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Angst:
In dieser Novelle betrügt eine gutsituierte Ehefrau ihren Mann. Längst hat sie sich an die Beziehung gewöhnt und jede Woche einen Tag dafür freigehalten. Doch dann wird sie von einer ehemaligen Freundin ihres Geliebten ertappt und erpresst. Ihr Leben wird zur Hölle …
Amok:
Unter diesem Titel veröffentlichte Zweig folgende Novellen:
Der Amokläufer
Fantastische Nacht
Brief einer Unbekannten
Die Frau und die Landschaft
Die Mondscheingasse
Coverbild: Tanya Shatseva / Shutterstock.com
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Zum Buch:
Angst / Amok
Stefan Zweig
Coverbild: Tanya Shatseva / Shutterstock.com
Angst
Als Frau Irene die Treppe von der Wohnung ihres Geliebten hinabstieg, packte sie mit einem Male wieder jene sinnlose Angst. Ein schwarzer Kreisel surrte plötzlich vor ihren Augen, die Knie froren zu entsetzlicher Starre, und hastig musste sie sich am Geländer festhalten, um nicht jählings nach vorne zu fallen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie den gefahrvollen Besuch wagte, dieser jähe Schauer ihr keineswegs fremd, immer unterlag sie trotz aller innerlichen Gegenwehr bei jeder Heimkehr solchen grundlosen Anfällen unsinniger und lächerlicher Angst.
Der Weg zum Rendezvous war unbedenklich leichter. Da ließ sie den Wagen an der Straßenecke halten, lief hastig und ohne aufzuschauen die wenigen Schritte bis zum Haustor und dann die Stufen eilend empor, und diese erste Angst, in der doch auch Ungeduld brannte, zerfloss heiß in einer grüßenden Umarmung.
Aber dann, wenn sie heim wollte, stieg es fröstelnd auf, dies andere geheimnisvolle Grauen, nun wirr gemengt mit dem Schauer der Schuld und jenem törichten Wahn, jeder fremde Blick auf der Straße vermöchte ihr abzulesen, woher sie käme, und mit fremdem Lächeln ihre Verwirrung erwidern.
Noch die letzten Minuten in seiner Nähe waren schon vergiftet von der steigenden Unruhe dieses Vorgefühls; im Fortwollen zitterten ihre Hände vor nervöser Eile, zerstreut fing sie seine Worte auf und wehrte hastig den Nachzüglern seiner Leidenschaft; fort, nur fort wollte dann immer schon alles in ihr, aus seiner Wohnung, seinem Haus, aus dem Abenteuer in ihre ruhige bürgerliche Welt zurück.
Dann kamen noch jene letzten, vergeblich beruhigenden Worte, die sie vor Aufregung kaum hörte, und jene horchende Sekunde hinter der bergenden Tür, ob niemand die Treppe hinauf oder hinab ginge.
Draußen aber stand schon die Angst, ungeduldig sie anzufassen, und hemmte ihr so herrisch den Herzschlag, dass sie immer schon atemlos die wenigen Stufen niederstieg.
Eine Minute stand sie so mit geschlossenen Augen und atmete die dämmerige Kühle des Treppenhauses gierig ein.
Da fiel von einem oberen Stockwerk eine Tür ins Schloss, erschreckt raffte sie sich zusammen und hastete, indes ihre Hände unwillkürlich den dichten Schleier noch fester zusammenrafften, die Stufen hinab.
Jetzt drohte noch jener letzte furchtbarste Moment, das Grauen, aus fremdem Haustor auf die Straße zu treten; sie senkte den Kopf wie ein Springer beim Anlauf und eilte mit jähem Entschluss gegen das halb offene Tor. Da stieß sie hart mit einer Frauensperson zusammen, die offenbar eben eintreten wollte.
„Pardon“, sagte sie verlegen und mühte sich, rasch an ihr vorbeizukommen.
Aber die Person sperrte ihr breit die Tür und starrte sie zornig und zugleich mit unverstelltem Hohn an.
„Dass ich Sie nur einmal erwische!“, schrie sie ganz unbekümmert mit einer derben Stimme. „Natürlich, eine anständige Frau, eine sogenannte! Das hat nicht genug an einem Mann und dem vielen Geld und an allem, das muss noch einem armen Mädel ihren Geliebten abspenstig machen ...“
„Um Gottes willen ... was haben Sie ... Sie irren sich …“, stammelte Frau Irene und machte einen linkischen Versuch durchzuwischen, aber die Person pfropfte ihren massigen Körper breit in die Tür und keifte ihr grell entgegen:
„Nein, ich irre mich nicht ... ich kenne Sie ... Sie kommen von Eduard, meinem Freund ... Jetzt habe ich Sie endlich einmal erwischt, jetzt weiß ich, warum er so wenig Zeit für mich in der letzten Zeit hat ... Wegen Ihnen also ... Sie gemeine ...!“
„Um Gottes willen“, unterbrach sie Frau Irene mit erlöschender Stimme, „schreien Sie doch nicht so“, und trat unwillkürlich in den Hausflur wieder zurück.
Die Frau sah sie höhnisch an. Diese schlotternde Angst, diese sichtliche Hilflosigkeit schien ihr irgendwie wohlzutun, denn mit einem selbstbewussten und spöttisch zufriedenen Lächeln musterte sie jetzt ihr Opfer. Ihre Stimme wurde vor gemeinem Wohlbehagen ganz breit und beinahe behäbig.
„So sehen sie also aus, diese verheirateten Damen, die nobeln, vornehmen Damen, wenn sie einem die Männer stehlen gehen. Verschleiert, natürlich verschleiert, damit man nachher überall die anständige Frau spielen kann ...“
„Was … was wollen Sie denn von mir? ... Ich kenne Sie ja gar nicht ... Ich muss fort ...“
„Fort ... ja natürlich ... zum Herrn Gemahl ... in die warme Stube, die vornehme Dame spielen und sich auskleiden lassen von den Dienstboten ... Aber was unsereiner treibt, ob das krepiert vor Hunger, das schert ja so eine vornehme Dame nicht ... So einer stehlen sie auch das Letzte, diese anständigen Frauen ...“
Irene gab sich einen Ruck und griff, einer vagen Eingebung gehorchend, in ihr Portemonnaie und fasste, was ihr gerade an Banknoten in die Hand kam. „Da ... da haben Sie ... aber lassen Sie mich jetzt ... Ich komme nie mehr her ... ich schwöre es Ihnen.“
Mit einem bösen Blick nahm die Person das Geld. „Luder“, murmelte sie dabei.
Frau Irene zuckte unter dem Wort zusammen, aber sie sah, dass die andere ihr die Tür freigab, und stürzte hinaus, dumpf und atemlos, wie ein Selbstmörder vom Turm. Sie spürte Gesichter als verzerrte Fratzen vorbeigleiten, wie sie vorwärts lief, und rang sich mühsam mit schon verdunkeltem Blick durch bis zu einem Automobil, das an der Ecke stand.
Wie eitle Masse warf sie ihren Körper in die Kissen, dann wurde alles in ihr starr und regungslos, und als der Chauffeur endlich verwundert den sonderbaren Fahrgast fragte, wohin der Weg ginge, starrte sie ihn einen Augenblick ganz leer an, bis ihr benommenes Gehirn seine Worte schließlich erfasste.
