Anna O. - Matthew Blake - E-Book + Hörbuch

Anna O. Hörbuch

Matthew Blake

5,0

Beschreibung

»Macht süchtig. Extrem clever und originell: der Thriller, über den alle reden.« Lucy Clarke Seit vier Jahren hat Anna Ogilvy ihre Augen nicht mehr geöffnet. Nicht seit jener Nacht auf der Farm, wo man sie im Tiefschlaf gefunden hat, ein Küchenmesser in der Hand, die Kleidung blutverschmiert. Neben den Leichen ihrer beiden besten Freunde. Die einen halten Anna O. für unschuldig, die anderen für eine kaltblütige Mörderin. Aber nichts und niemand hat sie aus ihrem Albtraum wecken können. Bis jetzt. »Liest sich wie ein Traum, ist beunruhigend wie ein Albtraum.« A.J. Finn Dr Benedict Prince ist Psychologe und Experte für Verbrechen, die im Schlaf begangen werden. Bei Nacht und Nebel wird er in die Schlafklinik The Abbey gerufen. Dort hat man die berühmteste Verdächtige des Landes eingeliefert: Anna Ogilvy, 29. Das ganze Land spekuliert: Hat Anna die Tat wirklich begangen? Hat sie dabei geschlafwandelt? Wie steht es dann um ihre Schuld? Und warum ist sie seitdem nicht mehr aufgewacht?  Ben hat eine gewagte Theorie, wie er Anna wecken könnte. Doch Ben wird beobachtet. Vom Justizministerium. Von seiner Ex-Frau, die als Kommissarin damals als Erste am Tatort war. Von Annas Mutter, früher eine einflussreiche Ministerin. Von einer Bloggerin, die Annas geheime Aufzeichnungen besitzt. Und vielleicht auch von dem mysteriösen Patienten X, dem Anna auf der Spur war. Ben bleibt nicht viel Zeit. Und er ahnt nicht, in welcher Gefahr er schwebt. »Mit Sicherheit einer der besten Thriller des Jahres.« Lee Child Der raffinierte Thriller um Schlaf, Psychologie, Schuld und Rache.  Ein Spannungs-Roman, der Leser in aller Welt mit seinen faszinierenden Rätseln wach hält.

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Matthew Blake

Anna O.

Thriller

 

Aus dem Englischen von Andrea Fischer

 

Über dieses Buch

 

 

»Es tut mir leid. Ich glaube, ich habe sie umgebracht.«

 

Wer ist Anna O.? Kaltblütige Mörderin oder unschuldige Schlafwandlerin? Seit vier Jahren hat Anna Ogilvy ihre Augen nicht mehr geöffnet. Nicht seit jener Nacht auf der Farm, wo man sie im Tiefschlaf gefunden hat, ein Küchenmesser in der Hand, die Kleidung blutverschmiert. Neben den Leichen ihrer beiden besten Freunde. Die einen halten Anna O. für unschuldig, die anderen für eine kaltblütige Mörderin. Aber nichts und niemand hat sie aus ihrem Albtraum wecken können. Bis jetzt.

 

»Liest sich wie ein Traum und ist beunruhigend wie ein Albtraum.« A. J. Finn

»Macht süchtig! Extrem clever und originell: der Thriller, über den alle reden werden.« Lucy Clarke

Der ultra raffinierte Thriller-Bestseller, der alle um den Schlaf bringt

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Als Matthew Blake hörte, dass der Mensch im Durchschnitt 33 Jahre des Lebens schlafend verbringt, spürte er den Sog einer Geschichte. Er begann zum Thema »Schlaf und Verbrechen« zu recherchieren und auch über das mysteriöse Resignationssyndrom. Was ihn zu der spannenden Frage führte: Wenn jemand beim Schlafwandeln einen Mord begeht, ist er dann schuldig oder unschuldig? Die Idee zu »Anna O.« war geboren – und elektrisierte Menschen weltweit. Die Rechte am Manuskript wurden innerhalb von 48 Stunden auf alle Kontinente verkauft, der Roman erscheint in über 30 Ländern weltweit. Matthew Blake studierte Anglistik an der Durham University und am Merton College in Oxford und arbeitete als Rechercheur und Redenschreiber für das britische Parlament.

 

Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über fünfundzwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im Sauerland.

Inhalt

[Motto]

1 Ben

Erster Teil

2 Ben

3 Ben

4 Ben

5 Ben

6 Ben

7 Ben

8 Ben

9 Ben

10 Emily

11 Ben

12 Ben

13 Ben

14 Lola

Annas Notizbuch

Zweiter Teil

15 Ben

16 Ben

17 Ben

18 Ben

19 Lola

20 Ben

21 Ben

22 Ben

23 Ben

Annas Notizbuch

24 Ben

25 Bloom

Annas Notizbuch

26 Ben

27 X

28 Ben

Annas Notizbuch

Dritter Teil

29 Ben

30 Ben

Annas Notizbuch

31 Ben

32 Ben

Aktenvermerk 1

Aktenvermerk 2

Aktenvermerk 3

33 Ben

34 Lola

Annas Notizbuch

35 Ben

36 Clara

37 Ben

38 Ben

Annas Notizbuch

39 Ben

40 Ben

41 Ben

Annas Notizbuch

42 Lola

43 Ben

Annas Notizbuch

44 Emily

45 Emily

46 Emily

47 Ben

48 Ben

Annas Notizbuch

49 Ben

50 Ben

51 Ben

52 Ben

Annas Notizbuch

53 Ben

54 Clara

Annas Notizbuch

55 Ben

56 Ben

Annas Notizbuch

57 Ben

58 Lola

Annas Notizbuch

59 Ben

60 Ben

Annas Notizbuch

Vierter Teil

61 Ben

62 Ben

63 Ben

64 Ben

Annas Notizbuch

65 Ben

Annas Notizbuch

66 Ben

67 Ben

68 Ben

69 Ben

Annas Notizbuch

70 Ben

71 Ben

72 Ben

Annas Notizbuch

73 Ben

74 Ben

75 Ben

Annas Notizbuch

76 Ben

77 Ben

Annas Notizbuch

78 Ben

79 Ben

Fünfter Teil

80 Clara

81 Clara

82 Clara

Danksagung

Zitierte Werke

Mich verschreckt dieses dunkle Ding,

das in mir schläft.

 

Sylvia Plath

1Ben

»Der Mensch schläft im Durchschnitt dreiunddreißig Jahre seines Lebens.«

Sie beugt sich so weit zu mir herüber, dass ich einen Hauch ihres teuren Parfüms riechen kann. Normalerweise ist das der Moment, in dem ich Bescheid weiß. »Und damit beschäftigen Sie sich beruflich?«

»Ja.«

»Sie sind Doktor für Schlafmedizin?«

»Ich befasse mich mit Menschen, die im Schlaf Verbrechen begehen.« Auf meiner Visitenkarte führe ich einen Doktortitel vor meinem Namen: Dr. Benedict Prince, The Abbey, Harley Street. Ich bin Experte für Schlafmedizin. Aber an keiner Stelle behaupte ich, Doktor der Medizin zu sein.

Sie sieht mein ernstes Gesicht. »Wie soll das denn gehen?«

»Haben Sie sich noch nie gefragt, was Sie im Schlaf getan haben könnten?«

An dieser Stelle wird den meisten unbehaglich. Wenn von Verbrechen die Rede ist, gehen sie auf Abstand. Wir weiden uns zwar an Geschichten über Menschen wie du und ich, sind aber überzeugt davon, dass wir selbst ganz anders sind. Im Schlaf jedoch sind wir alle gleich.

Schlaf ist die einzige Konstante, treu bei Nacht wie bei Tag.

»Was sind das denn für Verbrechen?«

Sie hat nicht das Thema gewechselt, hört mir immer noch zu. »Alles, was man sich vorstellen kann.«

»Aber dabei müssen die Leute doch aufwachen!«

»Nicht wenn sie schlafwandeln. Ich hatte Patienten, die im Schlaf das Haus verlassen und Auto fahren. Manche töten sogar.«

»Daran würde man sich doch erinnern!«

»Anhand der Fältchen um Ihre Augen würde ich schätzen, dass Sie letzte Nacht fünfeinhalb Stunden geschlafen haben.«

Sie runzelt die Stirn. »Kann man das wirklich sehen?«

»Haben Sie irgendeine Erinnerung daran, was in diesen fünfeinhalb Stunden passiert ist?«

Sie überlegt, das Kinn in die rechte Hand gestützt. »Ich habe geträumt.«

»Was denn?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Womit es bewiesen wäre.«

Ihr Blick ändert sich. Sie sieht mich mit anderen Augen. Ihre Stimme wird lauter, die Körpersprache vehementer. »Moment mal, da gab es doch diesen Fall, wie hieß die Frau noch mal …«

Jetzt ist es so weit. Bei nur wenigen Dates kommen wir überhaupt bis hier. Ich langweile die Frauen mit meiner Berufsbeschreibung. Meine Geschichten von Verbrechen, die sie im Schlaf begangen haben könnten, jagen ihnen Angst ein. Wenn es bis dahin noch nicht vorbei ist, bricht mir immer diese letzte Frage das Genick.

Keine Frau bleibt, sobald sie das begriffen hat.

Keine.

»Anna O.«, sage ich und trinke einen letzten Schluck von meinem Wein – ein teurer Merlot, wirklich schade. Dann greife ich zu meiner Jacke.

»Sie waren das! Auf diesem Foto damals. Der Psychologe.«

Ich lächele schwach und schaue auf die Uhr. »Ja«, sage ich, »das war ich.«

Als es passierte – das brutale, blutige Finale –, brachte jede große Tageszeitung das Foto auf der Titelseite. Es war der verhängnisvolle Moment, nach dem nichts mehr so sein konnte wie zuvor. Vor dem Exil und dem Absturz. Ich bin der Typ mit Brille und zerzausten Haaren, der sich ein bisschen professoral kleidet. Seit den Zeiten damals habe ich mich neu erfunden. Der Bart lässt mich älter wirken; das Haar ist leicht ergraut. Meine neue Brille ist klobiger und sieht nicht mehr aus, als stammte sie aus der Requisitenkammer von Harry Potter. Meine Augen und mein Gesicht jedoch kann ich nicht verändern.

