine Untertreibung nennen. Denn der schöne, groß gewachsene und gut gebaute blonde Mann mit seinen strahlend blauen Augen hatte schon des Öfteren sprachloses Erstaunen ausgelöst. Doch wer beim Lamberti Josef an der Kasse stand und sich erhoffte, dass man diesem unerhört hübschen Mann auch noch die Gabe der charmanten Konversation in die Wiege gelegt hätte, würde mit einer leichten Enttäuschung das Geschäft verlassen.
Denn dem Lamberti Josef fiel es nicht leicht, mit anderen Menschen zu reden. Und grad deswegen – man könnte fast meinen, als therapeutische Maßnahme – hatte der Josef den einsamen Beruf des Waldarbeiters an den Nagel gehängt, die Moni geheiratet und war mit ihr ins Dorf gezogen. Und recht viel Mühe hatte er sich fortan mit dem neu eröffneten Souvenirgeschäft geben müssen. Und gar eine Lizenz für eine Tabaktrafik hatte er erworben, um trotz des Supermarkts am unteren Ende der Hauptstraße überleben zu können.
»Sei doch bitte freundlich und red auch mit den Kunden«, hatte seine Frau, die Moni, immer gesagt. »Denn nur schön ausschauen reicht nicht.« Und – weiß der Herrgott – er hatte es ja versucht. Selbst nachdem die Moni zum Hinterberger Bruno gezogen war. Der krummbeinige, dafür aber umso redseligere Automechaniker. Und da hatte sich der Josef fortan noch mehr angestrengt, seiner Schüchternheit etwas entgegenzusetzen. Er hatte angefangen, Zeitungen, Bibeltexte, Romane zu lesen – ja, fast könnte man ihn einen Belesenen nennen. Denn eines war klar, die Moni würde nicht zu ihm zurückkehren, nur weil er ein hübscher Kerl war, dem man seine dreiundvierzig Jahre nicht ansah. Und was wäre da geeigneter als das geschriebene Wort, das dem gelebten Leben Bestätigung und Vorbild zugleich sein konnte?
Aber so ein maulfauler Wandersmann. Nicht einmal gebrummt hat er nicht. Da könnte einem schon der Kragen platzen.
*
Weil es dem Kroisleitner Karl mit dieser zerkratzten Kreditkarte nicht ganz geheuer gewesen war, er dies dem Wanderer aber nicht direkt ins Gesicht hatte sagen wollen, hatte er einfach so getan, als würde die Kreditkartenmaschine nicht funktionieren. Und siehe da, mit der Zusage um einen etwas höheren Rabatt hatte der Fremde schließlich sein Portemonnaie gezückt und bar bezahlt.
Mit dem zurückgelassenen Kassenbon in der Hand schaute der Kroisleitner Karl dem Wanderer nach, wie er, vorbei am Valentiner, nun leichten Fußes den Weg hinauf zum Toten Mann einschlug. Ein wenig Neid kam dabei auf. Da verkaufte man sein Leben lang bestes Schuhwerk, fachsimpelte über die Beschaffenheit von Sohlen und den neuesten Lederpflegeschaum, der gut war, aber elendiglich roch, und war doch selbst nie weiter gekommen als bis auf den Hausberg und die weiteren Gipfel drum herum, und einmal gar mit dem Reisebus vom Hinterberger Bruno bis nach Wien, mit dem Seniorenverein, als Begleitung der Eltern selbstverständlich. Ja, wenn die Eltern nicht wären, wer weiß, vielleicht wäre er öfters hinaus in die Welt gegangen, vielleicht sogar ganz fort.
Der Kroisleitner Karl ging zurück in den Laden und räumte die anprobierten Wanderstiefel zurück ins Regal. Einfach das Geschäft zusperren und weg, weit weg. Schuhmacher braucht‘s eh überall, Erspartes hatte er auch und jung fühlte er sich sowieso, selbst mit seinen vierundfünfzig Jahren. Mit spitzen Fingern trug er die Turnschuhe des fremden Wanderers zum Abfall, warf sie aber nicht in die Altkleidertonne, sondern in den Restmüll. Diese Turnschuhe sollte niemand mehr tragen müssen, selbst der ärmste Afrikaner nicht.
*
Die Lissi Valentiner und der Lamberti Josef hatten den Wandersmann noch einmal vorbeigehen sehen, und das würden sie am nächsten Tag auch zu Protokoll geben. »Als ich die Blumen draußen gegossen hab, da hab ich gesehen, wie er hoch zum Toten Mann gegangen ist«, sollte die Lissi sagen und der schöne Josef sollte zustimmend nicken. »Nein, von dort heruntergekommen ist niemand mehr«, sollte die Lissi sagen, »bis natürlich auf den Toni, der Sohn vom Automechaniker«, und der schöne Josef sollte diesmal nicht nicken, denn der Toni, das war der Bub, den seine Moni jetzt beim Hinterberger Bruno großzog und daher mochte der Josef den Toni nicht, auch wenn der gar nichts dafür hat können können. Anfangs hatte er noch gehofft, dass sie gerade deswegen wieder zu ihm zurückkehren würde, denn Kinder, das mochte die Moni nicht …
… aber einerlei, der Josef hatte natürlich auch gesehen, wie der Toni – es war am Nachmittag gewesen, er hatte grad wieder aufgesperrt – ins Dorf, durch das Dorf und wieder zum Dorf hinaus bis zur Werkstatt seines Vaters gelaufen war. Und der wirklich nicht sehr attraktive Hinterberger Bruno hatte sich daraufhin Öl und Fett von den Händen gewischt und war auf seinen krummen Beinen zum Kroisleitner Karl gegangen. Und eine seiner nicht mehr ganz so schmutzigen Hände hatte er dann zart auf die fliehende Schulter vom Schuhmacher gelegt.