„Zum Südbahnhof“, stieß sie dann hastig heraus, und plötzlich vom Gedanken erfasst, die Person könnte ihr folgen, „rasch, rasch, fahren Sie schnell!“
In der Fahrt erst spürte sie, wie sehr diese Begegnung sie ins Herz getroffen hatte. Sie tastete ihre Hände an, die erstarrt und kalt wie abgestorbene Dinge an ihrem Körper niederhingen, und begann mit einem Male so zu zittern, dass es sie schüttelte.
In der Kehle klomm etwas Bitteres empor, sie spürte Brechreiz und zugleich eine sinnlose, dumpfe Wut, die wie ein Krampf das Innere ihrer Brust herauswühlen wollte.
Am liebsten hätte sie geschrien öder mit den Fäusten getobt, sich freizumachen von dem Grauen dieser Erinnerung, die fest wie ein Angelhaken in ihrem Gehirn saß, dieses wüste Gesicht mit seinem höhnischen Lachen, dieser Dunst von Gemeinheit, der aufstieg vom schlechten Atem der Proletarierin, dieser wüste Mund, der voll Hass ihr hart bis ins Gesicht die niedrigen Worte gespien, und die gehobene rote Faust, mit der sie ihr gedroht hatte.
Immer stärker wurde das Übelkeitsgefühl, immer höher klomm es in die Kehle, dazu schleuderte der rasch rollende Wagen hin und her, und eben wollte sie dem Chauffeur bedeuten, langsamer zu fahren, als ihr noch rechtzeitig einfiel, sie hätte vielleicht nicht mehr genug Geld bei sich, ihn zu bezahlen, da sie doch alle Banknoten an diese Erpresserin gegeben.
Hastig gab sie das Signal zum Halten und stieg zu neuerlicher Verwunderung des Chauffeurs plötzlich aus.
Glücklicherweise reichte der Rest ihres Geldes. Aber dann fand sie sich in einen fremden Bezirk verschlagen, in einem Geschiebe geschäftiger Menschen, die ihr physisch weh taten mit jedem Wort und jedem Blick. Dabei waren ihre Knie wie aufgeweicht von der Angst und trugen unwillig die Schritte vorwärts, aber sie musste heim, und alle Energie zusammenraffend, stieß sie sich von Gasse zu Gasse fort mit einer übermenschlichen Anstrengung, als ob sie durch einen Morast watete oder knietiefen Schnee.
Endlich kam sie zu ihrem Hause und stürzte mit einer nervösen Hast, die sie aber sofort wieder mäßigte, um nicht durch ihre Unruhe aufzufallen, die Treppe hinauf.
Jetzt erst, da ihr das Dienstmädchen den Mantel abnahm, sie nebenan ihren kleinen Knaben mit der jüngeren Schwester laut spielen hörte und der beruhigte Blick überall Eigenes fasste, Eigentum und Geborgenheit, gewann sie wieder einen äußeren Schein von der Gefasstheit zurück, indes unterirdisch die Woge der Erregung noch schmerzhaft die gespannte Brust durchrollte.
Sie nahm den Schleier ab, glättete mit dem starken Willen, arglos zu scheinen, ihr Gesicht und trat in das Speisezimmer, wo ihr Mann bei dem abendlich gedeckten Tisch die Zeitung las.
„Spät, spät, liebe Irene“, grüßte er mit sanftem Vorwurf, stand auf und küsste sie auf die Wange, was ihr unwillkürlich ein peinliches Gefühl der Scham erweckte.
Sie setzten sich zu Tische, und gleichgültig, kaum von der Zeitung weg, fragte er:
„Wo warst du so lange?“
„Ich war ... bei ... bei Amelie ... sie musste da noch etwas besorgen ... und ich ging mit“, ergänzte sie und schon zornig über die eigene Unbedachtsamkeit, so schlecht gelogen zu haben. Sonst rüstete sie immer im Voraus eine sorgfältig ausgeklügelte, allen Möglichkeiten der Überprüfung trotzende Lüge, heute aber hatte die Angst sie daran vergessen lassen und zu einer so ungeschickten Improvisation gezwungen.
Wenn, fuhr es ihr durch den Sinn, ihr Mann, wie jüngst in dem Stück, das sie im Theater sahen, hin telefonierte und sich erkundigte ...
„Was hast du denn? ... Du scheinst mir so nervös ... Und warum nimmst du denn den Hut nicht ab?“, fragte ihr Mann.
Sie schrak zusammen, als sie sich neuerdings in ihrer Verlegenheit ertappt fühlte, stand eilig auf, ging in ihr Zimmer, den Hut abzunehmen, und sah dabei im Spiegel ihr unruhiges Auge so lange an, bis der Blick ihr wieder sicher und fest schien. Dann kehrte sie in das Speisezimmer zurück.
Das Mädchen kam mit der Abendmahlzeit, und es wurde ein Abend wie alle anderen, vielleicht etwas mehr wortkarg und weniger gesellig als sonst, ein Abend mit einem armen, müden, oft hinstolpernden Gespräch.
Ihre Gedanken wanderten den Weg unablässig zurück und schraken immer entsetzt empor, wenn sie zu jener Minute kamen, in die grauenhafte Nähe der Erpresserin: Dann hob sie immer den Blick, um sich geborgen zu fühlen, griff Ding um Ding der beseelten Nähe, jedes durch Erinnerung und Bedeutung in die Zimmer gestellt, zärtlich an, und eine leichte Beruhigung kehrte in sie zurück. Und die Wanduhr, gemächlich mit ihrem stählernen Schritt das Schweigen durchschreitend, gab ihrem Herzen unmerklich wieder etwas von seinem gleichmäßigen, sorglossicheren Takt.
Am nächsten Morgen, als ihr Mann in seine Kanzlei, die Kinder spazierengegangen waren und sie endlich mit sich allein blieb, verlor im klaren Vormittagslicht jene schreckhafte Begegnung bei nachträglicher Überprüfung viel von ihrer Beängstigung. Frau Irene besann sich zunächst, dass ihr Schleier sehr dicht und es jener Person dadurch unmöglich gewesen war, die Züge ihres Gesichtes genau wahrzunehmen und wiedererkennen zu können.
Ruhig erwog sie nun alle Maßnahmen der Vorbeugung. Auf keinen Fall würde sie ihren Geliebten nochmals in seiner Wohnung aufsuchen – und damit war wohl die eheste Möglichkeit eines solchen Überfalls beseitigt.
Blieb also nur die Gefahr einer zufälligen Wiederbegegnung mit dieser Person, doch auch eine solche war unwahrscheinlich, denn nachgefolgt konnte sie ihr, die doch im Automobil geflüchtet war, nicht sein. Namen und Wohnung war ihr fremd und ein sonstiges zuverlässiges Erkennen nach dem undeutlichen Gesichtsbilde nicht zu befürchten.
Aber auch für diesen äußersten Fall war Frau Irene gerüstet. Dann, nicht mehr im Schraubstock der Angst, würde sie einfach, so beschloss sie sofort, ruhige Haltung bewahren, alles ableugnen, kühl einen Irrtum behaupten und, da ein Beweis jenes Besuches anders als zur Stelle kaum zu erbringen war, diese Person eventuell der Erpressung bezichtigen. Nicht umsonst war Frau Irene die Gattin eines der bekanntesten Verteidiger der Residenz, sie wusste genug aus dessen Gesprächen mit Fachkollegen, dass Erpressungen nur sofort und durch größte Kaltblütigkeit gedrosselt werden könnten, weil jede Verzögerung, jeder Schein von Unruhe vonseiten des Verfolgten die Überlegenheit seines Gegners nur steigert.