Ich bin ein anderer Mensch. Ich bin derselbe Mensch geblieben.

Ich warte auf die Frage, denn sie kommt immer. Es ist das große Rätsel, das bleibt, trotz allem. Es entzweit Familien, Eheleute, Freunde.

»War sie schuldig?«, fragt mein Date beziehungsweise die Frau, die eben noch mein Date war. Jetzt bin ich für sie nur noch ein Dämon, eine Anekdote für die Weihnachtstage oder Silvester. »Als sie die beiden Menschen erstochen hat, ist sie da wirklich mit einem Mord davongekommen?«

Erster Teil

Ein Jahr zuvor

2Ben

London

Das Handy klingelt.

Daran werde ich mich immer erinnern.

Wie alles anfing.

Es ist spät, schwer senkt sich die Dunkelheit nieder, tintenblau. Ich bin schon halb eingeschlafen, hänge in meinem Sessel, auf dem Schoß ein Tablett mit einem Teller lauwarmem Curry und einem halb leeren Glas billigem Wein. Im Fernseher in der Ecke flackert ein Schwarz-Weiß-Film. Heute Abend ist es Der Fremde im Zug, mein Lieblingsfilm. Wenn es um den ultimativen Hitchcock geht, nennen die Leute normalerweise Psycho oder Vertigo. Aber sie liegen falsch. In Der Fremde im Zug gibt es die Tennisszene.

Das Vibrieren des Handys reißt mich in die Gegenwart zurück. Meine Augenlider sind schwer. Ich wische mir das Fett von den Händen und sehe nach, welcher Name im Display steht: »BLOOM, PROF. (The Abbey)«. Ich schiebe das Icon nach rechts und mache mich auf alles gefasst. Ich unterdrücke ein unhöfliches Gähnen.

»Hallo?«, melde ich mich.

»Ben, bitte entschuldigen Sie die unchristliche Uhrzeit. Leider duldet die Angelegenheit keinen Aufschub.«

Das klingt ernst. Und alarmiert mich in der Trübnis des späten Abends. Professor Virginia Bloom gehört normalerweise zu den Leuten, die ein Gespräch mit einem Witz oder einem lustigen Spruch eröffnen. Oft trifft man sie auf der Oxford Street, in einem Kaftan und auf hochhackigen Schuhen, oder an ihrem Ecktisch im Langham mit einer Karaffe Whisky auf dem Tisch und Aufputschmittel in der Tasche.

Im Hintergrund höre ich Stimmen und Schritte. Es klingt, als sei Bloom noch im Büro. Ich sehe auf die Uhr. Fast zwölf.

»Stimmt irgendwas nicht?«

»Könnte man so sagen.« Bloom räuspert sich mit dem für sie typischen mürrisch-rauchigen Geräusch. »Hier wartet leider Arbeit auf Sie. Eine neue Anfrage, gerade hereingekommen. Erfordert eine etwas sensiblere Behandlung.«

Ich bin forensischer Psychologe. Als solcher habe ich fast alle großen Kriminalbehörden beraten. Die NCA, das FBI und Interpol haben meine Nummer. Aber Blooms Andeutung klingt noch geheimnisvoller als üblich. »Hat diese Anfrage auch einen Namen?«

Wieder Geräusche im Hintergrund. Bloom wirkt abgelenkt. »Kommen Sie bitte her, ja? Mir wurde gesagt, ich soll nicht über eine normale Telefonleitung darüber sprechen.«

Offiziell habe ich gerade eine Woche Urlaub. Der Abgabetermin für meinen neuesten wissenschaftlichen Artikel sitzt mir im Nacken. Drei Patientenakten müssen noch vervollständigt werden. Morgen wollte ich Home-Office machen und mich um den Berg von Papierkram kümmern. Es gibt nur wenige Fälle in der Schlafmedizin, die zu sensibel für eine öffentliche Leitung sind. Ich lasse mich von der geheimnisvollen Anspielung locken, so wie Bloom es gehofft hat.

»Geben Sie mir einen Anhaltspunkt!«

Am anderen Ende atmet meine Chefin tief durch. Sie schweigt und seufzt dann laut. »Sie werden es mir wahrscheinlich nicht danken.«

Draußen ist es kalt, ein schmutziger Septemberhimmel mit Nieselregen. Schon jetzt graut mir vor der Strecke von Pimlico zur Harley Street. Ich könnte mit meinem Hitchcock-Film und dem nächsten Glas Wein gemütlich im Wohnzimmer sitzen bleiben. Aber so bin ich nicht gestrickt.

Und deshalb frage ich nach. Ich frage immer nach.

»Es ist der Anna-O.-Fall«, sagt Bloom schließlich. »Wir sollen uns da etwas ansehen.«

3Ben

Die Schlafklinik »The Abbey« befindet sich an einer unauffälligen Straßenecke der Harley Street in einem Backsteingebäude aus der edwardischen Zeit, in dem eine sehr diskrete Atmosphäre herrscht. Besucher sprechen oft von kirchenähnlicher Ruhe, von einer Oase hinter der Oxford Street, abseits des Trubels von Regent’s Park und Cavendish Square. The Abbey vermittelt etwas Staatstragendes, wirkt wie ein Zufluchtsort.

Die Nacht – beziehungsweise der neue Tag, es ist ja schon nach zwölf – ist immer noch grau und hässlich, während das Taxi durch Pfützen fährt und mich schließlich an der Straßenecke absetzt. Geduckt springe ich in den Regen und öffne meinen kaputten schwarzen Regenschirm. Das Taxi fährt zu schnell wieder los, und Spritzwasser durchnässt die Rückseite meiner Hose. Wieder verfluche ich Bloom dafür, dass sie mich herbestellt hat.

Ich gehe die Eingangstreppe hinauf und gebe meinen Zugangscode ein. Vom Regen sind die Tasten nass und rutschig. Das alte Gebäude hat vier Stockwerke, die schon vor langer Zeit in Büroetagen umgewandelt wurden. Nur ein kleines silbernes Schild draußen weist darauf hin, dass sich hier die »Schlafklinik ›The Abbey‹« befindet. Darunter steht nur eine Telefonnummer. Die Website von The Abbey ist auffällig unauffällig; Mitarbeiter werden mit ihren Qualifikationen aufgelistet, jedoch ohne Foto. Dieses Image ist wohlüberlegt, wie alles hier. Wir sind lediglich das Personal hinter den Kulissen, wir dienen nur als Staffage für das, was hier geschieht. Das ist die goldene Regel für alle Ärzte, die sich mit der Seele befassen: Man darf uns hören, aber nicht sehen.

Nichts geschieht. Ich wische mit dem Ärmel über die Tastatur und gebe den Sicherheitscode erneut ein. Endlich ertönt das metallische Klicken, und die Tür öffnet sich. Ich überlege, ob Bloom noch weitere Personen herbestellt hat, andere Spezialisten für Schlafmedizin oder die geschätzten Kollegen. Doch der Eingangsbereich und die Wartezonen sind verlassen und größtenteils unbeleuchtet. Es ist, als würde man eine Schule betreten und sei der einzige Schüler in der Aula. Es hat etwas Befremdliches, den eigenen Arbeitsplatz ohne das übliche Gewusel zu sehen.

»Professor Bloom?« Mein Ruf wird von den Wänden zurückgeworfen und erstirbt. Ich knipse eine Deckenlampe an. Sie beleuchtet die in neutralen, beruhigenden Tönen gehaltene Einrichtung. Vor kurzem wurde neuer Teppich gelegt, der noch immer angenehm unter den Füßen nachgibt. Die Luft wirkt ungewöhnlich rein, besondere Filter in den Wänden halten Schadstoffe fern. Normalerweise hört man leise Musik. Die Hintergrundberieselung lullt die Gäste ein, bis die Rechnung sie in die Realität zurückreißt. The Abbey hat etwas von einer Gebärmutter, die einen vor den Unbilden der Außenwelt schützt. Schließlich ist Schlaf ein Grundbedürfnis.

»Professor?«

Immer noch nichts. Ich stelle den Regenschirm neben der Garderobe ab und schäle mich aus meiner durchnässten Jacke. Hinter dem Empfang hängt eine Reihe von Überwachungsmonitoren, die die Kamerabilder vor und hinter dem Gebäude zeigen. Unsere Klientel verlangt so etwas. Prominente vor ihrer Hochzeit, Politiker, die um ihre Karriere kämpfen, Fußballer in einem Formtief, skandalumwitterte Angehörige des Königshauses – sie alle treten mit aufgedunsenen, unausgeschlafenen Gesichtern in den geschmackvoll gestalteten Eingangsbereich. Wie auf Nahrung oder Wasser kann der Mensch auf Schlaf nicht verzichten. The Abbey ist ein moderner Tempel, in dem die Dämonen der Psyche besänftigt werden. Viele zahlen irrsinnig viel Geld, nur um hier in ein Bett sinken zu dürfen.

Ich aktiviere die Überwachungsmonitore, erwecke sie zum Leben. Die Bilder vom Haupt- und Hintereingang flackern trüb. Ich wende mich ab und warte geduldig vor dem Lift, bin einfach zu müde, um die Treppe zu nehmen. Auf dem mit Fingerabdrücken übersäten Couchtisch neben dem Aufzug liegen verschiedene Zeitschriften aus. Ich nehme den New Scientist in die Hand und blättere beim Warten darin herum. Die Klinik findet Erwähnung, ein kleiner Abschnitt unter der Rubrik »Neuigkeiten«. The Abbey betreibt nebenbei ein nützliches Gewerbe: Auf der ganzen Welt berät sie bei Kriminalfällen, hat lukrative Verträge mit der Metropolitan Police und anderen Behörden des Gesetzesvollzugs. Das alles wird von Professor Bloom koordiniert, die die Times einmal »Großbritanniens Schlaf-Guru« nannte. Der Artikel hängt eingerahmt in ihrem Büro.