»Deinen Vater, Kalli, haben’s gefunden, droben beim Toten Mann.«
Mit aufgerissenen Knien und einer blau verfärbten Zunge, hätte er noch hinzufügen können, aber das sollte der Kroisleitner Karl noch früh genug erfahren.
Amy dachte kurz darüber nach, wie sie aussah.
Das tat sie öfter. Auch hier auf dem Friedhof im Norden Londons konnte sie nicht davon lassen. Dann fiel ihr der Junge auf. Sie hatte ihn schon viele Male gesehen, der Überbiss war unverkennbar. Vor ein paar Wochen hatte er als einer der Ersten vor ihrem Haus in Chelsea gestanden und, als wären ihm die Arme zu kurz, mit den Fingerspitzen in den Hosentaschen zu ihr hinaufgeschaut.
Zwei Tage später hatte sie ihn wieder – oder noch immer – dort in der langsam wachsenden Menge von Fans und Neugierigen stehen sehen. Und an manchen der folgenden Tage auch, stundenlang, immer an derselben Stelle, immer mit diesem starren Röntgenblick, an den sich Amy irgendwann gewöhnt hatte.
Mit der Zeit hatte sie sich seinem Rhythmus angepasst. Montag, Mittwoch, Freitag waren seine Tage, und auch wenn sie seine Anwesenheit an den anderen Wochentagen nicht zu vermissen glaubte, waren ihr die Wochenenden unendlich lang vorgekommen – dabei war er überhaupt nicht ihr Typ, und selbst der halbdurchsichtige Gardinenstoff, durch den Amy hinunter auf die Straße geschaut hatte, hatte seine Hässlichkeit nicht verschleiern können. Sie hatte sich jedes Mal darüber gewundert, warum er für sie so wichtig geworden war.
Am letzten Mittwoch aber, nachdem George, ihr Manager, von heute auf morgen entschieden hatte, sie nach wochenlangem Koma endlich für tot zu erklären, war der Junge nicht da gewesen. Er hatte nicht unter den mittlerweile Hunderten von trauernden Fans gestanden, die anfangs schüchtern, später mutiger ihre Hände auf den langsam davonfahrenden Leichenwagen – ein Rolls Royce selbstverständlich – gelegt hatten. Dass er aber jetzt hier stand, keine zehn Meter von ihr entfernt, und wie sie die Beerdigungsrituale beobachtete, beunruhigte sie.
Vielleicht hätte sie doch nicht kommen sollen.
Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal so berühmt werden würde. Denn alle waren sie an diesem Samstagmorgen auf den Hügel des Highgate Cemetery gekommen. Ihre Kollegen, ihr Management, Prominente und solche, die es werden wollten oder gewesen waren, bildeten – umrahmt von den vielen Fans – einen Ring um die Grabstelle, in die gerade ihr Sarg hinabgelassen wurde. Robert, ihr eingekaufter Vater, ein unbekannter Varietékünstler, drückte ihrer eingekauften Mutter, einer etwas aufgesetzt wirkenden Blondine, die George aus Johannesburg hatte einfliegen lassen, fest den Arm.
Sie hatte die beiden kurz kennengelernt, vor acht Wochen, nachdem George ihre schwere Krankheit verkündet hatte und im Nu alle Alben ausverkauft gewesen waren. Mit bandagiertem Kopf hatte sie im Bett gelegen und sich krank gestellt. Die gekaufte Mutter hatte tatsächlich geweint, Vater Robert mit seinen blendend weißen Zähnen und diesem seltsamen Augenflattern um ein letztes Autogramm gebeten. Danach hatten sie ihren Auftrag, die Medien über ihren Zustand zu informieren, unter Tränen ausgeführt.
George war in seinem Element.
Ganz vorne am Grab spielte er mit Hingabe den trauernden Manager. Sie hatte ihm für einen Spottpreis, wie sich mehr und mehr herausstellte, ihre Rechte überschrieben. Das war der Deal gewesen, der seinen Unmut darüber, dass sie aufhören wollte, abgemildert hatte – bis ihm die Idee mit ihrem Tod gekommen war. Darum konnte sie sein betrübtes Lächeln nur als Farce betrachten.
Elton aber, den sie einmal kurz getroffen hatte und der nun als einer ihrer besten Freunde durch die Medien tingelte, schien wirklich zu trauern. Er stand mit ihrem weißhaarigen Manager Arm in Arm am Grab. Ihm hätte sie gerne erklärt, warum sie nicht mehr singen wollte, warum es sie zurück in ihr altes Leben drängte.
Aber er hätte seinen Mund nicht halten können.
Auf einmal merkte sie das Vergnügen, das sie dabei hatte, auf der eigenen Beerdigung zu sein und Elton zu beobachten, wie er sich die Tränen wegwischte und an den gläsernen Flügel setzte. Die ersten leisen Akkorde von Love Letters in the Sand erklangen aus den Lautsprechern, die man auf dem Friedhof verteilt hatte.
