Angehörige von Menschen mit Demenz beraten - Samuel Vögeli - E-Book

Angehörige von Menschen mit Demenz beraten E-Book

Samuel Vögeli

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Beschreibung

Die Autor_innen des Praxishandbuchs zur Beratung der Angehörigen von Menschen mit Demenz beziffern, wie viele Menschen direkt oder als Angehörige von Demenz betroffen sind. Sie beschreiben die Aufgaben, Belastungen, Bedürfnisse und Ressourcen von Angehörigen. Die Autor_innen klären grundlegende Konzepte, Kompetenzen, Prinzipien und Settings der Beratung und stellen die aktuelle Studienlage zum Thema "Angehörigenberatung von Menschen mit Demenz" dar. Sie beschreiben den Beratungsprozess und benennen häufige Beratungsthemen, wie die Organisation von Entlastungen und pflegerisch-finanziellen Unterstützungsangeboten sowie die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Pflegearbeit. Konkret zeigen sie auf, wie Angehörige zum Krankheitsbild und zu Behandlungsoptionen einer Demenz informiert werden können. Sie beschreiben, wie Techniken zur Entspannung und Stressminderung vermittelt und Angehörige bei schwierigen Entscheidungen bezüglich Autofahren, Risikomanagement, Fremdbetreuung und palliativer Versorgung unterstützt werden sollten. Ausführlich diskutieren sie, welche Konflikte sich aus der Demenzerkrankung eines Familienmitgliedes für Beziehungen ergeben können. Die Autor_innen geben Tipps für sinnvolle Beschäftigungen und anregenden Aktivitäten im Alltag. Konkret beschreiben sie, was es bei der Beratung zu den Themen Ernährung, Körperpflege und Kontinenz zu beachten gilt, und mit welchen Beratungsansätzen Angehörige herausforderndes Verhalten mindern, Verluste betrauern sowie Resilienz, Vereinbarkeitskompetenz und Hilfsangebote aufbauen können.

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Samuel Vögeli

Nina Wolf

Angehörige von Menschen mit Demenz beraten

Familienzentrierte Beratung, Information und Begleitung

Angehörige von Menschen mit Demenz beraten

Samuel Vögeli, Nina Wolf

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Pflege:

André Fringer, Winterthur; Jürgen Osterbrink, Salzburg; Doris Schaeffer, Bielefeld; Christine Sowinski, Köln; Angelika Zegelin, Dortmund

Samuel Vögeli. Pflegeexperte MScN

voegeli-beratung GmbH

Geisseweg 10

5330 Bad Zurzach

[email protected]

Nina Wolf. Dr. phil., Zürich

Alzheimer Zürich

Seefeldstrasse 62

8008 Zürich

[email protected]

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Hogrefe AG

Lektorat Pflege

z. Hd. Jürgen Georg

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Jürgen Georg, Rita Madathipurath, Caroline Suter

Redaktionelle Bearbeitung: Martina Kasper

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: Getty Images/NoSystem Images

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Format: EPUB

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96008-1)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76008-7)

ISBN 978-3-456-86008-4

https://doi.org/10.1024/86008-000

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Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

