Annas geheimes Erbe - Julia Schreiber - E-Book
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Annas geheimes Erbe E-Book

Julia Schreiber

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Beschreibung

Esthers Leben gerät aus den Fugen, als ihre geliebte Großmutter Anna wegen ihrer Demenz in ein Pflegeheim muss. Beim Ausräumen von Annas Wohnung fällt Esther ein alter Verlobungsring in die Hände. Eingraviert ist aber nicht der Name ihres Großvaters, sondern der eines berühmten Schriftstellers: Wilhelm Reichart. War Anna etwa vor ihrer Ehe schon einmal verlobt? Und wieso hat sie ihr nie davon erzählt?

Da Annas Demenz immer schneller fortschreitet, kann sie Esther keine Antworten geben. Also macht die junge Frau sich selbst auf die Suche - unterstützt von dem zurückhaltenden, aber hilfsbereiten Literaturdozenten Jan. Gemeinsam tauchen sie ein ins Deutschland der 50er Jahre, wo die junge Anna voller Träume und Hoffnungen ihren Platz in der Welt sucht. Sie erfahren von einer enttäuschten Liebe und entdecken schließlich Annas geheimes Erbe ...

Julia Schreiber verzaubert mit ihrem neuen Roman alle Fans von atmosphärischen Familiengeheimnissen.

Alle Romane der Familiengeheimnis-Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

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Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Esthers Leben gerät aus den Fugen, als ihre geliebte Großmutter Anna wegen ihrer Demenz in ein Pflegeheim muss. Beim Ausräumen von Annas Wohnung fällt Esther ein alter Verlobungsring in die Hände. Eingraviert ist aber nicht der Name ihres Großvaters, sondern der eines berühmten Schriftstellers: Wilhelm Reichart. War Anna etwa vor ihrer Ehe schon einmal verlobt? Und wieso hat sie ihr nie davon erzählt?

Da Annas Demenz immer schneller fortschreitet, kann sie Esther keine Antworten geben. Also macht die junge Frau sich selbst auf die Suche – unterstützt von dem zurückhaltenden, aber hilfsbereiten Literaturdozenten Jan. Gemeinsam tauchen sie ein ins Deutschland der 50er Jahre, wo die junge Anna voller Träume und Hoffnungen ihren Platz in der Welt sucht. Sie erfahren von einer enttäuschten Liebe und entdecken schließlich Annas geheimes Erbe …

JULIA SCHREIBER

AnnasgeheimesErbe

1

Der Anruf kam, als ich in der Agentur saß und gerade mit dem vierten Kapitel beginnen wollte. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

Wenn ich einen komplizierten Text schrieb, schaltete ich mein Handy stumm und leitete das Bürotelefon für externe Anrufe um, damit ich nicht gestört wurde. Friederike, unsere Empfangsdame, wimmelte dann freundlich, aber eisern alle Anrufer ab und gab mir später die Liste derer, die ich zurückrufen sollte. Wenn man ein Buch mit dem Titel 5 Gründe, warum M&A-Projekte scheitern – und wie Sie Ihren Merger wirklich zum Erfolg machen schreibt, kann man keine Ablenkung gebrauchen.

Ich arbeitete in einer Agentur, die unter anderem Content Marketing anbot: Wir schrieben Blog-Artikel, Newsletter-Texte, Pressemitteilungen und eben auch Fachbücher. Die Agentur hatte ungefähr dreißig Mitarbeiter, und da ich schon ein paar Jahre dabei war, hatte ich einen gemütlichen Eckschreibtisch ergattert, etwas abseits von Whiteboards und Tischkickern, von Grünpflanzen umstellt und damit weitgehend nicht einsehbar. Ich hatte wenig direkten Kundenkontakt und konnte darum in Jeans, T-Shirt und voluminösen Loop-Schals ins Büro kommen, was mir sehr gelegen kam. Nur fürs Tischkickern nahm ich die Schals ab, aber allzu oft kam das sowieso nicht vor. Wie in den meisten Agenturen war der Tischkicker bei uns eher als innenarchitektonisch wertvolles Deko-Objekt zu sehen.

Als ich das erste Mal den Auftrag für ein Buchprojekt bekommen hatte (es hieß Personal Branding – der Shortcut zum C-Level, und nein, der Titel war nicht auf meinem Mist gewachsen), war meine Mutter entzückt gewesen. Endlich tat ihre Tochter mal etwas, von dem sie ihren Freundinnen erzählen konnte und das besser klang als ›irgendwas mit Marketing‹. Aber Stolz und Freude ließen ziemlich schnell nach, als sie begriff, dass sie sich meine Bücher niemals ins Regal stellen könnte, um sie Besuchern zu zeigen. Erstens würde mein Name nicht auf dem Titel stehen, sondern bestenfalls irgendwo im Kleingedruckten unter »Redaktion«. Und zweitens wurden solche Bücher nicht gedruckt, sondern nur digital veröffentlicht. Sie hätte das Buch kostenlos als PDF im Internet herunterladen können. Aber dazu hätte sie ihre E-Mail-Adresse preisgeben und einwilligen müssen, in den nächsten zwölf Monaten regelmäßig informative Newsletter aus einer Personalberatung zu bekommen. Ich gab gerne zu, dass das nur mittelmäßig verlockend klang.