Es war das Lied, das seit ein paar Wochen im Stundentakt in allen Radioprogrammen gespielt wurde. Damals, es musste eine Ewigkeit her sein, hatte noch eine Aufnahme für ihr erstes Album gefehlt. Amy und die Musiker hatten nach nicht enden wollenden Tagen im Studio, angetrieben vom nimmermüden George, irgendwann die Lust verloren. Nichts hatte mehr richtig klingen wollen. Die Platte würde ein Ladenhüter werden. In einer Pause hatte der Pianist dann auf dem Klavier geklimpert, einfach so, und angefangen, den größten Hit von Pat Boone zu spielen. Sie hatte einfach mitgesungen.
Rotzfrech und mit ihrer rauen Stimme hatte sie Love Letters in the Sand interpretiert, dass es Pat Boone die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte. In den Augen des Pianisten hatte sie gesehen, wie die Pausenimprovisation plötzlich ernst und groß wurde. Die anderen Musiker waren, einer nach dem anderen, ebenfalls wieder eingestiegen, und aus irgendeinem Grund hatte der Techniker das Band mitlaufen lassen. Sie hatten es nicht noch ein zweites Mal aufgenommen. Auf der CD konnte man das »Cool, man!« hören, das der Drummer irgendwann vor Begeisterung ausgerufen hatte.
Elton machte jetzt wieder eine Schnulze daraus.
Das war es halt, was er konnte und weswegen man ihn liebte. Alle Anwesenden auf dem Friedhof sangen oder summten mit. Auch ihr kamen die Tränen, während sie lautlos den Text mitsprach. Vater Robert legte eine weiße Rose auf ihren Sarg. Die eingekaufte Mutter schluchzte laut auf.
»May I …?« Der Junge mit dem Überbiss hielt fragend sein Mobiltelefon hoch. Er wollte sie, mit der Beerdigung im Hintergrund, fotografieren. Kurz kam sie ins Straucheln. Er konnte sie nicht erkannt haben, oder etwa doch?
»Nein, bitte nicht«, sagte sie auf Deutsch, »no, please.« Der Junge sah sie prüfend an. Aus der Nähe war er noch hässlicher als damals vom Fenster aus.
»German?«
»No … Austria.«
Er spuckte aus und sagte etwas, das wie »nazi bitch« klang. Sie wandte sich von ihm ab. Die letzten Akkorde klangen aus, Eltons Klavierspiel verstummte, trotzdem sangen die Menschen weiter, so wie sie bei jedem Beatles-Lied, das irgendwo gespielt wurde, automatisch mitsangen. Sie hatte das immer gemocht.
Der Junge spuckte noch einmal vor ihre Füße. Dann ging er fort. Amy war erleichtert. Er hatte sie nicht erkannt. Dafür, dass George ihr damals ein völlig neues Outfit verpasst hatte, war Amy jetzt dankbar. Der dicke Lidstrich über den Wimpern, die dunklen Kontaktlinsen, die blutroten Lippen, das toupierte schwarze Haar sowie Kleider, die wenig zeigten, aber viel vermuten ließen – zehn Jahre hatte sie sich so gekleidet und herausgeputzt.
Und jetzt sah sie in der Menschenmenge zahlreiche Mädchen und junge Frauen, die ihr Aussehen imitierten. Amys Outfit war zum angesagtesten Modetrend geworden.
Sie setzte den Rucksack auf.
Sie klopfte auf die hintere Hosentasche ihrer Jeans, in der ihr Flugticket steckte. Sie sagte leise »Servus, Amy«, und ging als Emma mit kurzen naturblonden Haaren und blauen Augen davon.
Oft war der Kroisleitner Karl hier oben gewesen, auf dieser Lichtung im Wald mit dem so wunderschönen Blick die Wiesen hinunter zum Nachbarort. Hier hatten sie, weit genug vom Dorf entfernt, heimlich Zigaretten geraucht und die finsteren Legenden verlacht – dort auf der Bank, bei der er zum ersten und einzigen Mal die weichen Lippen von der Dagmar geküsst hatte. Es war ein schöner Platz, ein heimischer Ort, der zu ihm gehörte, in guten Zeiten wie auch jetzt in schlechten.
»Es geht sich einfach nicht aus«, hörte der Kroisleitner Karl den einen uniformierten Polizisten zu dem anderen sagen, »wie kann ein Hundertjähriger alleine hier hoch gekommen sein?«
»Einhundertundvier«, murmelte der Schuhmacher, doch so leise, als hätte er es nur zu sich selbst gesagt.
»Habt‘s ihr gesehen, was der auf der Zunge hat?«
Die Sonne schien golden an diesem späten Samstagnachmittag eines heißen Sommerwochenendes, und so war es nicht verwunderlich, dass zahlreiche Menschen auf den Bergen und in den Wäldern unterwegs waren. Von denen, die nicht mit dem Auto bis hoch zum Gipfel gefahren waren, um vom Aussichtsturm aus die umliegenden Berge und Hügel zu betrachten, standen nun etliche mit dem Kroisleitner Karl, den beiden Polizisten und einigen Dorfbewohnern um den toten Vater herum, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, die der Toni, an der Hand von seinem Vater, noch einmal in heller Aufregung wiederholte.
