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Ivar Leon Menger

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Beschreibung

Du wirst ganz mir gehören! Neue Psychospannung für Leser*innen von Arno Strobel, Andreas Winkelmann und Melanie Raabe Jede Nacht hat ihre Kinder. Geschöpfe wie ihn, die um die beleuchteten Häuser schlichen und nach Beute suchten. Mit dem Teleobjektiv, aus sicherer Entfernung. Einmal im Monat eroberte der Schatten ein anderes Revier. Ein fremdes Viertel, eine neue Straße. Er wurde regelrecht süchtig danach. Bis er Mia sah. Und so blieb er für immer ... Irgendetwas an Viktor stimmt nicht, das spürt Mia schon bei ihrem ersten Date im Edelrestaurant auf dem Dach des Kanzleramts. In den Tagen darauf geschehen merkwürdige Dinge, die sich irgendwann nicht mehr mit dem Zufall erklären lassen. Mias anfängliche Beunruhigung weicht einer lähmenden Angst. Doch dann beschließt sie, den Spieß umzudrehen. Ein tödliches Spiel beginnt ... Lesen Sie auch ›Als das Böse kam‹ von Ivar Leon Menger!

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Seitenzahl: 516

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Ivar Leon Menger

ANGST

Thriller

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Wenn Liebe blind macht, sieht niemand das Böse kommen. – Elly Watson

Prolog

Jede Nacht hat ihre Kinder. Geschöpfe wie ihn, die um die beleuchteten Häuser schleichen und nach Beute suchen. Mit dem Teleobjektiv, aus sicherer Entfernung. Einmal im Monat eroberte der Schatten ein anderes Revier. Ein fremdes Viertel, eine neue Straße. Er wurde regelrecht süchtig danach. Bis er Mia sah. Und so blieb er für immer.

Er studierte jede ihrer Bewegungen, beobachtete, wie sie die Vorhänge an ihrem Fenster zuzog, meist nur halbherzig. Vermutlich, damit er ihr weiterhin zusehen konnte, wie sie sich im Schein der Schreibtischlampe entkleidete. Dann wünschte er sich, dass sie sich zwischen die Beine fasste und für ihn masturbierte. Doch das war nie geschehen. Das hob sie sich wohl für andere auf.

Ja, er war ihr hartnäckig gefolgt. Bis er endlich in ihrer Nähe war. So dicht, dass sie seine Anwesenheit gar nicht mehr bemerkte.

Das war eine Kunst, kein Verbrechen.

Und trotzdem saß er nun hier, in diesem schrecklich schmucklosen Verhörraum, und sollte erzählen, was vor zwei Wochen passiert war.

Er dachte, es wäre Liebe. Dabei hatte ihm Mia nur etwas vorgespielt. Er schüttelte den Kopf über die eigene Dummheit. Warum war er nicht von alleine darauf gekommen? Sie war Schauspielerin von Beruf. Also so etwas Ähnliches wie er.

Er hatte früh gelernt, sich zu verstellen. In andere Rollen zu schlüpfen, damit sie ihm nicht auf die Spur kamen. Schon damals, als er als Kind die Nachmittage im Wald verbrachte, Blaubeeren sammelte, den Schnecken die Fühler abschnitt oder Katzen anzündete.

Der Kommissar schob ihm einen Becher mit Kaffee über den Tisch.

Er nahm einen Schluck und ärgerte sich über die Handschellen, die ihn dazu zwangen, den Kaffeebecher mit zwei Händen zu umklammern. Er war doch kein Eichhörnchen.

»Mein Name ist Tarik Ünal. Ich bin der leitende Mordermittler in diesem Fall.« Seine Stimme war so tief wie ein gut gestimmter Kontrabass. »Bevor wir mit unserer Befragung beginnen – haben Sie eine Anwältin oder einen Anwalt, die wir benachrichtigen sollen?« Der Kommissar sah ihn an, doch er blieb weiterhin stumm. »Wünschen Sie rechtlichen Beistand?«

Er schüttelte den Kopf.

Rechtlicher Beistand hatte ihm schon früher nicht geholfen. Als er in den Jugendknast gekommen war.

»Wie Sie meinen«, sagte Tarik Ünal und räusperte sich. Er drückte auf die Taste eines Aufnahmegeräts und schob ihm ein Mikrofon vor die Nase. »Ich halte fest, dass der Beschuldigte über seine Rechte aufgeklärt wurde und auf einen Rechtsbeistand verzichtet. Es ist der 20. Juli, elf Uhr acht.« Der Kommissar legte die Arme auf den Tisch. »Bevor wir zu den Mordopfern kommen, würde ich gern über die Stalkingvorwürfe reden, die gegen Sie vorliegen.« Er fuhr sich mit der Hand über den gepflegten Dreitagebart. »Ich will das verstehen.«

»Sie … sie liebt mich«, murmelte er und stellte den Kaffeebecher wieder auf den Metalltisch zurück. »Ich wollte nicht, dass es so endet.«

»Natürlich«, entgegnete Tarik Ünal ruhig. »Niemand wollte das. Aber beginnen wir am Anfang. Für das Protokoll, einverstanden? Als Sie Mia Richter kennenlernten.« Er richtete sich vor ihm auf. »Bitte erklären Sie mir eins …« Die Lederjacke des Polizisten knarzte, als er die Arme vor der Brust verschränkte. »Wie zur Hölle haben Sie es geschafft, bis in ihre Wohnung zu kommen?«

Er grinste. »Oh, das war leicht.«

ERSTER AKT

1

Der Kellner schenkt ungefragt Champagner nach. Aber vielleicht macht man das so, hoch über den Dächern des Regierungsviertels. Ich schiele zu den Nachbartischen hinüber. Rauschendes Stimmengemurmel in der Sommernacht, darüber leise Klaviermusik. Wahrscheinlich Frédéric Chopin in Endlosschleife. Ein italienisches Touristenpärchen im Kerzenschein, verträumt, mit Sicht auf den Berliner Fernsehturm. Wie zwei Models aus einer Parfumwerbung. Dahinter mit Rosenblüten eingedeckte Tischreihen, an denen ein Junggesellinnenabschied gefeiert wird. Ein Dutzend lachsfarbene Poloshirts mit Hochsteckfrisuren in wohltemperierter Lautstärke. Und an der letzten Tafel der Dachterrasse zwei Mittsiebziger in eleganter Abendgarderobe, händchenhaltend. Die beiden Alten wirken so verliebt, als wäre heute ihr erstes Date.

So viel Liebe um mich herum, ich könnte kotzen.

Ich kratze den letzten Löffel Limettenmousse vom Teller und wische mir den Mund mit der steifen Stoffserviette ab. Lauwarmer Wind zieht durch meine Seidenbluse. Streift meine Haut, den roséfarbenen Spitzen-BH, den ich mir letzte Woche gegönnt habe. Als ich mit diesem angesagten Prenzlauer-Berg-DJ aus war. Christoph oder Torben oder so ähnlich, keine Ahnung. Sorry, aber von sexistischen Arschlöchern merke ich mir grundsätzlich keine Namen.

Besonders, wenn sie sich nicht mehr bei mir melden.

Die unfassbar teure Glasflasche neben mir klirrt im Eiswürfelbad. Der Kellner deutet eine knappe Verbeugung an, dann verschwindet er im Lichtermeer des Dachgartens. Ach, wie gern würde ich ihm folgen. Einfach nur weg von hier.

Doch die mondäne Stimmung des Edelrestaurants im historischen Reichstagsgebäude nimmt mich ungewollt gefangen. Das hier ist kein Feierabendbier am Späti, kein Date in einem hippen Burgerladen oder wo man sich ansonsten in Berlin trifft, wenn man sich kennenlernen will. Das hier hat Klasse. Genauso wie der blonde Dreißigjährige, der mir seit fast zwei Stunden gegenübersitzt.

Viktor.

Seinen Nachnamen kenne ich nicht.

Ich kann es nicht erklären, aber an diesem piekfeinen Ort fühle ich mich irgendwie besonders. Wie die zwiegespaltene Hauptfigur in einem französischen Godard-Film, die hier sein will und gleichzeitig ganz woanders. Ich lächle mein Gegenüber an, nicke verständnisvoll, auch wenn ich seinem Monolog schon seit Minuten nicht mehr folge. Ich greife zu meinem Champagnerglas und nehme einen Schluck. Die herben Perlen, die meinen Gaumen kitzeln, betören mich immer mehr.

Keine Sorge, ich bin nicht betrunken. Auch nicht kurz davor. Denn das ist meine wichtigste Regel: Bei einem unbekannten Date immer die Kontrolle behalten! Ich spreche aus Erfahrung. Ansonsten wachst du am nächsten Morgen zu Hause auf und weißt nicht, wie du deinen Nachtfang wieder loswirst.

Ich will keine feste Beziehung. Das verträgt sich nicht mit meinen Zukunftsplänen. Nicht umsonst habe ich die kleine Vogeltätowierung auf meinem Handgelenk. Eine Schwalbe, frei und unabhängig, von Baum zu Baum fliegend, um etwas Spaß zu haben.

Nun also Viktor.

Dunkelblauer Nadelstreifenanzug, gebügeltes weißes T-Shirt, braune Lederschuhe, teure Armbanduhr.

Er wirkt so ganz anders als heute Nachmittag, als ich ihn kennengelernt habe. Eleganter, reicher. Doch seine traurigen Augen und das verschmitzte Lächeln sind geblieben. Eine Kombination, die mich neugierig gemacht hat. Vor wenigen Stunden auf der Museumsinsel, in der Alten Nationalgalerie.

Ich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass er mir mit seiner schwarzen NYC-Baseballcap, den zerrissenen Jeans und dem dunkelblauen Kapuzenpulli durch die verschiedenen Ausstellungen gefolgt war. Bis in die oberste Etage zur Romantik, wie passend.