Vielleicht sollte ich noch sagen, dass ich mich vorher noch nie mit dem Kauf oder der Fusion von Unternehmen befasst hatte, als ich mit dem Merger-Buch anfing. Mein Briefing bestand, wie meistens, aus zwei oder drei älteren Studien, die ich im Internet gefunden hatte, und einem ziemlich schlechten Fachartikel, den einer der Schlipsträger aus dem Kundenunternehmen letztes Jahr geschrieben hatte, den aber keine Zeitschrift hatte veröffentlichen wollen, weil er so langweilig war. Außerdem durfte ich den Geschäftsführer des Unternehmens per E-Mail interviewen. All das (plus zahllose Blog-Beiträge anderer Content-Agenturen zu dem Thema, die eine Suchmaschine ausgespuckt hatte) würde ich zu einem Buch zusammensetzen, das mit großzügiger Seitengestaltung und ein paar schönen Stock-Fotos auf etwa achtzig Seiten kam. Wir betonten immer, dass wir dabei auch den besonderen Stil aus anderen Veröffentlichungen des Geschäftsführers aufgreifen würden, aber meistens war es besser, wenn man das nicht tat. Ich machte diesen Job seit fünf Jahren, und ich machte ihn gut.

Nur dann nicht, wenn das Telefon klingelte. Mit einem unguten Gefühl im Magen nahm ich ab.

»Hallo, liebe Esther!« Es war meine Mutter, und sie klang hektisch. »Die Leute von der Kurzzeitpflege haben angerufen. Oma kann auf keinen Fall nach Hause entlassen werden.«

Meine Mutter nannte ihre Mutter immer Oma, obwohl ich seit vielen Jahren Anna zu ihr sagte. Im Gegenzug hatte meine Mutter immer betont, dass sie selbst von mir Marlene genannt werden wolle. In einem Anflug von Teenager-Rebellion hatte ich das als Kind verweigert und auf der Anrede »Mama« beharrt. Inzwischen waren die Fronten zementiert: Sie sagte immer noch Oma zu ihrer Mutter, und ich sagte immer noch Mama zu Marlene, obwohl ich dieses Jahr einunddreißig geworden war.

»Du musst das Luisenheim anrufen, da stehen wir auf der Warteliste. Und du musst es dir so schnell wie möglich anschauen. Ich kann das nicht machen, ich bin in Baden-Baden. In einer Stunde fängt die Aufzeichnung an, und morgen bin ich bei einem Möbelhaus-Koch-Event in Darmstadt.«

Meine Mutter schrieb Kochbücher, und sie war erstaunlich erfolgreich. In den letzten fünfundzwanzig Jahren hatte sie ungefähr zwölf Bücher herausgebracht, und sie wurde regelmäßig zu Vorabend-Kochsendungen eingeladen. Nicht zu den hippen Shows, wo hübsche junge Leute mit trendigen Haarschnitten um die Wette kochten, sondern eher zu den Sendungen der dritten Programme, wo ein flotter Moderator (Typ Schwiegersohn) zusammen mit einem grummeligen Profi-Koch (Typ Bud Spencer in weißer Schürze) gemeinsam ein klassisches Sonntagsessen zubereiteten und nebenher einen Gast interviewten. Zum Beispiel menopausenrot gefärbte Endfünfzigerinnen, die Kochbücher schrieben.

»Ich wollte Anna heute Nachmittag sowieso besuchen«, sagte ich vorsichtig, »da kann ich das mit ihr besprechen.«

»Nicht besprechen! Du musst ihr sagen, dass sie ins Luisenheim kommt. Aber sie hat es sowieso wieder vergessen, bis der Fahrdienst da ist. Das Wichtigste ist, dass du in dem Heim anrufst und sagst, dass wir den Platz sofort brauchen.«

»Okay, Mama.«

»Danke dir! Ich muss gleich weiter. Tschüs!«

Und weg war sie. Ich strich mir den asymmetrischen Pony aus dem Gesicht, den ich mir vor ein paar Wochen in mein blondes Haar hatte schneiden lassen und der sich immer noch ungewohnt und manchmal störend anfühlte. Seufzend starrte ich auf meinen Bildschirm, auf den linken, in dem der Textentwurf geöffnet war. (Die Seiten mit den Briefings lagen in einem wirren Fenster-Durcheinander auf dem rechten Bildschirm – das digitale Äquivalent zu einem sehr unordentlichen Schreibtisch.) Weiterschreiben oder nicht? Keine Chance. Ich speicherte ab und griff wieder zum Telefon.

Die Dame vom Luisenheim klang freundlich. Ja, Anna Dumont stehe auf der Warteliste, und ja, wenn es eilig sei, könne man ihr direkt nächste Woche ein Zimmer anbieten. Sogar eines der größeren, achtzehn Quadratmeter mit eigenem Bad und kleiner Loggia, sehr hübsch. Man könne es mit den vertrauten Möbeln der Seniorin einrichten, das sei gerade bei Demenz oft hilfreich.

Ich dachte an Annas Wohnung, achtzig Quadratmeter mit all dem, was sich in ihrem fünfundachtzigjährigen Leben angesammelt hatte. Im Geiste fing ich an, die Sachen durchzugehen. Was könnte man in ein einzelnes Zimmer mitnehmen? Ich fühlte mich ratlos. Mit der Dame vom Luisenheim vereinbarte ich, dass ich am nächsten Tag nach der Arbeit vorbeischauen und mir die Räumlichkeiten ansehen würde. Den Standardvertrag würde sie mir vorab zumailen, ebenso die Unterlagen für die Versicherung. Ich dankte ihr höflich und legte auf. Dann atmete ich tief durch. Das würde eine Menge Arbeit werden.