Der Aufzug zockelt nach oben. Mir wird bewusst, dass ich jeden Quadratzentimeter dieses Gebäudes kenne. Ich versuche zu überschlagen, wie viele Abende und Nächte wegen Blooms fixen Ideen schon bei mir draufgegangen sind. Zu viele, denke ich. Aber der Fall Anna O. ist anders. Damit würde Bloom mich nicht foppen. Für Fachleute der Schlafmedizin ist Anna O. der heilige Gral. Seit es geschah, vor über vier Jahren, ist sie das große Rätsel, das alles andere in den Schatten stellt.

Nein, so gemein ist Bloom nicht. Jedenfalls nicht zu mir.

Der Aufzug hält im obersten Stockwerk, der sogenannten Verwaltungsetage. Tatsächlich hat sie den Charme eines Besenschranks. Hier hat nur Personal Zutritt, was die Alcatraz-ähnliche Inneneinrichtung erklärt. Sieben von uns arbeiten hier Vollzeit, dazu gibt es zehn Fachleute, die das ganze Spektrum schlafmedizinischer Behandlungsmethoden abdecken: Neurologen, Psychiater, Psychologen, Psychotherapeuten und myofunktionelle Therapeuten. Mein Büro liegt am Ende des Gangs, es ist eines der wenigen mit abschließbarer Tür. Blooms Büro ist das erste und größte, neuer als die anderen und ausgestattet mit goldgerahmter Kunst und einem dezenten Getränkekühlschrank.

Mit gereizter, verkniffener Miene wartet sie in der Tür auf mich. Ihre graue Mähne wird von einer Haarspange gezähmt. Sie ist Mitte sechzig, nachlässig gekleidet, die operettenhafte Körperfülle unter bunten Kleidungsschichten verborgen, kanariengelb und erdbeerrot, die Augen hinter einer dicken Brille. Trotz spektakulärer Gelüste lässt sie nur selten Müdigkeit oder das Bedürfnis nach Schlaf erkennen. Bloom verträgt Unmengen von Alkohol und kann essen wie ein Scheunendrescher. Sie ist die Letzte ihrer Generation: Mittagessen mit zwei Flaschen Wein, am Nachmittag ein Nickerchen im Büro, ein ausgestreckter Mittelfinger für alles, was mit Personalwesen zu tun hat. Sie kümmert sich nicht darum, was man von ihrem Geschlecht erwartet, und gibt sich demonstrativ unmütterlich. Eine Feinschmeckerin, eine Erzählerin, ein kluger Kopf. Sie denkt sich durchs Leben. Ihre Gabe und ihr Fluch.

Hinter ihr sitzt ein Mann. Im Gegensatz zu Bloom wirkt er frettchenhaft, er hat etwas Verkniffenes, Anwaltliches an sich. Ein Fremder. Ich bin gespannt.

»Na, das ist ja mal ein Begrüßungskomitee«, sage ich. Das rechte Hosenbein klebt an meiner Haut. »Darf ich erfahren, was los ist?«

Ich betrete Blooms Büro. Der frettchenartige Mann steht auf. Aus der Nähe ist er eindrucksvoller. Seine Haare sind gegelt und exakt gekämmt. Er ist um die fünfzig, würde ich schätzen, hat eine Adlernase und Geheimratsecken. Der Aktenordner auf dem Tisch neben seinem Stuhl trägt ein Wappen: »Justizministerium«. Meine Handflächen werden feucht. Also hat Bloom es wirklich ernst gemeint. Höher als der Gesetzesvollzug, sogar höher als die National Crime Agency. Das Justizministerium ist Ministerialebene.

»Tut mir leid«, sagt Bloom, »aber das konnte wirklich nicht warten. Dr. Benedict Prince, das ist Stephen Donnelly, stellvertretender juristischer Vorstand im Justizministerium.«

Donnelly streckt die Hand aus und drückt nur schwach zu. Er hält meinen Blick und sagt leise: »Bevor wir anfangen, Dr. Prince, müssen wir leider ein paar Hausregeln durchgehen.«

Ich verberge meine Überraschung. »Ach, ja?«

Er scheint stark erkältet zu sein. Jeden Satz beendet er mit einem Schniefen.

»Was sind das für Regeln?«

»Erstens: Dieses Treffen heute Nacht hat nie stattgefunden. Zweitens: Sie haben mich nie kennengelernt. Drittens: Was Sie gleich erfahren werden, wird dieses Haus nie verlassen, nicht mal diesen Raum. Falls jemand fragen sollte, sind Sie noch mal ins Büro gefahren, um Patientenakten zu holen und sie mit nach Hause zu nehmen. Ist das klar?«

Ich möchte lächeln, merke aber, dass es unangemessen wäre. »Was ist das hier?«

»Heißt das, Sie sind mit den Bedingungen einverstanden?«

»Habe ich eine Wahl?«

»Eigentlich nicht.« Donnelly weist auf den leeren Stuhl. »Bitte, setzen Sie sich!«

4Ben

Bloom schließt die Tür und bietet keine Erfrischung an, um das Gespräch aufzulockern. Hier geht es ums Geschäft. Stattdessen lässt sie sich auf den schwerfälligen Schreibtischstuhl aus Leder sinken. Schließlich gibt sie Donnelly mit einem Nicken zu verstehen, er könne anfangen.

Er hat das Lächeln eines Scharfrichters. »Ich möchte Ihre Intelligenz nicht beleidigen, Dr. Prince. Ich weiß, dass Sie mit dem Anna-O.-Fall und den zwei Mordfällen im August 2019 in Oxfordshire vertraut sind, nicht wahr? Deshalb habe ich um dieses Treffen gebeten.«

Ich sehe Donnelly an und frage mich, wie weit seine Befugnisse reichen. Über ihm steht sein Vorgesetzter, der juristische Vorstand, dann der Staatssekretär im Justizministerium, dann der Justizminister und schließlich der Premier. Warum will mich ein so hochrangiger Beamter nach Mitternacht in der Klinik treffen und hat Anweisung, nicht am Telefon über Details zu sprechen? Was kann denn so wichtig sein?

Es gibt nicht viele Menschen, denen der Fall Anna O. nichts sagt. Es gibt Podcasts, Netflix-Filme, zahllose Leitartikel, Bestseller und Beiträge in obskuren Fachzeitschriften darüber, von denen nicht wenige von mir verfasst wurden.

»Natürlich.«

Donnelly nickt. »Vor kurzem ist ein Aufsatz von Ihnen in die Hände von … nun, sagen wir, von sehr einflussreichen Menschen gelangt.« Er greift nach seinem kleinen ledernen Aktenkoffer und holt eine schmale Mappe heraus. Laut liest er vom Titelblatt ab: »›Das Resignationssyndrom und die Psyche von Straftätern: Auf der Suche nach einem neuen Diagnosemodell‹, in Modern Journal of Forensic Psychology. Das ist Ihre letzte Arbeit zu dem Thema, habe ich recht?«

Ich schiele zu Bloom hinüber, doch sie schenkt mir nur ein kühles Lächeln. »Ja.«

»Sie wirken überrascht?«

»Bin ich auch. Der Artikel wurde noch nicht von den Kollegen begutachtet, geschweige denn veröffentlicht. Ich habe ihn erst vor drei Wochen der Chefredakteurin geschickt.«

Donnelly schaut mich nachsichtig an, als sei er eine derartige Naivität nicht gewöhnt. »Wir haben Kontakte, die uns gelegentlich auf Beiträge von möglichem Interesse aufmerksam machen. Ich kann Ihnen versichern, dass Ihre Arbeit über psychosomatische Störungen in Whitehall schon einige Anhänger gewonnen hat.«

Ich fühle mich benutzt und gleichzeitig geschmeichelt. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie die Nachricht mein Gmail-Konto mit einem zischenden Geräusch verlässt. Der Artikel war als Word-Dokument angehängt. Hat die Chefredakteurin ihn weitergeleitet, oder überwachen diese Leute ständig alles? Will ich das überhaupt wissen?

Donnelly senkt den Blick wieder auf die schmale Akte. »Ihr Artikel konzentriert sich ziemlich stark auf den Anna-O.-Fall, so wie auch Ihr letztes Buch. In dem Artikel stellen Sie eine mögliche Heilung in Aussicht, was im Buch nicht der Fall ist. Darf ich fragen, warum Sie speziell diesen Fall aufgreifen?«

Ich lehne mich zurück, werfe Bloom noch einen entrüsteten Blick zu. Das ist ein abgekartetes Spiel. Ich wurde nicht vorgewarnt, hatte keine Zeit, mich vorzubereiten. Ich weiß nicht, wie viel ich erzählen soll. »Das war in erster Linie die Idee der Chefredakteurin«, sage ich. »Sie dachte, das würde der Zeitschrift mehr Aufmerksamkeit bringen. Vielleicht sogar Erwähnungen in großen Zeitungen. Das Buch war ja ein Bestseller. Die Hoffnung der Chefredakteurin war, dass die Zeitschrift sich ebenso gut verkaufen könnte. Ich war derselben Meinung.«

»Also haben Sie den Fall Anna O. sehr genau untersucht?«

Es gibt keinen Weg an der Wahrheit vorbei. »Meine Frau war 2019 die erste Polizeibeamtin am Tatort. Sie gehörte zur Abteilung Schwerverbrechen Thames Valley. Es war ihr erster Fall als Ermittlungsleiterin. Aber ich denke, das wissen Sie bereits.«

Donnelly sagt lediglich: »Aha.«

»Anna O. war fast so lange Teil unserer Familie wie unsere eigene Tochter.« Schnell füge ich wie immer hinzu: »Nicht dass meine Frau je vertrauliche Informationen weitergegeben hätte, das möchte ich klarstellen. Ich habe alles, was öffentlich zugänglich war, mit anderen weniger umstrittenen Beispielen des Resignationssyndroms auf der ganzen Welt verglichen. Auf dem Material fußen sowohl das Buch als auch der Artikel.«

»Vor allem auf dem Ausbruch in Schweden, meine ich mich zu erinnern.«

»Neben einer weiteren Häufung von Fällen in Kasachstan. Ein kleiner ehemaliger sowjetischer Bergbauort und eine Bauernsiedlung namens …«