VorworteSamuel Vögeli

Einleitung

1 Zugehende Beratung: das Projekt

1.1 Von der Idee zum Pilotprojekt

1.2 Das Konzept

1.3 Das Team bildet sich

1.4 Vernetzung

1.5 Ein Projekt mit Stoßwirkung

1.6 Interne Evaluation

1.7 Externe Evaluation

1.8 Fazit und Ausblick

2 Angehörige von Menschen mit Demenz

2.1 Zahlen

2.1.1 Anzahl Betroffene und Angehörige

2.1.2 Merkmale und Prognosen

2.2 Tätigkeiten und Verantwortungen

2.2.1 Gründe für die Pflege- und Betreuungsübernahme

2.2.2 Eine Typologie von Angehörigen

2.2.3 Spektrum an Tätigkeiten und Verantwortungen

2.2.4 Die Begriffe „pflegende“ und „betreuende“ Angehörige

2.3 Situationen, Ressourcen und Belastungen

2.3.1 Belastungen und die Folgen

2.3.2 Positive Aspekte aus der Sicht von Angehörigen

2.4 Bedürfnisse und Wünsche von Angehörigen

2.4.1 Umgang mit der Person mit Demenz

2.4.2 Bezug auf sich selbst

3 Grundlagen für die Beratung

3.1 Was ist Beratung?

3.2 Voraussetzungen für die Beratung

3.2.1 Praktische Erfahrungen

3.2.2 Interprofessioneller Austausch

3.2.3 Selbsterfahrung und Selbstreflexion

3.2.4 Selbstbewusstsein und Sozialkompetenz

3.2.5 Anerkennung eigener Grenzen

3.3 Eigene Weiterentwicklung in der Beratung gestalten

3.3.1 Beratungswissen aneignen

3.3.2 Lernen am Modell

3.3.3 Lernen durch Selbstreflexion

4 Wichtigste Prinzipien in der Beratung

4.1 Niederschwelligkeit

4.1.1 Abbau von Barrieren

4.1.2 Tür-und-Angel-Beratung

4.2 Aufbau und Pflege von Vertrauen

4.2.1 Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhalten der Beratenden

4.2.2 Der Faktor Zeit

4.2.3 Zusammenspiel der Einflussfaktoren

4.3 Anerkennung und Wertschätzung

4.4 Normalisierung

4.4.1 Folgen unserer Leistungsgesellschaft

4.4.2 Gefühle und Erleben von Angehörigen

4.5 Umgang mit Aggression und Gewalt

4.5.1 Die Begriffe Aggression und Gewalt

4.5.2 Gewalt gegen Angehörige und andere Personen

4.5.3 Gewalt gegen Menschen mit Demenz

4.5.4 Gewaltprävention und -management in Beratungsgesprächen

4.6 Humor und Small Talk

4.7 Motivierende Gesprächsführung

4.7.1 Aufbau von Veränderungsbereitschaft (Phase 1)

4.7.2 Stärkung der Selbstverpflichtung (Phase 2)

4.8 Informationen geben

4.9 Dauer der Beratung

5 Der Beratungsprozess

5.1 Teilschritte

5.2 Das Erstgespräch

5.3 Assessment

5.3.1 Priorisierung der Themen

5.3.2 Genogramm und Ökogramm

5.3.3 Belastungsassessment

5.3.4 Assessment der positiven und bedeutsamen Alltagssituationen

5.3.5 Modell der inneren Batterie

5.3.6 Mehr-Säulen-Modell der individuellen Lebensqualität

5.4 Ziele vereinbaren

5.4.1 Zielformulierung nach der SMART-Regel

5.4.2 Die Zielerreichungsskala ZES

5.4.3 Wer definiert die Ziele?

5.5 Maßnahmen planen und durchführen

5.6 Evaluation

5.6.1 Der informierte Augenschein

5.6.2 Systematische Evaluation

5.6.3 Nutzung der Evaluationsergebnisse

6 Besondere Beratungsformen und Settings

6.1 Familienberatung

6.1.1 Vorbereitung

6.1.2 Umgang mit Skepsis und Abneigung

6.1.3 Planung

6.1.4 Grundprinzipien

6.1.5 Das erste Familienberatungsgespräch

6.1.6 Weitere Familienberatungssitzungen

6.1.7 Mögliche Schwierigkeiten

6.2 Beratung in der häuslichen Umgebung

6.2.1 Risiken und Stolpersteine

6.2.2 Themen

6.3 Beratung im Akutkrankenhaus

6.3.1 Vor dem Krankenhauseintritt

6.3.2 Während dem Krankenhausaufenthalt

6.3.3 Die Entlassung gestalten

6.3.4 Beispiel eines familiensensiblen Entlassungsmanagements

7 Häufige Beratungsthemen

7.1 Krankheitsbild und Symptome

7.1.1 Nutzen und Risiken der Informationsvermittlung

7.1.2 Ressourcen und Potenziale beleuchten

7.1.3 Bilder, Metaphern und Modelle

7.1.4 Wann ist welches Modell gefragt?

7.2 Behandlungsformen

7.2.1 Medikamentös

7.2.2 Nicht-medikamentös

7.3 Entlastung und Unterstützung

7.3.1 Hilfe annehmen als Hürde

7.3.2 Annahme von Hilfe fördern

7.3.3 Mit Ablehnung umgehen

7.4 Finanzielle Ansprüche

7.4.1 Fachstellen nutzen

7.4.2 Ansprüche an Beratende und ihr Team

7.4.3 Finanzierung des Heimaufenthaltes

7.5 Vorsorge

7.5.1 Rahmenbedingungen

7.5.2 Advance Care Planning

7.6 Stress, Belastungen und Depressionen

7.6.1 Kraftquellen finden

7.6.2 Energie tanken

7.6.3 Darüber reden

7.6.4 Prozessbegleitung

7.7 Organisation

7.8 Alltagsgestaltung

7.8.1 Bedeutsame Alltagssituationen und Demenz

7.8.2 Assessment der positiven und bedeutsamen Alltagssituationen

7.8.3 DEMIAN in der Beratungspraxis

7.9 Basale Aktivitäten des täglichen Lebens

7.9.1 Einschätzung der erforderlichen Hilfe

7.9.2 Hinweise für die Beratung

7.9.3 Professionelle Entlastung

7.10 Herausforderndes Verhalten

7.10.1 Verständnisvoll Zuhören

7.10.2 Verstehende Diagnostik

7.10.3 ABC-Verhaltensanalyse

7.10.4 Kognitive Umstrukturierung

7.11 Schwierige Entscheidungen treffen

7.11.1 Ethische Prinzipien

7.11.2 Die Entscheidungsfindung

7.11.3 Der Pflegeheimeintritt

7.12 Verlust und Trauer

7.12.1 Uneindeutiger Verlust

7.12.2 Empathischer Umgang mit der Trauer von Angehörigen

7.13 Beziehungen in Familie und Partnerschaft

7.13.1 Neue Rollen und Aufgaben

7.13.2 Veränderte Kommunikation

7.13.3 Liebe, Intimität und Sexualität

7.14 Ein eigenes Leben finden

7.14.1 Soziale Kontakte

7.14.2 Eine neue Liebe

7.14.3 Eigene Gesundheit und Interessen pflegen

7.14.4 Die Zeit nach der Betreuung

8 Forschung

8.1 Evidenzbasierung als zentrales Element der Professionalisierung

8.2 Evidenzbasierung als gesundheits- und sozialpolitisches Paradigma

8.3 Was ist eigentlich evidenzbasiert?

8.4 Das Problem der Generalisierbarkeit

8.5 Der Ärger mit der Standardisierung

8.6 Für eine Aufwertung der qualitativen Forschung

8.7 Für eine Aufwertung der Theorie

8.8 Personzentrierte Praxisentwicklung

8.9 Empfehlungen für die Praxis

Epilog

Literatur

Weiterführende Literatur

Anhang

DEMIAN Teil 1: Anamnese mit Angehörigen/Bezugspersonen

DEMIAN Teil 2: Leitfaden für pflegende Angehörige

Adressenverzeichnis

Autorenverzeichnis

Sachwortverzeichnis

|11|Geleitwort

Erkrankt ein Familienmitglied an Demenz, stellt dies die Angehörigen vor viele Fragen: Was kommt da auf uns zu? Welche Betreuung benötigt die erkrankte Person? Welche Unterstützung gibt es für uns als Angehörige? Mit solchen Anliegen und Sorgen können sich Betroffene heute an Beratungsstellen wenden. Auch im Internet findet man zahlreiche Informationen.

Das war nicht immer so. Bis in die 1990er-Jahre waren die Begriffe Alzheimer und Demenz in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Angehörige hatten keine Anlaufstelle für ihre Fragen und pflegten die Erkrankten oft mit großem Aufwand und ohne Unterstützung zu Hause. Auch nach einem Heimeintritt standen die Angehörigen mit ihren Fragen und Sorgen meist allein da, ohne dass sie vom Pflegeteam einbezogen wurden.

Angehörige von Menschen mit Demenz gründeten 1988 in der Schweiz die Alzheimervereinigung (heute „Alzheimer Schweiz“). Sie waren die ersten kompetenten Beraterinnen und Berater. Weil sie selbst damals keine professionelle Beratung bekommen und sich allein gelassen gefühlt hatten, wollten sie ihre Erfahrung und ihr Wissen weitergeben und anderen Betroffenen helfen. Von zu Hause aus boten sie telefonische Beratungen an, die rege genutzt wurden, und gründeten Gesprächsgruppen für Angehörige.

Auch in den Pflegeeinrichtungen setzte ein Umdenken ein. Ich lernte Samuel Vögeli 1999 in einer Einrichtung kennen, in der sich Pflegende das Ziel gesetzt hatten, neue Wege in der Betreuung von Menschen mit Demenz zu gehen. Uns wurde bewusst, dass der Austausch mit den Angehörigen ein zentraler Punkt ist, denn sie gaben uns viele wertvolle Informationen, die wir benötigten, damit sich die uns anvertrauten Menschen bei uns wohlfühlten. Doch auch die Angehörigen selbst brauchten unsere Anteilnahme, da sie die oft jahrelange Betreuung ihrer Liebsten an uns abgeben mussten. Mit vielen persönlichen Gesprächen, mit Angehörigengruppen und Fallbesprechungen versuchten wir, Vertrauen zu schaffen und schwierige Situationen zu lösen.

Im Oktober 2009 eröffneten wir – Samuel Vögeli als Geschäftsleiter und ich als Präsidentin von Alzheimer Aargau – eine Beratungsstelle. Vom ersten Tag an besuchten uns viele Angehörige. Die Erleichterung war groß, endlich über alle Sorgen reden zu können und Informationen über Entlastungsmöglichkeiten bei der Betreuung zu erhalten.