Für das Merger-Buch hatte ich keine Konzentration mehr. Ich nahm mir einen Blog-Artikel vor, den ich vor drei Wochen für einen IT-Kunden geschrieben hatte und in den ich nach zwei Korrekturschleifen nur noch ein paar kleine Ergänzungen einfügen musste. Dann fuhr ich meinen Rechner herunter und packte meine Sachen zusammen.

Friederike am Empfang sah mich mitleidig an, als ich an ihr vorbeiging.

»Sorry, dass ich den Anruf durchgestellt hab, aber deine Mutter klang ziemlich panisch. Ist etwas Schlimmes?«

Ich verzog das Gesicht. Ich mochte Friederike nicht besonders. Sie arbeitete nur an drei Tagen in der Woche in der Agentur, ihre restliche Zeit verbrachte sie damit, mit Ölfarben abstrakte Bilder zu malen, und zwar auf andere alte Bilder, die sie auf dem Flohmarkt kaufte. Ihre Werke waren sogar schon einmal in einer lokalen Galerie ausgestellt worden. Vermutlich hatte ihr das Einnahmen in der Höhe eines halben Teilzeitgehalts eingebracht, obwohl sie fast ein Jahr an den Bildern gearbeitet hatte – das fand ich irgendwie mitleiderregend. Eines der Bilder hing hier im kleinen Besprechungsraum, und wenn mal ein Kunde dort hineinkam (was selten passierte, weil die Kundenmeetings meistens im großen Besprechungsraum abgehalten wurden), dann erzählten wir mit einem Lächeln, dass unsere Empfangsdame die Künstlerin war. Das gab immer einen guten Gesprächsaufhänger.

»Meine Großmutter muss ins Pflegeheim. Sie hat sich doch kürzlich den Arm gebrochen und war jetzt in der Kurzzeitpflege im Altenheim. Aber dadurch ist ihre Demenz offenbar fortgeschritten, und jetzt muss sie in eine spezielle Einrichtung.«

Die Antwort klang knapp und sachlich. Von allen Menschen auf der Welt liebte ich meine Großmutter vermutlich am meisten (vor allem seit meine Beziehung mit Holger in die Brüche gegangen war), aber ich hatte keine Lust, vor Friederike in Tränen auszubrechen.

Sie nickte. »Dann viel Kraft für die nächsten Tage«, sagte sie, »es gab noch ein paar andere Anrufe, aber ich hab sie zurückgerufen und gesagt, dass du dich morgen meldest.«

Das war überraschend hilfreich.

»Danke«, murmelte ich und machte, dass ich davonkam.

2

Das städtische Altenheim, in dem Anna einen Kurzzeitpflegeplatz bekommen hatte, lag am Stadtrand. Ich konnte mit dem Fahrrad direkt von der Agentur dorthin fahren. Die Flure waren schäbig, aber die schräg stehende Sonne kam durch die Fenster herein. Ich war schon ein paarmal hier gewesen und fand inzwischen den Weg durch die einförmig aussehenden Gänge, ohne mich zu verirren: an dem Fenster mit der hässlichen Osterdekoration rechts, dann beim Wasserspender eine Treppe hoch, Zimmer 209.

Anna saß in einem Rollstuhl und las in einer Zeitschrift. Der Rollstuhl gehörte nicht ihr, sondern ihrer Zimmernachbarin Frau Ganter, aber weil Frau Ganter ohnehin nicht aufstand und sich der Rollstuhl leichter bewegen ließ als die Besucherstühle, hatte Anna ihn annektiert und ans Fenster geschoben. Sie war nicht besonders groß und eher zierlich (wie ich). Ihr weißes Haar war glatt und kurz geschnitten, und wie sie so mit ihrer Lesebrille dasaß, hätte sie als völlig gesunde Mittsiebzigerin durchgehen können. Als ich hereinkam, ließ sie die Zeitschrift sinken und lächelte mich an.

»Ach, da bist du ja. Meine Liebe! Sagst du mir noch mal deinen Namen?«

»Ich bin Esther. Marlenes Tochter. Deine Enkelin! Hallo, Anna!«

»Esther, ja richtig. Ich habe ihr gleich gesagt, dass das kein schöner Name ist. Aber sie wollte dich ja unbedingt nach einer Schriftstellerin benennen. Und dann sucht sie sich ausgerechnet Esther Vilar aus! Du bist trotzdem so ein nettes Mädchen geworden. Aber sie hätte sich auch eine Schriftstellerin mit einem schöneren Namen aussuchen können. Sylvia Plath zum Beispiel. Oder Isabel Allende!«

»Immerhin heiße ich nicht Ingeborg oder Herta«, gab ich zurück.

»War die Allende überhaupt schon berühmt, als du geboren wurdest? Von wem haben wir gerade gesprochen?«

»Von meiner Mutter. Von Marlene, deiner älteren Tochter.«

»Marlene. Richtig. Sag mir doch noch mal, wer du bist, Liebes.«

Ich hatte mich neben sie gesetzt, und sie tätschelte freundlich meine Hand.