»Krasnogorsk und Kalachi. Ja, ja, die beiden sind uns bekannt.«

Die Ungeduld in mir steigt. Ich bin diesen gesichtslosen Mann mit seinen überheblichen Antworten leid. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber warum interessiert sich das Justizministerium für ein populärwissenschaftliches Psychologiebuch und einen Artikel in einem nicht sehr bekannten Fachblatt?«

Donnelly lächelt wieder, so böse und kurz wie zuvor. »In Ihrem Artikel behaupten Sie, eine neue Diagnosemethode entwickelt zu haben, um Menschen mit Resignationssyndrom aufzuwecken. Ist das richtig?«

Offensichtlich hat er meinen Text gelesen, zumindest eine Zusammenfassung. Er weiß, dass seine Aussage nicht stimmt. Das heißt, er stellt mich auf die Probe. »Nein.«

Donnelly tut überrascht. »Nein?«

»In meinem Artikel wird ein neuer Rahmen für das Verständnis psychosomatischer Zustände aufgezeigt, insbesondere von Störungen, die zu schlafbezogenen Handlungen führen, einschließlich des Phänomens im Schlaf verübter Delikte. Ich stelle die Frage, ob Schlafwandlern ihre Handlung überhaupt bewusst ist, wenn sie ein Verbrechen begehen. Wie zum Beispiel jemanden zu töten. Dasselbe gilt für Patienten, die am Resignationssyndrom leiden. Ist uns allen bewusst, was wir im Schlaf tun? Können wir dafür strafrechtlich belangt werden? Wo hört das Bewusstsein auf, wann beginnt der Schlaf?«

»Ein umstrittenes Thema.«

Das beantwortet meine nächste Frage. Er kennt schon die Blogs und Social-Media-Accounts, auf denen ich angegriffen werde. Natürlich. Seit mein Buch im Handel ist, bin ich Zielscheibe von Trollen aus aller Welt.

»Es gibt immer noch Leute, die in der vorsintflutlichen Unterscheidung zwischen neurologischen Erkrankungen und sogenannten ›funktionellen Störungen‹ feststecken«, sage ich. »Die denken, nur weil etwas in der Psyche geschehe, sei es nicht real. Mit meiner Arbeit versuche ich, diese Wahrnehmung zu verändern. Manche Menschen stoßen sich daran.«

»Heißt das, Sie können Patienten mit Resignationssyndrom helfen aufzuwachen?«

Mich erstaunt die Unverblümtheit seiner Frage. »Nun, das kommt darauf an.«

Donnelly sieht mich durchdringend an, seine Knopfaugen schauen mir bis in die Seele. »Worauf genau?«

Ich winde mich, druckse herum, fange mich wieder. Ich hätte jetzt gern ein Glas Wasser.

»Hauptsächlich darauf, wie lange der Patient schon schläft«, sage ich. »Und welche externen Faktoren das Symptom ausgelöst haben. In meinem Buch habe ich das populärwissenschaftlich aufbereitet. Das Paper ist die eigentliche wissenschaftliche Arbeit, in der die aktuellen Daten analysiert und neue Theorien vorgestellt werden. Aber meine Theorie ist kein Allheilmittel.«

»Zum Beispiel für Anna O.«

»Vier Jahre ist ein absolutes Extrem für das Resignationssyndrom. Meine Daten beziehen sich hauptsächlich auf Symptome, die ein oder zwei Jahre andauerten.«

»Also ist das Ganze immer noch reine Theorie?«

»Im Moment: ja.«

»Wie lange würde es dauern, Ihre neue Theorie auszuprobieren? In der richtigen Welt, meine ich?«

Ich lache. »Woher soll ich das wissen?«

»Sie können ja mal schätzen.«

»Minimum drei Monate«, sage ich. »Darunter geht gar nichts.«

Donnelly schaut auf die Uhr. Er wirkt wieder ungeduldig, streicht über die Akte und verstaut sie ordentlich in seinem Koffer, als wollte er zur Nachtschicht ins Büro. Donnelly sieht Bloom an und nickt knapp.

Mit unverhohlener Entrüstung frage ich sie: »Was mache ich hier überhaupt?«

Nun übernimmt meine Chefin. Sie wuchtet ihren massigen Körper mit der graziösen Leichtigkeit der stark Korpulenten im Stuhl herum. Sie spricht knapp und sachlich, als sei ich ein Gefangener, dem die Rechte verlesen werden. »Der Staatssekretär für Justiz und der Generalstaatsanwalt für England und Wales haben heute die zeitweilige Verlegung von Patient RSH493 von der Coral-Station des Krankenhauses Rampton in die sichere Obhut von The Abbey genehmigt, unter meiner direkten Aufsicht. Die Anordnung des Justizministeriums ist durch das Gesetz über Amtsgeheimnisse geschützt, und jeder, der die Information in diesem Haus oder woanders weitergibt, wird strafrechtlich verfolgt. Haben Sie das verstanden?«

Patient RSH493. Ich kenne die Nummer. So wie jeder Zeitungsleser.

RSH ist die Abkürzung für Rampton Secure Hospital, die letzte medizinische Hochsicherheitseinrichtung, die Frauen aufnimmt. Dort gibt es die Patientin mit der Nummer 493.

Ms. A. Ogilvy.

Donnelly und Bloom sind aufgestanden. Automatisch erhebe ich mich ebenfalls. Mein Mund kribbelt ausgetrocknet.

»Nein«, sage ich. »Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht. Was soll das?«

Bloom sieht kurz zu Donnelly hinüber, dann sagt sie: »Amnesty International will beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Berufung einlegen, um die Freilassung von Anna Ogilvy wegen unmenschlicher Behandlung zu erreichen. Bevor es dazu kommt, müssen die Generalstaatsanwaltschaft und das Justizministerium sie wegen Mordes vor Gericht stellen, sonst riskieren sie, den Fall ganz zu verlieren.«

Ich verdaue die Information. »Das hießt, Anna Ogilvy muss in der Lage sein, der Verhandlung zu folgen. Um das zu können, muss sie …«

»Etwas tun, was sie seit vier Jahren nicht getan hat, nämlich aufwachen. Ja.«

Da ist er, der wahre Grund. Kurz denke ich an all die Horrorlektionen aus dem Geschichtsunterricht in der Schule: die halb verhungerten jugendlichen Rekruten im Ersten Weltkrieg, die man aus den Schützengräben holte, wieder zusammenflickte und später hinrichtete, weil man ihr Kriegstrauma für Feigheit hielt. Dieser Fall scheint mir eine unheimliche Ähnlichkeit damit zu haben. Ich bin Psychologe, kein Gefängniswärter.

»Ich behandele Menschen«, sage ich. »Ich verurteile sie nicht. Es gibt andere Experten für Schlafkrankheit, an die Sie sich wenden können.«

Donnelly wird es allmählich zu viel. »Haben wir schon. Seit Jahren fliegen wir erstklassige Berater aus Amerika, Europa, Asien und so weiter ein. Die Besten der Besten. Aber das Forschungsgebiet ist immer noch unterfinanziert, und die bisherigen Methoden haben sich leider als nicht erfolgreich erwiesen. Ihr Artikel, Dr. Prince, ist unser letzter Versuch.«

»Was soll die Frau hier?«

»Wenn Sie jeden Tag in Rampton auftauchen würden, sickerte das irgendwann an die Presse durch. Außerdem ist The Abbey die einzige Schlafklinik in London, die einen Fall dieser Art händeln kann. Sie kommen mit den strengen Vertraulichkeitsvorschriften klar. Wir haben keine andere Wahl. Ms. Ogilvy wird heute Nacht überführt, begleitet von einem Verbindungsbeamten der Polizei, und unter einem anderen Namen hier aufgenommen. Sie behandeln die Frau wie jede andere Patientin auch.«

»Man wird sie erkennen.«

»Vor vier Jahren vielleicht. Jetzt nicht mehr. Fast ein halbes Jahrzehnt Schlaf verändert einen Menschen.«

»Was ist mit den anderen Mitarbeitern?«

»Eine Krankenpflegerin aus Rampton wird die Gefangene begleiten und so tun, als käme sie von einer Leiharbeitsfirma. Sie sind ihr täglicher Ansprechpartner, während Professor Bloom den Kontakt zu uns hält und Ihre Bemühungen koordiniert. Ms. Ogilvy wird ihr Zimmer nicht verlassen. Sie werden niemandem erzählen, dass sie hier ist. Nur Ms. Ogilvys Familienmitglieder, mit denen Sie vielleicht auch zu tun haben werden, wissen Bescheid. Der Minister hat angekündigt, persönlich gegen jeden vorzugehen, der die Vorschriften in Bezug auf die vorübergehende Verlegung verletzt.«

Die Kühnheit der ganzen Geschichte macht mich schwindelig, ja wütend. »Das ist doch absurd! Sie können nicht ernsthaft glauben, dass Anna Ogilvy eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt! Oder machen Sie sich nur Sorgen um die Schlagzeilen?«

Donnelly springt nicht darauf an. »Erzählen Sie das mal den Familien der Opfer. Anna Ogilvy darf nicht entlassen werden, aber man kann sie auch nicht auf unbestimmte Zeit festhalten. Diese Geschichte muss ein Ende finden. Sie können die Geheimhaltungserklärung unterschreiben und nach Hause gehen, oder Sie können Ihre Theorien einer Prüfung in der Realität unterziehen. Sie allein entscheiden, Dr. Prince.«

»Und wenn ich es nicht schaffe, sie aufzuwecken?«, frage ich. »Was, wenn meine Theorie nicht aufgeht?«

Donnelly knöpft seinen Mantel zu. Er seufzt, erschöpft von den Ereignissen des Tages. Mit seinen kalten graugrünen Augen sieht er mich an.

»Dann wird Anna Ogilvy früher oder später frei sein, um erneut zu morden«, sagt er trocken.

5Ben

Die reinen Fakten des Falls Anna O. sind ziemlich unkompliziert. Ich glaube, das ist der Grund, warum sich alle so gut daran erinnern. Diese rohe Schlichtheit schockiert irgendwie.