Die erste Gegenmaßregel war ein knapper Brief an ihren Geliebten, sie könne morgen zur vereinbarten Stunde nicht kommen und auch in den nächsten Tagen nicht.
Ihr Stolz war gereizt durch jene peinliche Entdeckung, in der Gunst ihres Liebhabers eine so niedere und unwürdige Vorgängerin abgelöst zu haben, und mit gehässigerem Gefühl die Worte prüfend, freute sie sich nun rachsüchtig der kühlen Art, mit der sie ihr Kommen darin gewissermaßen in die Sphäre ihrer gütigen Laune erhob.
Sie hatte diesen jungen Menschen, einen Pianisten von Ruf, bei einer gelegentlichen Abendunterhaltung kennengelernt und war bald, ohne es recht zu wollen und beinahe ohne es zu begreifen, seine Geliebte geworden.
Nichts in ihrem Blute hatte eigentlich nach dem seinen verlangt, nichts Sinnliches und kaum ein Geistiges sie seinem Körper verbunden: Sie hatte sich ihm hingegeben, ohne seiner zu bedürfen oder ihn nur stark zu begehren, aus einer gewissen Trägheit des Widerstandes gegen seinen Willen und einer Art unruhigen Neugier.
Nichts in ihr, weder ihr durch eheliches Glück voll befriedigtes Blut noch das bei Frauen so häufige Gefühl, in ihren geistigen Interessen zu verkümmern, hatte ihr einen Liebhaber zum Bedürfnis gemacht, sie war vollkommen glücklich an der Seite eines begüterten, geistig ihr überlegenen Gatten, zweier Kinder, träge und zufrieden gebettet in ihrer behaglichen, breitbürgerlichen, windstillen Existenz.
Aber es gibt eine Schlaffheit der Atmosphäre, die ebenso sinnlich macht wie Schwüle oder Sturm, eine Wohltemperiertheit des Glückes, die aufreizender ist als Unglück. Sattheit reizt nicht minder wie Hunger, und das Gefahrlose, Gesicherte ihres Lebens gab ihr Neugier nach dem Abenteuer.
Als nun in diesen Augenblicken einer Zufriedenheit, die sie selbst nicht zu steigern vermochte, dieser junge Mensch in ihre bürgerliche Welt trat, wo sonst die Männer nur mit lauen Späßen und kleinen Koketterien die „schöne Frau“ in ihr respektvoll feierten, ohne je ernstlich das Weib in ihr zu begehren, fühlte sie sich zum ersten Mal seit ihren Mädchentagen wieder in ihrem Innersten gereizt.
An seinem Wesen hatte sie vielleicht nichts verlockt als ein Schatten von Trauer, der über seinem etwas zu interessant arrangierten Gesicht lag und erhob. In dieser Traurigkeit lag für sie, die sich von lauter satten und bürgerlichen Menschen umringt fühlte, eine Ahnung jener höheren Welt, und unwillkürlich beugte sie sich über den Rand ihrer täglichen Gefühle, um sie zu betrachten.
Ein Kompliment, aus der Hingerissenheit einer Sekunde, vielleicht etwas heißer als schicklich dargebracht, ließ ihn vom Klavier zu der Frau aufschauen, und schon dieser erste Blick griff nach ihr.
Sie erschrak und fühlte gleichzeitig die Wollust aller Angst: Ein Gespräch, in dem alles wie von unterirdischen Flammen durchleuchtet und erhitzt schien, beschäftigte und reizte ihre nun schon rege Neugier so sehr, dass sie einer neuerlichen Begegnung in einem öffentlichen Konzert nicht auswich.
Sie sahen sich dann öfter, und bald nicht mehr durch Zufall. Der Ehrgeiz, dass sie ihm, einem wirklichen Künstler, als Verstehende und Beratende viel bedeute, wie er ihr wiederholt versicherte, ließ sie wenige Wochen später voreilig seinem Vorschlage vertrauen, er wolle ihr und nur ihr allein sein neuestes Werk bei sich vorspielen – ein Versprechen, das in seiner Absicht vielleicht halb aufrichtig war, aber doch in Küssen und schließlich ihrer überraschten Hingabe unterging.
Ihr erstes Gefühl war Erschrecken vor dieser unerwarteten Wendung ins Sinnliche, der geheimnisvolle Schauer, der diese Beziehung umwitterte, war jählings gebrochen, und das Schuldbewusstsein für diesen ungewollten Ehebruch wurde nur teilweise beruhigt durch die prickelnde Eitelkeit, zum ersten Mal durch einen, wie sie glaubte, eigenen Entschluss die bürgerliche Welt, in der sie lebte, verneint zu haben. Den Schauer vor ihrer eigenen Schlechtigkeit, der sie in den ersten Tagen erschreckte, verwandelte ihre Eitelkeit so in gesteigerten Stolz.
Aber auch diese geheimnisvollen Erregungen hatten ihre volle Spannung nur in den ersten Augenblicken. Ihr Instinkt wehrte sich unterirdisch gegen diesen Menschen und am meisten gegen das Neue in ihm, das Andersartige, das ihre Neugier eigentlich verlockt hatte.
Die Leidenschaft, die sie an seinem Spiel berauschte, beunruhigte in seiner körperlichen Nähe, sie mochte eigentlich diese plötzlichen und herrischen Umarmungen nicht, deren eigenwillige Rücksichtslosigkeit sie unwillkürlich mit der nach Jahren noch scheuen und verehrungsvollen Glut ihres Mannes verglich.
Aber nun sie einmal in die Untreue geraten war, kam sie wieder und wieder zu ihm, ohne beglückt, ohne enttäuscht zu sein, aus einem gewissen Gefühl der Verpflichtung und einer Trägheit der Gewöhnung.
Nach wenigen Wochen schon passte sie diesen jungen Menschen, ihren Geliebten, irgendwo säuberlich in ihr Leben ein, bestimmte ihm, so wie ihren Schwiegereltern, einen Tag in der Woche, aber sie gab mit dieser neuen Beziehung nichts von ihrer alten Ordnung auf, sondern legte nur gewissermaßen, ihrem Leben etwas hinzu. Dieser Geliebte änderte bald gar nichts mehr am behaglichen Mechanismus ihrer Existenz, er wurde irgendein Zuwachs von temperiertem Glück, wie ein drittes Kind oder ein Automobil, und das Abenteuer schien ihr bald so banal wie der erlaubte Genuss.
Das erste Mal nun, da sie das Abenteuer mit seinem wirklichen Preis, der Gefahr, bezahlen sollte, begann sie es kleinlich auf seinen Wert zu berechnen. Vom Schicksal verwöhnt, verzärtelt von ihrer Familie, fast wunschlos gemacht durch günstige Vermögensverhältnisse, schien schon die erste Unbequemlichkeit ihrer Wehleidigkeit zu viel. Sie weigerte sich sofort, etwas von ihrer seelischen Sorglosigkeit herzugeben, und war eigentlich ohne Überlegung bereit, den Geliebten ihrer Gemächlichkeit zu opfern.