»Ich bin Esther.«

»Esther, was ist Esther denn für ein Name? Egal. Es ist schön, dass du da bist! Wollen wir ein bisschen in den Garten gehen?«

Ich nickte. Die Gespräche mit Anna waren schon öfter so abgelaufen, und der Krankenhausaufenthalt hatte es nicht besser gemacht.

Ich half ihr auf, und wir machten uns auf den Weg. Sie schob noch den Rollstuhl zurück an das andere Bett. »Ihr Stuhl, Frau Ganter«, sagte sie betont laut zu der dort liegenden dösenden Gestalt, »so gut wie neu!« Warum sie sich den Namen ihrer Bettnachbarin merken konnte, aber nicht den ihrer Enkelin, entzog sich meiner Kenntnis, aber ich wusste inzwischen, dass ich es nicht persönlich zu nehmen brauchte.

Auf dem Weg in den Hof überholten wir noch die eine oder andere Person mit Gehstock oder Rollator. Anna war gut zu Fuß. Den Arm, den sie noch immer in einer Schlinge trug, hatte sie sich gebrochen, weil sie von einem Küchenstuhl gefallen war. Als wir sie fragten, warum sie überhaupt auf den Stuhl geklettert sei, stellte sich heraus, dass sie nach einem Marmeladenglas auf dem Küchenschrank gesucht hatte. Die selbst eingekochten Reineclauden, sagte sie. Meine Mutter kam nach einigem Nachdenken darauf, dass diese Reineclauden von einem Baum stammten, der im Garten von Jürgens Eltern gestanden hatte. Jürgen war der erste Ehemann von meiner Tante Ute gewesen. Ute hatte sich vor bald fünfundzwanzig Jahren von Jürgen scheiden lassen, und die letzte Reineclauden-Marmelade musste demnach ungefähr 1993 gegessen worden sein.

»Schau nur, die dicken Knospen der Narzissen!«, sagte Anna entzückt, als wir durch den kleinen Garten des Heims wanderten. »Bald ist es richtig Frühling. Dann können wir ein Picknick machen.«

Ich überlegte, was die Leute im Luisenheim von Picknicks hielten. Vielleicht könnte ich eine Picknickdecke einschmuggeln. Irgendein Pfleger würde mir schon dabei helfen, Anna wieder vom Boden hochzubekommen, wenn sie nach dem Picknick aufstehen wollte. Als ich klein gewesen war, hatten wir viele Picknicks gemacht, und irgendwie hatten wir diese Tradition über die Jahre aufrechterhalten. Jedes Jahr machten wir mindestens ein Picknick zusammen. Es hatte in meinen Teenager-Jahren Zeiten gegeben, in denen mir das peinlich gewesen war und ich mir lieber einen Finger abgehackt hätte, als meinen Freunden davon zu erzählen, aber ein Picknick mit Anna hatte einfach zu jedem Sommer dazugehört.

»Was macht dein Buch? War es nicht etwas über Unternehmensübernahmen?«

Dass Anna plötzlich wieder so klar war, riss mich aus den Gedanken.

»Es geht ganz gut voran. Ich bin schon beim vierten Kapitel. Da geht es darum, wie man die Unternehmenskultur der gekauften Firma am besten an die Strategie des Käufer-Unternehmens anpasst.«

»Und wie macht man das?« Wenn Anna sich einmal für etwas interessierte, wollte sie auch die Details hören. Ich erzählte ihr von den mageren Erkenntnissen der Studien, die ich hatte, und davon, wie ich die dünnen Inhalte in möglichst kompetent klingende Sätze packte. Sie lächelte.

»Das ist auch eine Kunstform, was du da machst«, sagte sie.

Ich mochte meinen Job. Zumindest meistens. Ich mochte ihn, weil er einigermaßen ordentlich bezahlt wurde und weil ich damit alle Leute Lügen strafte, die mir während meines Germanistik-Studiums eine Karriere als Discounter-Verkäuferin prophezeit hatten. Als Kunst bezeichnete ich ihn trotzdem nicht.

Es wurde Zeit, das zu sagen, was ich sagen musste.

»Anna, wenn du hier entlassen wirst, fahren wir ins Luisenheim«, sagte ich und gab mir Mühe, beiläufig zu klingen.

»Ins Luisenheim?«

»Ja. Dann musst du dich nicht mehr selbst um deinen Haushalt kümmern.«

»Ach so. Na dann, meinetwegen. Sieh nur, da sind schon die Tulpen aufgeblüht.«

Sie zog mich in Richtung des nächsten Blumenbeets, und ich sagte nichts mehr. Keine Ahnung, ob die Information zu ihr durchgedrungen war und ob sie sich in ihrem unzuverlässigen Gedächtnis festsetzen würde, aber ich hatte definitiv meine Pflicht getan.

Nach dem Besuch fühlte ich mich müde. Glücklicherweise befand sich gleich neben dem Gebäude ein Zeitschriftenladen. Zeitschriften munterten mich immer auf. Was gab es Schöneres als einen Feierabend mit einem Glas Weißwein, einem Teller Käsebrote und einem Stapel brandneuer Zeitschriften? Ich gönnte mir eine Neuerscheinung namens Happy Homing und die aktuelle Ausgabe von Colleen und radelte nach Hause.