Es war vor dem Gemälde Der Mönch am Meer von Caspar David Friedrich, mitten zwischen den asiatischen Touristen, als er mich aus dem Nichts heraus gefragt hat, ob ich vielleicht einen Kaffee mit ihm trinken würde. Noch bevor er mich nach meinem Namen gefragt hat. Seine Hände haben gezittert, genau wie seine Stimme. Ich habe den Kopf schiefgelegt und ihn von oben bis unten gemustert. So wie ihr Männer es mit uns Frauen tut. Er hat nervös gelächelt, ist von einem Fuß auf den anderen getreten, hat auf die blaugräuliche Leinwand hinter uns gedeutet. Hat gesagt, falls ich sein Angebot ablehne, würde er sich aus Kummer in die Sturmfluten des Gemäldes werfen.

Das war charmant, witzig.

Ich entgegnete, dass wahrscheinlich nicht nur ich über seinen kreativen Freitod untröstlich wäre, sondern vermutlich auch der Museumswärter, der grimmig zu uns herüberstarrte. Darüber musste er so laut lachen, dass der Wächter den Zeigefinger an die Lippen legte.

Also sagte ich ihm kurzerhand zu. Ohne eine Sekunde zu zögern. Es imponierte mir, dass er die Chuzpe besessen hatte, mich einfach anzusprechen. So wie früher, in der guten analogen Zeit. Als man sich noch im Kino oder Tanzcafé kennengelernt hat. Und nicht über Dating-Apps. Wie hätte ich da Nein sagen können? Außerdem sah er wie ein schräger Berliner Künstler aus. Irgendwie süß. Wenn auch nicht mein Typ.

»Mia.« Ich streckte ihm die Hand hin. »Mia Richter.«

Er hat meine Hand genommen. »Viktor.«

Und nun, nur wenige Stunden später, sitzen wir überraschend hier. In diesem Promi-Edelschuppen, angeblich seinem Lieblingsrestaurant, nach einem Sieben-Gänge-Menü mit Weinbegleitung, auf einer Dachterrasse über dem Berliner Regierungsviertel.

Das nennt er Kaffee trinken?

Er dachte wohl, nach Langoustines Royal mit Vinaigrette von gereifter Sojasauce, Sauté vom Kalbsbries mit kleinen, gefüllten Champignons, Uckermärker Rinderrücken mit Sauerklee und geschmorter Rote Bete bekommt er mich als Dessert dazu.

Junge, vergiss es. Mit Geld beeindruckt mich niemand.

Mit zerrissener Jeans warst du interessanter.

Ich nippe am Champagnerglas und schiele auf meine Uhr. Viertel vor zehn an einem Donnerstagabend. Die verbleibenden fünfzehn Minuten schenke ich Viktor noch, dann wird es Zeit, nach Hause zu fahren. Ich bin kein ängstlicher Typ, trotzdem muss ich mein Schicksal nicht herausfordern, wenn ich später mit der U-Bahn nach Kreuzberg fahre. Außerdem ist morgen ein wichtiger Tag für mich.

Erneut nicke ich mit dem Kopf, ohne zuzuhören, als mir Viktors Mundwinkel auffallen. Sie haben sich plötzlich verändert, hängen wie seine Augenlider traurig nach unten. Er tupft sich mit der Stoffserviette über die Stirn.

Ex-Freundin? Tragisch? Von was spricht er da?

Ich setze mich im Stuhl auf und stelle mein Grinsen ein. »Bitte entschuldige, Viktor«, sage ich. »Was war mit deiner Freundin? Wieso hat sie dich verlassen?«

Viktor holt Luft. »Meine Verlobte hat sich umgebracht.«

»O Gott«, entfährt es mir leise. »Das … das tut mir leid.« Meine Nackenhaare stellen sich auf. Ich streiche über meine Tätowierung, über die schmale Narbe.

»Nein, nein. Mir tut es leid, Mia«, sagt er hastig. »Ich wollte jetzt nicht unseren wunderbaren Abend zerstören.« Viktor lässt den Kopf hängen. »Ich bin nicht gut in so was.«

»Darin ist niemand gut, Viktor«, sage ich leise. »Suizid ist ein ernstes, wichtiges Thema, über das viel zu wenig gesprochen wird.«

»Aber doch nicht bei unserer ersten Verabredung«, sagt Viktor und schüttelt den Kopf. »Wie dumm kann man sein?«

Ich beuge mich zu ihm vor, lege die Hand auf seinen Arm. »Du bist nicht dumm, Viktor. Genau das macht uns doch zu Menschen. Wenn Gespräche in die Tiefe gehen, kein oberflächliches Blabla.« Ich ziehe meine Hand wieder zurück. »Möchtest du darüber sprechen?« Viktor lehnt sich zurück, starrt in den Himmel. Ich senke meine Stimme: »Hatte deine Verlobte … Depressionen?«

»Nee«, antwortet er knapp. »Sie hat nur unsere Trennung nicht verkraftet.« Dann richtet sich Viktor plötzlich zu voller Größe auf und winkt die Kellnerin zu uns. »Hallo? Hier! Bitte zahlen!«

Augenblicklich habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihm nicht richtig zugehört, sondern ganz egoistisch den Abend genossen habe. Auch wenn ich mir unser spontanes Date eigentlich ganz anders vorgestellt hatte. Einfacher, mit viel weniger Tamtam.

Ich drehe mich zur Kellnerin um, die mit der Rechnung an unseren Tisch getreten ist, und öffne meine Handtasche. »Wir zahlen bitte getrennt.«

»Kommt überhaupt nicht infrage, Mia«, geht Viktor dazwischen. »Ich habe gesagt, dass ich dich einlade.« Er schlägt mit der Handfläche auf den Tisch. »Und was ich sage, wird gemacht.«

Ich zucke zurück. Meine Handtasche fällt zu Boden.

Er lacht.

»Bist du sicher? Die Rechnung ist ganz schön hoch«, sage ich, obwohl mich dieser Abend ein Viertel unserer WG-Zimmermiete kosten wird. Ich bücke mich unter den Tisch, um meine Tasche aufzuheben, Kugelschreiber und Lippenstift sind herausgekullert. Als ich wieder nach oben komme, überreicht Viktor der überraschten Kellnerin ein Bündel Geldscheine.

»Stimmt so«, sagt er mit breitem Grinsen.

»Herzlichen Dank, der Herr. Das ist sehr großzügig«, entgegnet sie mit einer knappen Verbeugung und verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist.

»Viktor, das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, sage ich und meine es aufrichtig. »Wir hätten uns die Rechnung teilen können.« Auch wenn ich mir dieses Restaurant niemals freiwillig ausgesucht hätte, geschweige denn leisten könnte – ich hasse das Gefühl, jemandem etwas schuldig zu sein. »Trotzdem vielen Dank, Viktor. Das war seit langer Zeit mal wieder ein wundervoller Abend.«

»Ja, Mia. Das war es«, sagt er und knetet sich die Hände.

Dann verstummen wir.

Aus Höflichkeit macht niemand den ersten Schritt. Wir wissen beide, dass es das erste und letzte Mal war, dass wir uns getroffen haben. Dafür sind wir einfach zu verschieden. Ich, eine fünfundzwanzigjährige Nachwuchs-Schauspielerin aus Kreuzberg und er, ein circa dreißigjähriger … Ja, was macht Viktor eigentlich beruflich? Darüber haben wir gar nicht gesprochen. Eigentlich hat er mir die ganze Zeit nur Poesiealbum-Fragen gestellt. Was sind deine Lieblingsblumen? Lieblingsurlaubsland? Was dein Lieblingstier, Lieblingsfarbe, Lieblingsbuch?

Seinem dunkelblauen Anzug nach zu urteilen, scheint er Banker oder Versicherungsmakler zu sein. Er könnte aber auch ein Start-up führen oder etwas mit Bitcoins machen. Jedenfalls ist Viktor definitiv kein Künstler, so wie ich es vor wenigen Stunden im Museum vermutete.

»Ich bring dich nach Hause«, sagt er, schiebt den Stuhl nach hinten und geht um den Tisch. Viktor bietet mir seinen Arm zum Aufstehen an. Ein bisschen albern, doch irgendwie gefällt es mir. Eine verloren gegangene Geste von Respekt.

»Danke«, sage ich und erhebe mich.

»Wo musst du hin?«, fragt Viktor. »Ich rufe uns ein Taxi.«

»Kreuzberg, Graefekiez«, sage ich, ohne weiter darüber nachzudenken. Eigentlich wollte ich den Abend gleich an der Restauranttür beenden, aber ein Taxi ist um diese Uhrzeit auf jeden Fall sicherer als unsere berüchtigte U-Bahn-Station Schönleinstraße. Also nehme ich Viktors Angebot dankend an.

Er hilft mir in den Mantel, und wenig später sitzen wir schweigend im Taxi, rauschen durch die Berliner Nacht. Hell erleuchtet zieht das moderne Regierungsviertel an uns vorbei, viel Stahl und Beton, der glitzernde Spreekanal. Über uns dreht sich der Funkturm, eine Schnulze von Roland Kaiser im Autoradio. Irgendwann später mit Graffiti besprühte Häuserwände, Kolonnen von Krankenwagen, vereinzelt Polizeisirenen, Spielhallen, Dönerbuden, Shisha-Bars, türkische Juweliere, Sportwetten, Köfte-Grills, geschlossene Stofflädchen. Wir erreichen den Kottbusser Damm, der Wagen biegt links in die verkehrsberuhigte Zone ein. Vorbei an den Straßencafés, meinem Späti, der kleinen Eckpizzeria, vorbei an grölenden Jugendlichen, betrunkenen Touristen, weiter in die von Platanen gesäumte Dieffenbachstraße.

»Sie können gleich hier halten!«, rufe ich nach vorne und deute auf das spanische Restaurant neben unserer Hofeinfahrt. Das Taxi hält an. Ich schnalle mich ab und drehe mich zu Viktor. »Danke«, sage ich und drücke die Handtasche gegen meine Brust. »Das war wirklich ein schöner Abend.«

»Der beste Abend seit Langem«, sagt Viktor und lächelt mich an. »Wir können ihn ja wiederholen.«

»Na klar, warum nicht?«, entgegne ich, weil mir auf die Schnelle der Mut fehlt, ihn zu enttäuschen. Das ist der Moment, den ich am meisten hasse. Die Unehrlichkeit nach einem missglückten Date. Warum kann man nicht einfach sagen: Hey, ich mag dich. Das war ein interessanter Abend, du bist nett, aber es hat nicht gefunkt. Warum denken Männer immer, dass sich mit einem weiteren Treffen ihre Chancen erhöhen?