»Habt’s ihr die Zunge gesehen?«
Mit dem Finger zeigte der achtjährige Junge auf den am Boden liegenden Mann. Ein Mädchen gleichen Alters trat neben den Kroisleitner Karl, ging in die Hocke und sah sich mit schiefem Kopf den Vater genauer an.
»Ja, ganz blau!«, rief es aus.
»Jule, sei still«, zischte eine ältere Frau, wohl die Großmutter, die der Kroisleitner Karl wiedererkannte, hatte sie doch neulich für das Mädchen Wandersocken gekauft, siebenfünfundneunzig das Paar.
»Aber die ist wirklich blau!«
»Na und, dann ist sie halt blau«, sagte die Großmutter und auch der Kroisleitner Karl dachte ›na und‹, dann war sie halt blau, dann waren die Hosenbeine halt aufgerissen und die bleichen Knie, die aus ihnen herausragten, blutverkrustet, was soll’s? Der Vater, so wie er da mit dem Gesicht nach unten seltsam verdreht auf dem Waldboden lag, war tot. Und das war er die ganzen vierundfünfzig Jahre, die der Sohn den Vater gekannt hatte, nicht gewesen. Geliebt hatte, sollte es besser heißen, war doch der Vater ein guter und aufrechter Vater gewesen. Ein Schwindel beendete seine Gedanken.
Einer der beiden Polizisten sah es und packte den Kroisleitner sanft, aber bestimmt am Arm. »Versteh mich bitte nicht falsch, Kalli, aber wir müssen das Landeskriminalamt verständigen.«
»Lass dem Alten doch sei’ Ruh. Mit so vielen Jahren auf dem Buckel stirbt man halt auch mal«, sagte der Hinterberger Bruno.
»Es ist halt so einiges sonderbar, Bruno. Und das muss untersucht werden.« Es dauerte ein wenig, bis der Kroisleitner Karl begriff, was die Worte des Polizisten zu bedeuten hatten. Ihm wurde schwarz vor Augen, aber er spürte, wie sich der Griff des Polizisten fester um seinen Arm schloss.
*
Nicht allein am Rücken und an der Hüfte hatte es die Lissi, sondern auch an den Knien, ein Leiden, das bei den meisten Menschen zu finden war, die über die Jahre viel hatten laufen und schwer hatten tragen müssen. Daher kam sie, obwohl sie zusammen mit dem Kalli und dem Hinterberger Bruno aufgebrochen war, erst jetzt und atemlos beim Toten Mann an, dankbar für den Arm vom schönen Josef, der ihr den Weg über Halt gegeben hatte.
Das Kreuz durchgedrückt und gekleidet in eines ihrer robusten Arbeitsdirndl versuchte die Lissi, die Contenance zu bewahren, so wie sie es von der Großmutter, einer bis oben zugeknöpften Frau, gelernt hatte. Doch als sie die Leiche des alten Kroisleitner erblickte, kam ihr Ausruf »Mein Gott, Kalli, dein Vater!« so hochtonig daher, dass sogar ein paar Vögel aufflatterten. Sie ließ den Arm vom Josef los und hielt sich die Hände vor den offenen Mund.
»Da liegt er, der Alois, auf dem Bauch, wie unangenehm.«
Eingedenk der gestrengen Großmutter holte die Lissi ein Tuch hervor, bedeckte die vom steilen Weg noch arg bebende Brust und schlug ein Kreuz. Erstaunt registrierte sie die vielen Menschen, die sich hier oben versammelt hatten, und entdeckte unter ihnen auch einige ihrer Gäste, wie die Frau Moser mit ihrer kleinen Enkeltochter Jule, die – so schoss es der Lissi sogleich durch den Kopf – ihre Schokolade mit Sojamilch, weil laktosefrei, trinken musste, das arme Ding. Blonde Zöpfe hatte ihr die Dagmar im Salon geflochten, dazu trug sie ein viel zu großes Dirndl, das neu gekauft war und in das sie hineinwachsen sollte.
Die kleine Jule fing den Blick auf, entwand sich dem Griff der Großmutter und rief fröhlich: »Tante Lissi!« Sie wollte zu ihr hin hüpfen, zur Nenntante, die ihre Gäste und besonders die Kleinen doch sehr verwöhnte. Sie nahm den direkten Weg, über die Leiche, aber das zu lange Dirndl verfing sich ausgerechnet am Schuh des alten Kroisleitner. Das Mädchen stürzte und dabei drehte sie mit dem Stoff ihres Kleids den zarten Toten auf den Rücken. Das Kind fing zu weinen an und hielt sich das aufgeschrammte Bein, während der Toni lauthals lachte.
*
Ein heiseres Ächzen drang aus der Lunge des Vaters. Kurz dachte der Kroisleitner Karl, er wäre noch am Leben … aber ach! Der Funke Hoffnung zerstob, und das nicht wegen der blau gefärbten Zunge, die der Vater nun den Trauernden und Schaulustigen entgegenstreckte. Und auch nicht wegen der in die Höhe gestreckten Hand, die er krampfhaft zur Faust geballt hatte. Sondern wegen der aufgerissenen Augen, die nun nicht mehr in den Staub, sondern hoch zum Himmel starrten, als würde der Vater beobachten, wie die eigene Seele hinauffuhr.