Im gleichen Jahr reisten wir mit einem Infobus durch den Aargau. An allen Stationen kamen Menschen und wollten beraten werden. Vor allem Menschen mit einer beginnenden Demenz und ihre Angehörigen suchten dringend Beratung, denn sie waren oft mit ihren Wahrnehmungen nicht ernst genommen worden.

Noch einen Schritt weiter ging die „Zugehende Beratung“, die Samuel Vögeli im Rahmen seines Studiums der Pflegewissenschaften ins Leben rief. Diese sieht vor, dass Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen während des ganzen Krankheitsverlaufs individuell beraten, begleitet und zu Hause besucht werden, um zusammen mit allen Beteiligten maßgeschneiderte Lösungen zu finden.

|12|Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen brauchen in gewissen Phasen Beratung. Der Bedarf an Beraterinnen und Berater ist deshalb groß und wird weiter zunehmen. Das vorliegende neue Fachbuch wird angehenden Fachpersonen, aber auch Pflegepersonal und Therapeutinnen und Therapeuten ein wichtiger Leitfaden sein. Samuel Vögeli und Nina Wolf schöpfen aus ihrer reichen praktischen Erfahrung und stellen hilfreiche und praxisnahe Instrumente für die Beratung zur Verfügung. Unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Forschungslage vertiefen sie das Verständnis für die Situation und die Bedürfnisse von Angehörigen. Ich wünsche dem Buch zahlreiche interessierte Leserinnen und Leser.

Verena Hirt

Pflegefachfrau, ehemalige Präsidentin von Alzheimer Aargau

|13|Vorworte

Samuel Vögeli

Was es bedeutet, Menschen mit schwerer Demenz zu pflegen und zu betreuen, habe ich vor 23 Jahren das erste Mal selbst erlebt, als ich die Ausbildung zum Pflegefachmann mit einem Praktikum auf einem geschützten Demenzwohnbereich des Pflegeheims Reusspark im schweizerischen Niederwil begann. Am Anfang war ich unsicher und oft überfordert, vor allem, wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner mich beschimpfte oder bedrohte. Ich merkte aber bald, dass mir die Arbeit mit Menschen mit Demenz sehr liegt und dass ich Freude daran habe. So kehrte ich nach meiner Ausbildung auf diesen Wohnbereich zurück. Wir Pflegende wurden dort intensiv fortgebildet, gecoacht und gefördert. Regelmäßige Fallbesprechungen halfen uns, unsere Arbeit zu reflektieren und in schwierigen Situationen gemeinsam Lösungen zu finden. Gegenseitige Wertschätzung und ein toller Teamgeist gaben uns auch in sehr strengen Zeiten Kraft und Motivation.

Schon bald wurde mir aber bewusst, dass Angehörige, die zuhause einen Menschen mit Demenz betreuen, keine solche Unterstützung bekommen, obwohl sie doch einen noch größeren Hilfebedarf hätten. Dies zeigte sich u. a. darin, dass unsere Bewohnerinnen und Bewohner sehr oft notfallmäßig in unserem Demenzwohnbereich aufgenommen wurden, weil ihre Angehörigen buchstäblich unter der Belastung zusammengebrochen waren.

Bereits als Pflegefachmann auf dem geschützten Demenzwohnbereich hatte ich viele intensive Gespräche mit Angehörigen. Ich hörte damals schon sehr viel darüber, was es bedeuten kann, einen an Demenz erkrankten nahestehenden Menschen jahrelang zuhause zu pflegen und zu betreuen. Viele Angehörige sagten mir in diesen Gesprächen zudem, dass ihnen bisher noch kaum jemand so verständnisvoll und geduldig zugehört habe. Über so positive Rückmeldungen war ich natürlich erfreut, aber gleichzeitig ebenso erschüttert. Nicht zuletzt trugen solche Rückmeldungen dazu bei, dass ich mich im Jahr 2009 für die Stelle als Leiter der geplanten Geschäftsstelle der Alzheimervereinigung Aargau (heute „Alzheimer Aargau“; eine Sektion von Alzheimer Schweiz) beworben habe. Ich sah einen großen Bedarf an Unterstützung für noch zuhause lebende Menschen mit Demenz und für ihre Angehörigen.

Gleichzeitig mit dem Arbeitsantritt in der neuen Funktion begann ich das Studium der Pflegewissenschaft an der Universität Basel, wo ich mich intensiv mit dem Thema Demenz und Angehörigenberatung sowie der Neuropsychologie beschäftigte. Meine Erfahrungen in der Praxis wurden durchwegs durch die Forschungsergebnisse bestätigt: Angehörige von Menschen mit Demenz erhalten in der Schweiz und in den meisten anderen Ländern der Welt nicht annähernd die dringend notwendige Unterstützung, obwohl Forschungsergebnisse stark darauf hindeuten, dass dies auch für die gesamte Gesellschaft von großem Interesse wäre. Es spricht viel dafür, dass die öffentliche Hand durch mangelnde Unterstützung von Angehörigen massiv belastet wird, z. B. durch enorm erhöhte Gesundheitskosten aufgrund jahrelanger Überlastung von Angehörigen, durch die Folgen von vermeidbaren Hospitalisierungen oder schlecht |14|vorbereiteten Heimaufnahmen von Menschen mit Demenz.

Der Vorstand von Alzheimer Aargau beschloss im Jahr 2011 aufgrund dieser Einsichten, ein Pilotprojekt mit einem kostenlosen, zugehenden Beratungsangebot zu lancieren. Das dazu zusammengestellte Beratungsteam bestand zum Teil aus Personen, die keine spezielle Beratungsausbildung genossen hatten, aber viel Erfahrung in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz mitbrachten, teilweise selbst als Angehörige. Was jetzt noch fehlte, war ein gutes, praxisnahes, verständlich geschriebenes Handbuch in deutscher Sprache zu niederschwelliger Demenzberatung. Ich wendete mich deshalb an Jürgen Georg vom Hogrefe Verlag mit der Frage, ob es möglich wäre, ein mir aus dem Studium bekanntes, sehr gutes, evidenzbasiertes US-amerikanisches Handbuch zur Beratung von Angehörigen von Menschen mit Demenz in deutscher Übersetzung herauszugeben. Jürgen Georg nahm diesen Ball sofort auf. Leider scheiterte jedoch trotz mehrjähriger Bemühungen die Herausgabe einer deutschen Übersetzung an inakzeptablen Bedingungen des US-amerikanische Verlags.

Jürgen Georg motivierte mich daraufhin, selbst ein entsprechendes Buch zu schreiben, da ich ja mittlerweile eine Menge Erfahrung, Können und Wissen zu diesem Thema gesammelt hatte. Obwohl ich enormen Respekt vor dieser Aufgabe empfand, freute ich mich über diesen Vertrauensvorschuss und entschied mich dazu, die Herausforderung anzunehmen. Die Arbeit an diesem Buch war neben der Berufstätigkeit, Familienarbeit und den Belastungen der Corona-Pandemie sowie eigenen gesundheitlichen Krisen denn auch tatsächlich nicht immer nur ein leichtes Unterfangen. Für Jürgen Georgs Geduld und Unterstützung in dieser Zeit bin ich sehr dankbar.