»Was macht das?«, frage ich nach vorne und wühle mich durch die Tiefen meiner Handtasche. Irgendwo muss doch das Portemonnaie stecken. Vielleicht ist es hinter mein Notizbuch gerutscht? Der Taxifahrer gibt eine Antwort, die ich nicht verstehe. Endlich habe ich die Börse gefunden und ziehe sie heraus.

Doch Viktor legt seine Hand auf meine. Sie ist fleischig und feucht. »Ich übernehme das«, sagt er.

»Danke«, sage ich und ziehe meine Hände zurück. Ich öffne die Tür und steige aus dem Taxi. Kühle Abendluft, das Rascheln der Blätter in den Bäumen. Endlich zu Hause. Vor mir auf dem Bürgersteig erwartet mich ein Hundehaufen, in letzter Sekunde springe ich daran vorbei.

»Bis ganz bald!«, ruft mir Viktor zu. »Du Traumfrau!«

Traumfrau, o je. Ich nicke freundlich und schlage die Tür hinter mir zu. Auf dem Weg zu unserem Hauseingang verdrehe ich die Augen. Zum Glück hat dieser Typ nicht meine Telefonnummer oder kennt meinen Nachnamen. Ich kehre auf dem Absatz um und laufe sicherheitshalber in die entgegengesetzte Richtung. Er muss ja nicht wissen, wo ich wohne. Gegen Ende der Taxifahrt wurde Viktor immer seltsamer, hat mich die ganze Zeit angestarrt. Als würde ich es nicht merken. Aber ich will nicht undankbar erscheinen. Viktor war ansonsten sehr zuvorkommend und höflich. Die Art von Mann war bei meinen letzten Verabredungen viel zu selten dabei. Meinen anderen Dates ging es letztendlich nur darum, mich möglichst schnell in die Kiste zu kriegen.

Das Taxi hinter mir fährt los. Ich drehe mich nicht um, spüre aber Viktors Blicke in meinem Rücken. Ich bleibe an der Hausmauer stehen und verharre, bis der Wagen in die Graefestraße gebogen ist.

Dann gehe ich zurück, öffne die Handtasche und wühle nach meinem Schlüsselbund. Einzelne Euromünzen klimpern, ich schiebe mein Smartphone zur Seite, fingere zwischen Make-up-Döschen, Notizbuch, Portemonnaie, einer Packung Taschentücher, dem Kugelschreiber und dem Lippenstift nach meinen Schlüsseln. Ich suche weiter, tiefer. Sogar in den verborgenen Innentaschen. Dann in meiner Jackentasche. In meiner Jeans. Doch es hat keinen Sinn.

Mein Hausschlüssel, er ist nicht da.

2

Der Türsummer ertönt mit einem tiefen Brummen. Ich drücke unser verschnörkeltes Eingangstor aus der Gründerzeit auf und schlendere durch die Steinhalle in den ersten Hinterhof, das Nachtlicht geht automatisch an. Es riecht nach geschmorten Zwiebeln und Knoblauch. Ich gehe an den zwei Reihen Fahrradständern vorbei auf unsere rote Haustür zu, die von zahlreichen Blumenkübeln gesäumt ist. Dort betätige ich unsere Klingel erneut und warte.

Nachdem Yvonne den Summer gedrückt hat, nehme ich zwei Stufen auf einmal in den vierten Stock des alten Fabrikgebäudes.

Meine blondhaarige WG-Bewohnerin erwartet mich schon im Türrahmen. Sie trägt ein übergroßes Backstreet-Boys-T-Shirt und pinkfarbene Leggins. »Na, Mia? Schlüssel vergessen?«, fragt sie lachend. »Zum Glück habe ich noch nicht geschlafen.«

»Sonst hätte ich wohl in der Kneipe übernachten müssen«, sage ich und betrete den schwarz-weiß karierten Flur unserer Dreier-WG. »Unser Dornröschen kriegt doch eh keiner wach.«

»Nur wenn der richtige Prinz kommt«, ergänzt Yvonne, schließt die Tür und trottet barfuß hinter mir her. In der Küche werfe ich die Handtasche auf den Stuhl und nehme aus dem Küchenschrank ein Wasserglas heraus, das in seinem vorherigen Leben ein Senfglas war. »Ich dachte eigentlich, ich hätte den Schlüssel eingesteckt«, sage ich.

»Und ich dachte, du schläfst heute Nacht woanders«, schmunzelt Yvonne.

»Sehr witzig.« Ich strecke ihr das leere Glas hin. »Auch was?«

Meine Mitbewohnerin schüttelt den Kopf.

Ich fülle das Glas randvoll. Ich bin am Verdursten.

»Hoffentlich hast du den Schlüssel nicht verloren«, sagt Yvonne und geht auf unser Schlüsselbrett zu. »Hm, hier hängt er zumindest nicht.«

»Ich sag doch, dass ich ihn dabei hatte«, entgegne ich und leere das Wasserglas in einem Zug. »Er muss mir im Restaurant aus der Tasche gefallen sein, als ich bezahlen wollte.«

»Wie bitte?«, fragt Yvonne überrascht und dreht sich wieder zu mir um. »Der Typ hat dich nicht mal eingeladen? Obwohl er das Restaurant ausgesucht und so ein Geheimnis aus dem Treffpunkt gemacht hat?«

»Doch, doch, hat er«, antworte ich, ziehe mein Mobiltelefon aus der Handtasche und wähle die Nummer des Dachrestaurants.

»Wo wart ihr überhaupt essen?«, flüstert Yvonne.

Ich winke ab und halte mir den Hörer ans Ohr.

Am anderen Ende begrüßt mich eine sonore Frauenstimme, der ich mein Problem schildere.

»Verstehe«, sagt die Dame knapp. Im Hintergrund ist die hektische Großküche des Edelrestaurants zu hören. »Und wie lautet Ihr Name?«

»Mia Richter«, antworte ich. »Richter, wie der Künstler.«

»Einen Moment, bitte«, sagt sie freundlich und schweigt. Ich höre sie in einem Buch blättern. »Nein, tut mir leid, wir hatten heute keine Reservierung auf Richter.«

»Ach so, natürlich. Er hat den Tisch bestellt«, erkläre ich rasch. »Also, mein …«, doch mir fällt kein passender Begriff ein.

»Ihr … Begleiter?«, fragt sie professionell, leicht unterkühlt. Fast so, als wäre ich eine Escortdame. Es ist mir unangenehm. Wieso kenne ich Viktors Nachnamen nicht?

»Hören Sie, wir saßen draußen auf der Terrasse, gleich links neben dem italienischen Touristenpärchen«, sage ich. »Haben Sie dort am Tisch vielleicht einen Schlüssel gefunden? Am Bund ist ein grüner Gummianhänger dran.«

»Tisch fünf«, sagt die Frau knapp, blättert wieder. »Jetzt erinnere ich mich, selbstverständlich. Der Herr mit dem großzügigen Trinkgeld.« Ihre Stimmung hellt sich auf. »Viktor Engel.«

Engel. So heißt Viktor also mit Nachnamen.

»Nein, es tut mir leid, Frau Richter. Es wurde nichts hinterlegt«, sagt die Restaurantdame. »Doch wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, melden wir uns, falls wir Ihre Schlüssel finden.«

Ich bedanke mich und gebe ihr meine Nummer durch. Ich lege auf und drehe mich zu meiner Mitbewohnerin um, die mit verschränkten Armen am Kühlschrank lehnt.

»Hat es sich wenigstens gelohnt, dass du die Schlüssel verloren hast?«, fragt Yvonne grinsend.

»Das Treffen mit Viktor war ganz nett«, antworte ich und ziehe den gelb lackierten Holzstuhl heran, setze mich an den Esstisch. »Wir waren in diesem Edelrestaurant oben auf der Dachterrrasse des Reichstags.«

»Wow. Das ist allerdings eine Überraschung.«

»Aber es war nicht so, wie ich gedacht hatte.«

Yvonne legt den Kopf schief, kommt mit langsamen Schritten auf mich zu, setzt sich mir gegenüber auf die Eckbank. Sie stützt das Kinn auf die Hände. »Das verstehe ich jetzt nicht. Wieso nur nett? Mia, heute Mittag hast du …«

»Ich weiß. Da habe ich noch von ihm geschwärmt«, entgegne ich. »Doch beim Abendessen hat sich leider herausgestellt, dass Viktor … na ja, dass er …«

»… schwul ist?«, ergänzt Yvonne enttäuscht. »Das war mir sofort klar, Mia. Die besten Männer sind nie zu haben. Die haben Stil, wissen genau, wo man mit einer Dame hingeht.« Sie wirft die blonden Strähnen über die Schulter, redet sich in Fahrt. »Warum solltest du auch so ein Glück haben? Es ist doch kein Wunder, dass du ihn im Museum kennengelernt hast. In einer Kunstausstellung, Mia! Das hätte uns vorher auffallen müssen! Und erst sein Name: Viktor!«

»Denk doch nicht immer in solchen Klischees, Yvonne!«

»Was, wieso?« Sie sieht mich irritiert an. »Ist er doch hetero?«

»Viktor war wirklich aufmerksam und höflich«, sage ich. »Aber gleichzeitig auch wie ein Vulkan, der jeden Moment hochgehen kann.« Ich beuge mich zu Yvonne, senke die Stimme. »Er war ein einziger Widerspruch. Mittags im Museum wie ein abgebrannter Künstler und abends ein neureicher Arsch, der das Geld zum Fenster rauswirft. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich damit umgehen soll.« Ich lasse mich wieder in den Stuhl zurückfallen. »Fast wie Jekyll und Hyde.«

»Also, für mich klingt das aufregend, Mia. Ein Künstler mit Kohle!«, sagt Yvonne und starrt schmachtend an die Zimmerdecke. »Auf jeden Fall besser als deine letzten Typen, die von Tinder. Oder deine Möchtegern-Schauspieler, die alle kein Geld auf dem Konto haben und sich von dir aushalten lassen.«

»Apropos aushalten«, sage ich und nutze meine Chance, sie erneut darauf anzusprechen. »Sag mal, wann kann ich denn mit deinem WG-Anteil für Juni und Juli rechnen? Und die Hälfte deiner Maimiete steht auch noch aus.«

Angespannt rutscht Yvonne auf der Eckbank hin und her. »Ähm, tut mir leid, Mia. Es lief in letzter Zeit nicht so gut. Es sind Sommerferien, da sind die meisten Jungs mit ihren Eltern im Urlaub. Aber du bekommst es bald, ganz sicher. Ich weiß doch, dass du das Geld dringend benötigst.«

»Ich helfe dir gern über die Runden«, sage ich. »Aber du brauchst endlich einen richtigen Job, Yvonne.«

Sie lässt den Kopf sinken.

