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Tier-Fantasy der Spitzenklasse, das Abenteuer geht weiter! Simon ist ein Animox, ein Mensch, der sich in Tiere verwandeln kann. Er steckt mittendrin im Kampf der Tierreiche. Zusammen mit seinen Freunden begibt er sich auf die gefährliche Suche nach den verschollenen Stücken der Waffe des legendären Bestienkönigs. Diese Suche führt Simon mitten hinein in eine bedrohliche Schlangengrube. Zum Glück gelingt es ihm, hier das gesuchte Stück der Waffe zu bergen. Doch damit ist das Abenteuer noch nicht beendet.
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»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dich finden. Und wenn es so weit ist, werden wir dich nicht mehr beschützen können.«
Simon ist ein ganz normaler Junge – mit einem großen Geheimnis: Er kann mit Tieren sprechen. Doch als ein Adler ihn vor den wilden Bestien des Tierreichs warnt und seine Mutter von einer Horde Ratten entführt wird, verändert sich Simons Leben schlagartig. Endlich erfährt er die Wahrheit über seine Gabe: Er ist ein Animox – ein Mensch, der sich in ein Tier verwandeln kann! Wird auch er zum Wolf animagieren wie seine Mutter und sein Onkel? Schon steckt Simon mitten in der erbitterten Schlacht der fünf Tierkönigreiche und erkennt bald seine wahre Bestimmung: Er muss die geheime Welt der Animox vor der Vernichtung retten …
Das Auge der Schlange –
Band 2 der fantastischen Animox-Serie
»In Deckung, Simon!«
Simon Thorn warf einen Blick auf den riesigen Elch, der vor ihm sein Geweih schwang, stolperte rückwärts und landete unsanft im Sand. Hastig krabbelte er auf den Rand der Grube zu und sah dabei mit weit aufgerissenen Augen, wie der Elch den Kopf zurückwarf und lachte.
»Welche Möglichkeiten hast du, Simon?«, fragte sein Onkel Malcolm von der Tribüne, die die Sandgrube umgab. Simons Herz hämmerte, während er sich der steinernen Brüstung näherte, doch sein kräftiger, dunkelhaariger Onkel wirkte nicht im Geringsten besorgt. Das tat er nie während dieser frühmorgendlichen Trainingseinheiten, ganz egal welchem Tier Simon gegenüberstand, und so langsam nahm Simon ihm das übel.
»Genau, Simon«, höhnte der Elch und stolzierte hoch erhobenen Hauptes über den Sand auf ihn zu. »Wie rettest du deinen Hintern?«
Simon rappelte sich zittrig auf, ohne den Elch aus den Augen zu lassen. Das Tier überragte ihn um Längen, und Simon war sicher, dass er sogar seinen Onkel überragen würde. Simon war zugegebenermaßen klein für sein Alter, aber Malcolm war groß und breit. Es gab nicht viele Menschen oder Tiere, die sich freiwillig mit ihm anlegten.
»Wegrennen«, sagte Simon ehrlich.
»Die Option scheidet aus. Nächster Versuch«, erwiderte Malcolm. Er hatte natürlich recht. Wegrennen konnte Simon höchstens aus der Grube, aber nicht aus dem L.A.G.E.R. – der Leitenden Animox-Gesellschaft für Exzellenz und Relevanz. Im L.A.G.E.R. wurden die besten Animoxschüler ausgebildet, und es lag gut verborgen unter dem Central Park Zoo. Bis vor Kurzem hätte Simon sich nicht träumen lassen, dass eine solche Einrichtung überhaupt existierte, geschweige denn, dass er eines Tages selbst dort zur Schule gehen würde.
Die ersten zwölf Jahre seines Lebens hatte Simon in New York City gelebt und geglaubt, durch und durch gewöhnlich zu sein. Doch vor etwas mehr als einem Jahr hatte er plötzlich die Fähigkeit entwickelt, mit Tieren zu sprechen, was an sich schon seltsam genug war. Er hatte niemandem davon erzählt – nicht einmal seiner Mutter oder seinem Onkel Darryl, bei dem er aufgewachsen war. Ein ganzes Jahr lang hatten seine Mitschüler ihn für verrückt gehalten, und er hatte schon fast geglaubt, dass sie recht hatten.
Aber Simon war nicht verrückt. Er war ein Animox – ein Mensch, der nicht nur mit Tieren reden, sondern sich auch in ein Tier verwandeln konnte. Anfangs hatte er es selbst nicht glauben können, natürlich nicht – welcher vernünftige Siebtklässler hätte das schon getan? Aber als er mit eigenen Augen gesehen hatte, wie Darryl sich in einen riesigen, grauen Wolf verwandelte, hatte sich seine Welt verändert.
Jetzt, zwei Monate später, musste Simon nicht Mathe oder Erdkunde lernen, wie die meisten Zwölfjährigen, sondern sich mit einem Elch herumschlagen. Wenn er nicht wegrennen konnte, was blieb ihm dann übrig?
»Kämpfen?«, schlug er vor. Die Grube verschwamm vor seinen Augen, doch er bemühte sich, nicht zu blinzeln. Sobald er die kleinste Schwäche zeigte, würde der Elch angreifen, das wusste er.
»Gegen dieses Geweih? Das glaube ich kaum«, erwiderte Malcolm. Aus den Augenwinkeln meinte Simon zu sehen, dass sein Onkel an einem Holzstück herumschnitzte. Na super. Er schaute nicht mal zu.
»Ich animagiere nicht«, erklärte Simon bestimmt, während er sich langsam an der Mauer entlang auf den Ausgang zuschob, der zu den anderen Räumen der Schule führte. Die Tür war niedrig. Mit seinem Geweih würde der Elch ihm auf keinen Fall folgen können.