»Das ist kein Spielplatz, sondern ein Tatort«, hörte der Kroisleitner Karl den Polizisten brüllen, der ihn nun mit beiden Händen vor dem Zusammenbruch bewahren musste. Doch die Menschen traten näher, neugierig, woher all das Blut stammte. Es musste aus den Wunden an den Knien nur so geflossen sein, die Haut war zerfetzt, links war gar ein wenig von der weißlichen Kniescheibe zu sehen. Mobiltelefone wurden gezückt.
»Bitte lassen Sie das«, versuchte es der Polizist, doch vergeblich, die Leiche des alten Kroisleitner wurde von allen Seiten fotografiert. Und mittendrin brach der Kroisleitner Karl endgültig zusammen, direkt über dem Körper seines Vaters, diesem zarten Mann mit seinen riesigen Händen, den er schluchzend umarmte. Als er dessen Kopf hochnahm und »Vater, mein Vater« rief, wunderte sich der Schuhmacher selbst, wie theatralisch das klang, wie sein Jammern dem der Trauernden aus den Heimatfilmen glich, die sich seine Mutter so gerne anschaute und die auch er …
»Mutter«, sagte er plötzlich und laut. Augenblicklich war es still auf der Lichtung. Vorsichtig legte der Kroisleitner Karl den Kopf seines Vaters zurück auf den Waldboden, streichelte die schlaffe Wange und drückte ihm vorsichtig die Augen zu. Als würde er sich an etwas erinnern, hielt er kurz inne und zog ihm links den Ehering vom dicken Finger. Vergeblich versuchte er, die andere, in die Luft gestreckte und zur Faust versteifte Hand zu bändigen und die von der Leichenstarre harte Zunge in den Mund zurückzuschieben. Dann stand er auf und ging stumm den Berg hinunter.
*
»Jetzt seid‘s so gut und macht ein wenig Platz«, sagte der Polizist nach einer Weile. Und zusammen mit seinem Kollegen gelang es ihm, den Tatort – so es denn einer war – zu sichern.
»Ich habe alles gesehen, Tante Lissi«, flüsterte die kleine Jule der Wirtsfrau zu, als die Lissi mit ihrem Tuch das blutige Knie des Mädchens abtupfte.
»Schon gut, meine Kleine.« Mit der anderen Hand strich sie dem Mädchen übers Haar und hörte, weil in Gedanken woanders, nicht mehr auf damit. Woran nur erinnerte sie das alles? Der Lamberti Josef trat zu den beiden. Er gab der Lissi ein weiteres Tuch.
»Ist das sauber, Josef?«
Er nickte und machte den Mund auf, aber es kam kein Wort heraus. Erstaunt schaute die Lissi auf. »Ist alles in Ordnung?«
Jetzt sah der Josef sie an und das mit einem recht beunruhigten Blick aus seinen schönen Augen. »Ich hab’s gelesen … in der Bibel. Auf deinem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang. So steht es geschrieben.« Er schluckte und fuhr mit fester Stimme fort. »Und das hat nun der Alois tun müssen. Kriechen und Staub fressen. Der Leibhaftige ist wieder da.«
»Du kannst einen aber auch das Fürchten lehren«, sagte die Lissi und ausgerechnet der Hinterberger Bruno lachte.
»Der schöne Josef! Wenn der‘s Maul aufmacht, kommt nur Blödsinn heraus.«
»So steht es geschrieben«, wiederholte der Josef stur.
»Es stimmt, Tante Lissi, was der Mann sagt«, versuchte es auch das Mädchen noch mal, »es war aber kein Staub, es waren Heidel…«
»Jetzt habe ich aber genug, Jule.« Die Frau Moser schimpfte und zog ihr Enkelkind von der Lissi fort. »Ständig erzählst du irgendwelche Märchen. Irgendwann wird dir ein böser Onkel begegnen, irgend so ein Teufel, und dann …«
Die Lissi aber hörte den weiteren Vorhaltungen der Großmutter nicht mehr zu. Irgend so ein Teufel. Ja sicher, dachte sie: der Leibhaftige! Der fremde Wandersmann und die blaue Zunge! Einen Besen tät sie fressen, wenn das alles nur Zufall gewesen sein soll. Und laut sagte sie zur Frau Moser und den anderen: »Mein Gott! So wie in der Legende, der vom Toten Mann.«
Einst ist die Gegend um den Berg, den die Bewohner von St. Margarethen heute als ihren Hausberg bezeichnen, noch vollkommen bewaldet gewesen. Den Chroniken zufolge soll es ein Abt des nahen Klosters gewesen sein, der vor siebenhundert Jahren Menschen aus dem fernen Schwarzwald geholt hat, damit sie das tun, was sie auch in ihrer Heimat schon getan haben: sich den Wald untertan machen. Sie bauten eine Kirche, wählten eine Schutzheilige und legten mit Gottes Segen Wiesen und Felder an.
So schälte sich aus dieser düsteren Landschaft am Rande der spektakulären Alpenwelt allmählich eine lichte, hügelig weiche Hochebene heraus, auf der das mitgebrachte Vieh, die Vorderwäldler-Rinder, prächtig gedeihen konnte. Vorderwald nannte man fortan auch diese Gegend, bis in den 50er Jahren, nachdem die Zerstörungen des Krieges beseitigt waren, ein findiger Bürgermeister den Erholungswert der Landschaft erkannte.