Ich lege meine Hand auf ihre. »Soll ich morgen mal bei der Produktionsfirma nachfragen, ob sie jemanden gebrauchen können?«

Yvonne hebt den Kopf. »Stimmt ja, morgen früh ist dein großes Casting. Solltest du da nicht ausgeschlafen sein?«

»Das werde ich sein«, sage ich und blicke auf meine Armbanduhr. Micky Maus streckt beide Arme in die Luft, nur wenige Minuten vor elf. »Deshalb wird es für mich jetzt auch Zeit fürs Bett.«

»Und wirst du ihn wiedertreffen, diesen Viktor?«

»Eher nicht«, antworte ich knapp und räume das Wasserglas in die Spülmaschine.

Yvonne öffnet den Kühlschrank und nimmt drei Flaschen Mate-Eistee heraus. Sie wird die Nacht also wieder halb nackt vorm Computer durchzocken, um als Gamer Girl, während ihres Livestreams, Spenden zu sammeln. Manchmal hat sie Glück und verdient so bis zu achtzig Euro am Abend. Und das, obwohl sie Videospiele überhaupt nicht mag.

Ich schlurfe zum Bad. »Bis morgen! Und viel Glück.«

»Dir auch, Schatz!«, ruft Yvonne mit erhobenem Daumen. »Du wirst das Casting rocken!« Sie macht eine ausladende Verbeugung. »Und danke für alles, du bist die Beste!« Dann huscht sie in ihr Zimmer.

Nachdem ich diesen verrückten Tag von mir abgewaschen habe, betrete ich mein dunkles Privatreich und schalte die kleine Messinglampe auf der Kommode an, die ich auf dem Trödelmarkt in Tiergarten erstanden habe. Ich lehne mich gegen das Türblatt.

Endlich Ruhe. Ich atme entspannt durch.

Mein Zimmer, in dem ein schmales Bett, ein Arbeitstisch, darüber ein Regalbrett für meine Bücher, eine Schminkkommode, ein Korbsessel und ein heller Kleiderschrank Platz haben, ist von warmem orangefarbenem Licht durchflutet. Es duftet nach getrockneten Lavendelblüten, die in einem Leinensäckchen an meinem Bettgestell hängen.

Ich zerre den beigefarbenen Vorhang zu, zumindest die eine Hälfte, weil die andere wieder klemmt, und lasse mich in BHund Slip auf die Bettkante fallen. Meine Hand fährt unter das Kopfkissen, ich ziehe das seidene Nachthemd hervor. Es legt sich kühl über meine nackten Beine.

Mein Blick fällt auf den ovalen Spiegel über der Kommode. Ich streiche mir die dunklen Haare über die Schulter und betrachte meinen Körper. Eigentlich bin ich recht zufrieden. Langer Hals, kleiner, fester Busen. Etwas Taille, reine Haut. Vereinzelt Muttermale. Schmale Hüften. Vielleicht könnte ich noch zwei, drei Pfund abnehmen. Aber ich habe mir geschworen, dass ich nicht in den Schönheitswahn verfallen will, der noch immer tief in unserer Schauspielerinnen-DNA steckt. Da hat das Patriarchat beste Arbeit geleistet, um uns mit Hauptrollen zu ködern.

Auch wenn mir viele Regisseure sagen, ich hätte eine unfassbare Ähnlichkeit mit der jungen Natalie Portman, möchte ich mich nicht auf mein Aussehen verlassen. Denn das wird sich verändern, und bis dahin muss ich bewiesen haben, dass ich mehr kann als belanglose Nebenrollen in Studenten-Kurzfilmen zu spielen.

Deshalb ist das morgige Casting so wichtig. Ich erhalte endlich die Chance, für eine vielschichtige Charakterrolle vorzusprechen. Ich wurde für die Hauptrolle eingeladen, in einer deutsch-amerikanischen Co-Produktion, die ihre Premiere sehr wahrscheinlich in Cannes feiern wird.

Und ich bin bestens darauf vorbereitet.

Ich kenne alle Dialoge auswendig, auch die Sätze meines Gegenparts. Ich war fast täglich in der Nationalgalerie auf der Museumsinsel, um das Gemälde von Caspar David Friedrich auf mich einwirken zu lassen. Und ich habe mich spontan in mehrere Liebesabenteuer gestürzt. Genau wie die Hauptfigur, die ich verkörpern will. Julia Stoye, die den berühmten Landschaftsmaler um 1800 angeblich in eine tiefe depressive Krise stürzte und ihn – laut Drehbuch – sogar zu einem Suizidversuch brachte.

Wenn ich die Rolle bekomme, dann haben sich all die Opfer der letzten Jahre gelohnt. Das nächtliche Kellnern, die zahlreichen Wochenend-Workshops, das Anbiedern auf Berliner Filmpartys, das Kontakte knüpfen, die Kurierfahrten mit dem Rad, die ständigen E-Castings, die unbezahlten Auftritte in Kurzfilmen.

Und ich könnte meiner Großmutter endlich das betreute Wohnen im Odenwald ermöglichen.

Mit meinem aktuell Gesparten bleiben mir vielleicht noch fünf Monate, bis ich meinen Schauspieltraum vorerst auf Eis legen muss.

Ich ziehe meinen BH aus, schlüpfe in mein Nachthemd und lösche das Licht. Vom Hof fällt gedämpftes Laternenlicht durch den Vorhang. Ich taste mich zum Fenster und kippe es. Frischer Wind zieht in mein Zimmer. In irgendeinem Hinterhof wird eine Party gefeiert. Tiefe Bässe, ausgelassenes Lachen. Ich hänge mein Smartphone an den Strom und lasse mich auf die Matratze fallen. Morgen werde ich es schaffen, morgen werde ich sie alle überzeugen. Ich schließe die Augen und bete das Vaterunser.

Das erste Mal seit zehn Jahren.

3

Die Espressomaschine hat mich geweckt. Ich blicke auf das Mobiltelefon neben meinem Bett. Freitagmorgen, 6:21 Uhr. Ich könnte noch neun Minuten liegen bleiben, bevor es klingelt. Doch heute ist mein großer Tag. Ich werfe die Bettdecke zur Seite und öffne den Kleiderschrank. In meinem Zimmer schwebt der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, die ersten Sonnenstrahlen scheinen durchs Fenster. Ich schlüpfe in meinen überweiten Kapuzenpulli und schlurfe in die Küche.

Auf dem Esstisch stehen frische Brötchen, Camembert, Nussnougatcreme, Schweizer Bergkäse, ein Glas Himbeermarmelade und eine große Flasche Multivitaminsaft. Davor ein Porzellanteller mit Besteck und die heutige Tageszeitung.

Ich drehe mich überrascht zu Philipp um, der mir eine dampfende Tasse Americano entgegenstreckt.

»Guten Morgen, Mia.«

»Morgen«, sage ich und nehme den Kaffee entgegen. »Für mich?«

Mein Mitbewohner zuckt mit den Achseln. Dann deutet er auf den gedeckten Küchentisch. »Heute ist doch dein Casting.« Er zieht mir den Stuhl heran. »Dafür muss der nächste deutsche Hollywoodstar doch anständig gestärkt sein.«

»Ist das ein ärztlicher Rat, Herr Doktor?«, frage ich schmunzelnd und setze mich an den Tisch.

»Reiner Eigennutz«, sagt Philipp und gießt mir ein Glas Saft ein. »Im Gegenzug erwarte ich eine lobende Erwähnung bei deiner Oscar-Rede.«

Ich bin so froh, dass wir Philipp als Mitbewohner in unserer WG haben. Nicht nur, weil wir im Notfall ärztlich versorgt sind, sondern weil er immer gut gelaunt bleibt. Egal, ob er von einer langen Nachtschicht aus dem Krankenhaus nach Hause kommt oder sich das Geschirr in der Spüle stapelt oder er Yvonnes blonde Haare aus dem verstopften Duschabfluss entfernen muss. Philipp trägt durchgehend ein Lächeln auf seinen Lippen. Nach seinem praktischen Jahr an der Berliner Charité wird er bestimmt ein hervorragender Assistenzarzt.

»Das ist echt lieb, Philipp. Du bist ein Schatz!« Ich schneide das Brötchen in zwei Hälften. »Komm, setz dich doch zu mir.«

»Danke, aber ich muss ins Bett«, sagt Philipp gähnend und stellt sich vor seine WG-Zimmertür, auf der ein gelbes Baustellen-Warnschild angebracht ist. »Zu viele Verletzte für eine Nacht.«

»Verstehe. Ich weiß gar nicht, wie du das alles schaffst«, sage ich und nicke anerkennend. »Schlaf gut! Und ganz lieben Dank für das tolle Frühstück!«

»Sehr gern, Mia. Und viel Erfolg«, sagt er. Und bevor er in seinem Zimmer verschwindet: »Toi, toi, toi!«

Ich greife nach der Tageszeitung, die Philipp immer aus der Charité mitbringt, schlage den Kulturteil auf und nippe an meinem Kaffee.