Um 3.10 Uhr in der Nacht auf den 30. August 2019 fand man Anna Ogilvy, die fünfundzwanzigjährige Mitbegründerin der Zeitschrift Elementary und Tochter einer Ministerin des Schattenkabinetts, mit einem zwanzig Zentimeter langen Küchenmesser schlafend in ihrer Hütte auf einer Event-Farm in Oxfordshire. In der Nachbarhütte lagen die Leichen ihrer zwei besten Freunde: Douglas Bute, sechsundzwanzig, und Indira Sharma, fünfundzwanzig.

Die anschließende Leichenschau zählte zehn Stichwunden bei jedem Toten. Annas Fingerabdrücke waren die einzigen auf dem Messer, ihre Kleidung war blutbefleckt. Die rechtsmedizinische Analyse ergab eine Übereinstimmung zwischen den Spuren auf ihrer Kleidung und dem Blut der beiden Opfer. Die digitale Spurensicherung fand derweil auf Annas Handy eine WhatsApp-Nachricht mit einem Teilgeständnis, die abgeschickt wurde, bevor Anna in den Tiefschlaf fiel.

Anhand der fortgeschrittenen Leichenstarre wurde der Todeszeitpunkt um mehrere Stunden zurückdatiert. Für beide Opfer gab es keine Hilfe mehr, sie waren sofort ihren Verletzungen erlegen. DI Clara Fennel von der Abteilung Schwerverbrechen Thames Valley war die erste Beamtin auf der Farm, die den Tatort begutachtete. Sie fand Ms. Ogilvy, die noch ihre blutbespritzte Kleidung trug. Trotz mehrmaliger Versuche, die Verdächtige zu wecken, reagierte Ms. Ogilvy nicht, sondern schlief weiter und wurde später mit dem Krankenwagen ins John Radcliffe Hospital am Headley Way gebracht.

Alle Untersuchungen lieferten normale Ergebnisse. Sie lebte. Ihr Körper funktionierte. Die geheimnisvolle Krankheit, die ihren Tiefschlaf ausgelöst hatte, war nicht zu identifizieren.

Dennoch öffnete sie nie wieder die Augen.

Die öffentliche Reaktion erfolgte brutal schnell. Annas Mutter, Baronin Emily Ogilvy, trat mit sofortiger Wirkung von ihrem Posten als Innenministerin des Schattenkabinetts zurück und schied aus dem Oberhaus aus. Annas Vater Richard Ogilvy, ein international tätiger Fondsmanager, legte seine Pläne auf Eis, ein neues Büro in Manhattan zu eröffnen. Der Name des Falls leitete sich von Annas Social-Media-Account ab: @AnnaO. Mordverdächtige sind oft Männer mit niedrigem IQ, Blumenkohlohren und einer üblen Vorgeschichte von häuslicher Gewalt. Anna O. war jung, weiblich, bestens ausgebildet und bereits als Journalistin und Schriftstellerin bekannt. Die Story war der Traum jeder Klatschzeitung.

Schnell grub die Presse alles über Anna aus, was es zu erfahren gab: die Kindheit in einem schicken Haus im Londoner Stadtteil Hampstead, die Gerüchte von Drogenmissbrauch als Jugendliche, die auskunftsfreudigen Bekannten aus Oxford, die übrigen Mitarbeiter und Praktikanten von Elementary, der Zeitschrift, die Anna mit Indira und Douglas gegründet hatte. Wenn ich als Psychologe irgendetwas gelernt habe, dann dass bei allen Mordfällen, die im Fokus der Öffentlichkeit stehen, das Timing entscheidend ist. August war der perfekte Monat, mitten im Sommerloch. Einige Monate später, und es hätte vielleicht niemanden interessiert.

Zu meinem Glück hatte Anna Ogilvy ihren Moment gut gewählt.

Bald spiegelten auch die Beinamen, die man ihr in der Presse gab, die Spaltung im Land wider. Wer an Annas Unschuld glaubte, nannte sie »Anna O.«. Bei denen, die von ihrer Schuld überzeugt waren, hieß sie »Dornröschen«. Doch niemand konnte den Blick von der Story abwenden.

Ehrlich gesagt: auch ich nicht.

6Ben

Die vier Etagen von The Abbey sind nicht alle gleich. Im Erdgeschoss befindet sich der Empfang, eine Hommage an den guten Geschmack und professionelles Interior Design. Im Keller sind Küche und andere Serviceleistungen untergebracht. Der erste Stock ist Akutfällen vorbehalten, wie wir sie nennen, den nachts eingeflogenen Patienten, die Hilfe bei schlafmedizinischen Problemen brauchen, ohne sich auf das ganze Programm einzulassen – Limousinen mit getönten Scheiben und Privatflüge zum City Airport.

Der zweite und dritte Stock hingegen gehört den wahrhaft Leidenden, jenen, deren Schlafprobleme ein normales Leben unmöglich machen. Den »Residenten«. Jeder dort residierende Patient hat sein eigenes Zimmer mit angeschlossenem Bad. Die Atmosphäre erinnert an eine Privatklinik. Den Residenten steht eine Auswahl an Gerichten und Büchern zur Verfügung, Zeitungen und Zeitschriften kommen auf Bestellung. Die einzige Ausnahme betrifft alles Digitale: keine Handys, keine Laptops, keine iPads. Auf den Etagen zwei und drei gibt es kein WLAN. Wir sind hier noch wunderbar analog, Relikt aus einer fernen Vergangenheit.

Das oberste Stockwerk ist dem Personal vorbehalten. Da sind die meeresgrünen Wände schon schäbiger. Statt Minimalismus herrscht hier Amtsflur-Eintönigkeit. Die Büros sind vollgestopft mit Unterlagen und Akten. In dieser Nacht stehe ich am Fenster von Blooms Büro und beobachte, wie Donnelly unten auf der Straße in einen schnittigen Regierungs-Jaguar steigt und von der laternenbeleuchteten Dunkelheit verschluckt wird.

Durch die alten Fenster zieht es kalt herein. Das ist in jedem Raum im obersten Stock so. Unvermittelt denke ich an die etwas ältere E-Mail in meinem Eingangsordner – eine Art Stellenangebot vom Vizekanzler des University College auf den Kaimaninseln. Er winkte mit der Aussicht auf eine Gastprofessur und der Möglichkeit, den dortigen neuen Graduiertenstudiengang Schlafpsychologie zu leiten. Dummerweise hatte ich abgelehnt und verregnete englische Straßen herrlichen Karibikstränden vorgezogen. Das Angebot bleibt ein leuchtendes Was-wäre-wenn, das mich an solch feuchten, windigen Londoner Abenden wie heute heimsucht.

Bloom und ich gehen in die Kantine am Ende des Ganges. Ich wasche zwei Kaffeebecher aus und fördere alten Käsekuchen aus einem kleinen Reisekühlschrank zutage. Wir essen ihn von Papptellern und kühlen den Instantkaffee in unseren Bechern. Wie immer verdrückt Bloom den größeren Teil des Kuchens. Ich begnüge mich mit den Krümeln.

Dann sagt sie: »Ich kann mir vorstellen, dass Sie Fragen haben.«

Ich habe immer Fragen. So war es von Anfang an.

Bloom holt eine schmale Aktenmappe hervor, ähnlich der von Donnelly, und schiebt sie über den mit Krümeln übersäten Tisch.

Widerwillig nehme ich sie entgegen. »Noch ein geheimnisvolles Dokument. Muss ich das auch erraten?«

Sie lächelt. »Wenn Sie möchten.«

Ich schaue auf den Ordner und sehe wieder das Wappen des Justizministeriums, dazu die Klassifizierung als höchst geheim. »NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH« steht in blutroten Großbuchstaben vorne drauf. Ich klappe den Ordner auf und sehe ein großes Foto. Es zeigt eine Patientin in einem Morgenrock in einer Art Krankenhausbett, im Hintergrund ein schlauchförmiger Klinikgang.

Das Alter der Patientin ist nicht zu bestimmen. Ihre Augen sind geschlossen, das Gesicht wirkt friedlich, aber nicht mehr jung. Ihre Haare sind frisch gewaschen und gekämmt, wirken wie vor kurzem geschnitten. Nur an den Wurzeln ist ein kleiner weißer Ansatz zu erkennen.

Es dauert einen Moment, bis ich begreife:

Anna Ogilvy.

Bloom beobachtet mich. »Ich habe genauso reagiert.«

»Donnelly hat die Wahrheit gesagt. Sie sieht …«

Es muss ein Fehler vorliegen, davon bin ich überzeugt. Damals, 2019, sprühte Anna Ogilvy nur so vor Energie. Sie besaß die Selbstüberschätzung einer Mittzwanzigerin, der noch alle Möglichkeiten offenstehen. Ihr Bild mit dem kecken Grinsen und dem Pixie Cut zierte zahllose Zeitungsbeilagen und Onlineprofile. Die Gestalt auf dem Foto ist mir im Gegensatz dazu fremd. Ihre Gesichtszüge haben etwas von einer Toten. Ihre Haare sehen aus wie eine Perücke. Der gesamte Körper wirkt alabastergleich, wie eine Puppe bei Madame Tussauds.

Ich schlucke meine Überraschung hinunter. »Sie sieht aus wie ein Geist.«

»Die Frau schläft seit vier Jahren. Sie ist praktisch ein Geist.«

»Was ist mit der Gehirntätigkeit?«

»Angeblich unverändert. EEGs und Ähnliches haben immer dasselbe Ergebnis. Den Untersuchungen zufolge befindet sie sich lediglich im Tiefschlaf. Nur dauert dieser Schlaf jetzt fast 1500 Tage an.«

»Hat sich überhaupt nichts verändert?«

»Blättern Sie zu Seite fünf!«, sagt Bloom.

Ich gehorche. Dort sind mehrere Graphiken abgebildet. Sie zeigen Annas Gehirnfunktion und ihre körperlichen Reaktionen. Normalerweise ist der Übergang in den Schlaf leicht ruckelig, das Aufwachen hingegen schlagartig. Die Ergebnisse des EEG sind normal, wie sie immer gewesen sind. Aber die körperlichen Reaktionen zeigen gegen Ende einen leichten Anstieg.