Ein großer Glücksfall war für mich, dass ich Nina Wolf als Co-Autorin gewinnen konnte, welche sich ebenfalls wissenschaftlich und in der beruflichen Praxis intensiv mit dem Thema Beratung von Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen auseinandersetzt. Mit ihrem Hintergrund in Sozialanthropologie und Empirischer Kulturwissenschaft und einer noch vergleichsweise kurzen Praxiserfahrung in der Beratung blickt sie in zweifacher Hinsicht aus einem anderen Blickwinkel auf die Thematik: Erstens ist sie frei von gewissen fachdisziplinären und berufspolitischen Verzerrungen, welche uns Pflegefachpersonen zuweilen den klaren Blick trüben und zweitens ist langjährige Erfahrung in Beratung nicht immer nur förderlich für die verständliche Vermittlung von Wissen und Können. Nina Wolf hinterfragte während der Arbeit an diesem Buch immer wieder Dinge, die für mich als gestandener Pflegefachmann und Berater selbstverständlich oder selbsterklärend schienen. Ich glaube, dass dies der Praxisnähe und Lesbarkeit unseres Buches sehr geholfen hat. Dafür und überhaupt für die tolle gemeinsame Arbeit an unserem Buch möchte ich Nina Wolf von Herzen danken.

Es gibt noch so viele weitere Personen, denen ich zu Dank verpflichtet bin, weil sie mich direkt oder indirekt in der Zeit des Schreibens an diesem Buch unterstützt, inspiriert und ermutigt haben. Alle zu nennen würde den Umfang dieses Vorworts sprengen und ich möchte nicht das Risiko eingehen, jemanden zu vergessen. Deshalb an dieser Stelle einen ganz herzlichen Dank an Euch alle, insbesondere an die vielen Angehörigen, welche mir in unzähligen Beratungsgesprächen und Interviews ihr Vertrauen geschenkt haben und an meine Familie für die große Geduld und die moralische und tatkräftige Unterstützung. Besonderen Dank geht an meine Frau, Christina Krebs, für ihren andauernden Support und auch dafür, dass sie mir in ihrer Funktion als Geschäftsleiterin von Alzheimer Zürich ihre Mitarbeiterin Nina Wolf als Ko-Autorin empfohlen hat.

Nina Wolf

Dem Thema Demenz begegnete ich zum ersten Mal während einer Lehrveranstaltung von Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann an der Universität Zürich. Am Institut für Sozialanthropologie |15|und Empirische Kulturwissenschaft wird Demenz aus einer Alltagsperspektive beleuchtet: Wie erleben Betroffene und Angehörige die Krankheit und wie sprechen sie darüber? Wie meistern sie den Alltag? Und was sagt die Art und Weise, wie wir als Gesellschaft mit Demenz umgehen, über uns aus? Mein Interesse für das Thema war schnell geweckt und ich beschloss, mich im Rahmen meines Master- und Doktoratsstudiums intensiv mit Dynamiken in Sorge-Netzwerken um Menschen mit Demenz auseinanderzusetzen. In den fünf Jahren, in denen ich Betroffene und ihre Familien, Freunde und Nachbarn eng begleiten durfte, wurde Demenz für mich zu einer Herzensangelegenheit. Es waren die Begegnungen mit den Menschen im Forschungsfeld, die mir zeigten, dass ich den Weg in die Praxis einschlagen möchte.

Die Chance, meine Erfahrungen in die Beratung von Angehörigen einfließen zu lassen, erhielt ich von Christina Krebs, Geschäftsleiterin von Alzheimer Zürich. An dieser Stelle möchte ich Dir, liebe Christina, für Deine immerwährende Unterstützung und deinen Rückenwind herzlich danken. Das Handwerkszeug der Beratung erlernte ich (und lerne ich bis heute) neben diversen praxisrelevanten Weiterbildungen vor allem „on the job“: durch ein laufendes Reflektieren meiner eigenen Praxis und – vor allen Dingen – durch das Eingebundensein in ein erfahrenes, interprofessionelles Team, in dem auf das Lernen von und miteinander sehr großen Wert gelegt wird. Ein besonderer Dank gebührt in diesem Zusammenhang Lisbeth Stocker, die mich geduldig in die Beratungstätigkeit bei Alzheimer Zürich einführte. Auch Irène Taimako, von deren langjährigen Erfahrung in der Zugehenden Beratung ich auch heute noch profitieren darf, ist ein Vorbild und eine wichtige Stütze im Arbeitsalltag. Nicht zuletzt möchte ich an dieser Stelle meinem Co-Autor, Samuel Vögeli, von Herzen Danke sagen. Das gemeinsame Schreiben dieses Buches und die vielen konstruktiven Diskussionen waren für mich und meine Beratungspraxis eine große Bereicherung. Danke, lieber Samuel, dass Du mir – einer im Vergleich zu Dir wenig(er) erfahrenen Beraterin – die Möglichkeit gegeben hast, Wissensinhalte und Tipps, die mir am Anfang meiner Beratungskarriere besonders halfen, niederzuschreiben. Danke, dass ich durch Deine Initiative Werkzeuge, Methoden und Techniken, die sich für mich bewährt haben, weitergeben darf. Und „last but not least“: Danke, dass ich von Deinem Erfahrungsschatz nicht nur profitieren, sondern Dinge auch kritisch hinterfragen und mit Dir ausdiskutieren durfte. Es freut mich sehr, dass die Leserinnen und Leser dieses Buches, genau wie ich, nun auch an Deinem Wissen teilhaben dürfen.

Danksagung

Die Herausgeberinnen und Herausgeber danken der Paulie und Fridolin Düblin Stiftung für die finanzielle Unterstützung dieses Werkes. Die PFD-Stiftung unterstützt Angehörige bei der ambulanten und teilstationären Betreuung von Menschen mit Demenz und setzt sich für deren Autonomie und Würde sowie eine hohe Betreuungsqualität ein.

|17|Einleitung

Einblick in den Alltag von Angehörigen

Eine Tochter erzählt: „Mein Vater hat schon vor vielen Jahren – so etwa mit 78 – begonnen, sich zu verändern. Er wurde zunehmend reizbar und begann, alle zu beschuldigen, dass sie ihm Dinge klauen oder ihn betrügen. Immer wieder behauptete er z. B., man habe ihm in einem Laden das Wechselgeld falsch rausgegeben. Es gab dann immer wieder Krach und meine Mutter litt sehr darunter. Das ging sicher ein paar Jahre so und meine Mutter war schon damals sehr belastet.