Nachdem ich fertig gefrühstückt habe, springe ich unter die Dusche und werde zum Menschen. Ich genieße das heiße Wasser auf meiner Haut, den fruchtigen Aprikosenduft meines Shampoos. Während ich mir die Zähne putze, verrät mir der Blick auf die Wanduhr, dass mir noch gute zwei Stunden bis zum Vorsprechen bleiben.

Ich ziehe das türkisfarbene Sommerkleid an, schlüpfe in meine braunen Ballerinas und schminke mich. Dezent, aber die Augenpartie betone ich etwas mehr. Ich hoffe so, eine gewisse Ähnlichkeit mit der Dame auf Caspar David Friedrichs Gemälde Frau am Fenster zu bekommen.

Mit geschultertem Rucksack haste ich ins Treppenhaus und hinaus in den Innenhof zu meinem knallroten Rennrad. Die Sonne strahlt durch die Blätter der Baumkronen, geflecktes Schattenspiel auf dem Bürgersteig. Ich rolle an einer Gruppe Mütter mit Pappbechern vorbei, die ihre Kinder in den Hort bringen. Neben mir schläft ein Obdachloser zusammengerollt in einem Hauseingang, ein Hund kackt auf das von Anwohnern angelegte Blumenbeet.

Kurz hinter der Parkanlage befinde ich mich schon auf der Hauptstraße zwischen hupenden Autokarawanen, überholenden Lastern, ungeduldigen Taxis und Kurierfahrern, die ihren Lieferwagen in zweiter Reihe parken. Wenn ich Glück habe, treffe ich mit allen Körperteilen am Casting ein.

Ich trete in die Pedale. Ich liebe den kühlen Fahrtwind, der mir am frühen Morgen durch die Haare weht, sowie den schnellen Wechsel der Gerüche, die mich für Momente streifen: warmes Brot vom Biobäcker, stinkende Abflüsse, apfelfrischer Fensterreiniger, laufende Dieselmotoren, das Blütenmeer des Blumenverkäufers am Straßenrand, frisch angezündete Zigaretten …

Die Ampel vor mir wird orange, ich bremse ab. Neben mir schießt ein Fahrradfahrer vorbei, über die rote Ampel. Er beschimpft mich auf das Übelste, weil ich stehen geblieben bin. Berlin ist voller Irrer.

Doch das bin ich gewohnt. Als ich selbst noch mit dem Fahrrad Essen ausgeliefert habe, war ich kein Stück besser. Wenn Pünktlichkeit alles ist und du auf das Trinkgeld nicht verzichten kannst, dann zählt nur noch der Blick nach vorn. Hauptsache, du erreichst dein Ziel. Und es gibt so viele kaputte Menschen in der Hauptstadt, die dieses Spiel verloren haben.

Ich biege in die Seitenstraße ein und holpere gemächlich über das Kopfsteinpflaster. Über mir zwitschern die Spatzen in den Lindenblättern. Die Sonne spiegelt sich in den gigantischen Stahlfenstern der Industriehallen, die ich endlich erreicht habe. Ich schiebe mein Fahrrad durch den steinernen Eingangsbogen des Fabrikgeländes. Beruflich war ich schon oft hier. Jedoch nicht fürs Vorsprechen, sondern um Essensbestellungen auszuliefern.

In diesem Gebäudekomplex sind die Büros der wichtigsten Berliner Kreativen versammelt: Filmproduktionen, Casting-agenturen, Fotografen, Musikstudios, Designagenturen und eine Kunstgalerie. Sowie ein italienisches Restaurant im Innenhof, wo sich mittags alle zu Latte macchiato und Torta della nonna treffen, um über ihre neuesten Projekte zu sprechen.

Ich schließe mein Rennrad an den Fahrradständer und sehe mich um. Hier irgendwo muss der Eingang sein. Ein schlanker, attraktiver Mann mit schwarzem Oberlippenbart, Sonnenbrille, Seidenhemd und Jogginghose kommt mir rauchend entgegen.

»Entschuldigung, könntest du mir vielleicht sagen, wo ich die Castingagentur Bergemann & Meyer finde?«, frage ich.

»Yeah, you see the long line?«, antwortet er und deutet mit der brennenden Zigarette hinter sich. »There’s the casting. Good luck!« Seinem Akzent nach zu urteilen, ist der Hipster Niederländer oder Däne.

Ich sehe ihm noch kurz hinterher und frage mich, was fieser war – der Oberlippenbart oder sein Hosengeschmack. Auch wenn er insgesamt ganz süß aussah. Ich werfe ihm ein knappes »Thank you« hinterher, gehe auf die Ansammlung junger Schauspielerinnen zu und stelle mich am Ende der Schlange an.

»… die weibliche Hauptrolle schon besetzt.«

»Woher weißt du davon?«

»Ich kenne jemanden von der Agentur.«

»Und das ist ganz sicher?«

Ich lausche dem Gespräch der beiden Frauen vor mir. Die rothaarige Endzwanzigerin habe ich schon mal auf einem anderen Casting gesehen, die Jüngere mit Pagenschnitt ist garantiert neu im Geschäft. Ich beuge mich zu den beiden vor. »Hallo, ich hab gerade zufällig euer Gespräch mit angehört.«

Sie drehen sich zu mir um und starren mich an, als wäre ich von der Stasi.

»Die Hauptrolle ist schon weg?«, frage ich unsicher.

Die Rothaarige mustert mich. Dann lächelt sie. »Ja, Mädchen. Das alles hier …«, sie deutet mit breiter Geste auf die Schauspielerinnen vor uns, »das ist eine reine Farce. Es wäre für die Produktion viel aufwendiger gewesen, uns alle anzurufen und abzusagen.« Sie beugt sich zu mir vor und flüstert: »Also lassen sie uns alle einfach antanzen und sagen uns vor Ort ab.«

»Wirklich? Das ist ja voll unfair!«, empört sich die Neue, die anscheinend gerade erst ihr Abitur gemacht hat. Ich will ihr gerade antworten, dass das alles nur blödes Gerede ist, als mich die Rothaarige unterbricht.

»Ihr könnt mir glauben«, sagt sie und deutet auf das Büroschild. »Ich bin nur hier, weil ich den dänischen Schauspieler kenne. Mads Larsen. Mads hat die Nebenrolle des Johannes Wiedewelt bekommen.« Sie dreht sich zu dem Küken um, legt den Arm um ihre dünnen Schultern. »Das hat er mir im Vertrauen gesagt. Er ist heute hier, um den Gegenpart zu spielen. Und mit etwas Glück besetzen sie vielleicht noch eine weibliche Nebenrolle. Ansonsten hätte ich echt Besseres zu tun, als hier dumm rumzustehen.«

»Das ist erst mein zweites Casting, ich bin neu in Berlin«, sagt der blonde Pagenkopf und blickt sich unruhig um. »Nur eine Nebenrolle? Wie lange wird das denn ungefähr dauern, bis wir drankommen?«

Die Rothaarige zieht ein Päckchen Zigaretten heraus und zündet sich eine an. »Also erfahrungsgemäß so ungefähr zwei Stunden.« Sie stößt eine Rauchwolke aus. »Aber das ist ganz normal. Wir reden hier schließlich von einer US-Produktion.«

»Wie bitte?«, fragt die junge Schönheit erstaunt und blickt auf ihre Armbanduhr. »Das wusste ich nicht. So lange kann ich nicht warten. In zwei Stunden muss ich pünktlich im Café sein, ich brauche den Job.«

Willkommen im Club, denke ich und sehe ebenfalls auf meine Uhr.

»Also, unter uns«, flüstert Rothaar. »Dann würde ich an deiner Stelle lieber gehen. Es gibt so viele Castings in Berlin, es wird so viel gedreht.« Sie zieht an ihrer Zigarette. »Aber sichere Brotjobs … tja, die gibt’s nur ganz selten.«

Der Pagenschnitt beißt sich auf die Unterlippe, ihre Stirn legt sich in Falten. »Mhm, du hast recht. Es war echt schwer, den Job zu kriegen.« Sie dreht sich nach allen Seiten um. Als würde die Zeit dadurch schneller vergehen. »Wie war noch mal dein Name?«

»Alice.«

»Danke, Alice«, sagt sie und nickt uns freundlich zu. »War schön, euch kennenzulernen. Vielleicht sieht man sich bald mal wieder!« Dann schultert sie ihr silbernes Handtäschchen, dreht sich auf dem Absatz um und stolziert über den Innenhof.

Ich will ihr gerade hinterherrufen, dass sie hierbleiben soll, als mich Alice an der Schulter zurückhält.

»Hey, verdammt!«, knurrt sie. »Was hast du vor?«

»Okay, du hattest deinen Spaß«, sage ich und schüttle ihre Hand fort. »Wir können sie doch nicht einfach gehen lassen!«

»Warum nicht? Dann wäre meine ganze Arbeit umsonst gewesen.«

»Wie bitte?«

»Eine Konkurrentin weniger«, sagt Alice und zieht genüsslich an ihrer Zigarette. »Dafür könntest du mir wenigstens danken.«

4

Alice ist bestimmt schon seit zwanzig Minuten beim Vorsprechen, als mein Name aufgerufen wird. Ich drücke mich an den wartenden Mädchen vorbei und folge der Dame mit dem Klemmbrett durch eine Stahltür. Sie führt mich durch eine Studiohalle, in der zwei Flugzeuge Platz hätten, weiter in einen schmalen Flur, bis wir wenig später einen Wartebereich erreichen.

Ich werde gebeten, Platz zu nehmen und mich noch einen Moment zu gedulden. Ich ziehe meine Sedcard aus dem Rucksack, blättere durch meine Vita.