»Wann war das?«

»Vor vier Wochen offenbar. Das einzige Mal. Auf den Monitoren war abzulesen, dass die äußeren Einflüsse sie stärker stimulierten.«

»Könnte natürlich Zufall sein.«

Bloom schnieft wenig überzeugt und sagt: »Schauen Sie auf die nächste Seite.«

Ich blättere um. Noch immer fühle ich mich manipuliert, doch ich kann nicht anders. Dieser Fall fasziniert mich. Auf der nächsten Seite sind die ungewöhnlichen Ergebnisse noch detaillierter aufgeführt. Ich prüfe die Tage, dann die Wochen. Aus irgendeinem Grund wäre Anna vor vier Wochen beinahe aufgewacht. Die Kurve kann nicht anders gedeutet werden. Irgendwas ist da passiert.

»Gibt es eine Erklärung?«

»Nein«, sagt Bloom. »Zumindest konnte das medizinische Personal keine finden.«

»Also ein Rätsel.«

»Eines von vielen.«

Blooms vibrierendes Handy durchbricht die Stille. Sie geht dran, hört zu, brummt mehrmals zustimmend und beendet das Gespräch. Es ist seltsam, Bloom ausnahmsweise in der Rolle der Untergebenen zu sehen, die vor einer höheren Autorität kuscht.

»Sind sie da?«

»Voraussichtlich in fünf Minuten.« Bloom steht auf. »Lesen Sie den Rest der Akte, wenn Sie mal Zeit haben. Da steht alles zu den Decknamen drin, die wir für sie benutzen. Außerdem ein paar Kontakte für den Notfall, sollte es mal etwas eng werden.«

Ich spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht. »Wie: eng?«

Bloom tut die Frage mit ihrer üblichen lässigen Handbewegung ab. »Falls Sie vor Ihrer Wohnung abgefangen werden. Oder in der U-Bahn verfolgt. Von Journalisten oder so. Die bekannten Vorsichtsmaßnahmen.«

Ich sehe mich mit einer Flasche saurem Wein in meiner kuscheligen Wohnung sitzen, wo ich mir nur Gedanken darüber machen muss, welchen Klassiker ich mir als Nächstes ansehe. Stumpf, ja, aber ungefährlich. »Was sagen wir den Kolleginnen und Kollegen?«

»Das Übliche.« Bloom hebt eine Aktenmappe auf und verlässt ihr Büro in Richtung Aufzüge. Ich folge ihr, trete in die Kabine. Sie drückt den Knopf fürs Erdgeschoss. Obwohl der Arzt ihr empfohlen hat, die Treppe zu nehmen, hält sie sich strikt an den Aufzug. Sport ist – wie Diäten – nur etwas für Normalsterbliche. »Ein A-Promi mit einer Krankenversicherungsklausel im Schauspielervertrag, die besagt, dass niemand von dem Schlafproblem erfahren darf, weil sonst die versammelte Anwaltshölle über uns hereinbricht. Höchsthonorar für mehr Privatsphäre und absolute Anonymität.«

Im zweiten Stock von The Abbey gibt es einen abgetrennten Bereich mit zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen für Patienten, die das »VIP-Paket« buchen: Hollywoodstars, CEOs börsennotierter Unternehmen – all jene, bei denen das Eingeständnis, schlafmedizinische Probleme zu haben, Einfluss auf die Märkte haben oder Versicherungsansprüche in Millionenhöhe auslösen könnte. London ist ein beliebtes Pflaster für Kunden aus aller Welt, die ihre Behandlung bei uns als einwöchige Sightseeingtour verkaufen. Wir haben speziell konzipierte Hinterausgänge und Signalstörer rund um den VIP-Bereich, die sicherstellen, dass keine Fotos verschickt werden können. Es gibt sogar separate Ess- und Trainingsräume, damit die Prominenten ausschließlich mit dem Personal in Kontakt kommen. The Abbey ist seit über zwanzig Jahren im Geschäft und beschäftigt die besten Anwälte für Datenschutz. Nie hat es auch nur ein Leck gegeben.

»Donnelly sprach von einem Verbindungsbeamten bei der Polizei. Jemand, den ich kenne?«

Bloom weicht meinem Blick aus. Der Aufzug bewegt sich nach unten, wir erreichen das Erdgeschoss. Schon immer war Schweigen ihre Bewältigungsmethode.

»Wer?« Ich trete in das schicke Foyer, in die hotelgleiche Helligkeit.

Sie dreht sich etwas weiter zu mir um, den Kiefer verräterisch angespannt. »In Anbetracht Ihrer Mitarbeit an dem Fall wurde beschlossen, dass die Kontaktperson bei der Met jemand sein sollte, der bereits zum Kreis der Vertrauten gehört. Tut mir leid, Ben. Es war von Anfang an ihr Fall. Ich hatte da nichts zu sagen.«

Wir erreichen die Eingangstür. Ich höre die Wagen draußen vorfahren.

»Sagen Sie bitte, dass das ein Witz ist.«

»Würde ich gern.«

Mir ist klar, dass nur ein Mensch in Frage kommt.

7Ben

Dieses Szenario haben wir beide versucht zu vermeiden.

»Ben!«

»Clara!«

»Du siehst gut aus.«

»Danke.«

»Nur ein bisschen runder geworden. Zu oft abends Fertiglasagne auf dem Sofa, was? Hast du neuerdings eine Schwäche für Kekse entwickelt, ja?«

»Immer schön, dich zu sehen. Wenn du mir bitte folgen würdest.«

In den abgesicherten VIP-Behandlungsraum im zweiten Stock gelangt man durch ein Labyrinth von Scannern. Wir bewältigen den Parcours schweigend und stehen dann vor dem Aufzug.

»Witze über die Figur? Dein Ernst?«

Clara – beziehungsweise DCI Fennel, nach ihrer letzten Beförderung – schaut nicht zu mir herüber. »Wir verhalten uns professionell, Ben. Da waren wir uns einig. Mir macht das genauso wenig Spaß wie dir.«

»Da hättest du mich fast getäuscht.«

»Du hast nicht auf meine Anrufe reagiert.«

Trotz allem fehlt sie mir. Aber das kann ich nicht sagen. Mir fehlt unser altes Haus in Oxford. Mir fehlt unsere Tochter Kitty, die zur Haustür läuft, wenn sie meinen Schlüssel im Schloss hört. Mir fehlen die trägen Sonntage im Bett mit der Zeitung, die goldenen Augenblicke der Freiheit ohne klingelnde Handys und der nächsten Schicht. Mir fehlt die Familie, die wir früher waren.

Seit unserer Scheidung gilt eine Sorgerechtsverfügung, durch die Clara allein über den Wohnsitz entscheiden kann und ich das Umgangsrecht habe, vor allem weil Clara das Haus behielt, bevor sie später nach London zog. Meinem Drängen auf gemeinsames Aufenthaltsbestimmungsrecht steht der Umstand entgegen, dass in meiner Wohnung in Pimlico ein zweites Schlafzimmer fehlt.

Ich kann mir keine größere Wohnung leisten; solange das so ist, wird Clara sich nicht auf die gemeinsame Ausübung des Wohnrechts einlassen.

Keiner von uns beiden will deswegen vor Gericht.

Wir erreichen den Eingang zum VIP-Bereich im zweiten Stock, zu dem noch ein anderer Zugang vom Haupttreppenhaus führt. Die Leute von der Gefängnisbehörde seiner Majestät haben bereits ganze Arbeit geleistet und die Gefangene/Patientin sicher in den für sie vorgesehenen Raum transportiert. Die Krankenpflegerin sieht sich gerade um. Der SCO19-Beamte der Metropolitan Police, gut getarnt in der Zivilkleidung einer Leiharbeitsfirma, macht sich mit dem Videoüberwachungssystem vertraut.

Ich tippe den Code für den VIP-Bereich ein und warte darauf, dass das Licht grün flackert. Durch das grelle Weiß wirkt hier alles viel klinischer, erinnert an ein Konferenzzentrum mit einem Hauch psychiatrische Anstalt. Wir stehen vor dem VIP-Zimmer.

»Vergiss nicht, womit du es hier zu tun hast«, sagt Clara.

»Mit einer Patientin, die meine Hilfe braucht?«

»Nein, mit einer Gefangenen, die bei beiden Opfern zehnmal zugestochen hat. Mach daraus keine Laborstudie für deine Psychotheorien! Weck sie auf, den Rest überlass uns.«

»Wenn du und das Justizministerium mich nicht bei meiner Arbeit stören …«

Clara verströmt wieder die alte Verachtung, als würden wir uns immer noch vor der Spülmaschine duellieren. Sie ist eine ranghohe Polizeibeamtin; ich bin freier Berater. Sie hat ihren Abschluss in Hendon mit Auszeichnung gemacht und einen Master in Angewandter Kriminologie aus Oxford. Ich bin Experte für Schlafmedizin mit einem Abschluss von der Fernuni und habe zehn Jahre Abendkurse hinter mir. Irgendwie wurden diese kleinen Unterschiede zwischen uns mit der Zeit immer größer, ein Kratzer, der sich zu einem Abszess auswuchs.

»Aber streng betrachtet ist sie noch keine Mörderin.«

»Zwei Menschen zu erstechen gilt bei dir nicht als Mord?«

»Solange eine Jury aus zwölf Männern und Frauen und ein in jedem Gericht dieses Landes anerkannter Richter nicht darüber entschieden haben, nein.«

»Reine Formsache.«

»Nein, Tatsache.«

»Herrgott nochmal, sie hat ihrer eigenen Familie eine Nachricht mit einem Geständnis geschickt!«

Jene zehn Wörter aus der WhatsApp-Gruppe der Familie haben fragwürdige Berühmtheit erlangt, wurden unzählige Male zitiert. Fast alle Dokus über Anna O. beginnen auf dieselbe Weise:

Es tut mir leid. Ich glaube, ich habe sie umgebracht.

Die meisten Menschen sind der Ansicht, dass die Frau bei Bewusstsein gewesen sein muss, um diese WhatsApp abzuschicken. Demnach hätte sie auch bei Bewusstsein gewesen sein müssen, als sie das Verbrechen beging. Schuldig. Aber nicht alle haben sich so mit dem Phänomen des Schlafs auseinandergesetzt wie ich. Menschen haben im Schlaf schon weitaus komplexere Dinge getan, als WhatsApp-Nachrichten zu verschicken.

»Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils. Das öffentliche Femegericht zählt nicht.«

»Du warst in der Nacht nicht auf der Farm, Ben. Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.«

Ich habe Berichte gehört. Ich kann mir nur vorstellen, wie entsetzlich es gewesen sein muss. Für Clara, für die Familie, für Anna selbst. Wäre sie nach der Tat aufgewacht, hätte der Anblick der beiden Leichen gereicht, um sie in einen immerwährenden Schlaf sinken zu lassen. Den Körper herunterzufahren. Aufgrund mentaler Überlastung.

Ich spüre den alten Schmerz, dieses Ziehen, das sich wie Liebe und Hass zugleich anfühlt. Ich möchte Clara so viel sagen, ich bereue so viel. Aber unsere Beziehung geriet schon deutlich früher ins Stocken. Es ist schwer, einen Anfang zu finden.

»Das war übrigens wirklich blöd von mir«, sage ich. »Letzte Woche, meine ich. Dass ich nicht auf deine Anrufe reagiert habe und Kitty nicht von der Schule abgeholt habe. Das hätte nicht passieren dürfen. Tut mir leid.«

Clara bleibt stehen, streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Beruhige sie am Wochenende einfach, ja?«, sagt sie, und ihre Stimme ist wieder ein bisschen freundlicher. »Seit sie diese Fotos gesehen hat, ist sie neben der Spur. Du hast einen besonderen Draht zu ihr, den ich nicht habe.«

»Das stimmt nicht.«

Clara lächelt traurig, dann schaut sie auf die Uhr. »Es ist fast zwei Uhr morgens, in weniger als sechs Stunden muss ich sie zur Schule bringen. Fangen wir an, ja? Es wird Zeit, dass du die neue Krankenpflegerin kennenlernst.«

8Ben

Harriet Roberts, die von der Sicherheitseinrichtung Rampton abgestellte erfahrene Krankenpflegerin, läuft im neu eingerichteten Patientenzimmer auf und ab.

»Wir versuchen, sie an Strukturen zu gewöhnen.«

»Zum Beispiel?«

Harriets Stimme hat eine gewisse Schärfe, wie die mancher Sportlehrerinnen früher in der Schule. Sie ist schmal und elfengleich, hat eichenholzbraune Haare, die ihre Schultern streifen. Ihr freundliches Gesicht passt nicht zu ihrer militärischen Körperhaltung, geschmiedet durch jahrzehntelangen disziplinierten Dienst auf Station. Die Klinik Rampton erinnert, wie Broadmoor, leicht an ein Gefängnisgebäude. Unschuld überlebt hier nicht lange. Nettigkeit wird einem ausgetrieben und durch Selbstschutzverhalten ersetzt.

»Die Vorhänge werden spätestens um acht Uhr morgens geöffnet. Das Licht wird um Punkt zehn gelöscht. Jeder Tag beginnt mit Muskelarbeit. Der zweite Teil des Tages ist der mentalen Stimulation gewidmet.«

»Was ist mit den Monitoren?«

»Was soll mit denen sein? Meine Anweisungen von ärztlicher Seite lauten: Kissen aufschütteln, den Kreislauf nicht absacken lassen, ein bisschen reden.«

»Aha.«

Ich habe sie irgendwie vor den Kopf gestoßen, vielleicht weil ich ihr diese Fragen gestellt habe. Das ist das Problem, wenn man Psychologe ist. Neurologen schauen auf einen herab. Von Psychiatern wird man belehrt. Und Krankenpflegerinnen machen sich über einen lustig. Der Verweis auf die ärztliche Seite ist kein Zufall. Andererseits hat Harriet Roberts nicht gerade einen beneidenswerten Job. Krankenpflegerinnen sind dazu ausgebildet, Menschen wieder gesund zu machen, nicht dazu, die Beine von Mordverdächtigen zu massieren. Ich frage mich, was sie nach Rampton verschlagen hat, warum sie nicht in einem normalen Krankenhaus arbeitet. Was treibt diese Frau dazu, die Ausgestoßenen der Gesellschaft zu versorgen, ihr Leben im Schatten von Gewalttätigen und psychisch Kranken zu verbringen?

Ich beschließe, sie danach zu fragen, trotz ihrer kühlen Art. »Und Sie begleiten die Patientin schon, seit sie eingeliefert wurde, richtig?«

Harriet nickt. »Seit über vier Jahren jetzt. Ich habe sie ununterbrochen gepflegt. Kaum zu glauben, dass so viel Zeit vergangen ist.«

Ich spüre einen gewissen Stolz in ihrer Antwort. Manche Menschen glauben, dies sei eine Arbeit wie jede andere. Nur wenige wissen zu schätzen, wie viel mehr es sein kann. Trotz ihrer zur Schau gestellten Gefühlskälte hat Bloom mir gezeigt, was wahres Engagement bedeutet. Nicht Worte, sondern Taten. »Das geht weit über jede Pflichterfüllung hinaus. Vier Jahre sind sehr beeindruckend.«

Harriet lächelt. Jetzt erkenne ich, sorgsam verborgen, einen Rest von Gefühl. »Das ist für mich nie ein normaler Job gewesen. Es ist eine Berufung. Dass sie sich nicht wehren kann, kommt wahrscheinlich noch hinzu.«

»Das heißt, Sie waren auch vor vier Wochen bei Anna, als sich diese Anomalien auf dem Monitor zeigten?«

Neuerlich interessiert sieht sie mich an. Dann seufzt sie. »Angeblich war es ein technisches Problem. Die Ärzte haben alles geprüft.«

Ich nehme das Zögern in ihrer Stimme wahr. »Hatten Sie denn eine andere Theorie?«

Harriet wirkt leicht beschämt. »Es klingt dumm, ich weiß, aber ich dachte, es könnte vielleicht an einem externen Stimulus liegen. Aber ich als Krankenpflegerin kenne mich natürlich nicht aus. Keiner der Ärzte hat das ernst genommen.«

»Was denn?«

»Ach, das ist albern.«

»Sagen Sie’s einfach!«

»Eine der neuen Putzfrauen hörte beim Arbeiten Spotify auf dem Handy und hatte die Zufallswiedergabe ausgestellt. Deshalb lief immer wieder dasselbe Lied. Das war das Einzige, was anders war als in den vergangenen vier Jahren.«

»Was für ein Lied?«

»Yesterday von den Beatles.«

»Wirklich?«

»Also, die Ärzte wollten nichts davon wissen. Sie meinten, das sei dummes esoterisches Geschwätz. Ich nehme an, sie wissen, wovon sie reden.«

»Neurologen, was?«

Harriet nickt, hat Hemmungen, schlecht über Vorgesetzte zu sprechen. »Mh-hm.«

»Gab es noch andere körperliche Symptome, die Ihnen aufgefallen sind?«

»Ja, die Augen. Die bewegen sich normalerweise nicht. Aber als die Musik lief, zuckten sie ganz leicht, ihre rechte Hand auch. Die Ärzte meinten, das wären nur unbewusste Muskelkontraktionen gewesen, das hätte nichts zu bedeuten. Aber ich habe es mehrmals gesehen.«

Ich nicke. »Ich kann hier weitermachen.«

Harriet beendet ihre Arbeit und entfernt sich vom Bett. »Gut. Ich schaue gleich noch mal herein. Wenn Sie was brauchen, haben Sie meine Nummer.«

»Alles klar.«

Die Tür fällt zu. Das schwere Schloss rastet ein. Es ist ein seltsames Gefühl, allein in dem Zimmer zu sein. Im Laufe der Jahre habe ich sämtliche Artikel über diesen Fall gelesen. Selbst jetzt gibt es noch regelmäßig Kommentare im Guardian oder in der London Review of Books, die das Gesamtphänomen Anna O. verdammen: ein Symptom für den männlichen Blick auf die Welt. Ein Mediengeschöpf. Die gefallene Frau. Die Wiedergeburt von Eva. Am Goldsmiths College gibt es gerade sogar ein Seminar über Misogynie, Mythos und Medien, das sich vor allem mit Annas Fall befasst.

Für viele Menschen ist der Mythos Anna O. in Wirklichkeit das genaue Gegenteil. Für sie ist Anna nicht der Bösewicht, sondern das Opfer. Ich stelle mir Claras Reaktion auf diese Theorie vor und ahne, dass ich sie ihr gegenüber nicht erwähnen sollte. Ich bin genauso schuldig wie alle anderen. Mein Haupteintrag bei Amazon lautet: Prince, Benedict, Anna O. und andere Geheimnisse der Psyche (Viking, 2021). Das Buch hat Bestsellerstatus, allerdings nur in Belgien.

Ich nähere mich dem Bett. Monitore flackern. Kabel winden sich. Schläuche sind ineinander verdreht wie ein Berg Spaghetti.

Nervös huste ich unter meiner Maske. Als Erstes fällt mir auf, wie klein Anna tatsächlich ist. Die von allen Medien verwendeten Fotos werden ihr nicht gerecht, jedenfalls nicht mehr. Hier liegt ein anderer Mensch als die rebellische Tochter einer Politikerin. Die Person vor mir ist verletzlich, ihrer gesamten Rüstung beraubt. Sie sieht viel älter aus, als jemand mit Ende zwanzig wirken sollte.

Anna O., wird mir klar, ist eine Fiktion der Regenbogenpresse. Anna Ogilvy hingegen ist eins fünfundsechzig groß und wog früher etwas über fünfundfünfzig Kilogramm. Laut Patientenakte hatte sie als Kind eine Mandelentzündung, als Jugendliche Pfeiffer’sches Drüsenfieber und brach sich in der zwölften Klasse das rechte Bein beim Hockeyspielen. Zur Zeit der Tat war sie fünfundzwanzig, relativ, wenn auch nicht übertrieben fit mit einem normalen Körperfettanteil und einem etwas überdurchschnittlichen Stoffwechsel.