Mit dem Einverständnis seiner Kollegen aus den umliegenden Dörfern taufte er sie auf den Namen Siebenbergen. Denn tatsächlich muss der aus der Tiefebene anreisende Feriengast sieben Berge umfahren, um hier Ruhe und Erholung zu finden und sich an dem alljährlich stattfindenden Blumenwettbewerb zu erfreuen: Das hübscheste Dorf darf sich Blumendorf nennen.
Dass aber zum Urlaubsglück auch das leibliche Wohl gehört und sich dies am besten durch das Angebot der Vollpension erfüllen lässt, hat sich in den Gasthäusern bald durchgesetzt. Unschlagbar günstig, um auch den geizigsten Pensionisten aus Wien hierher zu locken, kann der Tourist nun seine Urlaubstage vollumsorgt in der Pension der Café-Konditorei Schönblick, aber auch im Gasthof ZumValentiner verbringen und sich am Abend von der Wirtin gar seinen Vornamen auf die noch nicht geleerte Weinflasche schreiben lassen.
Doch obwohl die Verlockung durch das bereits bezahlte Abendessen groß war, harrten einige Feriengäste an der Lichtung zum Toten Mann aus, vielleicht aus Anteilnahme, sicher aber aus Neugier, wie es an so einem Tatort nun weitergehen würde. Tatort hieß Mord, so hatte der Fernseher es gelehrt, und sicher würden hier bald Menschen in Plastikanzügen durchs Gehölz kriechen, um selbst das kleinste Steinchen umzudrehen. All das wollte man digital festhalten, posten, teilen und liken, und wenn es vorher noch einen Grund gegeben hätte, warum die Welt vom Hausberg bei St. Margarethen noch nie etwas gehört hatte, würde dieser hinfällig werden.
*
Auch die Lissi war noch geblieben. Sie saß zwischen den Feriengästen an einem der Picknicktische neben der Kapelle und tupfte sich mit einem in Quellwasser geschwenkten Taschentuch Stirn und Dekolleté. Die Frau Moser hatte es ihr gereicht.
Man kannte sich seit Jahrzehnten, seitdem das Ehepaar Moser mit seinen Kindern zum ersten Mal den Sommer im Valentiner verbracht hatte. Vor fünf Jahren sei ihr der Mann verstorben, hatte die Frau Moser der Lissi erst kürzlich am Frühstückstisch berichtet, und so lange habe es auch gedauert, bis die Münchener Witwe den Mut gefunden hätte, mit ihrer Enkeltochter an jenen Ort zurückzukehren, an dem sie mit ihrem Mann so viele schöne Tage verbracht hatte.
»Nun erzählen Sie schon, Frau Valentiner, was es mit der Legende auf sich hat«, sagte diese nun zu ihr.
»Au ja, Tante Lissi«, unterstützte die kleine Jule das Anliegen ihrer Großmutter und klatschte in die Hände. Und so dachte die Lissi: ›Nu, sei’s drum‹. Tatsächlich war sie dem Mädchen und der Witwe Moser dankbar, hatte sie doch auch schon überlegt, wie sie das Thema selbst noch einmal hätte ansprechen können, ohne allzu gefallsüchtig zu erscheinen.
»Ach, ihr glaubt’s ja gar nicht, wie lang es schon her ist, dass ich diese Geschichte erzählt hab. Hier, an dieser Stelle, ist nämlich ein ungarischer Pilger gestorben, der zusammen mit seiner Frau auf dem Weg nach Mariazell gewesen ist.«
Während sie das erzählte, schaute sie zu, wie sich der kleine Toni neben das Mädchen setzte und die Hand auf dessen Schulter legte. Eine seltsam liebevolle Geste, hatte der Toni doch nicht viel Freude an seinem Leben, mit einem Vater, der lieber unter einem Auto lag und schraubte, und einer Stiefmutter, die Kinder nicht mochte.
»Damals«, fuhr die Lissi fort, »war man sehr gläubig, und um das zu beweisen, haben viele Menschen auf den Knien kriechend ihre Wallfahrten gemacht. Arg weh hat das getan, und so muss das auch dem Ungarn ergangen sein. Geflucht soll er haben vor Schmerzen, als er hier nicht mehr hat weiterkriechen können. Und weil der Fluch so laut gewesen ist, hat er sich auf die Zunge gebissen, bis sie ganz blau wurde.«
Die Lissi hatte das ganz blau schön in die Länge gezogen und war sich der Aufmerksamkeit aller gewiss. »Und dann ist er verstorben. Seine Frau ist alleine weitergepilgert, doch auch sie ist nie in Mariazell angekommen. Sie ist im Mürztal jämmerlich zugrunde gegangen. Und so, wie man dort für die Tote Frau eine Kapelle errichtet hat, hat man hier eine für den Toten Mann gebaut.«
Dass bei all dem Graus eins der Kinder zu weinen anfangen würde, damit hatte sie, weil es doch schon arg lang her war, nicht unbedingt gerechnet. Doch an den Tränen, die nun dem kleinen Toni die Wangen hinunterflossen, war eher die Jule schuld, hatte sie ihn doch eben gerade äußerst boshaft mehrmals in den Arm gezwickt. Der Junge sprang auf, lief an den Polizisten vorbei und stolperte, wie zuvor das Mädchen, über die Füße des alten Kroisleitner.