3

Am nächsten Morgen hatte ich einen Termin mit Tommy, einem unserer Grafiker. Während ich im Besprechungszimmer auf ihn wartete, betrachte ich wieder einmal Friederikes Bild: ein altmodisches, leicht dilettantisches Landschaftsbild, auf das Friederike verschieden große Ovale gemalt hatte, jeweils in der Kontrastfarbe zu dem alten Motiv. Schräg. Aber immerhin ergab sich daraus eine fröhliche, leicht penetrante Buntheit, die im Kontrast zu dem ansonsten sehr minimalistisch eingerichteten Zimmer stand.

Happy Homing war eine Enttäuschung gewesen, eine dieser Zeitschriften, die man in zehn Minuten durchblätterte, ohne auch nur einen Artikel zu finden, den man aufmerksam lesen wollte. Dabei hatten die Teaser auf dem Titelblatt eigentlich interessant geklungen. Aber so etwas kam vor. Wenn ich ehrlich war, kaufte ich viel mehr Zeitschriften, als ich las. Dann und wann schloss ich ein Probeabo ab, um eines der Werbegeschenke zu bekommen, die es dafür gab. Ich kündigte die Probeabos immer sofort, aber ab und an gingen diese Kündigungen »verloren«, und ich bekam weitere Hefte und eine Rechnung zugeschickt, gegen die ich Einspruch erhob, was zwar immer funktionierte, aber für einen Haufen Ärger sorgte. Es war wohl eine Art Hassliebe, die mich mit den Zeitschriften verband.

Mit nur fünf Minuten Verspätung – ein guter Wert für einen Grafiker – kam Tommy herein. Er trug einen Hipster-Bart, der nicht so ganz zu seiner runden Künstlerbrille passte. Aber ich arbeitete gerne mit ihm zusammen, weil er gleichzeitig kreativ und pragmatisch sein konnte. Wir wollten gemeinsam das Titelbild für das neue E-Book besprechen, damit er mit den Entwürfen anfangen konnte.

»Es geht um Unternehmenszusammenschlüsse, verstehst du?«, erklärte ich. »Entweder ein Unternehmen kauft das andere auf, oder zwei Firmen fusionieren. Und was dabei alles schiefgehen kann.«

Er hob die Augenbrauen.

»Was kann denn dabei schiefgehen?«, fragte er.

»Alles Mögliche. Manchmal geht eines der beiden Unternehmen den Bach runter und wird kurze Zeit später aufgelöst oder für weniger Geld weiterverkauft. Oder die Unternehmen machen sich gegenseitig Konkurrenz, weil sie die gleichen Kundengruppen bearbeiten und sich nicht richtig abstimmen. Oder alle guten Leute gehen, weil sie keine Lust auf die vielen Neu-Organisationen haben. Erinnerst du dich an Daimler und Chrysler? Sie haben versucht, zwei Unternehmen zu vereinigen, die kein bisschen zusammengepasst haben. Am Ende wurde es ein Milliardengrab, und sie haben Chrysler wieder abgestoßen.«

»Stimmt, daran erinnere ich mich noch. Cool, wollen wir einen Autounfall auf das Cover nehmen? Ein Daimler und ein Chrysler, beide mit Totalschaden?«

Ich lachte. Seit zwei Wochen steckte ich in dem staubtrockenen Thema fest, und es war schön, dass Tommy es schaffte, daraus einen guten Witz zu machen.

»Bloß nicht. Die Unternehmensberatung will ja zeigen, dass alles wunderbar klappt, wenn man nur rechtzeitig für ein paar hundert K ihre Hilfe einholt.«

»Logisch. Also ein Bild, das Vertrauen aufbaut. Wie wäre es mit einem klassischen Handshake?«

Er tippte ein paar Wörter in sein Laptop, und auf dem Monitor an der Wand des Besprechungszimmers erschienen Fotos von Menschen, die sich die Hand reichten. Ein älterer Anzugträger mit Krawatte gab einem jungen Anzugträger mit Krawatte die Hand. Ein älterer Anzugträger mit Krawatte gab einem jungen Mann ohne Krawatte, dafür aber mit elegantem dunkelblauen Hemd, die Hand. Ein älterer Anzugträger gab einem bärtigen älteren Mann im Arbeitsoverall die Hand. Ein älterer Anzugträger mit Krawatte gab einem jungen Anzugträger asiatischer Abstammung die Hand.

Wir starrten einen Moment auf den Bildschirm.

»Haben wir den da mit dem Gebäude im Hintergrund nicht schon mal verwendet? In dem Content-Blog, in dem es um private Geldanlage gegangen ist?«, fragte Tommy zweifelnd.

»Ich bin mir nicht sicher. Es könnten auch die beiden mit der Glastür im Hintergrund gewesen sein«, überlegte ich. »Aber den Typ mit dem blauen Hemd habe ich garantiert schon mal in irgendeiner Werbung gesehen.«

»Okay, vergiss die Schlipsträger. Uns fällt etwas Besseres ein.« Ein Klick, und die Fläche auf dem Bildschirm war wieder weiß.

»Es geht ja darum, die einzelnen Teile der Unternehmen zusammenzuführen. Wie wäre es mit einem Puzzle als Motiv?«, schlug ich vor.

Auf dem Bildschirm erschien ein stilisiertes Puzzle: drei zusammengefügte Teile und ein viertes, das schräg danebenlag.