Irgendwann fiel mir dann auf, dass mein Vater Probleme mit dem Gedächtnis hat. Er erzählte immer wieder das Gleiche, als sei es das erste Mal. Ich sprach meine Mutter darauf an. Sie sagte, das sei schon länger so, aber nur wenn er müde ist. Das sei eben jetzt das Alter. Ich sprach dann auch noch mit meinem Vater, aber der wollte nichts wissen. Er habe überhaupt keine Probleme mit dem Gedächtnis. Ich drängte Mutter, mit dem Hausarzt zu sprechen, was sie dann auch machte. Dieser behandelte meinen Vater nun schon seit über 30 Jahren. Er sagte nur: ‚Ja, mit 80 ist es normal, wenn man ein bisschen vergesslich wird.‘

Mein Vater veränderte sich immer mehr. Er zog sich zurück, wollte nicht mehr aus dem Haus, keine Leute mehr treffen. Er schlief viel, auch am Tag. Er interessierte sich für nichts mehr und wurde immer reizbarer. Meine Mutter rief mich oft an und weinte, weil Vater so wütend geworden sei. Früher war mein Vater ein ganz friedlicher Mensch. Aber jetzt konnte er wegen einer Kleinigkeit total durchdrehen.

Meine Eltern begannen, sich immer mehr zu isolieren. Erstens, weil mein Vater keine fremden Leute mehr ertrug und zweitens, weil sich meine Mutter für das Verhalten meines Vaters genierte. Sie schlossen sich richtig ein. Ich glaube, dadurch verschlimmerte sich der Zustand meines Vaters zusätzlich. Aber auch meine Mutter war immer schlechter beieinander, ich glaube, sie wurde depressiv. Meine dringende Bitte, erneut zum Hausarzt zu gehen, wollte sie nicht hören. Der habe schließlich behauptet, Vergesslichkeit sei im Alter normal.

Eines Morgens rief meine Mutter mich bei der Arbeit an: Vater sei verschwunden. Ich konnte zum Glück gleich los und fuhr mit dem Auto durch die Gegend, wo meine Eltern wohnen. Nach einer Weile fand ich meinen Vater. Er ging ohne Mantel in den Hausschuhen auf dem Trottoir. In dieser Kälte! Danach willigte meine Mutter ein, nochmals mit Vater zum Arzt zu gehen. Der machte so einen Test mit ihm – stellte ihm Fragen und er musste eine Uhr zeichnen – und dann sagte er, mein Vater habe Alzheimer. Aber da könne man nichts dagegen machen. Es gäbe noch keine Heilung.

Es kamen laufend neue Schwierigkeiten hinzu, z. B., dass er immer mehr Probleme mit der Sprache hatte. Er fand oft einfach die Worte nicht und wurde wütend, wenn man ihn nicht verstand. Nachts wurde er immer unruhiger, konnte nicht mehr schlafen, ging ständig in der Wohnung hin und her und suchte nach Essen. Meine Mutter war fix und fertig. Der Hausarzt verschrieb meinem Vater ein Schlafmittel. Er schlief dann zwar besser in der Nacht, war am Tag aber komplett verwirrt und unsicher auf den Beinen.

|18|Ich rief dann bei der Alzheimer Beratungsstelle an, wo mir geraten wurde, in der Memory Clinic eine genaue Abklärung zu machen und die richtige Behandlung zu verordnen. Der Hausarzt war aber nicht bereit, meinen Vater zu überweisen. Das habe keinen Sinn, man könne gegen Alzheimer nichts machen. Das koste nur viel und bringe nichts. Auf den Rat der Beraterin meldeten wir meinen Vater selbst in der Memory Clinic an. Dort wurden viele Untersuchungen und Tests gemacht und Medikamente verschrieben. Meine Mutter wollte nicht mehr zum Hausarzt.

Jetzt brauchte mein Vater immer mehr Hilfe, auch beim An- und Ausziehen und bei der Körperpflege. Aber er wollte sich nicht helfen lassen. Vor allem gegen das Waschen wehrte er sich heftig. Das gab dann immer wieder richtige Kämpfe zwischen meinen Eltern, wenn Mutter ihn waschen wollte. Ich glaube, die haben sich manchmal richtig geschlagen.

Ich hätte meiner Mutter gerne mehr geholfen, aber ich konnte bei der Arbeit nicht reduzieren, dazu war mein Chef nicht bereit. Und die Arbeit ganz aufgeben kam nicht infrage. Woher sollte dann das Geld kommen?

Ich drängte meine Mutter, zu einem anderen Arzt zu gehen, was sie dann auch machte. Der neue Hausarzt verschrieb die Spitex (ambulanter Pflegedienst in der Schweiz), aber das ging gar nicht gut. Als die Spitex-Mitarbeiterin das erste Mal kam, wollte sie meinen Vater duschen. Das ging aber nicht, weil er sich so wehrte. Die Spitex-Mitarbeiterin ging dann unverrichteter Dinge wieder und meine Mutter sagte, sie brauche die Spitex nicht. Das könne sie allein besser.

Mein Vater sah immer schlimmer aus und hatte einen üblen Körpergeruch, weil er sich nicht waschen ließ. Er schlief jetzt den ganzen Tag und war nur noch nachts wach. Meine Mutter wollte niemanden mehr ins Haus lassen, weil es auch schon schlimm aussah. Vater machte nachts ein riesen Chaos und Mutter kam nicht mehr nach mit Aufräumen und Putzen. Mein Vater begann, auch in Ecken zu pinkeln und zu stuhlen.

Als meine Mutter zusammenbrach und ins Spital musste, kam mein Vater in ein Pflegeheim. Als ich ihn dorthin brachte, übergab ich der zuständigenPflegefachfrau den Plastiksack mit den vielen Medikamenten meines Vaters. Sie fragte, welche Medikamente er wann und in welcher Dosis einnehmen müsse. Ich wusste es nicht, denn das hatte immer meine Mutter gemacht. Also rief ich sie im Spital an und fragte nach. Sie sagte: „Ja, am Morgen muss er so eine kleine weiße Tablette nehmen und zwei kleine blaue und die rosarote Kapsel nimmt er am Mittag, usw.“ Da stellte sich heraus, dass Mutter ihm die Schlaftablette immer am Morgen gegeben hatte. Kein Wunder, dass er am Tag schlief und nachts wach war!

Im Pflegeheim haben sie dann auch festgestellt, dass Vater völlig ausgetrocknet war. Er hatte offenbar zu Hause viel zu wenig getrunken. Und er hatte eine schlimme offene Stelle am Unterschenkel.

Das Personal im Pflegeheim hatte es dann gar nicht einfach mit meinem Vater. Er war total durcheinander und fühlte sich durch die Pflegerinnen bedroht. Er wehrte sich gegen die Pflege und schrie viele Stunden am Tag und auch nachts einfach so vor sich hin. Er griff auch immer wieder Mitbewohner an. Es war schlimm.