»Na, danke schön«, kommentierte das der Polizist, der sich anschließend an den Automechaniker wandte. »Sei so gut, Bruno, nimm den Toni, lauf ins Dorf und hol mit deinem Bus die ganze Bagage ab.«
»Das hast du bestimmt nicht bös gemeint, oder«, fragte die Lissi das Mädchen, das erst unschuldig tat, dann aber doch nickte.
»Aber Tante Lissi! Ich habe das wirklich gesehen. Auf den Knien …«, begann die kleine Jule zu flüstern, doch wieder einmal wurde sie zu ihrem Unmut von ihrer Großmutter unterbrochen.
»Ja, mein Kindchen, auf den Knien«, wiederholte die Frau Moser die letzten Worte ihrer Enkeltochter, »klingt blöd, nicht wahr, doch so sind sie nun einmal, die Menschen …«
»Aber«, unterbrach die Lissi, was der Witwe, da Schmollmund, offensichtlich nicht, der Enkeltochter dafür aber umso mehr gefiel, »aber es gibt einen Grund, warum der Pilger ausgerechnet hier verstorben ist, und der hat mit einer älteren und kaum bekannten Legende vom Toten Mann zu tun.«
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Der Kroisleitner Karl bemerkte die Fliegen nicht, als er aus dem Wald stolperte und die ersten Häuser erreichte, obwohl sie auf einmal so zahlreich das Dorf bevölkerten, als hätten alle Bauern gleichzeitig die Jauche auf ihren Feldern verteilt. Denn der Schuhmacher war in einer anderen Welt verschwunden. Gedankenblitze an seinen Vater, hier ein Satz von der Mutter, dort ein Moment, wie er dem Vater hinterhergeschaut hatte, wenn er wieder Unheil hatte verhindern müssen – der Kroisleitner Karl durchlebte das Gute und das Schlechte aus dem gemeinsam gelebten Leben noch einmal, ein Schnelldurchlauf fast, in Zeitlupe bald. Der Vater schien unsterblich zu sein, auch wenn er jetzt verstorben war.
Und das ließ ihn erst mit einiger Verzögerung begreifen, dass die Menschen, die gerade aus der Kirche traten, ihm wohl hatten kondolieren wollen. Der neue Pfarrer, die Maria Kornfeld vom Wagnerhof, der Bürgermeister, der Doktor, ja sogar die Dagmar, sie alle wollten den Verlust mit ihm teilen. Doch nun standen sie da und starrten ihm hinterher, weil er nicht hatte stoppen können, weil die Beine nicht aufzuhalten waren, die ihn am Gasthof Zum Valentiner vorbeitrugen, an der Post und selbst – auch wenn das absolut nicht seine Absicht war – am eigenen Haus.
Der Mutter hatte er vom Tode des Vaters berichten und ihr beistehen wollen, doch nun lief er einfach weiter, nichts hielt ihn auf, und nachdem er den Supermarkt passiert hatte, tauchte vor ihm bereits das Ortsausgangsschild auf. Leicht nach vorn gebeugt verschwand der Kroisleitner Karl hinter der nächsten Kurve aus dem Blickfeld des Dorfes, dessen Bewohner als Letztes den vom schnellen Schritt durchgerüttelten Kopf erkennen konnten.
*
»Vor langer Zeit, als das Valentiner noch eine einfache Taverne gewesen ist«, so begann die Lissi ihre Erzählung von der älteren Legende, »da trafen sich in der Nacht vom 5. auf den 6. Jänner drei Männer im Wirtshaus, um nach der harten Arbeit zu feiern. Sie waren ausgelassen, sie tranken und spielten Karten. Es wurde gescherzt und gelacht, und man setzte immer höhere Beträge.
Bald hatte der eine, den alten Friedl haben‘s ihn genannt, sein gesamtes Vermögen verspielt. Während er darüber noch fluchte, betrat ein Wandersmann das Wirtshaus. Niemand kannte den Fremden, und es wurde totenstill im Raum. Der Mann setzte sich zum Friedl, zog einen Sack Gold aus seinem Umhang und sprach: ›Tausch deine Seele gegen das Gold und du bist ein reicher Mann!‹
Da erkannte der alte Friedl den Fremden – es war der Leibhaftige! – und es überkam ihn die Angst. Doch in seiner Verzweiflung über die hohen Spielschulden schnappte sich der Friedl das Gold, rannte zu seiner Kutsche und brauste davon. Er feuerte seine Pferde an, diese flogen über Berg und Tal, doch der Leibhaftige kam näher und näher. Und als der Friedl dessen Atem spüren konnte, fluchte er wie der schlimmste Sünder, wie später auch der ungarische Pilger. Und genau in dem Moment stürzte er vom Kutschbock und brach sich die Knochen. Das Lachen des Leibhaftigen konnte man bis in die umliegenden Dörfer hören.
Am nächsten Tag machten sich die Bauern auf die Suche nach dem Friedl, und man fand ihn – mit einer blau angelaufenen Zunge und zerschundenen Knien – hier oben, an dieser Stelle, wo sie ihn auch beerdigt haben. Auf seinem Grab wurde ein Kreuz errichtet und später – nach dem Tod des Pilgers – die Kapelle zum Toten Mann. Der Fremde aber und die Kutsche mit den Pferden wurden nie mehr gesehen.«
»Und der Leibhaftige«, flüsterte das Mädchen, »ist das dein Mann, Tante Lissi?«
Schnell schlug die Lissi ein Kreuz. »Der Jockl? Geh! Der Leibhaftige, das ist der Teufel. Aber sprich seinen Namen nicht laut aus, verstehst du, denn er ist noch immer unter uns. An diesem Ort. An dieser Stelle.«
»Mein Gott«, sagte die Witwe Moser und die Lissi nickte ernst.