Mia Richter, fünfundzwanzig Jahre alt, geboren in Frankfurt am Main, aufgewachsen bei den Großeltern in Lindenfels im Odenwald. Mehrere Hauptrollen im Schultheater. Abitur mit 1,3. Danach Berlin, Studium an der renommierten Ernst-Busch-Schauspielschule, nach drei Semestern Abbruch. Verschiedene Wochenend-Workshops, Auftritte in Kurzfilmen und Werbespots. Und nun endlich hier, um für eine amerikanisch-deutsche Co-Produktion mit internationalen Stars vorzusprechen.

»Mia Richter?«

Ich schlage die Mappe zu und drehe mich zur Tür. »Ja?«

»Es ist so weit, Sie sind dran.«

»Natürlich«, sage ich, stecke meine Unterlagen in den Rucksack und folge der Assistentin durch den Flur.

Rechts und links gehen Produktionsbüros ab. Menschen mit dicken Kopfhörern, die stumm auf ihre Computertastaturen einhämmern. Wie Salven von Maschinengewehren. Die Assistentin vor mir erhöht das Tempo, ich muss fast rennen, um ihr durch das Labyrinth zu folgen. Sie öffnet eine weitere Stahltür, und plötzlich stehen wir in einer Art Schulturnhalle.

Vor mir ist eine Tischreihe aufgebaut, auf der vier Monitore stehen. Dahinter sitzen fünf Personen, die mich erwartungsvoll anstarren. Drei Frauen mittleren Alters, ein Herr mit Hornbrille und ganz rechts der junge Skandinavier mit Oberlippenbart und Jogginghose, den ich im Innenhof nach dem Weg gefragt habe.

Niemand lächelt.

»Mia«, sagt die dunkelhaarige Frau ganz links, die mich an meine ehemalige Mathelehrerin erinnert. »Es freut uns, dass Sie sich für die Rolle beworben haben. Mein Name ist Simone Hirschfeld, ich bin die Casterin für Friedrichs Erlösung.«

»Hallo«, sage ich und gehe einen Schritt nach vorne, will ihr die Hand geben und meine Sedcard überreichen.

Doch sie winkt dankend ab. »Die Daten haben wir schon von Ihrer Agentur bekommen, richtig?«, sagt sie und blickt fragend in die Runde. Die Hornbrille nickt. Dann dreht sie sich wieder zu mir. »Sie waren also auf der Ernst Busch?«

Ich presse die Lippen aufeinander. Ich weiß, worauf sie hinauswill.

»Wieso haben Sie Ihre Schauspielausbildung abgebrochen?«, fragt Simone Hirschfeld und faltet die Hände. »An dieser ausgezeichneten Schule wird nicht jeder angenommen. Die Plätze sind rar.«

»Das … hatte rein familiäre Gründe«, sage ich leise und hoffe, dass wir das Thema wechseln. »Ein Trauerfall.«

»Verstehe«, sagt die Casterin knapp und öffnet eine Ordnermappe. »Todesfall.« Sie blättert durch ein paar Seiten, an denen bunte Klebestreifen heften, und notiert etwas mit einem Kugelschreiber. »Zumindest war es Ihre eigene Entscheidung abzubrechen. Ich hoffe, Sie können das Gefühl des Verlustes für sich nutzen.«

Urplötzlich muss ich an Alice denken, die uns draußen in der Warteschlange erklärt hat, dass die Hauptrolle für den Spielfilm längst vergeben sei. Auf einmal komme ich mir sehr naiv vor. Wie konnte ich nur glauben, jemals eine Chance zu haben.

»Ähm, ich habe aber dafür auch zahlreiche Workshops …«, sage ich und verknote die Finger hinter meinem Rücken.

»Hören Sie, Mia«, unterbricht mich Simone Hirschfeld ernst. »Ihr E-Casting, das Sie uns gemailt haben, hat uns wirklich überzeugt. Die Rolle der Julia Stoye haben Sie so wunderbar mit Leben erfüllt. Wir alle hier waren restlos begeistert. Aus diesem Grund haben wir Sie heute eingeladen.« Nun strahlt die Casterin zum ersten Mal. »Und zwar direkt in die Endrunde.«

Alle klatschen anerkennend.

»In die … Endrunde?«, stottere ich erstaunt und drücke die Mappe gegen meinen Oberkörper. Und ich dachte schon, die Hauptrolle wäre vergeben. Etwa an mich? Ich spüre das Herz in meiner Brust pochen. Meine Beine werden schwach, jeden Moment kippe ich um.

»Wir würden gern Szene neun, Seite 23, von Ihnen sehen, die Küchenszene mit Johannes Wiedewelt«, sagt Simone Hirschfeld und deutet auf den jungen Skandinavier am anderen Tischende. »Mads spielt Johannes Wiedewelt, den dänischen Bildhauer, der sich 1802 das Leben nimmt.«

»Weil er sich unsterblich in Julia Stoye verliebt hat«, ergänze ich.

Mads zwinkert mir zu.

»Wie Sie sicherlich wissen, gehörte Caspar David Friedrich zu Wiedewelts Studenten an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen«, erklärt die Casterin weiter. »Wir erzählen die fiktive Verbindung des Professors zu Julia Stoye.« Sie verschränkt die Arme, lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. »Und dabei steht natürlich immer unsere Hauptfigur Julia im Mittelpunkt, die möglicherweise einigen Männern in ihrem Umfeld den Kopf verdreht und sie in unglückliche Liebesbeziehungen gezogen hat.«

»Ich bin auf meine Rolle vorbereitet«, sprudelt es aus mir heraus.

»In Ordnung«, sagt Simone Hirschfeld und deutet auf das aufgebaute Filmset. »Dann lassen Sie uns sofort beginnen. Mads?«

Der junge Skandinavier steht von seinem Stuhl auf, greift nach seinem Ordner und geht auf mich zu.

»Haben Sie Ihr Dialogbuch etwa nicht dabei?«, fragt die Casterin.

»Das Skript brauche ich nicht«, antworte ich. »Ich kann die Texte.«

»Wie Sie meinen«, sagt sie und dreht den Monitor ein Stück zu sich hin. »Also gut, Mia. Geben Sie Ihr Bestes.«

Wie auf ein geheimes Kommando ziehen alle vier ihre Kopfhörer auf und starren auf die Bildschirme.

»Hej«, sagt eine tiefe Stimme vor mir. »Ich bin Mads.«

»Mia, sehr erfreut«, sage ich und reiche ihm die Hand.

Wir gehen wortlos nebeneinanderher durch die meterhohe Halle auf das Filmset zu. Dabei kommt er mir nah, unsere Arme berühren sich. Sein Rasierwasser duftet nach Grapefruit und würzigem Sandelholz.

Ich atme mehrmals flach durch den Mund, um mich zu beruhigen.

Verdammtes Lampenfieber.

Der Kameramann schaltet die Kamera an. Jeden Moment geht es los.

»It’s okay. Du musst nicht aufgeregt sein«, flüstert mir Mads zu. »Ich habe dein Demotape gesehen, du bist gut.«

»Mhm«, sage ich knapp. Mehr bringe ich nicht über die Lippen, ohne mich zu übergeben.

»Seid ihr so weit?«, ruft der Kameramann auf seinem Hocker und betätigt den Aufnahmeknopf der Filmkamera. Das kleine rote Licht beginnt zu leuchten. Er hält eine Filmklappe mit digitalem Timecode vor das Objektiv. »Friedrichs Erlösung. Schauspielerin Mia Richter, Szene neun!«, ruft er. »Küchenszene mit Johannes Wiedewelt.«

Dann schlägt er die Klappe, dicht vor meiner Nase, legt das Display zur Seite und schwenkt mit der Kamera auf mein Gesicht. »Es geht los … Take eins! Und bitte!«

5

Vor zweiundzwanzig Jahren

Die blöde Kindergärtnerin rief seinen Vater an. Das hätte er sich eigentlich denken können. Nun saß er stumm auf dem viel zu großen Drehstuhl, ließ die Beine über die Kante baumeln und musste dem unvermeidbaren Telefongespräch zuhören.

Sein rechter Arm schmerzte noch immer. Die Erzieherin hatte viel zu fest zugepackt, das durfte sie eigentlich gar nicht. Er blickte sich in dem dämmrigen Aufenthaltsraum um. Das Zimmer roch nach kaltem Hagebuttentee und Mandarinen, auf den Büchern im Bücherregal lag daumendicker Staub. Beim Anblick kitzelte es ihn in der Nase. Die orangefarbenen Wollvorhänge an den Fenstern waren zugezogen, verbargen den Blick auf den verschneiten Wald. Die Silhouetten der Kakteen auf der Fensterbank sahen wie haarige Gespenster aus.

Frau Horn wischte sich mit dem Strickpullover über die feuchte Stirn, dann nahm sie wieder den Hörer ans Ohr. Endlich brüllte sie nicht mehr. Zumindest nicht so laut wie vor wenigen Minuten, als sie ihm die Papierschere aus der Hand gerissen hatte.

Sein Blick wanderte ziellos über die unordentliche Schreibtischplatte (dieses Chaos sollte Papa mal sehen), auf der ein Schokoladennikolaus, zwei hohe Stapel Papier, ein hölzerner Fliegenpilz, ein Stifthalter, ein gelber Kunststoffbecher und ein handbemalter Bilderrahmen standen. Das Foto zeigte zwei getigerte Babykatzen auf einem Sofa.

Die Stimme der Kindergärtnerin brach, ganz so, als würde es ihr schwerfallen, über den Vorfall zu sprechen. Dabei hatte er ihr doch mehrfach erklärt, dass es nur ein Unfall war. Der Notarztwagen war trotzdem gekommen und hatte Aylin mitgenommen. Das Blut hatte Frau Bareis innerhalb weniger Minuten weggewischt, mit Lappen und Eimer. So schlimm konnte es also nicht gewesen sein.

Warum wollte Aylin ihm auch nicht die doofe Spielzeugkamera geben?