»Irgendwann musst du dich damit abfinden, Simon«, sagte Malcolm. »Du kannst deine Tiergestalt nicht ewig ignorieren.«
Wenn du wüsstest, dachte Simon, doch er sprach es nicht aus. Stattdessen murmelte er: »Wenigstens bin ich kein Elch.«
Der Elch schnaubte beleidigt. »Gefällt dir mein Geweih nicht? Na gut. Wollen wir mal sehen, wie dir das hier gefällt!«
So schnell, dass Simon es kaum nachvollziehen konnte, verwandelte sich der Elch vor seinen Augen. Sein Geweih verschwand, sein Körper und die langen Beine schrumpften, und sein braunes Fell färbte sich schwarz und bekam einen langen, weißen Streifen am Rücken. Eine Sekunde später war der Elch verschwunden, und ein Stinktier blickte zu ihm auf.
Simon drehte sich um und rannte auf die Tür zu. Er riss an der Klinke und stöhnte, als sie sich nicht bewegte. Er war eingesperrt. »Malcolm!«, rief er vorwurfsvoll. Sein Onkel schaute auf.
»Damit nicht zufällig jemand reinkommt«, erklärte er, obwohl es so früh war, dass alle anderen Schüler garantiert noch schliefen.
Das Stinktier hoppelte hinter Simon her und hob den buschigen Schwanz. »Rate mal, was ich kann!«
»Ich weiß, was du kannst. Du musst es mir nicht beweisen«, sagte Simon mit gepresster Stimme, während er nach einem anderen Ausweg suchte. Er hätte höchstens noch über die Mauer auf die Tribüne klettern können, aber das Stinktier hatte ihn schon vor der Tür in die Enge getrieben.
»Ich hab gestern Abend eine Riesenportion Bohnen gegessen«, sagte das Stinktier und richtete sein Hinterteil auf Simon. »Uh, ich glaub, da kommt gerade ein gigantischer Furz!«
Da ihm nichts anderes übrig blieb, machte Simon einen Satz nach vorn und sprang über das Stinktier, gerade in dem Augenblick, als es seine Stinkwolke freisetzte. Er hielt sich die Nase zu und rannte die Tribüne hinauf, so hoch er konnte. Der Gestank war überwältigend. Als er oben angekommen war, musste er würgen.
»Nolan!« Das hatte Malcolms Aufmerksamkeit erregt. Er war aufgestanden und hielt sich ebenfalls die Nase zu. »Was zum Teufel soll das?«
»Ich versuche nur, ihn zum Fliegen zu bewegen, wie du gesagt hast«, erklärte das Stinktier und bauschte den Schwanz auf. »So schlimm ist es doch gar nicht.«
»Verwandel dich zurück, dann wollen wir mal sehen, wie du es findest«, rief Simon vom obersten Rang der Tribüne.
Das Stinktier schnaubte. »Du bist einfach kindisch«, schimpfte Nolan, und als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, verwandelte er sich wieder. Diesmal jedoch nicht in ein Tier. Das schwarz-weiße Fell auf seinem Kopf wich sandfarbenen Haaren, die vier Läufe wurden länger und formten sich zu Armen und Beinen, und die Schnauze und die schwarzen Knopfaugen veränderten sich, bis ein Junge, der genauso aussah wie Simon, an der Stelle stand, wo noch Sekunden zuvor das Stinktier gewesen war. Er trug die schwarze Schuluniform, die im L.A.G.E.R. vorgeschrieben war.
Simon hatte Nolan erst vor zwei Monaten kennengelernt, an dem Abend, an dem er erfolglos versucht hatte, in die Schule einzubrechen, um seine verschwundene Mutter zu finden. Bis dahin hatte Simon an der Upper West Side gewohnt, nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem Nolan mit ihrer gemeinsamen Mutter unter dem Central Park Zoo gelebt hatte. Simon hatte nur an Weihnachten oder an seinem Geburtstag Besuch von ihr bekommen, was ihn immer noch grämte, wenn er darüber nachdachte. Und nie, nicht ein einziges Mal, hatte sie erwähnt, dass Simon einen Zwillingsbruder hatte.
Ein Schnauben unterbrach seine Gedanken, und er konzentrierte sich wieder auf seinen Bruder unten in der Grube. Ewig konnte Nolan nicht so tun, als ob der Gestank ihn nicht stören würde, und schließlich kam er die Tribüne hochgelaufen und sprintete auf eine Wendeltreppe zu. »Das ist ja ekelhaft!«, rief er und verschwand in die obere Etage, wo sich unter anderem Malcolms Büro befand.
»Simon …«, begann Malcolm.
»Das war Nolan, nicht ich!«, rief Simon, rannte hinter seinem Bruder her und ließ den schimpfenden Malcolm zurück.
Als Simon den Raum verlassen hatte, holte er tief Luft, nur um zu merken, dass der widerliche Gestank an seinen Kleidern hing. Na wunderbar. Er war ohnehin schon ein Außenseiter in der Schule, aber wenn er mit diesem Gestank beim Frühstück aufkreuzte, hätten sogar seine Freunde einen Grund, ihm aus dem Weg zu gehen.
Simon rückte sein schwarzes Armband zurecht und drehte das Abzeichen mit dem Adler um, sodass man es nicht sehen konnte. Vor zwei Monaten hatte er sich zum ersten Mal in einen Goldadler verwandelt, und obwohl er sich wenige Dinge vorstellen konnte, die cooler waren, als fliegen zu können, hatte die Sache auch einen Haken. Er war das einzige Mitglied des Vogelreichs im L.A.G.E.R. Sein Großvater Orion, der Herrscher über das Vogelreich, bekriegte die Säuger schon länger, als Simon auf der Welt war, und da die Säuger die Schule leiteten, hatten sie alle Vögel verbannt. Simon war nur zugelassen, weil er Nolans Zwillingsbruder war.