Die Pflegerinnen haben sich wirklich große Mühe gegeben, aber ich hatte oft ein richtig schlechtes Gewissen, dass mein Vater ihnen solche Schwierigkeiten machte. Nach ein paar Monaten wurde er dann ruhiger und meine Mutter hat sich auch wieder etwas erholt. Aber Vater lebte nur noch etwa ein halbes Jahr. Er starb dann an einer Lungenentzündung.“

Was diese Tochter erzählt, ist ihr und ihren Eltern nicht wirklich passiert. Denn diese Tochter und auch ihre Eltern sind keine real existierenden Personen. Wir haben diesen Bericht aus Elementen von zahlreichen Gesprächen mit Angehörigen von Menschen mit Demenz zusammengefügt. Es handelt sich also um eine Art Collage. Alles, was darin beschrieben wird, haben wir aber selbst miterlebt oder es wurde uns aus erster Hand berichtet.

Nun könnte man sich beim Lesen natürlich denken, dass die einzelnen Ereignisse für sich gewiss vorkommen können, aber sicher nicht in dieser Ansammlung und Häufung. Tatsächlich |19|hören wir in unserer Arbeit mit Angehörigen von Menschen mit Demenz immer wieder von genau solchen langen und zermürbenden „Irrwegen“. Viele Angehörige haben – v. a. bei Erstgesprächen – ein großes Bedürfnis, endlich einmal einem Menschen alles zu erzählen, was sie erleben und erlebt haben. Und das ist dann eben oft eine ganze Menge!

Was brauchen Angehörige von Menschen mit Demenz in solchen oder ähnlichen belastenden Situationen? Diese Frage zu beantworten, ist das – zugegeben ehrgeizige – Ziel dieses Buches. Wir setzen uns damit auseinander, wie Angehörigenberatung aussehen müsste, damit sie wirklich hilfreich und wirksam ist. Nun gibt es dazu mittlerweile eine große Anzahl wissenschaftlicher Studien, welche gezeigt haben, dass bestimmte Beratungs- und Therapieangebote die Situation von Angehörigen deutlich verbessern können. Mögliche positive Effekte sind beispielsweise, dass sich Angehörige weniger belastet und/oder depressiv fühlen, vom Umfeld mehr Unterstützung erfahren oder dass die demenzbetroffene Person länger zuhause wohnen kann (Garand et al., 2019; Mittelman et al., 2006; Signe & Elmstahl, 2008; Sperling et al., 2019; Wilz et al., 2018). In den meisten Fällen handelt es sich bei diesen Angeboten um hochspezialisierte und oft zeitintensive Multikomponenten-Interventionen.

Natürlich wäre es wünschenswert, dass Angehörige von Menschen mit Demenz überall Zugang zu hochprofessioneller, spezialisierter, evidenzbasierter Beratung und Therapie hätten. Psychotherapeutische Ansätze oder Beratungsmodelle, z. B. das Tele.TanDem-Behandlungsprogramm (Wilz et al., 2015) oder das Beratungsmodell von Mittelman und Kollegen (2006), bei denen Angehörige über einen längeren Zeitraum von einer gleichbleibenden Fachperson begleitet werden und deren Wirksamkeit in wissenschaftlichen Studien aufgezeigt wurde (Mittelman et al., 2006; Wilz et al., 2018), wären in einer perfekten Welt allen zugänglich. Die Realität sieht aber derzeit in vielen deutschsprachigen Regionen ganz anders aus. Es gibt zwar einige lokale Bestrebungen, prozessbegleitende Beratungsmodelle mit einer konstanten Ansprechperson für Angehörige von Menschen mit Demenz aufzubauen. Viele davon befinden sich aber im (Pilot-)Projektstatus mit ungesicherter Finanzierung und nur ganz wenige davon sind bisher in die Regelversorgung übernommen worden. Oft werden Pilotprojekte ein paar Monate oder bestenfalls ein paar Jahre lang von öffentlicher und/oder privat-gemeinnütziger Seite unterstützt. Die weitere Finanzierung scheitert dann meistens an den fehlenden rechtlichen Rahmenbedingungen des Gesundheits- und Sozialwesens. Auf gesundheits- und sozialpolitischer Ebene muss also noch viel getan werden, um diesen Missstand zu beheben.

Neben dem unbedingt nötigen Druck auf die Politik, die rechtlichen Rahmenbedingungen der bedarfsgerechten Finanzierung von Angehörigenberatung zu schaffen, gibt es aber schon jetzt die Möglichkeit, Potenziale von Fachpersonen im Gesundheits- und Sozialwesen zu nutzen, um die Beratung von Angehörigen von Menschen mit Demenz zu verbessern. Die zahlreichen internationalen Forschungsprojekte und die vielen Praxiserfahrungen, welche in diesem Bereich bereits gemacht, dokumentiert und publiziert wurden, stellen einen großen Fundus an bewährten Strategien dar. Die Nutzung dieses Fundus durch Fachpersonen des Gesundheits- und Sozialwesens wird aber dadurch erschwert, dass die meisten entsprechenden Informationen nur in englischer Sprache vorliegen. Hinzu kommt, dass wissenschaftliche Literatur oft wenig eingängig und verständlich formuliert ist. Es fehlt also an niederschwelligen Zugängen zu wichtigen Informationen für Beratende. Noch gibt es im deutschsprachigen Raum keine Publikation, welche allgemein verständlich (d. h. nicht in einer akademischen Fachsprache) diejenigen Prinzipien der Beratung von Angehörigen von Menschen mit Demenz darstellt, welche sich in wissenschaftlichen Studien als wirksam erwiesen haben. Ziel dieses Buches ist es, genau hier einen Beitrag zu leisten.

|20|Wenn wir uns in diesem Buch immer wieder auf wissenschaftliche Studien beziehen, in denen die Wirksamkeit von Beratungsansätzen untersucht wurde, heißt das allerdings nicht, dass aus unserer Sicht alles, was Beratende von Angehörigen von Menschen mit Demenz tun, „evidenzbasiert“ sein sollte – jedenfalls nicht in einem engen Sinn (Kap. 8). Dies wäre auch ein völlig unrealistischer Anspruch, weil Studien niemals alle Aspekte von Beratung abdecken können. Gute Praxis im Sozial- und Gesundheitswesen ist zu einem großen Teil immer noch eine Kunst – und wird es (hoffentlich) auch noch lange bleiben. Eine Kunst mit hoher Qualität auszuüben, setzt zunächst einmal ein hinreichendes Talent für die betreffende Praxis voraus. Weiter braucht es ein förderliches, kompetentes Umfeld, in dem Talent reifen und gedeihen kann. Und schließlich bedarf es vieler Jahre praktischer Erfahrung und Übung, damit aus Talent Kunstfertigkeit wird.

Es gibt allerdings viele Beispiele, die eindrücklich aufzeigen, was passieren kann, wenn sich Fachpersonen ausschließlich auf ihr Talent, ihre Ausbildung und ihre Erfahrung verlassen und sich nicht mit den Forschungsergebnissen, die ihr Praxisfeld betreffen, auseinandersetzen. Die Gefahr der „Betriebsblindheit“ oder der „déformation professionelle“ ist nicht zu unterschätzen. Es ist ratsam, die eigene Praxis laufend zu reflektieren und zu überprüfen, ob Praktiken, die sich (aus welchen guten oder weniger guten Gründen auch immer) eingeschliffen haben, noch sinnvoll und nützlich sind. Für diese Überprüfung ist die Nutzung von Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung sehr zu empfehlen. Zwar ist die Dokumentation von wissenschaftlich getesteten Interventionen in den wenigsten Fällen genügend detailliert, um sie für die Praxis direkt nutzen zu können. Und selbst bei gut dokumentierten stellt sich immer die Frage, wie es um die Übertragbarkeit in andere Kontexte und Settings steht. Dennoch sind wir überzeugt, dass Fachpersonen aus der Lektüre wissenschaftlicher Forschung wichtige Hinweise, Impulse und Anregungen erhalten können.