Die Antwort ihres Geliebten, ein aufgeschreckter, nervös hingestammelter Brief, noch am Nachmittag von einem Boten überbracht, ein Brief, der verstört flehte, klagte und anklagte, machte sie wieder unsicher in ihrem Entschluss, das Abenteuer zu enden, weil diese Gier ihrer Eitelkeit schmeichelte und sie durch seine ekstatische Verzweiflung entzückte.
Ihr Geliebter bat sie in dringendsten Worten wenigstens um eine flüchtige Begegnung, damit er doch wenigstens seine Schuld aufklären könne, falls er sie durch irgendetwas unwissend verletzt haben sollte, und nun reizte sie das neue Spiel, weiter mit ihm zu schmollen und durch unmotiviertes Verweigern sich ihm noch kostbarer zu machen. So bestellte sie ihn in eine Konditorei, von der sie sich plötzlich wieder erinnerte, dort als junges Mädchen ein Rendezvous mit einem Schauspieler gehabt zu haben, eines freilich, das ihr jetzt kindisch dünkte, in seiner Ehrerbietung und Sorglosigkeit.
Seltsam, lächelte sie in sich hinein, dass die Romantik in ihrem Leben jetzt wieder aufzublühen begann, die in all den Jahren ihrer Ehe verkümmert war. Und beinahe war sie schon jener brüsken Begegnung mit der Weibsperson von gestern innerlich froh, bei der sie seit Langem wieder ein wirkliches Gefühl so stark und stimulierend empfunden hatte, dass ihre sonst ganz leicht entspannten Nerven noch unterirdisch davon bebten.
Sie nahm diesmal ein dunkles, unauffälliges Kleid und einen anderen Hut, um bei der möglichen Begegnung die Erinnerung jener Person irrezumachen.
Einen Schleier hatte sie schon bereit, um sich unkenntlicher zu machen, aber ein plötzlich aufsteigender Trotz ließ sie ihn beiseitelegen. Sollte sie es denn nicht wagen dürfen, sie, eine geachtete, angesehene Frau, auf die Straße zu gehen, aus Angst vor irgendeiner Person, die sie gar nicht kannte?
Ein flüchtiges Angstgefühl überflog sie nur in der ersten Sekunde, da sie die Straße betrat, ein nervöser Schauer von rieselnder Kälte, wie wenn man die Fußspitze prüfend ins Wasser taucht, ehe man sich der Welle voll hingibt.
Aber eine Sekunde bloß flog diese Kühle durch sie hin, dann rauschte mit einem Mal in ihr eine seltene Lebensfreude auf, die Lust, so leicht, stark und elastisch auszuschreiten, mit einem gespannten, gehobenen Schritt, den sie an sich selber nicht kannte.
Fast leid war es ihr, dass die Konditorei so nahe lag, denn irgendein Wille trieb sie jetzt rhythmisch weiter fort in die geheimnisvoll magnetische Anziehung des Abenteuers.
Aber die Stunde war knapp, die sie der Begegnung bestimmt hatte, und eine angenehme Sicherheit im Blut verhieß ihr, dass ihr Geliebter sie bereits erwartete.
Er saß in einer Ecke, als sie eintrat, und sprang mit einer Erregung auf, die sie angenehm und peinlich zugleich berührte.
Sie musste ihn mahnen, die Stimme zu dämpfen, so heiß sprudelte er aus dem Tumult seiner inneren Erregtheit einen Wirbel von Fragen und Vorwürfen ihr entgegen.
Ohne den wahrhaften Grund ihres Ausbleibens auch nur anzudeuten, spielte sie mit Andeutungen, die ihn durch ihre Unbestimmtheit noch mehr entzündeten. Für seine Wünsche blieb sie diesmal unnahbar und zögerte selbst mit Versprechungen, weil sie spürte, wie sehr dies geheimnisvoll plötzliche Entziehen und Versagen ihn aufreizte ...
Und als sie ihn nach einer halben Stunde heißen Gesprächs verließ, ohne ihm das Mindeste an Zärtlichkeit gewährt oder auch nur verheißen zu haben, loderte sie innen von einem sehr seltsamen Gefühl, wie sie es nur als Mädchen gekannt hatte. Es war ihr, als glimme eine kleine, prickelnde Flamme tief unten und warte nur auf den Wind, der das Feuer aufpeitschte, dass es über ihrem Haupte zusammenschlage.
Sie nahm jeden Blick, den ihr die Gasse zusprengte, hastig mit im Vorüberschreiten, und der unerwartete Erfolg vieler solcher männlicher Lockungen reizte ihre Neugier nach dem eigenen Gesicht so sehr, dass sie plötzlich vor dem Spiegel an der Auslage einer Blumenhandlung stehen blieb, um im Rahmen roter Rosen und tauglitzernder Veilchen ihre eigene Schönheit zu sehen.
Seit ihren Mädchentagen hatte sie nie sich so leicht empfunden, nie so beseelt in allen Sinnen, nicht die ersten Tage der Ehe und nicht die Umarmungen ihres Geliebten hatten derart mit Funken ihren Leib gestachelt, und der Gedanke wurde ihr unerträglich, jetzt schon all diese seltene Leichtigkeit, diese süße Besessenheit des Blutes an geregelte Stunden zu verschwenden.
Müde ging sie weiter. Vor dem Hause blieb sie noch einmal zögernd stehen, die feurige Luft, das Verwirrende dieser Stunde noch einmal mit geweiteter Brust in sich einzuatmen, sie tief bis ans Herz zu spüren, diese letzte verebbende Welle des Abenteuers.
Da rührte sie jemand an der Schulter. Sie wandte sich um.
„Was ... was wollen Sie denn schon wieder?“, stammelte sie tödlich erschreckt, als sie plötzlich das verhafte Gesicht sah, und erschrak noch mehr, sich selbst diese verhängnisvollen Worte sagen zu hören. Sie hatte sich doch vorgenommen, diese Frau nicht mehr zu erkennen, wenn sie ihr jemals wieder begegnen sollte, alles abzuleugnen, Stirn an Stirn der Erpresserin entgegenzutreten ... Jetzt war es zu spät.
„Ich warte schon eine halbe Stunde hier auf Sie, Frau Wagner.“
Irene zuckte zusammen, als sie ihren Namen hörte. Die Person wusste ihren Namen, ihre Wohnung. Jetzt war alles verloren, sie ihr rettungslos ausgeliefert.
„Eine halbe Stunde warte ich schon, Frau Wagner.“
Drohend wie einen Vorwurf wiederholte die Person die Worte.
„Was wollen Sie ... was wollen Sie denn von mir ...“
„Sie wissen schon, Frau Wagner“ – Irene zuckte bei dem Namen, wieder zusammen –, „Sie wissen ganz genau, warum ich komme.“
„Ich habe ihn nie mehr gesehen ... lassen Sie mich jetzt ... nie mehr werde ich ihn sehen ... nie ...“
Die Person wartete gemächlich, bis Irene in ihrer Erregung nicht mehr weiter konnte. Dann sagte sie barsch wie zu einem Untergebenen:
„Lügen Sie nicht! Ich bin Ihnen ja nachgegangen bis an die Konditorei“, und fügte, als sie Irene zurückweichen sah, noch höhnisch hinzu:
„Ich habe ja keine Beschäftigung. Aus dem Geschäft haben Sie mich entlassen, wegen Arbeitsmangels, wie sie sagen, und wegen der schlechten Zeiten. Na, das nützt man halt aus, und da geht unsereins auch ein biss'l spazieren ... ganz so wie die anständigen Frauen.“
Sie sagte das mit einer kalten Bosheit, die Irene ins Herz stach. Wehrlos fühlte sie sich gegen die nackte Brutalität dieser Gemeinheit, und immer wirbeliger fasste sie der Angstgedanke, die Person könnte jetzt wieder laut zu sprechen anfangen oder ihr Mann vorbeikommen, und dann wäre alles verloren.