»Du solltest Malcolm helfen, die Grube zu reinigen«, sagte Simon, als er seinen Bruder auf dem Gang eingeholt hatte. Eigentlich durften sich hier nur die Lehrer aufhalten, aber da Malcolm nicht nur der Direktor des L.A.G.E.R. war, sondern seit Kurzem auch der Alpha des gesamten Säugerreichs, hatten Simon und Nolan nichts zu befürchten.
Nolan schnitt eine Grimasse. »Hilf du ihm doch. Wenn du einfach animagiert hättest, hätte ich dich nicht anstinken müssen.«
»Ich hab doch gesagt, ich fliege nicht gerne in der Grube«, entgegnete Simon. Obwohl das der Wahrheit entsprach, gab es noch einen anderen – sehr viel schwerwiegenderen – Grund, warum Simon nicht vor anderen animagieren wollte.
Jeder Animox konnte sich in ein bestimmtes Tier verwandeln und gehörte einem der fünf Königreiche an: dem Säugerreich, dem Vogelreich, dem Insektenreich, dem Reptilienreich oder dem Unterwasserreich. Nur Nolan war anders. Er war der Erbe des Bestienkönigs, eines tyrannischen Herrschers, der die Fähigkeit erworben hatte, sich in jedes beliebige Tier zu verwandeln. Dies hatte ihn nahezu unbesiegbar gemacht. Obwohl die fünf Reiche sich vor über fünfhundert Jahren verbündet hatten, um den Bestienkönig zu stürzen, hatten seine Nachkommen im Verborgenen weiterexistiert, und Simons und Nolans Vater war sein letzter Nachfahre gewesen, bevor er ermordet worden war. Vor zwei Monaten hatten sie erfahren, dass Nolan seine Kräfte geerbt hatte, und genau aus diesem Grund hatte Malcolm heute Morgen die Tür zur Grube abgeschlossen, obwohl es noch vor Sonnenaufgang war. Wenn irgendjemand herausfand, dass ein Nachfahre des Bestienkönigs am Leben war, würde es erneut zum Krieg zwischen den fünf Reichen kommen – und diesmal würden alle versuchen, Nolan zu töten.
Das konnte Simon nicht zulassen, aber er konnte auch niemandem sein Geheimnis verraten, den wahren Grund, warum er nicht vor den Augen anderer animagieren wollte, solange er es nicht sicher beherrschte. Nicht einmal Nolan. Schon gar nicht Nolan.
»Du musst einfach nur ein bisschen mit den Flügeln schlagen, dann ist Malcolm schon zufrieden«, sagte Nolan genervt. »Ich kapier nicht, warum du das nicht machst.«
»Irgendwann wird er es schon noch einsehen«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Malcolm. »So wie du irgendwann aufhören wirst, dich auf Säugerarten zu verlassen, und es mit den anderen Königreichen versuchen wirst.«
»Ich verwandle mich die ganze Zeit in Tiere aus anderen Reichen«, widersprach Nolan und steckte die Hände in die Taschen. »Gestern hab ich in einen Habicht animagiert und vorgestern in ein Krokodil.«
»Die Säugetiere bilden das kleinste Königreich«, sagte sein Onkel. »Trotzdem greifst du im Morgentraining fast immer auf eine Säugerart zurück. Wenn du auch nur eine kleine Chance haben willst, dich irgendwann richtig verteidigen zu können, dann musst du Formen aus allen fünf Königreichen beherrschen und dich darin wohlfühlen. Und«, fügte er hinzu, »du musst anfangen, deinen Dreck wegzumachen. Ich kann die Grube erst wieder öffnen, wenn der Gestank beseitigt ist.«
»Das kann Simon machen«, sagte Nolan.
»Du warst das«, rief Simon. »Ich putze bestimmt nicht deinen Stinksaft weg!«
»Aber es ist deine Schuld, dass ich …«
»Genug.« Malcolm legte zwei Finger auf seine Nasenwurzel. »Nolan, du machst deinen Dreck weg. Simon, du ziehst dich um. Ich rieche dich bis hier. Aber wenn ich nicht in den nächsten vierundzwanzig Stunden deine Flügel sehe, machst in Zukunft du die Sauerei weg.«
Simon kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass Nolan jede Gelegenheit nutzen würde, um ihn anzustinken.
»Das ist nicht fair!«, schrie Nolan. Malcolm legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn vor sich her.
»Es ist absolut fair. Und jetzt komm, in der Küche gibt es bestimmt ein paar Flaschen Tomatensaft, der hilft gegen den Gestank.«
Während ihre Auseinandersetzung leiser wurde, lief Simon durch den Gang und die Treppe hinunter in den Alpha-Bereich. Das unterirdische Gebäude hieß »Bau« und hatte die Form eines Pentagons mit je einer Abteilung für jedes Königreich. Da Vögel nicht mehr zugelassen waren, lebte der Alpha mit seiner Familie in diesem Bereich. Im Augenblick hatte Simon also beinahe den ganzen Gebäudeteil für sich allein, bis auf eine Handvoll Rudelmitglieder, die als Wachen eingeteilt waren.