Tommy verzog das Gesicht. »Puzzles habe ich schon als Kind gehasst. Es ist fies, ein schönes Foto so zu zerschneiden. Außerdem ist es ein langweiliges, undynamisches Bild.«

Er löschte das Puzzle wieder – es hatte wirklich langweilig ausgesehen – und dachte nach.

»Wie wäre es mit so was?« Nun erschien ein Wegzeiger mit zwei Pfeilen auf dem Monitor. Der eine Pfeil zeigte offenbar in Richtung ›Erfolg‹, der andere auf ›Scheitern‹.

»Eigentlich ganz hübsch«, überlegte ich. »Der Titel ist ohnehin so lang, dass du kaum mehr Bild unterkriegen wirst.«

»Wie soll es noch mal heißen?«

Ich diktierte, und nun stand da 5 Gründe, warum M&A-Projekte scheitern – und wie Sie Ihren Merger wirklich zum Erfolg machen.

Tommy verschob den Wegzeiger so, dass der Erfolg-Pfeil genau an der richtigen Stelle im Text saß.

»Ein bisschen Feinschliff braucht es noch. Ich versuche es mit ein paar verschiedenen Pfeilen. Aber damit können wir ins Rennen gehen, oder? Wie heißt der angebliche Autor?«

»Dr. Michael Kleinknecht«, antwortete ich. Das war einer der Geschäftsführer der Beratungsfirma, die unser Auftraggeber war. Das E-Book sollte nicht nur Content für die Marketing-Kampagne sein, sondern auch seinen Ruf als Experte zementieren.

Tommy setzte den Namen über den Titel und probierte verschiedene Schriftgrößen aus.

»Witzig, du veröffentlichst immer unter männlichem Pseudonym«, bemerkte er.

»Da stehe ich in großer Tradition«, gab ich trocken zurück, »Currer Bell, George Sand, J.K. Rowling, Dr. Michael Kleinknecht.« Immerhin hatte ich an der Uni auch ein paar Semester Literatur studiert.

»J.K. Rowling sagt mir was«, murmelte Tommy, veränderte noch einmal die Schrift und lehnte sich dann zurück.

»Na, was meinst du?«

»Sieht viel zu schick aus für so ein langweiliges Buch«, sagte ich. »Danke, Tommy! Mailst du mir morgen das PDF? Dann gebe ich es mit den ersten Kapiteln an den Kunden weiter.«

»Und dann wird er sicher sagen, dass sein Name größer gesetzt werden muss. Ich kenne diese Typen! Sei so gut und rede es ihm aus.«

Ich versprach, mein Bestes zu tun, und ging dann zurück zu meinem Schreibtisch. Unter Zeitdruck zu arbeiten war nicht einfach, aber mein Zeitplan sah vor, dass ich heute Vormittag das vierte Kapitel fertig schrieb, damit ich nachmittags im Pflegeheim vorbeifahren konnte. Missmutig starrte ich auf die Tastatur. George Sand hatte angeblich in ihrem Leben hundertachtzig Bücher verfasst, wie hatte sie das nur gemacht? Da kam es mir leichter vor, zwei Automobilfirmen zu fusionieren. Aber es half nichts. Inzwischen kannte ich die Tricks, mit der ich der Schreibunlust eins auswischen konnte. Ich gab mir noch fünf Minuten Pause, um mir einen gesüßten Latte macchiato aus der Kaffeeküche zu holen, gönnte mir einen genüsslichen ersten Schluck und tippte dann weiter.

4

Um sechzehn Uhr hatte ich den Termin mit der Pflegeheimleitung vereinbart. Das Heim befand sich direkt in der Altstadt, ein großer, alter Gebäudekomplex, in dessen Innenhof ein paar riesige Platanen standen. Ich fand den Eingang, meldete mich an der Rezeption an und wurde gebeten, mich noch für eine Viertelstunde ins Café zu setzen.

»Dann können Sie gleich unsere Kuchen ausprobieren«, meinte die Empfangsdame in einem nicht unsympathischen Versuch, die Verspätung ihrer Chefin nett umzudeuten, »die haben immer ganz ausgezeichnete Kuchen da.«

Ich nickte ihr zu und folgte der Ausschilderung zur Cafeteria. Sie hatte den Charme eines Bahnhofsrestaurants, nur dass an den großen Fenstern farbenfrohe Basteleien klebten, eine Mischung aus Traumfänger und Papierblumengesteck. Schwer zu sagen, ob sie von den alten Leuten gebastelt oder von einem Kindergarten gespendet worden waren. An der Theke holte ich mir ein Stück Aprikosenstreusel und eine Tasse pechschwarzen Kaffee, der aus einer großen Warmhaltekanne gezapft wurde. Beides kam auf ein Plastiktablett, und ich suchte mir an einem der langen Tische einen Platz am Fenster. Die meisten Tische waren leer, nur einer war für eine größere Anzahl Personen hübsch gedeckt. An der Mitte der Längsseite saß eine kleine, zusammengesunkene Person in einem roten Seidenkleid, anscheinend eine Jubilarin. Während ich meinen Kuchen aß – er war wirklich ziemlich lecker –, hatte ich Gelegenheit, die Partygäste zu belauschen.