»Und in jeder Nacht vom 5. auf den 6. Jänner, oder wenn du fluchst, wie der ungarische Pilger vor Schmerzen, aber auch wenn du nur den richtigen Namen des Leibhaftigen aussprichst, dann zeigt er sich in seiner wahren Gestalt. Und dann passiert dir das, was dem alten Friedl passiert ist, dem Pilger und jetzt auch noch dem Kroisleitner Alois …«
Viel hatte sich verändert.
Emma hatte den Samstagabendbus genommen, um vom Bahnhof in der Tiefebene hier in die höher gelegene Landschaft zu kommen. Der Ferienhof Waldesruh, der riesige Bauernhof der Eheleute Rasch, war die letzte Haltestelle kurz vor St. Margarethen. Er schien verlassen zu sein, was Emma, so wie der Sohn nach dem Tod seiner Eltern gewirtschaftet hatte, nicht überraschte. Trotz des Sonnenscheins wirkten das Gasthaus, die Ställe und der verwilderte Innenhof öde und grau. Vom Rasch, dem Sohn, war nichts zu sehen.
Der Bus raste die abfallende Straße weiter, ihr bekannte Höfe wischten zu schnell vorbei, um sie erkennen zu können. Gleich nach der Autowerkstatt vom Bruno Hinterberger nahm der Fahrer die neu gebaute Umgehungsstraße, um von unten ins Dorf hineinzufahren und auf dem Platz vor der Kirche stehen zu bleiben. Emma spürte ein leichtes Beben, nachdem sie ausgestiegen war. Als wäre eine Fotografie doppelt belichtet worden, so kam ihr das Dorf vor: ein Bild von der Vergangenheit, über das sich die heutige Wirklichkeit schob.
Sie wedelte die vielen Fliegen fort, die hatte sie ganz vergessen, schirmte ihre Augen mit der Hand vor der schon etwas tief stehenden Sonne ab und schlug den Weg in Richtung Wagnerhof ein – mit gesenktem Kopf, um den Blicken der Menschen, die vor der Kirche standen, zu entgehen. Noch wollte sie nicht die Rückkehrerin sein. Erst zur Mutter, dann zum alten Kroisleitner wollte sie gehen, ihr den Schock über die Heimkehr nehmen, ihn über die vergangenen zehn Jahre ausfragen.
Sie roch die Heimat.
Von London mit dem Flugzeug, ab Wien mit dem Zug und dann mit dem Bus hierher: Es hatte nicht länger als ein paar Stunden gedauert, und jetzt – durch den Wald – duftete es nach Schwammerln, Blaubeeren, von Wildschweinen aufgewühlter Erde, Tannenharz und Fichtennadeln.
Sie sog die Gerüche auf, Erinnerungen kamen hoch, an die schöne, aber traurige Kindheit, an die Jugend, in der sie Herzen erobert und wieder gebrochen hatte, und an die ersten Jahre als Erwachsene, in denen sie sich immer mehr wie eine Gefangene gefühlt hatte. Sie konzentrierte sich wieder auf den Waldweg. Auch der hatte sich nicht verändert. Sie lachte über die ewig alten Wurzeln, die sie stolpern ließen. Emma hatte ein Leben hinter sich gelassen. Aber ein anderes hoffte sie wiederzufinden.
Vor ihr lag der Kerschbauerhof.
Früher hatte sie hier wohnen wollen. Es war das schönste Bauernhaus der Gegend. Es war wie ihr Zuhause, der Wagnerhof, vom Krieg verschont geblieben. Dem Haus aus geschwärztem Holz schlossen sich der große Stall und ein Schuppen an – alles heruntergekommen, aber immer noch idyllisch. Niemand war zu sehen. Sie schlenderte in die Scheune. Fünf oder sechs Kühe lagen in ihren Boxen. Voller Vertrauen schauten sie sie wiederkäuend an. »Ein Kuhauge ist wie ein Spiegel der Seele«, hatte die alte Johanna Kerschbauer immer gesagt.
Ob sie noch immer Schnaps brannte? Ob sie überhaupt noch lebte? Emma verließ den Stall. Plötzlich hatte sie es eilig, nach Hause zu kommen. Im Laufschritt durchquerte sie die sonnendurchfluteten steilen Wiesen. Schon von weitem konnte sie den weißen Schornstein erkennen.
Sie erreichte den Hof – ganz außer Atem, einen solchen Marsch hatte sie lange nicht zurückgelegt. Ein großes Auto stand dort, keine Kuh, kein Hund, nicht ein Huhn, aber das Wasser, das mit einem Schlauch aus der nahen Quelle abgezweigt wurde, plätscherte wie seit Ewigkeiten in die Tränke.
Der Schlauch war nicht mehr grün, sondern gelb.
Noch traute sie sich nicht, nach der Mutter zu rufen. Noch sprang sie nicht wie ein Kind die Treppe hoch und hinein in die Stube. Noch blieb sie stehen, im Hof, so vertraut, so fern. Sollte sie wirklich?
»Was machst du hier? Schleich di!«
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