Schließlich hatte er sie mehrmals gefragt und nur ein bisschen geschubst. Hinten, in der Ecke des Maikäferraums. Selbst schuld. Ihm blieb doch gar nichts anderes übrig, als sie ein bisschen dafür zu bestrafen. Weil sie nicht auf ihn hören wollte. Ja, hören. So kam ihm die Idee mit dem Ohr. Damit sich Aylin immer daran erinnern würde. Ohne zu zögern, hatte er die Scherenblätter an ihrem Ohrläppchen angesetzt und …

Die sonore Stimme seines Vaters am anderen Ende der Leitung. Ruhig und gefasst. Frau Horn antwortete stotternd.

Der Junge spürte, wie ihm die ganze Situation ein ungewohntes Kribbeln am ganzen Körper verschaffte. So ähnlich, als würde er seine Zunge an die Pole einer Blockbatterie halten. Wieder musste er an das sprudelnde Blut denken. An Aylins schrilles Quieken, als sie auf den Fleischfetzen auf dem bunten Verkehrsteppich starrte. Ihr Schrei erinnerte ihn an das panische Lärmen der Schweine auf dem Hof, wenn Vater ihnen die Kehle durchtrennte.

»Hör mal, das geht so nicht«, sagte Papa auf dem Heimweg, als sie mit dem Traktor durch Katzenbrunn fuhren. »Du musst dich bei dieser Aylin entschuldigen. Wir kaufen heute Mittag eine Packung Pralinen, und du gehst sie besuchen.«

Der Junge schwieg.

»Ich habe keine Lust, dass sie dich aus dem Kindergarten werfen.« Der Traktor bog auf den Hof ein. »Nur weil sie denken, du wärst ein gestörtes Kind.«

6

Sie erwartet mich im Innenhof. Lässig an eine Backsteinmauer gelehnt, rauchend. Ein Bein angewinkelt, ein Arm in die Seite gestemmt. Als wäre noch immer eine Filmkamera auf sie gerichtet.

Alice schüttelt ihre erdbeerfarbene Mähne, mustert mich und saugt an ihrer Zigarette. »Und, Mädchen? Wie ist es gelaufen?«

Ich weiß nicht, ob ich ihr die Wahrheit sagen soll.

»Ganz gut«, antworte ich knapp, trete von einem Fuß auf den anderen und schiele auf ihre glühende Zigarette.

Alice bemerkt es, dreht den Kopf zur Seite und pustet die Rauchschwaden an uns vorbei. »Sorry, tut mir leid«, sagt sie und wedelt mit der Hand, bis sich die weißen Wolken in Luft aufgelöst haben. »Bist du etwa auch Veganerin?«

Doch sie hat meinen Blick missverstanden. Ich ziehe den herrlich würzigen Duft durch die Nase ein. »Schon gut. Rauchen stört mich nicht«, sage ich und löse meinen Dutt. Das Haar fällt locker auf meine Schultern. Ich merke, wie sich meine Kopfhaut entspannt. Ich ziehe mein Handy aus dem Rucksack und schalte den Flugmodus aus. Der Akku ist halb leer. Es piepst, auf dem Display erscheinen drei verpasste Anrufe in Abwesenheit. Eine Berliner Nummer, die ich nicht kenne.

»Und wie war’s bei dir?«, frage ich so beiläufig wie möglich.

Alice nimmt einen kräftigen Zug, blickt mir in die Augen. »Also, ich weiß nicht, ob sie es dir schon gesagt haben, aber ich hab den Job!« Sie schnickt die halb aufgerauchte Zigarette auf den Boden und tritt sie mit ihren roten Stilettos aus. »Zu neunundneunzig Prozent.«

»Wie bitte?« Ich starre sie an. »Echt? Du … bekommst die Hauptrolle? Hat das die Casterin gesagt?« Ich spüre, wie ein Felsbrocken über meinen Magen rollt. »Oder ist das nur dein Gefühl?«

Alice lacht. »Ich verlasse mich niemals nur auf Gefühle, Mädchen. Nee, Mads hat’s mir verraten«, flüstert Alice und beugt sich zu mir vor. »Als wir danach kurz allein waren.«

Ein aufdringlich blumiger Duft steigt mir in die Nase. Das Parfum aus dem Warteraum.

Ich betrachte Alices hautenge Bluejeans, ihre champagnerfarbene, fast durchsichtige Bluse, die knallroten Stilettos. Plötzlich fühle ich mich wie mit einem alten Kleidersack behängt. Was habe ich mir bloß dabei gedacht, mich wie auf einem antiken Gemälde zu kleiden?

Ich habe mich für die Rolle gestylt, Alice für die Produzenten.

Sie öffnet die goldene Schnalle ihrer Handtasche. Erst jetzt bemerke ich das Logo der französischen Luxusmarke. Wer hätte das gedacht, Alice stammt aus einer wohlhabenden Familie. Schauspielerei als Hobby. Ich muss an die kleine Nachwuchsschauspielerin denken, die sie vom Casting vertrieben hat. Für Alice scheint das alles nur ein großer Witz zu sein. Trotzdem, oder gerade deswegen, hat sie beim Vorsprechen anscheinend einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Sie zieht eine frische Zigarettenschachtel aus ihrer Handtasche, reißt das Zellophan ab. »Auch eine?«, fragt sie und hält mir das offene Päckchen hin.

»Ähm, nein danke«, sage ich und starre auf die Zigarette, drücke die Fingernägel in meine Handballen.

»Sicher? Du siehst so aus, als könntest du eine gebrauchen.«

»Ich habe aufgehört«, sage ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob mein geheimes Verlangen das auch verstanden hat. Oder die aufkommende Wut, dass Alice mir die Rolle weggeschnappt hat.

»Wie du meinst«, sagt sie, und schon klemmt die Zigarette zwischen ihren Lippen. »Sag mal, wollen wir zwei noch einen Kaffee trinken?« Ihr Feuerzeug zündet, ich beobachte, wie die türkisblaue Flamme die feinen Tabakblättchen feuerrot färbt. »Kaffee geht auf mich. Und dann erzähle ich dir, woher ich Mads Larsen kenne.«

Wenn schon kein Nikotin, dann wenigstens Koffein, denke ich und sehe mich bereits mit Alice in der Lobby des Adlon sitzen, aus feinstem Porzellan Kaffee schlürfen. Ich schüttle den Kopf, auch wenn ich neugierig bin, ob sie den dänischen Schauspieler wirklich persönlich kennt. Und wie viel sie über diese Caspar-David-Friedrich-Produktion weiß.

»Das ist nett«, sage ich. »Aber ich muss jetzt wirklich los, Alice. Ich muss noch ein wichtiges E-Casting drehen, das heute Abend raus muss.«

»Wie wichtig?«, fragt sie und spuckt Rauch aus.

Ich weiß nicht, aber irgendwie triggert mich ihre Art. Warum verspüre ich plötzlich den Drang, ihr zu beweisen, dass ich eine erfolgreiche Schauspielerin bin. Obwohl ich sie gar nicht kenne. »Das Vorsprechen ist für …« Ich zögere. Mir will kein Name einfallen. Wer könnte jetzt gerade einen bedeutenden Film drehen? Dann entscheide ich mich kurzerhand für: »Til Schweiger.«

Alice zieht anerkennend die Augenbrauen nach oben. »Ach komm, wirklich? Für Til Schweiger? Krass.«

Ich nicke eifrig.

»Der Til ist ein guter Freund meines Vaters«, sagt Alice. »Soll ich da was für dich organisieren? Wie heißt der Film?«

Jetzt bin geliefert.

Wie blöd kann man sein? Warum musste ich mir überhaupt so eine bescheuerte Ausrede ausdenken? Peinlich. Alice scheint tatsächlich gut in der Branche vernetzt zu sein. Kein Wunder bei der Kohle. Wie komme ich bloß aus der Nummer wieder raus? Es macht auf keinen Fall Sinn, sich irgendeinen blöden Arbeitstitel auszudenken. Falls ihr Vater tatsächlich Til Schweiger kennt, dann weiß sie doch sofort, dass ich sie angelogen habe. Es bleibt nur der Angriff nach vorn.

»Du hast recht, Alice«, sage ich und hänge mich lächelnd bei ihr ein. »Lass uns einen Kaffee trinken gehen. Etwas Zeit habe ich ja noch. Also, erzähl! Woher kennst du Mads Larsen?«

 

Das Café, in dem wir sitzen, hat Alice ausgesucht. Anders als erwartet, ist es kein Schickimicki-Laden, sondern typisch Berlin-Friedrichshain.

Im Schatten der Ahornbäume stehen zusammengewürfelte Stühle und Wohnzimmersessel mitten auf dem Bürgersteig, unterschiedlich hohe Tische, bunte Vasen mit Blümchen, Zuckerstreuer und Aschenbecher. Die Hauswand ist großzügig mit Graffiti verziert. Wir haben am letzten freien Tisch Platz genommen, schlürfen Latte macchiato mit Hafermilch und quatschen schon seit einer Stunde. Wobei, ich höre eher zu, schaufle einen zweiten Rüblikuchen in mich hinein, während Alice spricht und eine nach der anderen raucht.

Zum Glück hat sie nicht mehr nach Til Schweiger gefragt, sondern mir eifrig ihre Lebensgeschichte erzählt. Und ich hatte recht. Alice Wolff kommt aus Hamburg-Blankenese, steinreiches Elternhaus. Nach dem Abitur wollte sie für ein Jahr um die Welt fahren. Mit einem fabrikneuen Campingvan, um sich zu finden, wie sie sagt. Doch auf ihrer Reise quer durch Europa hat sie in Lissabon einen jungen Dänen kennengelernt, der Nebendarsteller in einer portugiesischen Telenovela war. Um ihm zu gefallen, hat sie behauptet, sie würde in New York Schauspiel studieren. Er war sofort beeindruckt. Die beiden landeten noch am selben Abend im Bett. Wenige Monate später, als Alice das Vanlife zu anstrengend wurde, kehrte sie nach Hamburg zurück und berichtete ihren Eltern von ihren Schauspielträumen. Also haben sie ihr kurzerhand eine private Schauspielschule in New York finanziert.