Kurz und gut: Die gewählte Methode passte perfekt zu ihr. Bei Stichverletzungen braucht man eher Ausdauer als rohe Gewalt. Die bei beiden Opfern verwendete Waffe war ein Edelstahl-Tranchiermesser mit Kunststoffgriff und einer zwanzig Zentimeter langen Klinge. Zum Zeitpunkt der Tat konnte man es für knapp zwanzig Pfund käuflich erwerben. Die Klinge gleitet durch lebenswichtige Organe, als würde man Fleisch zerlegen. Allein die Zahl der Einstichwunden verlangt körperliche Anstrengung und legt nahe, dass sie wie im Rausch erfolgten.

Neben mir steht ein Hocker. Ich rücke ihn ans Bett und beobachte die Anzeige auf den Monitoren und wie die Schläuche zucken, wenn etwas hindurchläuft. Ich prüfe die Kameras und hole mein Handy heraus. Ich scrolle durch Spotify bis zu Yesterday, das ich ohnehin runtergeladen habe. Mein Zeigefinger im Handschuh klebt am gläsernen Display. Das Lied passt. Meine diagnostische Theorie – noch im Anfangsstadium und nicht bewiesen – fußt auf dem Einsatz kultureller Stimuli, um den Patienten durch Erinnerungen an glücklichere Zeiten aufzuwecken. Ich hatte schon Patienten, die auf ähnliche Auslösereize aus ihrer Vergangenheit reagiert haben: von ihrer Mutter gespielte Musik, alte Kirchenlieder, der Jingle einer beliebten Fernsehsendung. Jetzt klimpert die Akustikgitarre aus dem Lautsprecher. Ich halte Anna das Handy ans Ohr und beobachte sie, mein Blick wandert zwischen ihrem Gesicht und dem Monitor hin und her. Dann setzt der Gesang ein.

Erst mal passiert nichts. Die Linien auf dem Monitor verweigern jede Bewegung. Annas Kopf ruht still auf dem Kissen, in ihrem Gesicht ist keine Regung zu erkennen. Ich bin kurz davor aufzugeben, die Musik auszustellen und das Ganze als Irrtum abzutun. Vielleicht hatten die Neurologen doch recht. Doch gerade als ich auf Pause drücken will, sehe ich, dass Annas linkes Auge zuckt. Es ist so schnell wieder vorbei, dass ich es fast verpasst hätte und immer noch glaube, ich hätte mich getäuscht. Doch dann bewegt es sich erneut, genau wie die Krankenpflegerin gesagt hat. Der leiseste Kitzel des Erkennens, ebenso geringfügig wie überraschend.

Ich schiele zum Monitor hinüber. Die Linie schlägt schwach aus. Dieselbe unauffällige Reaktion, wie sie vor vier Wochen in der Patientenakte vermerkt wurde. Ich spiele das Lied noch zweimal ab, aber es passiert nichts mehr. Ich verdränge meine Enttäuschung.

Kurz danach kommt die Krankenpflegerin zurück. Ich stecke mein Handy ein. Streng genommen sind außer medizinischer Ausstattung keine elektronischen Geräte in den Räumen der Residenten erlaubt. Kurz frage ich mich, ob das Justizministerium das durchgängig überprüft, ob jemand in Whitehall jede Bewegung von mir überwacht. Schon bei der Vorstellung bekomme ich Gänsehaut.

»Sie muss jetzt essen«, sagt Harriet. Sie wirkt immer noch kurz angebunden. »War es hilfreich?«

»Ja«, sage ich und beschließe, ihr nichts von meinem Musikexperiment zu erzählen. Ich brauche mehr Zeit, um einzuordnen, was ich gesehen habe. Oder was ich meine gesehen zu haben. »Danke. Sehr hilfreich.«

Ich verlasse das Zimmer und gehe nach unten ins Erdgeschoss. Clara will gerade aufbrechen. Als sie mich kommen sieht, sagt sie: »Benedict Prince, Psychologe und Wunderheiler?«

Ich lächele. »Nicht mal ich bin so gut beziehungsweise so schnell. Sie schläft.«

»Warst du nicht versucht, schnell ein Selfie für deine Sammlung zu machen?«

Die Bemerkung erinnert mich an die dunkelsten Zeiten unserer Ehe. An die sechs Monate nach Kittys Geburt beziehungsweise daran, wie ich auf Claras Handy die Nachrichten an einen anderen fand. Ich denke an die furchtbaren Meldungen über Beamte der Met, die im Einsatz Selfies mit Leichen machten, an die hasserfüllten WhatsApp-Chats mit Mord- und Vergewaltigungsphantasien, und muss mich schütteln. Was Clara wohl jeden Abend mit nach Hause nimmt … Diese Frage ist einer der Gründe, warum ich das gemeinsame Aufenthaltsbestimmungsrecht will, nicht nur das Besuchsrecht an diesem oder jenem Wochenende. Ich bin fest entschlossen, alles zu tun, damit KitKat nicht ein weiteres Opfer des Berufs wird.

»Erzähl!«, sagt Clara. »Alle Ärzte behaupten steif und fest, Annas Zustand sei nicht neurologisch begründet. Alle durchgeführten Untersuchungen – EEG, CT, Blutlabor, Lumbalpunktionen, was du willst – sind ergebnislos. Wie kann ein gesundes Gehirn jemanden so lange schlafen lassen? Warum konnte bisher niemand den Bann brechen?«

Ich sammele mich und überlege, ob ich Clara von der Musiktheorie erzählen soll. Diese Fragen verfolgen uns schon lange. In jener verhängnisvollen Nacht vor vier Jahren war Clara gerade auf dem Rückweg von ihrer Spätschicht auf der Dienststelle Abingdon, wollte nur noch kurz duschen und dann ins Bett, als über Polizeifunk eine Meldung wegen eines Vorfalls außerhalb von Burford durchgegeben wurde. Sie war dem Tatort am nächsten und reagierte als Erste auf die Meldung. Statt nach Hause zu fahren, nahm sie den Umweg zum Hof und setzte sich an die Spitze der Ermittlung, bevor es jemand anderes tun konnte. Ihr Einstand als Ermittlungsleiterin. Dank des spätnächtlichen Einsatzes nahm ihre Polizeilaufbahn – und unser Familienleben – einen völlig anderen Weg.

»Weil nicht das Gehirn der Auslöser ist«, sage ich, »sondern die Psyche. Ein deutlich komplexeres Phänomen. Aber klar, dass ich das sage.«

»Als Nächstes erzählst du mir, dass alles auf ein Kindheitstrauma zurückzuführen ist.«

»Wäre eine Möglichkeit.«

Wir erreichen die Eingangstür und werden wieder förmlich.

»Ich dachte, du hättest heute frei?«, sagt Clara.

Wieder unterdrücke ich ein Gähnen. »Hatte ich auch.«

»Was ich gesagt habe, war mein Ernst: Sorg dafür, dass Kitty ein schönes Wochenende hat. In der Schule lief es in letzter Zeit etwas holprig. Sie braucht Unterstützung. Und sprich mit ihr über ihre Albträume.«

Es ist ein neuerlicher Schlag in die Magengrube. Ich war so versunken in meine eigenen Probleme – die Trennung, die Übergangslösung mit der Wohnung –, dass ich die Sorgen meiner Tochter nicht bemerkt habe. Deshalb spricht sie also nicht über ihre neue Schule. Früher einmal wusste ich alles über KitKat. Jetzt habe ich nur noch eine grobe Vorstellung von ihrem Leben.

»Ich hole sie morgen um halb vier ab.« Ich schaue auf die Uhr. »Besser gesagt, heute.«

Clara nickt. »Komm nicht wieder zu spät.«

Ich lächele gequält. »Keine Sorge, ich bin pünktlich.«

9Ben

Zu spät zu kommen ist eine vertraute Erfahrung für mich. Es ist die Konstante, die meine Schulzeit, die Uni und die ersten Schritte in der Arbeitswelt durchzieht. Aber diesmal fühlt es sich anders an. Als ich verschwitzt aus der U-Bahn-Station hetze, sehe ich schon vor mir, wie der Familienrichter seine Missbilligung vor sich herträgt wie im letzten Akt einer griechischen Tragödie. Mein Antrag auf ein gemeinsames Aufenthaltsbestimmungsrecht wird nicht wegen Betäubungsmittelmissbrauchs oder krimineller Vergehen abschlägig beschieden werden, sondern wegen meines miesen Zeitmanagements.

Doch es ist nicht der Richter, den ich letztlich fürchte, zumindest noch nicht. Es ist dieser gewisse Blick von Kitty. Man kann es emotionale Einschüchterung nennen, ja Erpressung. Ich bin derjenige, der die Macht, das Geld und die Autorität besitzt. Und doch kann ein einziger Blick meiner Tochter derart minderwertige Gefühle in mir auslösen, wie es kein Klassenlehrer, keine Ex-Freundin, kein Kollege und keine Kritikerin je vermocht hat. Natürlich wurde ich vorgewarnt, Vatersein sei keine Aufgabe für emotional verwundbare Menschen. Doch erst jetzt glaube ich den Leuten.

Vater zu sein ist wirklich eine übermenschliche Aufgabe.

Ich sehe, wie Kitty – oder KitKat, wie ich sie zu Claras großem Leidwesen immer nenne – einsam am Schultor steht. Ihre Turnsachen und der schwere Schulrucksack liegen zu ihren Füßen. Ihr Geigenkasten lehnt wackelig an der nächsten Mauer. Eine ihrer Lehrerinnen – Mrs. Raymond, wenn mich die Erinnerung nicht trügt, eine strenge Biologielehrerin mit Adlernase und leicht habichtartigem Blick – leistet Kitty Gesellschaft und schaut tadelnd auf die Uhr. Mit aus der Hose hängendem Hemd und offenem linken Schnürsenkel erreiche ich das Schultor. Diese beiden Symptome lassen meine Verspätung noch schlimmer erscheinen.

Ich bin im Büro eingeschlafen. Hatte die Augen kurz zugemacht, um einen Powernap zu halten, und war drei Stunden später aufgewacht. Der Arzt für Schlafmedizin hält ein Nickerchen. Die Ironie des Ganzen ist mir durchaus bewusst.

Blick auf die Uhr: 16.01 Uhr.