Einem Nickerchen vor dem Frühstück hätte also nichts im Weg gestanden, doch daran hatte Simon kein Interesse. Er konnte sein Glück kaum fassen, die Zeit bis zum Frühstück freibekommen zu haben, und er wusste genau, was er in der gewonnenen Dreiviertelstunde tun würde: animagieren üben, wie er es in der Grube vor Malcolm und Nolan nicht konnte. Sein Onkel wollte nur sehen, wie er seine Flügel spreizte, doch Simon konnte sehr viel mehr. Das war sein größtes Geheimnis, das er vor allen geheim hielt, sogar vor Nolan. Sein Bruder war nicht der Einzige, der die Fähigkeiten des Bestienkönigs geerbt hatte. Auch Simon konnte sich nach Belieben in jedes Tier verwandeln. Er hatte jedoch nicht annähernd so viel Übung wie sein Bruder, und immer wenn er im Beisein anderer animagierte, fürchtete er, versehentlich an das falsche Tier zu denken und sein Geheimnis preiszugeben. Aus diesem Grund weigerte er sich, in der Grube zu animagieren.
Doch auch ohne die Erfahrung seines Bruders wusste er, dass Malcolm mit seinen Ermahnungen recht hatte. Wenn er auch nur den Hauch einer Chance haben wollte, sich und seinen Bruder gegen diejenigen zu verteidigen, die den Bestienkönig und seine Nachfahren töten wollten, musste er schnell lernen, auf die Art aller fünf Reiche zu kämpfen. Und da das in der Grube nicht möglich war, blieb nur ein Ort übrig, an dem er ungestört üben konnte.
Nachdem er die Wölfe gegrüßt hatte, die unter den hohen Bäumen im Alpha-Bereich Wache hielten, stieg er die gläserne Wendeltreppe hinauf. Die Halle, die ursprünglich für Schüler aus dem Vogelreich angelegt worden war, erhob sich über mehrere Etagen. Um fliegen zu üben, wäre sie also ideal gewesen, doch in andere Tiere konnte Simon sich hier nicht verwandeln. Jedenfalls nicht, solange das Rudel zusah.
»Du bist ja schon zurück«, ertönte eine schläfrige Stimme vom Bett, als Simon in sein Zimmer kam. Eine winzige braune Maus lag zusammengerollt auf seinem Kissen. Felix war Simons ältester Freund, doch Simon wusste, wo sein eigener Stellenwert lag, wenn es um die Prioritäten der Maus ging: Nickerchen und Fernsehen hatten Vorrang.
»Ja, Nolan hat Stinktier gespielt. Jetzt muss er die Grube putzen«, sagte Simon und ging zu seiner Kommode.
»Das erklärt den Gestank«, murmelte die Maus. »Du musst dringend unter die Dusche.«
»Und du musst dringend weiterschlafen, wenn du so miesepetrig bist.«
Felix brummelte vor sich hin, und Simon schnappte sich frische Sachen und schlüpfte ins Bad. Als er die Tür hinter sich zugemacht hatte, ging er jedoch sofort weiter in den angrenzenden Raum auf der anderen Seite: Nolans Zimmer.
Unter Nolans Schreibtisch in der hinteren Zimmerecke befand sich der Eingang zu einem der Tunnel, die nach oben in den Central Park Zoo führten. Der Bau war für Animox einer der sichersten Orte in New York und barg einige Geheimnisse. Den Gang hatte Simon kurz nach seiner Ankunft entdeckt. Er zog den Schreibtischstuhl zurück, bückte sich und schob eine Platte an der Wand beiseite. Dahinter befand sich eine Öffnung, in die Simon gerade so hineinkrabbeln konnte. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, umgab ihn Dunkelheit. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Ein Herzschlag, und er animagierte.
Die kühle Luft im Tunnel dehnte sich aus, während er schrumpfte. Es tat nicht weh, es kitzelte nur, vor allem das Fell, das ihm am ganzen Körper wuchs. Sein Gesicht wurde spitz, seine Wirbelsäule verlängerte sich in einen Schwanz, und er verlor kurz das Gleichgewicht. Doch bevor er fallen konnte, war seine Verwandlung zur Maus vollzogen. Simon war nicht sicher, ob er sich wirklich in jedes Tier verwandeln konnte, aber bei den Versuchen seines Bruders in der Grube und seinen eigenen Experimenten im Verborgenen hatte er noch keine Ausnahme gefunden.
Er huschte durch den Tunnel und achtete sorgsam darauf, kein Geräusch zu machen. Als er das Gitter vor dem Ausgang zum Central Park Zoo erreichte, schloss er die Augen und stellte sich einen Goldadler vor. Wieder verwandelte sich sein Körper. Seine Vorderbeine verlängerten und verbreiterten sich zu Flügeln, Federn ersetzten sein Fell, und seine Nase und Barthaare wurden zu einem harten Schnabel. Er schlüpfte aus dem Tunnel, und seine langen Klauen kratzten über die Pflastersteine. Die Sonne kletterte gerade erst zwischen den Wolkenkratzern neben dem Central Park am Himmel empor, doch auch in dem schwachen Morgenlicht entging seinen scharfen Augen nichts. Er drehte den Kopf und hielt nach Mitgliedern des Rudels Ausschau, die während der Schließzeiten im Zoo Wache hielten. Kein Lebenszeichen. Zumindest keines, das ihm Probleme bereiten würde.
Als er sicher war, allein zu sein, breitete Simon die Flügel aus, hob ab und schraubte sich in den Himmel. Erst wollte er nur eine Weile über dem Zoo fliegen, doch dann erhob er sich höher und höher. Seine Federn reagierten automatisch auf den Wind. Er segelte über dem Park, dann schoss er abwärts und sauste zwischen Baumkronen hindurch. Erst als er das Gebäude sah, wurde ihm klar, wohin er flog. Zu seiner alten Wohnung – in der er fast sein ganzes Leben lang mit seinem Onkel Darryl gelebt hatte.