»Alles Gute zum Geburtstag, Traudel«, sagte eine Frau, die sich gerade niederließ. Sie sprach sehr laut. Auf den Tisch stellte sie eine Flasche Multivitaminsaft, die mit einer Schleife verziert war. »Weißt du noch, wer ich bin? Ich bin die Gertrud! Geht’s gut heute?«

Zwei weitere alte Frauen saßen bereits am Tisch. Die eine war sehr korpulent und hatte dunkel gefärbtes Haar, durch das man die Kopfhaut sah. Die andere war mager und hatte einen weißgoldenen Pferdeschwanz.

»Fünfundneunzig wird die Traudel! Gesundheit ist das Wichtigste, so ist es doch«, sagte die Weißgoldene. Sie hatte eine krächzende, rauchgeschwängerte Stimme. Gertrud griff sich eine Thermoskanne, schenkte Kaffee daraus ein und verteilte Kuchenstücke von einer Platte. Es war derselbe Streuselkuchen, den ich auch aß.

Traudel nahm mit krallenartig verkrümmten Händen ihre Kaffeetasse und trank einen sehr kleinen Schluck. Ein Kaffeetropfen fiel auf das Seidenkleid und hinterließ einen dunklen Fleck.

»Fünfundneunzig wird sie«, sagte eine Frau, die offensichtlich Nadja hieß, mit Blick auf Traudel. »So alt will ich nicht werden. Mein Mann, der Rudi, der wurde sechsundachtzig. Der wurde auch alt. Aber nicht so alt. Mit sechsundachtzig ist er gestorben.«

»Ja, früher sind die Leute nicht so alt geworden«, sagte Getrud. »Meine Mutter war dreiundsiebzig. Dreiundsiebzig, und ich bin jetzt achtundsiebzig.«

»Meine Schwester ist letztes Jahr gestorben«, sagte Nadja.

»Ich hatte sieben Schwestern«, sagt Gertrud.

»Und alle sieben sind gestorben«, sagte Nadja.

»Nein, sind sie nicht. Die Hedwig ist gestorben«, sagte Gertrud.

»Woran?«, fragte Tina. Sie zündete sich eine Zigarette an, ohne auf die Rauchverbotsschilder zu achten.

»Vor drei Jahren. Nein, vor vier. Nein, vor fünf«, sagte Gertrud.

»Ich mach jetzt eine Diät«, sagte Nadja.

»Machst du nicht. Du isst doch Kuchen«, sagte Tina.

»Hedwig war die Fünfte von uns. Das fünfte Mädchen«, sagte Gertrud.

»Bei ihrer Geburt hat mein Vater im Krankenhaus angerufen. Aber er hat den Arzt falsch verstanden. Er dachte, es sei ein Bub. Er kam mit einem großen Blumenstrauß ins Krankenhaus.«

»Woran ist die Hedwig denn gestorben?«, fragte Tina.

»Meine Mutter hat gesagt, wieso kommst du mit Blumen. Und mein Vater hat gesagt, wir haben doch jetzt einen Buben. Und meine Mutter hat gesagt, nein, es ist ein Mädchen. Da hat mein Vater den Blumenstrauß auf den Boden geworfen und ist wieder gegangen.«

»Der Rudi wollte nie, dass ich Diät halte«, sagte Nadja.

»Krebs«, sagt Getrud. »Lungenkrebs. Dabei hat sie kaum geraucht.«

»So war das damals«, sagte Traudel. Sie lächelte und senkte den Kopf.

Ich hatte mit einer Mischung aus Panik und Faszination zugehört, und ich empfand so etwas wie Erleichterung, als endlich eine Frau mit einem professionell wirkenden Hosenanzug und praktischen Schnürschuhen den Raum betrat und zielsicher auf mich zukam.

»Frau Lahn? Margarete Maurer, ich bin die Leiterin der Einrichtung. Sie wollten sich ein Zimmer für Ihre Mutter ansehen, nicht wahr?«

»Frahm. Ich heiße Esther Frahm. Und ich bin die Enkelin«, sagte ich und fragte mich, ob ich so alt aussah. War es die neue Frisur? Eigentlich hatte der Friseur gemeint, sie sehe jugendlich aus.

»Natürlich, die Enkelin, Frau Flamm«, sagte Frau Maurer gleichgültig, »kommen Sie doch bitte mit! Sie können mir gleich ein bisschen über den alten Herrn erzählen, damit ich mir abseits der Krankenakte ein Bild von ihm machen kann.«

»Er ist eine Sie. Meine Großmutter«, murmelte ich, aber sie eilte schon geschäftig voran. Während wir auf den Aufzug warteten, versuchte ich etwas unzusammenhängend von Anna zu erzählen.

»Sie hat die letzten Jahre allein gelebt. Mein Großvater ist vor elf Jahren gestorben, er war ein lieber Mensch. Sie war immer geistig fit, aber in letzter Zeit hatte sie öfter mal Aussetzer. Seit ein paar Monaten vergisst sie immer meinen Namen, obwohl sie mich anscheinend erkennt. Als ich sie neulich besucht habe, hat sie mich gebeten, ein paar Rechnungen mit ihr durchzugehen, die sie nicht zuordnen konnte. Die Rechnungen waren allesamt sechs Jahre alt, sie stammten noch aus dem Jahr, in dem sie ihr Bad hat umbauen lassen. Sie konnte das Datum irgendwie nicht mehr erfassen. Aber dann ist sie wieder eine Zeit lang völlig klar und spricht davon, dass sie endlich mal den Flur tapezieren lassen will und solche Sachen.«

Frau Maurer nickte sachkundig. »Es ist typisch, Frau Glahn, dass die geistigen Fähigkeiten in unterschiedlichen Bereichen zurückgehen, während sie in anderen Bezügen noch leistungsfähig bleiben. Wir haben hier Senioren, die ihren eigenen Namen nicht mehr kennen, aber problemlos die Texte sämtlicher alter Schlager mitsingen können. Wie mobil ist sie jetzt nach der Hüftfraktur?«

Ich unterdrückte ein Seufzen.