Weil also gute Beratung eine Kunst ist, spiegeln die Empfehlungen in diesem Buch immer auch unsere eigene Praxis wider. So blicken wir gemeinsam auf viele Jahre Erfahrung in der Beratung von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen zurück:

Samuel Vögelis Laufbahn führte ihn von der Leitung eines Demenzwohnbereichs als Pflegefachmann über die Arbeit als Pflegeexperte APN in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Als Projekt- und schließlich Geschäftsleiter von Alzheimer Aargau (ALZ AG), einer Sektion von Alzheimer Schweiz (ALZ CH), war er maßgeblich am Aufbau des Projektes „Zugehende Beratung“ für Angehörige von Menschen mit Demenz beteiligt. Als prozessorientierte Beratungsform konzipiert, bildet die Zugehende Beratung eine wichtige Grundlage für unsere Ausführungen in diesem Buch, weshalb wir dem Projekt ein eigenes Kapitel (Kap. 1) widmen. Heute ist Samuel Vögeli selbstständiger Berater für Themen rund um Demenz und psychische Krisen im Alter sowie Dozent an verschiedenen schweizerischen Bildungsinstitutionen.

Nina Wolf hat sich ihrerseits im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Ausbildung und Forschung auf Unterstützungsnetzwerke für Menschen mit Demenz spezialisiert. Heute ist sie u. a. als Beraterin für Angehörige bei Alzheimer Zürich (ALZ ZH) tätig und in die Weiterentwicklung des Projektes „Zugehende Beratung“ für den Kanton Zürich involviert.

Es ist uns ein Anliegen, dass die Ausführungen in diesem Buch praxisnah und greifbar sind. Sie werden beim Lesen deshalb immer wieder auf „Beispiele aus der Praxis“ oder auf sogenannte „Einblicke in den Alltag von Angehörigen“ stoßen. Genau wie die einführende Erzählung der Angehörigen sind viele dieser Beispiele Rekonstruktionen von Episoden, die wir selbst in unserer Beratungspraxis (wiederholt) erlebt oder erfahren haben. Manche der Anekdoten stammen aus Interviews, die wir im Rahmen unserer Forschungstätigkeiten geführt und (aus Gründen der Lesbarkeit) für das vorliegende Buch angepasst haben. Vereinzelt |21|werden Sie auch direkte Zitate von Angehörigen finden – also Aussagen, die tatsächlich so gemacht wurden. Wir haben Wert daraufgelegt, dass die Beispiele keine Rückschlüsse auf Personen zulassen.

Es ist uns bewusst, dass andere Fachpersonen, welche viel Erfahrung in der Beratung von Angehörigen von Menschen mit Demenz haben, andere Schwerpunkte setzen und deshalb teilweise andere Empfehlungen geben würden. Auch unsere Auswahl und Darstellung von Studienergebnissen ist nicht rein objektiv – und kann es auch gar nicht sein. Zum einen gibt es mittlerweile eine unüberschaubare Menge an einschlägigen Publikationen, sodass es gar nicht mehr möglich ist, eine objektive Auswahl daraus zu treffen. Die Herausforderung besteht mittlerweile nicht mehr nur darin, die richtigen Kriterien zur Beurteilung von seriösen Informationsquellen ansetzen zu können, sondern auch aus der schieren Unmenge an publizierten Artikeln – nur schon zum Thema Beratung von Angehörigen von Menschen mit Demenz – die qualitativ hochstehenden herauszufiltern. Zur Veranschaulichung: eine Suche auf PUBMED ergab kurz vor Fertigstellung diese Buches 1028 Artikel mit den Begriffen „caregiver(s)“ und „dementia(s)“ oder „alzheimer(’s)“ im Titel. Zum anderen können Studienergebnisse zu einem so hochkomplexen zwischenmenschlichen Interaktionsprozess wie Beratung niemals alle Aspekte dieses Themenbereichs umfassen und ganz eindeutig beschreiben. Einen ausführlicheren kritischen Blick auf die Forschung werfen wir am Ende dieses Buches (Kap. 8.) Es ist uns deshalb wichtig zu betonen, dass dieses Buch keinesfalls das letzte Wort zum Thema Beratung von Angehörigen von Menschen mit Demenz sein kann und will. Es ist nicht als „Gebrauchsanweisung“, sondern als Inspirationsquelle und Reflexionsanregung zu verstehen. Unser Wunsch ist, möglichst vielen Personen, die Angehörige von Menschen mit Demenz beraten, Anregungen für ihre Praxis zu geben. Das Buch soll Lust machen auf die kritische Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und Sichtweisen, mit verschiedenen Beratungsansätzen sowie mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien. Und da auch wir selbst natürlich niemals ausgelernt haben, freuen wir uns auf viele kritische Rückmeldungen und eine rege Diskussion über dieses wichtige Thema, auf dass wir alle, welche Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen beraten, unsere Kunst zunehmend weiterentwickeln und verbessern können.

Warum der Fokus auf Angehörige?

„Nichts über uns ohne uns!“ Auf diesen zentralen Grundsatz der UN-Behindertenrechtskonvention bestehen auch Menschen mit Demenz, welche sich öffentlich für ihre Rechte einsetzen (United Nations, 2004). Dies ist aus unserer Sicht hundertprozentig zu unterstützen. Zu oft wird über die Köpfe von Betroffenen hinweg entschieden und geplant. Die Teilhabe von Menschen mit Demenz am Beratungsgespräch hat aber auch praktische Vorteile. Die gemeinsame Beratung von Menschen mit Demenz zusammen mit ihren Angehörigen ermöglicht es Beratenden, einen Eindruck davon zu bekommen, wie in der Familie untereinander (und speziell mit der betroffenen Person) kommuniziert und interagiert wird. Sie erhalten erste Informationen über Ressourcen und Problematiken im Familiensystem, welche im Verlauf des Beratungsprozesses womöglich eine wichtige Rolle spielen.