Zwei Monate war es her, dass Darryl auf dem Dach des Sky Towers gestorben war. Es waren die schwersten Monate in Simons Leben gewesen. Er gab sich Mühe, nicht zu zeigen, wie sehr er seinen Onkel vermisste. Meistens ließ er den Alltag über sich ergehen und tat so, als wäre alles in Ordnung. Niemand wusste, wie sehr er trauerte. Manchmal gelang es Simon sogar, sich selbst weiszumachen, dass er sich daran gewöhnt hatte und dass die Vergangenheit hinter ihm lag, statt nur einen flüchtigen Gedanken entfernt. Aber als er über seinem alten Wohnhaus kreiste, kam der beißende Schmerz zurück und traf ihn mit voller Wucht, sodass er fast vergessen hätte, wie man flog.
Er konnte es kaum ertragen, ihre alte Wohnung zu sehen und zu wissen, dass Darryl nicht mehr da war. Mit einem Knoten in der Brust landete er auf einem Ast im Central Park, ganz in der Nähe des Pfads, mit dem er früher immer seinen Schulweg abgekürzt hatte. Er sah sich um und rechnete beinahe damit, die Jungs zu sehen, die ihn immer herumgeschubst und gehänselt hatten, aber es war natürlich noch zu früh. Er sträubte sein Gefieder und versuchte, sich zusammenzureißen. Wenn er in dem Zustand zum Unterricht kam, würde Malcolm eine Erklärung verlangen – oder, schlimmer noch, fragen, ob er reden wolle.
Ein Rotkehlchen setzte sich auf einen Ast neben ihm und plusterte sich nervös auf. »Willst du den Wurm?«, fragte es. Simon entdeckte das besonders fette Exemplar im tauglitzernden Gras unter ihnen.
»Du kannst ihn haben«, sagte er, doch das Rotkehlchen rührte sich nicht.
»Du bist Simon, oder?«, fragte es. »Simon Thorn?«
Er wurde sofort argwöhnisch und musterte das Rotkehlchen genauer. »Woher weißt du das?«
Während er sprach, setzten sich weitere Rotkehlchen auf die umstehenden Bäume, dazu einige Blauhäher und Krähen. Nicht unbedingt Vögel, die dafür bekannt waren, ihr Frühstück zu teilen. Unruhig grub er seine Klauen in den Ast.
»Orion hat gesagt, wenn wir dich finden, bekommen wir so viele Würmer, wie wir wollen«, sagte das Rotkehlchen und hüpfte näher. »Und Körner und Brot. Magst du Brot? Ich mag Brot.«
»Ich, äh …« Er war ein Adler, klar, aber er hatte keine Ahnung, ob er schneller fliegen konnte als Rotkehlchen und Krähen. Über ein Dutzend Vögel hatten sich mittlerweile versammelt, beobachteten ihn mit ihren schwarzen Perlenaugen und verfolgten jede seiner Bewegungen.
Na toll.
»Ich muss jetzt zum Frühstück«, sagte er zu dem Rotkehlchen und versuchte, möglichst ungezwungen zu klingen. »Lass dir den Wurm schmecken. Der sieht echt saftig aus.«
Für den Bruchteil einer Sekunde blickte das Rotkehlchen auf den Wurm, und Simon stieß sich vom Ast ab und flog zurück Richtung Zoo. Hinter sich konnte er rasches Flügelschlagen hören. Der Wind peitschte seine Federn, während er schneller flog als je zuvor. Er durfte nicht langsamer werden. Orion war hinter ihm her.
Sein Großvater war nicht nur der Herrscher über das Vogelreich – er war auch überaus gefährlich. Simon war so dumm gewesen, zu glauben, dass Orion auf seiner Seite war, doch mittlerweile wusste er es besser. Orion hatte Darryl getötet und im Chaos nach der Tat Simons Mutter entführt. Simon hatte wenig Hoffnung, sie je wiederzusehen. Dass die Vögel ihn verfolgten, war nicht verwunderlich. Simon hatte sich vor Orions Augen in einen Goldadler verwandelt, und jetzt hielt sein Großvater ihn für seinen Thronfolger. Doch Simon hätte sich eher jede Feder einzeln ausgerupft, als sich noch einmal mit Orion einzulassen.
Minutenlang musste Simon gefährlich schnell durch die Baumkronen fliegen, bevor er seine Verfolger abhängen konnte. Als er sicher war, dass sie fort waren, sauste er im Sturzflug in den Central Park Zoo, landete auf dem kleinen Platz vor dem Tunnel, schlüpfte hinein und zog das Gitter mit dem Schnabel hinter sich zu. Er verwandelte sich wieder in eine Maus und flitzte, so schnell er konnte, durch den kalten Steintunnel. Keuchend erreichte er Nolans Zimmer. Er hielt inne und lauschte aufmerksam, ob irgendjemand ihm gefolgt war. Stille. Er holte tief Luft und konzentrierte sich auf die Verwandlung zurück in Menschengestalt. Der Tunnel um ihn herum wurde kleiner, und er musste den Kopf einziehen, doch bei dem Gefühl, wieder in den eigenen Körper zurückzukehren, entspannte er sich. Sich in jedes beliebige Tier verwandeln zu können war so ziemlich das Coolste, was Simon je passiert war. Trotzdem fühlte sich nichts so gut an, wie er selbst zu sein.
Simon schüttelte seine kribbelnden Hände und schob die Geheimtür auf. Er war nicht lange fort gewesen. Er hatte immer noch Zeit, ein Kapitel zu lesen, bevor er seine Freunde zum Frühstück traf und …
»Schönen Flug gehabt?«, fragte eine tiefe Stimme, und Simon erstarrte.
In der Mitte des Zimmers stand Malcolm.