Rasch tastete sie in den Muff, riss ihre Silbertasche auf und holte alles Geld heraus, das ihr in die Finger kam. Aber diesmal sank die freche Hand, sobald sie das Geld spürte, nicht wie damals demütig in sich zusammen, sondern blieb starr in der Luft schweben und offen wie eine Kralle.
„Geben S' mir doch auch die Silbertasche, damit ich das Geld nicht verlier'!“, sagte dazu der höhnisch aufgeworfene Mund mit einem leisen, kollernden Lachen.
Irene blickte ihr in das Auge, aber nur eine Sekunde. Dieser freche, gemeine Hohn war nicht zu ertragen. Wie einen brennenden Schmerz spürte sie Ekel ihren ganzen Körper durchdringen. Nur fort, fort, nur dies Gesicht nicht mehr sehen! Abgewandt, mit rascher Bewegung streckte sie ihr die kostbare Tasche hin, dann lief sie, von Grauen gejagt, die Treppe empor.
Ihr Mann war noch nicht zu Hause, so konnte sie sich hinwerfen auf das Sofa. Regungslos, wie von einem Hammer getroffen, blieb sie liegen.
Erst als sie die Stimme ihres Mannes von draußen hörte, raffte sie sich mit äußerster Anstrengung auf und schleppte sich in das andere Zimmer mit automatischen Bewegungen und entseelten Sinnen.
Nun saß das Grauen bei ihr im Haus und rührte sich nicht aus den Zimmern. In den vielen leeren Stunden, die immer wieder Welle auf Welle die Bilder jener entsetzlichen Begegnung in ihr Gedächtnis zurückspülten, wurde ihr das Hoffnungslose ihrer Situation vollkommen klar.
Die Person wusste – unbegreiflich war ihr, wie das geschehen konnte – ihren Namen, ihre Wohnung und würde, da ihre ersten Versuche so vortrefflich gelungen waren, nun unzweifelhaft kein Mittel scheuen, ihre Mitwisserschaft zu dauernder Erpressung nutzbar zu machen.
Jahre- und jahrelang würde sie wie ein Alb auf ihrem Leben lasten, nicht abzuschütteln, durch keine, auch die verzweifeltste Anstrengung, denn obzwar vermögend und die Gattin eines begüterten Mannes, war es Frau Irene doch nicht möglich, ohne ihren Gemahl zu verständigen, eine so bedeutende Summe aufzubringen, die sie ein für allemal von dieser Person befreite.
Und außerdem – dies wusste sie aus zufälligen Erzählungen ihres Mannes und dessen Prozessen – waren doch Verträge und Versprechungen so abgefeimter und ehrloser Personen gänzlich unwertig.
Einen Monat oder zwei vielleicht, so rechnete sie, war das Verhängnis noch fernzuhalten, dann musste das künstliche Gebäude ihres häuslichen Glückes niederstürzen, und geringe Befriedigung bot die Gewissheit, dass sie die Erpresserin in ihren Sturz mitriss.
Unabwendbar war, das spürte sie jetzt mit entsetzlicher Gewissheit, das Verhängnis, unmöglich ein Entkommen. Aber was ... was würde geschehen? Von Morgen bis Abend rüttelte sie an der Frage. Eines Tages würde ein Brief an ihren Mann kommen, sie sah ihn schon eintreten, blass mit finsterem Blick, sie beim Arme fassen, sie fragen ...
Aber dann ... was würde dann geschehen? Was würde er tun? Hier verloschen die Bilder plötzlich im Dunkel einer wirren und grausamen Angst. Sie wusste nicht weiter, und ihre Vermutungen stürzten schwindlig ins Bodenlose.
Eines wurde aber ihr in diesem brütenden Sinnen grauenhaft bewusst, wie ungenau sie eigentlich ihren Mann kannte, wie wenig sie seine Entschließungen im Voraus zu berechnen vermochte.
Sie hatte ihn auf die Anregung ihrer Eltern hin, aber ohne Widerstand und mit einer angenehmen, durch die späteren Jahre nicht enttäuschten Sympathie geheiratet und nun acht Jahre behaglichen, still pendelnden Glücks an seiner Seite gelebt, hatte Kinder von ihm, ein Heim und zahllose Stunden körperlicher Gemeinschaft, aber jetzt erst, da sie sich nach seinem möglichen Verhalten fragte, wurde ihr klar, wie fremd und unbekannt er ihr geblieben war. Nun erst begann sie sein ganzes Leben an vereinzelten Zügen zu messen, die seinen Charakter ihr aufdeuten konnten. An jede kleine Erinnerung pochte jetzt ihre Angst mit zaghaftem Hammer, Eingang zu finden in die geheimen Kammern seines Herzens.
So durchfragte sie, da das Wort ihn nicht verriet, sein Gesicht, nun er in seinem Fauteuil saß, ein Buch lesend und scharf beleuchtet von der elektrischen Flamme. Wie in ein fremdes Antlitz sah sie in das seine hinein und suchte den vertrauten und mit einem Male wieder fremden Zügen den Charakter zu entraten, den acht Jahre Beisammensein ihrer Gleichgültigkeit verborgen hatten.
Die Stirne war hell und edel, wie von einer inneren starken, geistigen Anstrengung geformt, der Mund aber streng und ohne Nachgiebigkeit. Alles war straff in den sehr männlichen Zügen, Energie und Kraft: Erstaunt, eine Schönheit darin zu finden, und mit einer gewissen Bewunderung betrachtete sie diesen verhaltenen Ernst, diese sichtliche Herbheit seines Wesens.
Die Augen aber, in denen doch das wirkliche Geheimnis verschlossen sein musste, waren auf das Buch gesenkt und so ihrer Betrachtung entzogen. So konnte sie immer nur fragend auf das Profil starren, als bedeute diese geschwungene Linie, ein einziges Wort, das Gnade sagte oder Verdammnis, dies fremde Profil, dessen Härte sie erschreckte, aber in dessen Entschlossenheit ihr eine merkwürdige Schönheit zum ersten Mal bewusst wurde.
Mit einem Male spürte sie, dass sie ihn gerne ansah, mit Lust und mit Stolz. Da sah er vom Buche auf. Eilig trat sie tiefer ins Dunkel zurück, um nicht mit der brennenden Frage ihrer Blicke seinen Verdacht zu entzünden.
Drei Tage hatte sie nun das Haus nicht verlassen. Und schon merkte sie mit Unbehagen, dass ihre mit einem Male so beharrliche Gegenwart den anderen bereits auffällig geworden war, denn im Allgemeinen zählte es bei ihr zu den Seltenheiten, dass sie viele Stunden oder gär Tage in den eigenen Räumen verbrachte.