Dort erlebte sie angeblich die aufregendsten Partys ihres Lebens. Zwei Jahre später, nach ihrem Abschluss, zog sie weiter nach Hollywood, blieb einige Zeit in Los Angeles, jobbte in einer hippen Kunstgalerie, bis sie wieder zurück nach Deutschland kam und in die Hauptstadt zog. Am Abend ihres Einzugs, nachdem sie den Großteil ihrer Kisten ausgepackt hatte, entschied sie sich, noch auf einen Drink auszugehen. Glücklicherweise war im Erdgeschoss ihres Hauses eine angesagte Cocktailbar. Als sie am Tresen einen Sex on the Beach bestellte, sagte plötzlich eine tiefe Stimme neben ihr, dass er sich noch immer gern an ihren Strandsex zurückerinnere. Sie drehte sich um und blickte in das Charaktergesicht von Mads Larsen. Der Däne, den sie vor Jahren in Lissabon kennengelernt und dem sie die Schauspielausbildung in New York zu verdanken hatte.

Und der heute beim Casting mein Anspielpartner war.

An diesem Abend hatten sie es zumindest nicht weit, um in ein Bett zu kommen, sagt Alice und lacht dabei so laut, dass sich die amerikanischen Touristen am Nachbartisch erschrocken zu uns umdrehen.

Sie zündet sich eine neue Zigarette an. Schon die neunte, ich habe mitgezählt. Es fällt mir schwer, ihr dabei zuzusehen. Alte Gewohnheiten legt man nicht wie einen Mantel ab. Kaffee, Kuchen, eine Zigarette. Ach, wie gut, dass ich seit sechs Monaten Nichtraucherin bin und mein Verlangen im Griff habe, denke ich und presse die Fingernägel in meine Handflächen, bis es schmerzt.

»Du gefällst mir«, sagt sie plötzlich und ergreift meinen Arm. »Du kannst so wundervoll zuhören. Das kann nicht jede, das ist eine Gabe.«

»Aha«, sage ich und denke mir meinen Teil. »Na klar, danke.«

»Sag mal, Mia, was hältst du davon, wenn wir heute Abend in Tür Dreizehn gehen?«, fragt sie und pustet Rauch aus.

»In welche Tür?«

»Der Club ist noch der totale Geheimtipp, keine Touris, nur gute Leute.«

»Ich weiß nicht«, sage ich und überlege, ob ich die Ausrede mit dem E-Casting erneut anbringen kann. Doch dann würde ich Alice nur wieder an Til Schweiger erinnern. Und ich bin froh, dass sie es anscheinend vergessen hat.

»Das ist ein klassisches Speakeasy«, sagt sie geheimnisvoll. »Und ich kenne den Türsteher. Der lässt kaum jemanden rein. Außer du kennst die Parole. Es wird dir garantiert gefallen, Mia. Glaub mir, der Club ist so was von verrucht.«

»Aber heute Abend habe ich …«

»Vergiss doch den Schweiger«, sagt sie und drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. »Darum wird sich mein Daddy kümmern, hab ich dir doch versprochen. Also?«

»Ähm, ja«, sage ich und nicke. »Also gut. Aber nur kurz.«

»Perfekt! Wir treffen uns pünktlich um neun in Mitte, Brunnenstraße. Vor dem leeren Schaufenster eines ehemaligen Bestatters, in dem ein hellblauer Staubsauger und eine Porzellankatze stehen«, erklärt sie und legt einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tisch. »Du wirst es schon finden.« Sie steht auf, hängt sich die Handtasche um. »Also, ich muss jetzt los. Bis heute Abend!« Dann verschwindet Alice hinter der nächsten Straßenecke.

Ich sehe ihr noch lange nach und versuche, unser seltsames Kennenlernen einzuordnen.

 

Eine halbe Stunde später bin ich wieder in Kreuzberg. Ich schiebe mein Rennrad zu den Fahrradständern, schließe es ab und blicke die vier Stockwerke zu unserem gekippten Küchenfenster hinauf. Yvonnes Wiehern schallt durch den gesamten Innenhof, als hätte sie soeben den besten Witz ihres Lebens gehört. Wieso ist meine Mitbewohnerin so gut gelaunt? Wahrscheinlich war ihre Streamingnacht erfolgreich, und die Teenies haben ihr mal mehr als hundert Euro fürs Zocken gespendet, denke ich schmunzelnd und trete an die Haustür.

Nero wartet im Türrahmen, maunzt. Der Kater von Frau Klinkebiel, unserer buckeligen Nachbarin. Er streicht mir um die Beine. Ich streichle ihm über das Fell.

»Na, Kleiner, willst du rein?«, frage ich und wühle in meinem Rucksack nach dem Hausschlüssel. Doch ich kann ihn nicht finden, suche in jedem einzelnen Fach. Ich fluche, als mir wieder klar wird, dass ich den Schlüssel gestern Abend verloren habe. Ich muss schleunigst einen neuen nachmachen lassen. Und die Fundbüros abklappern. Zum Glück kann ich ihn gut beschreiben, denn es gibt sicherlich nur wenige Schlüsselanhänger, die eine lachende Erbsenschote aus knallgrünem Gummi sind.

Ich drücke unsere Türklingel. Yvonnes Lachen verstummt abrupt. Es vergeht ein Moment, bis der Summer ertönt. Ein Sperling fliegt über den Innenhof.

Als ich endlich auf der vierten Etage ankomme, werde ich schon erwartet.

Yvonne steht im Türrahmen, geschminkt, als würde sie jeden Moment in einen Club gehen, und blickt dabei immer wieder verstohlen in den Flur unserer WG. »Mia«, flüstert sie. »Rate mal, wer bei uns ist!«

»Ich hab keine Ahnung«, sage ich und muss schmunzeln. Ich kann ihre Aufregung kein bisschen deuten. Sie wirkt fast so, als hätte sie ein Blind Date mit einem Traummann. Ich würde es ihr wünschen. »Weiß nicht, Yvonne. Vielleicht jemand, den du im Internet kennengelernt hast?«

»Nein, es ist Viktor!«, sagt sie. »Dein Viktor!«

7

Ich betrete unseren Flur. Er ist schmal und dunkel, in der Luft schwebt ein edles, schweres Männerparfum. Es riecht nach Moschus, Patschuli und Orangenblüten. Und nach frisch gebrühtem Kaffee. Ich gehe an unserem Schuhregal vorbei, Yvonne dicht hinter mir, und öffne die Tür zur Küche. Ich muss abrupt die Augen zusammenkneifen, so stark brennt die Sonne durch die Fenster. Der gesamte Raum ist wie mit Filmstudio-Scheinwerfern ausgeleuchtet. Ich blinzle. Und tatsächlich, dort sitzt er.

Im Rampenlicht.

Viktor Engel, in einem taubenblauen, bis oben hin zugeknöpften Buttondown-Hemd an unserem Esstisch und nippt an einer dampfenden Janosch-Tasse. »Hallo, Mia«, sagt er und stellt die Tasse auf dem Tisch ab.

»Du wirst nicht glauben, warum er hier ist!«, ruft Yvonne, drückt sich an mir vorbei und lässt sich neben Viktor auf der Eckbank nieder.

»Woher … weißt du, wo ich wohne?«, frage ich und schleudere meinen Rucksack in die Ecke.

»Viktor hat deine Schlüssel gefunden!«, sagt Yvonne mit so viel Stolz, als hätte dieser Typ einen Marathonlauf gewonnen. Dabei rutscht sie ein Stückchen näher an ihn heran. Was wird hier eigentlich gespielt?

»Da steht wohl kaum mein Nachname und die Hausnummer drauf«, sage ich kühl und starre Viktor an. »Woher kennst du meine Adresse?«

»Ich habe dich nach Hause gebracht. Schon vergessen, Mia?«, sagt er ruhig und pustet in die Tasse. »Also habe ich einfach unten beim Spanier nach dir gefragt.« Er trinkt einen Schluck Kaffee. »Von den Kellnern im Restaurant kannte dich jeder.«

»Ziemlich clever, oder?«, stellt Yvonne lachend fest.

Ich könnte ihr eine reinhauen.

»Und wo waren nun meine Schlüssel?«

»Du hast sie gestern Abend im Taxi verloren«, erklärt Yvonne. »Wahrscheinich in dem Moment, als du dein Portemonnaie aus der Tasche gezogen hast.« Sie sagt es so selbstverständlich, als wäre sie dabeigewesen. »Das ist so typisch Mia!«

»Aha, im Taxi«, sage ich leise, obwohl ich mir nicht so recht vorstellen kann, wie das passiert sein soll. »Danke, dass du mir den Schlüssel vorbeigebracht hast.« Ich lehne mich gegen den Kühlschrank. »Dann muss ich ihn nicht mehr nachmachen lassen.«

»Nein, musst du jetzt nicht mehr«, bestätigt Viktor, greift in seine Hosentasche und legt meinen Schlüsselbund auf den Tisch. Er deutet mit dem Finger auf den grünen Plastikanhänger. »Was hat es eigentlich mit dieser seltsamen Erbsenschote auf sich?«

Ich spüre augenblicklich, wie der Druck hinter meinen Augen stärker wird. Warum habe ich es immer noch nicht unter Kontrolle? Bei meiner Armbanduhr schaffe ich es doch auch. Ich will jetzt nicht weinen. Nicht vor Viktor. Ich drücke die Augenlider zusammen und atme flach durch die Nase. Schnell in Gedanken bis fünf zählen, das hilft immer. Einatmen, eins. Ausatmen, zwei. Einatmen, drei – doch weiter komme ich nicht.

Yvonne unterbricht mein Mantra. »Der Anhänger gehörte Mias Vater«, sagt sie.

»Ähm, ja, also dann«, gehe ich dazwischen und greife nach meinem Schlüsselbund. »Ich bin noch verabredet.«

»Verstehe«, schmunzelt Viktor, schlürft den Kaffee aus und knallt die Tasse auf den Tisch. »Also, die Damen, es war sehr nett. Dann werde ich mich mal wieder auf den Weg machen.«

»Die Damen«, giggelt Yvonne. »Hast du das gehört, Mia?«