Simon kauerte im Tunneleingang und starrte zu seinem Onkel empor. Malcolm wusste zweifellos, wohin der Tunnel führte – der Alpha kannte jeden Winkel des Baus, und sich dumm zu stellen würde Simon nichts nützen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als seinen Ausflug zuzugeben.
»Es tut mir leid«, sagte er und fühlte sich seltsam schutzlos. Malcolm hatte den Schreibtisch beiseitegerückt, sodass er den Tunneleingang nicht mehr verdeckte. Zu allem Überfluss stand Nolan mit wutrotem Kopf in der Tür.
»Du kennst die Regeln«, sagte Malcolm und verschränkte die Arme vor seinem breiten Oberkörper. »Niemand betritt den Zoo ohne Begleitung des Rudels. Ihr zwei schon gar nicht.«
»Ich …« Simon zitterte. Sein T-Shirt war schweißnass, und er war immer noch außer Atem. »Es ist Wochen her, dass du mich nach draußen gelassen hast.«
»Es ist mir egal, wie lange es her ist. Du wirst noch monatelang im Bau bleiben, wenn das nötig ist, um dich zu schützen«, sagte Malcolm. Trotz des Zorns in seiner Stimme reichte er Simon die Hand und half ihm auf die Füße.
»Aber ich bin nicht … ich bin nicht Nolan. Für mich ist es nicht gefährlich«, sagte Simon.
Sein Bruder schnaubte. »Was ich bin, weiß doch keiner. Aber die ganze Welt weiß, dass du Orions Erbe bist«, fauchte er. »Orion hat wahrscheinlich schon den ganzen Schwarm hinter dir hergeschickt.«
Nolan wusste nicht, wie recht er damit hatte, und Simon würde es ihm bestimmt nicht sagen, schon gar nicht vor Malcolm. »Ihr könnt mich nicht hier einsperren. Das ist unfair, und außerdem ist hier kein Platz, um richtig zu fliegen«, sagte er und schob die Hände in die Taschen.
Malcolm seufzte. »Es spielt keine Rolle, ob es fair ist. Ist dir klar, was passiert, wenn Orion dich erwischt? Oder meine Mutter?«
Simon zog eine Grimasse. Celeste Thorn, die ehemalige Alpha des Säugerreichs und Simons Großmutter, hatte bereits bewiesen, dass sie alles tun würde, um Orion und das Vogelreich zu besiegen, selbst wenn sie dafür Simon töten musste.
»Aber sie haben mich nicht erwischt«, erwiderte Simon. »Mir geht’s gut.«
»Sie müssen einfach nur warten, bis einer von euch auftaucht«, sagte Malcolm. »Sie wollen euch in ihre Gewalt bekommen, und wenn das geschieht, dann …«
»Ich werde nicht zulassen, dass sie Nolan etwas antun«, sagte Simon bestimmt, und die Trauer, die er auf seinem Rückflug durch den Park verdrängt hatte, kam zurück und brannte in seinem Inneren. An dem Abend, als Darryl gestorben war, hatte Simon sich geschworen, dass seinem Bruder nicht das Gleiche widerfahren würde.
»Ich habe mich jedenfalls nicht rausgeschlichen, ich weiß nicht, warum ihr mich in die Sache reinzieht«, fauchte Nolan. Simon konnte die Wut seines Bruders praktisch fühlen, aber er merkte auch, dass Nolan etwas gekränkt klang.
»Tu nicht so, als hättest du den Tunnel nicht selbst schon Hunderte Male benutzt«, sagte Malcolm. »Ich habe keinen Zweifel, dass du den Bau ebenfalls verlassen hättest, wenn du vorhin mit Simon gegangen wärst.«
»Hätte er nicht, weil ich ihn nicht gelassen hätte«, sagte Simon schnell. Sofort wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte. Sein Bruder starrte ihn düster an und ballte die Fäuste. Er war offensichtlich verletzt.
»Nein, hättest du nicht, stimmt’s?«, sagte Nolan mit zitternder Stimme. »Ich bin ja nicht einer deiner tollen Freunde, warum solltest du dich mit mir abgeben?«
»Das habe ich nicht gemeint, und das weißt du auch«, antwortete Simon mit finsterem Blick. Wenn es Orion oder Celeste gelang, Nolan zu entführen, so wie Orion ihre Mutter entführt hatte …
»Genug.« Malcolms Stimme war scharf, und Simon presste die Lippen aufeinander. »Nolan, geh unter die Dusche und zieh dir frische Sachen an.«
Nolan runzelte die Stirn. »Aber …«
»Sofort!«
Wütend vor sich hin murmelnd nahm Nolan eine saubere schwarze Uniform aus seiner Kommode und verschwand im Badezimmer, das Simon und er sich teilten. Er knallte die Tür so fest hinter sich zu, dass seine Nachttischlampe klirrte. Simon zuckte zusammen.
»Sieh mich an, Simon.«
In Malcolms Stimme schwang noch immer ein Knurren mit, doch er klang nicht mehr so wütend. Simon erwiderte zögernd seinen Blick. Malcolms Augen waren blau, nicht schwarz wie Darryls, trotzdem waren sie schmerzlich vertraut.
»Es geht nicht nur um Nolan«, sagte sein Onkel. »Es geht auch um dich. Du gehörst ebenso zur Familie wie er, und ich will nicht, dass dir etwas passiert.«
Simon musste sich auf die Innenseite seiner Wange beißen, um nicht auszusprechen, was er wirklich dachte. Sosehr Malcolm sich auch bemühte, sie hatten sich nun mal erst vor zwei Monaten kennengelernt, und er hatte Simon nicht großgezogen, so wie Nolan. Simon wollte ja ein Teil ihrer Familie sein – er hatte sich sein Leben lang wie ein Außenseiter gefühlt und wünschte sich nichts mehr als einen Ort, an den er gehörte. Aber zu ihnen gehörte er nicht, und so ungern er sich das eingestand, er wusste, dass er es vielleicht niemals tun würde. Nicht ganz.