Die ersten, jene Veränderung zu bemerken, waren ihre Kinder, besonders der ältere Knabe, der seiner naiven Verwunderung, die Mama so viel zu Hause zu sehen, peinlich deutlichen Ausdruck gab, indes die Dienstboten nur tuschelten und mit der Gouvernante ihre Vermutungen austauschten.
Vergeblich mühte sie sich, ihre auffällige Anwesenheit mit den verschiedensten, zum Teile sehr glücklich ersonnenen Notwendigkeiten zu motivieren, aber überall wo sie helfen wollte, störte sie eine Ordnung, und wo sie Anteil nahm, erweckte sie Verdacht.
Dabei fehlte ihr noch die Geschicklichkeit, das Ständige ihrer Gegenwart weniger sichtbar zu machen durch eine kluge Zurückhaltung und ruhig in einem Zimmer zu bleiben, bei einem Buche, bei einer Arbeit; unablässig jagte sie die innere Angst, die sich wie jedes stärkere Gefühl bei ihr in Nervosität verwandelte, von einem Zimmer ins andere:
Bei jedem Anruf des Telefons, jedem Klingeln an der Tür schrak sie zusammen und spürte, wie ihre ruhige Existenz sich plötzlich auflöste und zerrann, und aus dieser Kraftlosigkeit entwuchs ihr schon die Ahnung eines ganzen zertrümmerten Lebens. Diese drei Tage im Kerker der Zimmer schienen ihr länger als die acht Jahre ihrer Ehe.
Doch für jenen dritten Abend hatte sie seit Wochen eine Einladung mit ihrem Manne angenommen, die jetzt plötzlich abzulehnen ohne Angabe triftiger Gründe ihr unmöglich war.
Und überdies, diese unsichtbaren Gitterstäbe von Grauen, die jetzt um ihr Leben gebaut waren, mussten doch einmal zerbrochen werden, sollte sie nicht zugrunde gehen. Sie brauchte Menschen, ein paar Stunden Rast von sich selber, von dieser selbstmörderischen Einsamkeit der Angst.
Und dann, wo war sie geborgener als in fremdem Hause bei Freunden, wo sicherer vor jener unsichtbaren Verfolgung, die ihre Wege umschlich?
Eine Sekunde bloß schauerte sie, die knappe Sekunde, als sie aus dem Hause trat, nun zum ersten Mal seit jener Begegnung wieder die Straße berührte, wo irgendwo jene Person lauern konnte.
Unwillkürlich fasste sie den Arm ihres Mannes, schloss die Augen und trat rasch die paar Schritte vom Trottoir bis zum harrenden Automobil, dann aber sank, als, sie an der Seite ihres Mannes geborgen, durch die nächtlich verlassenen Straßen der Wagen hinsauste, die innere Schwere von ihr ab, und wie sie nun die Stufen des fremden Hauses emporstieg, wusste sie sich geborgen.
Für ein paar Stunden durfte sie jetzt sein wie die langen Jahre vordem: sorglos, froh, nur noch mit der gesteigert bewussten Freude eines, der aus Kerkermauern wieder zur Sonne emporsteigt. Hier war ein Wall gegen alle Verfolgung, der Hass konnte hier nicht herein, hier waren nur Menschen, die sie liebten, achteten und verehrten, geschmückte, absichtslose Menschen, von der Flamme des Leichtsinns rötlich umfunkelt, ein Reigen des Genießens, der endlich wieder auch sie umschlang. Denn nun, da sie eintrat, spürte sie an den Blicken der andern, dass sie schön war, und sie wurde es noch mehr durch das bewusste und lang entbehrte Gefühl.
Nebenan lockte Musik und drang ihr tief unter die brennende Haut. Der Tanz begann, und ohne es zu wissen, war sie schon mitten im Gewühle.
Wie noch nie in ihrem Leben tanzte sie. Dieser kreisende Wirbel schleuderte alle Schwere aus ihr heraus, der Rhythmus wuchs in die Glieder und durchatmete den Körper mit feuriger Bewegung.
Hielt die Musik inne, so fühlte sie die Stille schmerzhaft, die Schlange der Unrast züngelte auf an ihren schauernden Gliedern, und wie ein Bad, in kühlendes, beruhigendes, tragendes Wasser, stürzte sie sich wieder in den Wirbel hinein.
Sonst war sie immer nur eine mittelmäßige Tänzerin gewesen, zu gemessen, zu besonnen, zu hart und vorsichtig in den Bewegungen, aber dieser Rausch der befreiten Freude löste alle körperlichen Hemmungen.
Ein stählernes Band von Scham und Besonnenheit, das sonst ihre wildesten Leidenschaften in eine Form zusammenhielt, riss jetzt mittendurch, und sie fühlte sich haltlos, restlos, selig zerfließen.
Arme, Hände spürte sie um sich, Berührung und Entschwinden, Atem von Worten, kitzelndes Lachen, Musik, die innen im Blut zuckte, ihr ganzer Körper war gespannt, so sehr gespannt, dass ihr die Kleider am Leibe brannten und sie unbewusst am liebsten alle Hülle abgerissen hätte, um nackt diesen Rausch tiefer in sich hineinzuspüren.
„Irene, was hast du?“ – sie wandte sich um, taumelnd und lachenden Auges, noch ganz heiß von der Umschlingung ihres Tänzers. Da stieß kalt und hart der verwundert starre Blick ihres Mannes in ihr Herz.
Sie erschrak. War sie zu wild gewesen? Hatte ihre Raserei etwas verraten?
„Was ... was meinst du, Fritz?“, stammelte sie verwundert vom jähen Stoß seines Blickes, der immer tiefer in sie zu dringen schien und den sie jetzt schon ganz innen, ganz an ihrem Herzen spürte. Sie hätte aufschreien mögen unter der wühlenden Entschlossenheit dieser Augen.
„Das ist doch seltsam“, murmelte er endlich. In seiner Stimme war eine dumpfe Verwunderung.
Sie wagte nicht zu fragen, was er damit meinte. Aber ein Schauer lief ihr durch die Glieder, als sie jetzt, da er sich wortlos wegwandte, seine Schultern sah, breit, hart und groß, zu einem eisernen Nacken nervig getürmt.
Wie bei einem Mörder, flog es ihr durch das Hirn, irrsinnig und schon wieder verscheucht. Jetzt erst, als ob sie ihn zum ersten Mal gesehen, ihren eigenen Mann, empfand sie voll Grauen, dass er stark und gefährlich war.
Die Musik hob wieder an. Ein Herr trat auf sie zu, mechanisch nahm sie seinen Arm. Aber nun war alles schwer geworden, und die helle Melodie konnte ihre erstarrten Glieder nicht mehr heben. Eine dumpfe Schwere wuchs vom Herzen aus den Füßen zu, jeder Schritt tat ihr weh. Und sie musste ihren Tänzer bitten, sie freizugeben.
Unwillkürlich sah sie sich im Zurücktreten um, ob ihr Mann nahe wäre. Und schrak zusammen. Er stand unmittelbar hinter ihr, als erwarte er sie, und wieder stieß er blank mit dem Blick gegen den ihren.
Was wollte er? Was wusste er schon? Unwillkürlich raffte sie das Kleid zusammen, als müsste sie die nackte Brust vor ihm schützen. Sein Schweigen blieb hartnäckig wie sein Blick.
„Wollen wir gehen?“, fragte sie ängstlich.