Warum also schreiben wir ein Buch über die Beratung von Angehörigen? Wo bleiben die Menschen mit Demenz? Dass hier die Angehörigen im Fokus stehen, hat verschiedene Gründe. Zunächst einmal existiert bereits ein, aus unserer Sicht, empfehlenswertes Werk zur Beratung von Menschen mit Demenz in deutscher Sprache, welches sich an ein breites, nicht-akademisches Publikum richtet: In ihrem Fachbuch „Menschen mit Demenz personzentriert beraten“ gibt die Psychologin und Beraterin Danuta Lipinska handlungsleitende Tipps sowie einen wertvollen Einblick in Besonderheiten, mögliche Ziele und Funktionen des Beratungsprozes|22|ses mit demenzbetroffenen Personen (Lesetipp). Hingegen richten sich die uns bekannten deutschsprachigen Publikationen, welche die Arbeit mit Angehörigen thematisieren, an eine hochspezialisierte Zielgruppe einer akademischen Profession. Oder aber sie behandeln den Beratungsprozess kaum und eignen sich deshalb weniger als Orientierungshilfe.

Die Fokussierung auf Angehörige hat schließlich auch damit zu tun, dass viele Angehörige die Beratung allein aufsuchen. Oft ist es für sie sehr schwierig, offen über ihre eigenen Anliegen und Bedürfnisse zu sprechen, wenn die Person mit Demenz am Gespräch teilnimmt. Viele Belastungsgefühle von Angehörigen hängen direkt mit dem Verhalten der betroffenen Person zusammen (Cheng, 2017). Sie möchten diese damit aber nicht belasten oder konfrontieren. Besonders schwierig ist ein Beratungsgespräch im Beisein der an Demenz erkrankten Person, wenn letztere kein Bewusstsein ihrer Erkrankung hat oder auf die Thematisierung derselben verletzt, beleidigt oder gar aggressiv reagiert. Die sogenannte Anosognosie (die Unfähigkeit, die eigenen krankheitsbedingten Einschränkungen als solche wahrzunehmen) gehört nach Ansicht vieler Demenzexpertinnen zu den immanenten Symptomen einer Demenzerkrankung und ist deshalb nicht als „Sturheit“, „mangelnde Kooperation“ oder „Ignoranz“ oder ähnliches zu werten (Wilson et al., 2016). Beratungsgespräche mit Angehörigen, ohne die betroffenen Personen durchzuführen, dient also auch zum Schutz der letzteren vor vermeidbarem und unnötigem Stress. Dies gilt in besonderem Maß für das Assessment (Kap. 5.3), weil in dieser Beratungsphase vieles zur Sprache kommt und kommen soll, was für manche Betroffene nicht verständlich und als verletzend oder beleidigend aufgenommen wird.

Beispiel aus der Praxis

Frau G., eine Ehefrau eines an Demenz erkrankten Mannes, wird nach der Einreichung des Gesuchs auf Hilflosenentschädigung (Kap. 7.4) von einer Sachbearbeiterin der Sozialversicherungen (Schweiz) zu Hause aufgesucht, um die Einschätzung des Hilfs- und Unterstützungsbedarfs abzusichern. Herr G. ist bei dem Gespräch am Küchentisch mit dabei. Die Sachbearbeiterin fragt Herrn G., ob er Hilfe beim Toilettengang benötige. Er verneint und sagt, er brauche überhaupt keine Hilfe, er sei völlig gesund. Darauf wendet sich die Sachbearbeiterin an Frau G. und will ihre Einschätzung dazu hören. Frau G. fühlt sich sehr unwohl bei dem Gedanken, ihrem Mann zu widersprechen, insbesondere auch deshalb, weil sie genau weiß, wie er darauf reagieren würde. Jedes Mal war es zwischen ihnen zu Streit gekommen, wenn es um seine zunehmenden Verluste von Alltagsfähigkeiten ging. Er stritt immer jegliche Einschränkung seiner Selbstständigkeit ab und empörte sich über solche „Behauptungen“ seiner Frau. Frau G. beschönigt deshalb den wirklichen Unterstützungsbedarf ihres Mannes. Zwar versucht sie, der Sachberaterin ein wenig anzudeuten, dass es nicht immer ganz ohne Hilfe gehe. Aber das wahre Ausmaß an Alltagsunterstützung, das sie für ihren Mann leistet, wird dadurch nicht deutlich. Schlussendlich entscheidet die Sachbearbeiterin aufgrund der Darstellung von Herrn und Frau G., dass noch kein Anspruch auf Hilflosenentschädigung bestehe.

(Dieses Beispiel wurde aus unserer Beratungspraxis rekonstruiert.)

Obwohl Anosognosie und abwehrendes Verhalten gegen die Thematisierung von Belastungen der Angehörigen bei Menschen mit Demenz oft vorkommen, gibt es sehr wohl auch Betroffene, welche ihre Defizite und die daraus resultierenden Belastungen für ihre Angehörigen wahrnehmen und reflektieren können. Wenn dies zutrifft, muss die Person mit Demenz unbedingt (auf eine an ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse angepasste Weise) in den Beratungsprozess einbezogen werden. Praktische Anhaltspunkte hierzu finden sich im erwähnten Buch von Lipinska (Lesetipp).

|23|Was wir auch oft erleben, ist, dass die demenzbetroffene Person klar und deutlich sagt, dass sie mit einer externen Person nicht über private Angelegenheiten sprechen möchte. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Menschen mit Demenz in der Lage sind, sich mit jedem Aspekt ihrer Situation und ihres Umfeldes auseinanderzusetzen und dazu informierte Entscheidungen zu treffen. Wir haben es oft erlebt, dass Betroffene überfordert sind, wenn sie (mehr oder weniger freiwillig) an Gesprächen teilnehmen, in denen Themen diskutiert werden, die für sie zu komplex oder zu belastend sind.

Es sprechen also verschiedene Argumente sowohl für als auch gegen den Einbezug von Menschen mit Demenz in Beratungsgespräche mit Angehörigen. Die Entscheidung, ab wann die Person mit Demenz nicht (mehr) zu welchen Beratungsgesprächen eingeladen wird, bedarf stets einer sorgfältigen Abwägung. Aus unserer Sicht ist es zulässig (und teilweise sogar gefordert), Menschen mit Demenz aus Beratungsgesprächen auszuschließen, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:

Eine Angehörige wünscht explizit ein Einzelgespräch. (Wenn Angehörige ein Familiengespräch ohne die betroffene Person wünschen, müssen die Gründe dafür von der Beraterin aber offen angesprochen und kritisch hinterfragt werden.)

Die Person mit Demenz wurde zu einem Beratungsgespräch zusammen mit einer oder mehreren Angehörigen eingeladen, lehnt dies aber ab.

Es wurden mehrere Versuche unternommen, die betroffene Person in Beratungsgespräche einzubeziehen. Dabei hat sich gezeigt, dass dies sie selbst und/oder die Angehörigen zu stark belastet und dass aufgrund der fortgeschrittenen kognitiven Beeinträchtigung keine gemeinsamen Lösungen zu den dringlichsten Problemen erarbeitet werden können.

Unverzichtbar ist es in jedem Fall, der Person mit Demenz genügend alternative Gesprächsmöglichkeiten anzubieten, damit sie ihre Anliegen in der Art und dem Umfang anbringen und besprechen kann, wie sie es wünscht und braucht.

Lesetipp

Lipinska, D. (2010). Menschen mit Demenz personzentriert beraten. Dem Selbst eine Bedeutung geben. Bern: Huber.