»Um mich musst du dir keine Sorgen machen«, sagte Simon schließlich, und seine Zunge fühlte sich an wie Sandpapier. »Sie wollen Nolan.«
Malcolm warf einen vorwurfsvollen Blick auf den Tunneleingang hinter Simon. »Ich werde den Tunnel zumauern lassen. Auf diesem Weg kommt niemand mehr raus oder rein. Aber, Simon … es geht mir nicht darum, dich einzusperren.«
»Fühlt sich aber so an«, murmelte Simon. Malcolm seufzte.
»Ich weiß. Auch wenn du es nicht glaubst, aber ich verstehe dich. Sobald keine Gefahr mehr droht …«
»Und was, wenn das nie der Fall ist?«, fragte Simon. »Was, wenn Orion nie gefangen wird? Was, wenn Celeste die Herrschaft über die Königreiche zurückerobert?«
»Das wird nicht geschehen«, sagte Malcolm, doch richtig überzeugt sah er nicht aus. »Das Rudel hat jede Spur verfolgt, die wir von Orion und deiner Mutter haben …«
»Aber ihr habt sie immer noch nicht gefunden.«
»Nein, das haben wir nicht«, sagte Malcolm widerstrebend. »Aber wir tun unser Bestes. Säuger im ganzen Land suchen nach ihnen. Sie können sich nicht ewig versteckt halten.«
»Vielleicht nicht ewig, doch lange genug.«
Malcolm rieb sich die Augen und sagte halblaut: »Vertrau mir, Simon. Mehr verlange ich nicht. Ich tue alles, was in meiner Macht steht, damit dir und Nolan nichts passiert, aber du musst mir dabei helfen, in Ordnung? Was ich auf keinen Fall brauche, sind Dummheiten – zum Beispiel, dass du den Bau verlässt, ohne mir etwas davon zu sagen.«
»Wenn ich dir vorher Bescheid sage, ist es also in Ordnung?«, fragte Simon. Malcolm zog die Augenbrauen hoch, und Simon ließ die Schultern hängen.
»Wir wollen beide das Gleiche, Simon. Wir wollen, dass Nolan nichts zustößt. Aber solange du munter die Regeln ignorierst, führst du deinen Bruder in Versuchung, es dir nachzumachen. Und egal was du glaubst, Orion und Celeste wären mehr als glücklich, wenn sie einen von euch in die Finger bekämen, also tu mir den Gefallen und geh kein Risiko ein. Du kannst in der Halle fliegen – dafür ist sie da. Lass mich das Versprechen halten, das ich Darryl gegeben habe, und dich beschützen.«
Simon seufzte ernüchtert. Das war es also – das war der Grund, warum Malcolm krampfhaft so tat, als ob Simon zur Familie gehörte. Weil er dem sterbenden Darryl auf dem Dach des Sky Towers versprochen hatte, sich um Simon zu kümmern. Dafür, dass sie sich zu dem Zeitpunkt gerade mal drei Tage gekannt hatten, war es ein großes Versprechen gewesen und keines, das leicht zu halten war. Und jetzt steckten sie beide in der Klemme.
Sosehr Simon ihm auch helfen wollte, sein Versprechen zu halten, er konnte es nicht. Seine Mutter war immer noch irgendwo da draußen, und wenn Simon sie je wiedersehen wollte, würde er einige Regeln brechen und wahrscheinlich auch gegen seinen Großvater kämpfen müssen.
Malcolm schien sein Schweigen als Zustimmung zu deuten und klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter, bevor er ihn zurück in sein Zimmer schickte. Als Nolan endlich im Bad fertig war, ging Simon unter die Dusche. Dann zog er sich an, wobei er Felix’ Gezeter über sich ergehen ließ.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, schimpfte die kleine Maus, während Simon sich die Zähne putzte. »Du hättest getötet oder gefangen oder gefressen werden können …«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es keine Tiere in New York gibt, die Adler frühstücken«, murmelte Simon, den Mund voller Zahncreme.
»Aber Orion hätte dich fangen können«, sagte Felix. »Was würde dann aus dir werden? Was würde dann aus mir werden?«
Simon seufzte, drehte das Wasser auf und spülte sich den Mund aus. »Du würdest schon jemand anderen finden, der dich durchfüttert. Jemanden mit einem Fernseher.«
Felix hielt seine winzige Pfote unter das laufende Wasser und putzte sich die Barthaare. »Meine Lieblingssendungen vermisse ich wirklich«, gab er zu, doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein. So darfst du nicht reden. Du bist vielleicht nicht der Erbe des Bestienkönigs, aber mir bist du trotzdem wichtig. Und Malcolm und Nolan auch …«
»Du hast doch selbst gehört, was Nolan gesagt hat. Im Augenblick kann er mich nicht ausstehen. Und Malcolm ist nur nett zu mir, weil Darryl ihn darum gebeten hat.« Simon stellte seine Zahnbürste in den Becher neben die seines Bruders und kämmte sich seine struppigen Haare.