„Ja.“
Seine Stimme klang hart und unfreundlich. Er ging voraus. Wieder sah sie den breiten, drohenden Nacken.
Man warf ihr den Pelz um, aber sie fror. Schweigend fuhren sie nebeneinander. Sie wagte kein Wort. Dumpf fühlte sie eine neue Gefahr. Nun war sie von beiden Seiten umstellt.
In dieser Nacht hatte sie einen drückenden Traum. Irgendeine fremde Musik rauschte, ein Saal war hell und hoch, sie trat ein, viele Menschen und Farben mengten ihre Bewegung, da drängte ein junger Mann, den sie zu kennen glaubte und doch nicht ganz erriet, auf sie zu, fasste sie am Arm, und sie tanzte mit ihm.
Ihr war wohl und weich, eine einzige Welle Musik hob sie auf, dass sie den Boden nicht mehr spürte, und so tanzten sie durch viele Säle, in denen goldene Leuchter ganz hoch oben wie Sterne strahlend kleine Flammen hielten und viele Spiegel Wand an Wand ihr eigenes Lächeln ihr zuwarfen und wieder weit wegtrugen in unendlichen Reflexen.
Immer heißer wurde der Tanz, immer brennender die Musik. Sie merkte, wie der Jüngling sich enger an sie schmiegte, seine Hand in ihren nackten Arm sich vergrub, dass sie stöhnen musste vor schmerzvoller Lust, und jetzt, da ihre Augen in seine tauchten, meinte sie ihn zu erkennen. Ein Schauspieler dünkte er sie, den sie als kleines Mädchen von fern ekstatisch geliebt hatte, schon wollte sie seinen Namen beseligt aussprechen, aber er verschloss ihren leisen Schrei mit einem glühenden Kuss.
Und so, mit verschmolzenen Lippen, ein einziger ineinanderglühender Körper, flogen sie, wie von einem seligen Wind getragen, durch die Räume. Die Wände strömten vorbei, sie spürte die aufschwebende Decke nicht mehr und die Stunde, unsäglich leicht und mit entketteten Gliedern.
Da plötzlich rührte sie jemand an die Schulter. Sie hielt inne und mit ihr die Musik, die Lichter verloschen, schwarz drängten sich die Wände heran, und der Tänzer war verschwunden.
„Gib ihn mir her, du Diebin!“, schrie das grauenhafte Weib, denn sie war es, dass die Wände gellten, und klemmte eiskalte Finger um ihr Handgelenk.
Sie bäumte sich auf und hörte sich selber schreien, einen irren, kreischenden Laut des Entsetzens, und sie rangen beide, aber das Weib war stärker, riss ihr das Perlenhalsband ab und dabei das halbe Kleid, dass ihre Brust und Arme sich nackt entblößten unter den niederhängenden Fetzen.
Mit einem Male waren wieder Menschen da, aus allen Sälen strömten sie in anschwellendem Lärm und starrten sie, die Halbnackte, höhnisch an und das Weib, das gellend schrie:
„Sie hat ihn mir gestohlen, die Ehebrecherin, die Dirne.“
Sie wusste nicht, wohin sich verbergen, wohin ihre Augen wenden, denn immer näher traten die Menschen heran, neugierige, fauchende Fratzen griffen in ihre Nacktheit, und jetzt, da ihr taumelnder Blick nach Rettung fortflüchtete, sah sie plötzlich im finsteren Rahmen der Tür ihren Mann reglos stehen, die rechte Hand hinter dem Rücken verborgen.
Sie schrie auf und lief von ihm fort, lief durch viele Räume, hinter ihr brandete die gierige Menge, sie spürte, wie ihr Kleid immer mehr niederglitt, kaum konnte sie es noch halten.
Da sprang eine Tür vor ihr auf, gierig stürzte sie die Treppe hinab, sich zu retten, aber unten wartete schon wieder das gemeine Weib in ihrem wollenen Rock und mit ihren kralligen Händen.
Sie sprang zur Seite und lief wie wahnsinnig ins Weite, aber die andere stürzte ihr nach, und so jagten sie beide durch die Nacht lange schweigende Straßen entlang, und die Laternen bogen sich grinsend zu ihnen nieder.
Hinter sich hörte sie immer die Holzschuhe des Weibes ihr nachklappern, aber immer, wenn sie an eine Straßenecke kam, sprang auch dorten wieder das Weib hervor und wieder an der nächsten, hinter allen Häusern, rechts und links lauerte sie. Immer war sie schon da, entsetzlich vervielfacht, nicht zu überholen, immer sprang sie vor und griff nach ihr, die schon die Knie sich versagen fühlte.
Doch endlich, da war ihr Haus, sie stürzte darauf zu, aber wie sie die Tür aufriss, stand dort ihr Mann, ein Messer in der Hand, starrte sie an mit einem bohrenden Blick.
„Wo bist du gewesen?“, fragte er dumpf.
„Nirgends“, hörte sie sich sagen und schon ein grelles Gelächter an ihrer Seite.
„Ich habe es gesehen! Ich habe es gesehen!“, schrie grinsend das Weib, das plötzlich wieder neben ihr stand und irrsinnig lachte. Da hob ihr Mann das Messer.
„Hilfe!“, schrie sie auf. „Hilfe!“ ...
Sie starrte auf, und ihre erschreckten Blicke stießen in die ihres Mannes. Was ... was war das? Sie war in ihrem Zimmer, die Ampel brannte fahl, sie war zu Hause in ihrem Bett, sie hatte nur geträumt.
Aber wieso saß ihr Mann am Rand ihres Bettes und betrachtete sie gleich einer Kranken? Wer hatte das Licht angezündet, warum saß er so ernst da, so regungslos starr?
Ein Schrecken zuckte ihr durch und durch. Unwillkürlich blickte sie nach seiner Hand: Nein, es war kein Messer darin.
Langsam wich die Benommenheit des Schlafs von ihr und das Wetterleuchten seiner Bilder. Sie musste geträumt, im Traume geschrien und ihn erweckt haben. Aber warum blickte er so ernst, so durchdringend, so unerbittlich ernst auf sie?
Sie versuchte zu lächeln. „Was ... was ist denn? Warum siehst du mich so an? Ich glaube, ich habe bös geträumt.“
„Ja, du hast laut geschrien. Vom andern Zimmer habe ich's gehört.“
Was habe ich gerufen, was habe ich verraten, schauerte ihr, was weiß er schon?
Sie wagte sich kaum wieder empor in seinen Blick. Aber er sah ganz ernst auf sie nieder mit einer merkwürdigen Ruhe.
„Was ist mit dir, Irene? Etwas geht in dir vor. Du bist ganz verwandelt seit ein paar Tagen, bist wie im Fieber, nervös, zerfahren und schreist um Hilfe aus dem Schlaf?“
Sie versuchte wieder zu lächeln.
„Nein“, beharrte er. „Du sollst mir nichts verschweigen. Hast du irgendeine Sorge oder quält dich etwas? Alle haben es schon bemerkt im Hause, wie du verwandelt bist. Du sollst Vertrauen zu mir haben, Irene.“
Er rückte unmerklich an sie heran, sie fühlte, wie seine Finger ihren nackten Arm glätteten und schmeichelten, und in seinen Augen war ein seltsames Licht.