»Malcolm müsste dich nicht gernhaben, um dich zu beschützen.« Felix kletterte auf Simons Schulter, als der aus dem Bad in sein Zimmer ging, um ein Paar Socken zu holen. »Er könnte sein Versprechen halten und trotzdem gemein zu dir sein, aber das ist er nicht.«
Simon kannte seinen Onkel zwar noch nicht besonders lange, aber besonders gemein war er jedenfalls nicht. Ein Ersatz für Darryl allerdings auch nicht. »Wenn du mich davon überzeugen willst, dass wir früher oder später eine glückliche Familie sein werden, spar dir die Mühe.« Er wollte auch gar keine glückliche Familie, nicht ohne Darryl. Und nicht ohne seine Mutter. »Außerdem kann ich nicht einfach rumsitzen und warten, solange Mom immer noch verschwunden ist.«
Während Simon im Bau festsaß, schleifte Orion seine Mutter durchs Land, verzweifelt auf der Suche nach den Teilen des Greifstabs, der fünfzackigen Waffe, mit deren Hilfe der Bestienkönig anderen Animox ihre Kräfte geraubt hatte. Allerdings waren die kristallenen Bruchstücke alles andere als leicht zu finden. Damals, als die fünf Königreiche den Bestienkönig gestürzt hatten, war die Waffe in fünf Teile zerbrochen worden. Jedes Reich hatte versprochen, eins der Teile zu schützen und zu verhindern, dass der Greifstab je wieder zusammengesetzt werden konnte. Simons Mutter, die seit Simons Geburt durchs Land gereist war und Nachforschungen über den Greifstab angestellt hatte, war der einzige Mensch, der wusste, wo die Teile versteckt waren. Deswegen hatte Orion sie entführt – um die Teile zu finden und den Greifstab wieder zusammenzusetzen. Sosehr Simon sie auch befreien wollte, er hatte keine Ahnung, wo er mit seiner Suche beginnen sollte.
Er öffnete die Sockenschublade, um ein Paar herauszunehmen. Doch dann tastete er an der Rückwand der Schublade entlang, zog die Taschenuhr heraus, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, und wog sie in der Hand. Das silberne Ziffernblatt war nicht weiter bemerkenswert, aber auf der Rückseite war ein Symbol eingraviert – fünf miteinander verbundene Tiere, die ein Wappen bildeten. Das Zeichen des Bestienkönigs.
Simon wusste nicht, was die Uhr bedeutete. Er wusste nur, dass er seiner Mutter hatte versprechen müssen, sie immer bei sich zu tragen, und er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sie in der Sockenschublade versteckte. Aber er hatte sie schon einmal beinahe verloren, auf dem Dach des Sky Towers bei seinem Kampf gegen Orion. Darryl hatte sie Orion wieder abgenommen und sie Simon kurz vor seinem Tod zurückgegeben. Noch immer musste Simon bei ihrem Anblick an das Blut seines Onkels auf der silbernen Oberfläche denken.
Aber er hatte es seiner Mutter versprochen, deshalb steckte er die Uhr jetzt zögernd in seine Tasche. Er hatte andere Andenken von ihr – andere Geschenke, die nicht so schmerzliche Erinnerungen hervorriefen. An der Wand über seinem Schreibtisch hatte er seine Sammlung der einhundertvierundzwanzig Postkarten aufgehängt, die seine Mutter ihm von ihren Reisen geschickt hatte, seit er klein war. Eine für jeden Monat, in dem sie sich nicht gesehen hatten. Jede zeigte ein anderes in Nordamerika heimisches Tier, und er kannte die Nachrichten auf den Rückseiten auswendig, die ihm in der vertrauten geschwungenen Handschrift Fakten über das abgebildete Tier nannten und bisweilen erwähnten, wie sehr ihn seine Mutter vermisste. Außerdem hatte er vor einigen Wochen durch Zufall ihr altes Notizbuch gefunden, in dem sie alles notiert hatte, was sie über den Bestienkönig wusste. Simon hatte jede einzelne Zeile eingehend studiert, in der Hoffnung, Hinweise zu finden, wo die Teile des Greifstabs versteckt sein mochten. Er hatte zwar einige interessante Anhaltspunkte entdeckt, doch bislang hatte er sich noch keinen Reim darauf machen können. Wenn das überhaupt möglich war.
Trotz der Aufregung am frühen Morgen ließ Simons Magen ein lautes Knurren vernehmen, und er schlüpfte in Socken und Schuhe und machte sich auf den Weg nach unten. Statt die Wendeltreppe zu nehmen, verwandelte er sich in einen Adler und flog, denn er hoffte, dass sich dasselbe Freiheitsgefühl einstellen würde, das er unter freiem Himmel verspürt hatte. Doch leider war dem nicht so.
Der Speisesaal war schon voll besetzt. Jeder Schüler trug ein schwarzes Armband mit einem silbernen Tierabzeichen, das sein jeweiliges Animox zeigte. Alle waren in Simons Alter oder älter, da Animox erst mit ihrer fünfjährigen Ausbildung begannen, wenn sie zum ersten Mal animagiert hatten, was etwa im Alter von zwölf Jahren geschah.
Anders als auf seiner alten Schule, wo die älteren Kinder nie auf die jüngeren geachtet hatten, schien sich jeder Kopf im Saal in seine Richtung zu drehen, wenn er hereinkam. Er hielt den Blick auf das Buffet gerichtet, das jede erdenkliche Frühstücksspeise bereithielt – darunter auch Sushi für die Angehörigen des Unterwasserreichs –, füllte seinen Teller und schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch. Die meisten Schüler saßen nur mit Angehörigen ihres eigenen Reichs am Tisch, nicht einmal die höheren Klassen durchmischten sich, obwohl sie sich untereinander schon jahrelang kannten.
Doch zum Glück waren nicht alle so. Irgendwie war es Simon gelungen, Freunde zu finden, obwohl er war, wer er war. Er stellte sein Tablett auf einem Tisch ab und setzte sich einem blonden Jungen mit Brille und einem Delfin-Abzeichen am Armband gegenüber.
»Hi, Jam«, sagte Simon und unterdrückte ein Gähnen. Jam hob die Nase aus seinem Buch und grinste.