Ein Verlangen überkam sie, jetzt sich an seinen festen Körper zu werfen, sich anzuklammern, alles zu gestehen und ihn nicht eher zu lassen, als bis er vergeben, jetzt in diesem Augenblick, da er sie leiden gesehen.
Aber die Ampel brannte fahl, ihr Gesicht erhellend, und sie schämte sich. Sie fürchtete sich vor dem Wort.
„Sei nicht besorgt, Fritz“, suchte sie zu lächeln, indes ihr Körper schauerte bis in die nackten Zehen. „Ich bin nur ein wenig nervös. Es wird schon vorübergehen.“
Die Hand, die sie schon umschlungen hielt, zog sich rasch zurück. Sie schauerte, wie sie ihn jetzt ansah, bleich im gläsernen Licht und die Stirn von den schweren Schatten finsterer Gedanken überwölbt. Langsam richtete er sich auf.
„Ich weiß nicht, mir war so, als hättest du mir etwas zu sagen all diese Tage schon. Etwas, was nur dich angeht und mich. Wir sind jetzt allein, Irene.“
Sie lag und rührte sich nicht, gleichsam hypnotisiert von diesem ernsten und verschleierten Blick. Wie gut, fühlte sie, könnte jetzt alles werden, nur ein Wort brauchte sie zu sagen, ein kleines Wort: Verzeihung, und er würde nicht fragen, wofür. Aber warum brannte das Licht, dieses laute, freche, horchende Licht? Im Dunkel hätte sie es zu sagen vermocht, das fühlte sie. Aber das Licht zerbrach ihre Kraft.
„Also wirklich nichts, gar nichts hast du mir zu sagen?“
Wie furchtbar die Verlockung, wie weich seine Stimme war! Nie hatte sie ihn so sprechen gehört. Aber das Licht, die Ampel, dieses gelbe, gierige Licht!
Sie gab sich einen Ruck.
„Was fällt dir ein“, lachte sie und erschrak schon vor dem Falsett der eigenen Stimme. „Weil ich nicht gut schlafe, sollte ich schon Geheimnisse haben? Am Ende gar Abenteuer?“
Sie schauerte selber, wie falsch, wie verlogen die Worte klangen, ihr graute bis in das innerste Mark vor sich selbst, und unwillkürlich wandte sie den Blick.
„Nun – schlaf gut.“
Kurz sagte er's jetzt, ganz scharf. Mit einer ganz anderen Stimme, wie eine Drohung oder wie einen bösen, gefährlichen Spott.
Dann löschte er das Licht. Sie sah seinen weißen Schatten bei der Tür verschwinden, lautlos, fahl, ein nächtiges Gespenst, und wie die Tür zufiel, war ihr, als schließe sich ein Sarg. Abgestorben fühlte sie alle Welt und hohl, nur innen in ihrem erstarrten Leib stieß das eigene Herz laut und wild gegen die Brust, Schmerz und Schmerz jeder Schlag.
Am nächsten Tage, als sie gemeinsam beim Mittagessen saßen – die Kinder hatten eben gestritten und konnten nur mit Mühe zur Ruhe verwiesen werden –, brachte das Dienstmädchen einen Brief. Für die gnädige Frau und man warte auf Antwort.
Erstaunt betrachtete sie eine fremde Schrift und löste eilig das Kuvert, um schon bei der ersten Zeile jäh zu erblassen. Mit einem Ruck sprang sie auf und erschrak noch mehr, als sie an der einhelligen Verwunderung der anderen das Verräterisch-Unbedachte ihres Ungestüms erkannte.
Der Brief war kurz. Drei Zeilen:
„Bitte, geben Sie dem Überbringer dieses sofort hundert Kronen.“
Keine Unterschrift, kein Datum, in den sichtbar verstellten Schriftzügen, nur dieser grauenhaft eindringliche Befehl.
Frau Irene lief in ihr Zimmer, um das Geld zu holen, doch sie hatte die Schlüssel zu ihrem Kasten verlegt, fieberhaft riss und rüttelte sie an allen ihren Laden, bis sie ihn endlich fand.
Zitternd faltete sie die Banknoten in ein Kuvert und übergab sie selbst an der Tür dem wartenden Dienstmann. Sie tat das alles ganz sinnlos, wie in einer Hypnose, ohne an die Möglichkeit eines Zögerns zu denken. Dann trat sie – kaum zwei Minuten war sie weggeblieben – wieder in das Zimmer zurück.
Alles schwieg. Sie setzte sich mit einem scheuen Unbehagen nieder und wollte eben irgendeine eilige Ausflucht suchen, als sie – und so zitterte ihre Hand, dass sie das erhobene Glas eilig niederstellen musste – in furchtbarstem Erschrecken bemerkte, dass sie, vom Blitzschlag der Erregung geblendet, den Brief offen neben ihrem Teller hatte liegen lassen.
Mit einem verstohlenen Griff knitterte sie das Billett zusammen, aber jetzt, wie sie es einsteckte, begegnete sie, aufschauend, einem starken Blick ihres Mannes, einem bohrenden, strengen, schmerzhaften Blick, den sie früher nie an ihm gekannt hatte. Jetzt erst, seit einigen Tagen, gab er ihr mit dem Blick diese plötzlichen Stöße des Misstrauens, von denen sie ihr Innerstes erzittern fühlte und die zu, parieren sie nicht verstand.
Mit solch einem Blick hatte er nach ihren Gliedern damals beim Tanz gegriffen, es war der gleiche, der gestern nachts wie ein Messer über ihrem Schlaf gefunkelt hatte.
Und während sie noch nach einem Wort rang, überfiel sie eine längst vergessene Erinnerung, nämlich dass ihr Mann einmal erzählt hatte, als Anwalt einem Untersuchungsrichter gegenübergestanden zu sein, dessen Kunstgriff es war, während des Verhörs mit gleichsam kurzsichtigen Blicken die Akten zu durchmustern, um dann bei der wirklich entscheidenden Frage blitzartig den Blick zu heben und wie einen Dolch in das jähe Erschrecken des Angeklagten zu stoßen, der dann bei diesem grellen Blitz konzentrierter Aufmerksamkeit die Fassung verlor und die sorgsam hochgehaltene Lüge kraftlos fallen ließ.
Sollte er nun selbst sich in so gefährlicher Kunst versuchen und sie das Opfer sein? Sie schauerte, umso mehr, als sie wusste, eine wie große psychologische Leidenschaft ihn weit über das Maß der juridischen Ansprüche an seinen Beruf fesselte. Aufspüren, Entfalten, Erpressen eines Verbrechens konnte ihn beschäftigen wie andere Hasardspiel oder Erotik, und in solchen Tagen psychologischer Spürjagd war sein Wesen gleichsam innerlich durchglüht. Eine brennende Nervosität, die ihn nachts oft vergessene Entscheidungen aufstöbern ließ, wurde nach außen zu einer stählernen Undurchdringlichkeit, er aß und trank wenig, rauchte nur unablässig, das Wort gleichsam aufsparend für die Stunde vor dem Gericht.
Einmal hatte sie ihn dort gesehen bei einem Plädoyer und nicht ein zweites Mal mehr, so sehr war sie erschreckt gewesen von der finsteren Leidenschaft, der fast bösen Glut seiner Rede und einem dumpfen und herben Zug in seinem Gesicht, den sie nun mit einem Male in dem starren Blick unter den drohend gefalteten Brauen wiederzufinden meinte.