»Es war der Arm, den sie sich gebrochen hatte, und der ist ganz gut verheilt. Sie ist mobil und kann sich auch selbst morgens fertig machen und anziehen. Es ist nur ein paarmal vorgekommen, dass sie nicht daran gedacht hat.«

»Darauf können wir ja künftig achten«, meinte Frau Maurer leutselig, »machen Sie sich keine Sorgen, Frau, äh, Frank! Die Routine eines Pflegeheims unterstützt die verbleibenden Fähigkeiten meistens. So, hier wären wir.«

Damit schloss sie eine Tür auf, und ich sah in das Zimmer hinein, in dem Anna die letzten Jahre ihres Lebens verbringen sollte. Achtzehn Quadratmeter, den kleinen Flur mit Einbauschränken vermutlich eingerechnet. Gegenüber den Einbauschränken, rechts neben der Zimmertür, ging es in ein behindertengerechtes Bad: Dusche und Klo mit diesen weißen Plastikgriffen, die mir immer ein Krankenhausgefühl vermittelten. Wenn man an den Schränken und der Klotür vorbeiging, stand man mitten im Zimmer.

Es war hell und sehr sauber. Strahlend weiße Gardinen verhängten teilweise die Fensterfront. Eine makellos geputzte Glastür führte auf das, was die Dame am Telefon als Loggia bezeichnet hatte: ein winziger überdachter Balkon mit hohem Geländer, auf den allerhöchstens ein einzelner Stuhl passte – es dürfte nur kein Liegestuhl sein. Egal, Anna würde es gefallen, eine Loggia zu haben. Sie saß gerne mit einem Buch in der Sonne, und von der Loggia blickte man direkt auf den Hof mit den Platanen hinunter.

An der Wand gegenüber den Fenstern stand ein Pflegebett, eines dieser Dinger, die vage an eine mittelalterliche Folterbank erinnerten. Mit Kabeln und Rohren und hochklappbaren Gittern.

Frau Maurer bemerkte meinen Blick.

»Ihre Frau Mama kann selbstverständlich auch erst mal ihr eigenes Bett mitbringen. Aber in der Anfangszeit hier sind viele Insassen verwirrt, sie schlafen unruhig und wissen nicht, wo sie sind. Ein gesichertes Bett schützt sie davor herauszufallen, das ist dann auch für Sie beruhigend, Frau Franz.«

Ich nickte und war mir für einen Moment selbst nicht so sicher, wie ich tatsächlich hieß. Die Sache mit dem Bett konnte ich vielleicht mit Anna besprechen, wenn sie einen ihrer hellen Momente hatte. Mir selbst kam das Pflegebett unheimlich vor, aber nach Krankenhaus und Kurzzeitpflege hatte sie sich vielleicht schon daran gewöhnt.

Ansonsten war der Raum unmöbliert. Die komplette Couchgarnitur würde man hier nicht unterbringen, aber das kleinere Sofa würde unter das Fenster passen. Ich könnte einen extrakleinen Couchtisch besorgen. An die andere Wand könnte man einen Teil des Bücherregals stellen. Anna besaß eine Menge Bücher, aber ich hatte den Verdacht, dass sie in den letzten Jahren die vier, fünf gleichen Romane immer wieder las. Und ewig singen die Wälder,Desirée,Dschamila und Sturmhöhe, einer davon hatte fast immer mit Lesezeichen auf dem Sofa gelegen. Wenn ich diese fünf auf jeden Fall einpackte, würde ich die Anzahl der sonstigen Bücher vermutlich weit genug reduzieren können.

Aber sie würde auch einen Esstisch brauchen, nahm ich an. Ob ihr Küchentisch links in die Ecke neben der Loggia-Tür passte? Ich war mir nicht sicher. Von Frau Maurer ließ ich mir die Maße des Zimmers geben und notierte in meinem Handy, welche Möbel ich vermessen musste. Dann sah ich mich noch einmal um. Es würde ein bisschen eng werden, aber ich hoffte, dass wir es ihr hier einigermaßen gemütlich machen konnten.

5

Als ich mich am Abend auf den Weg zu Annas Wohnung machte, wünschte ich, Selin wäre hier. Selin war seit dem Gymnasium meine beste Freundin. Obwohl sie ein anderes Studienfach gewählt hatte als ich (Wirtschaftswissenschaften), hatten wir gemeinsam studiert und sogar unser Auslandssemester zusammen in Irland verbracht. Selin promovierte dann, während ich mich über Praktika und Trainee-Stellen langsam ins Agenturleben vorhangelte. Letztes Jahr hatte sie eine Juniorprofessur ergattert, und wir hatten uns beide gefreut wie die Schneeköniginnen. Aber leider bedeutete das, dass uns nun sechshundert Kilometer trennten. Wir besuchten uns seither und schickten uns regelmäßig Kurznachrichten und unregelmäßig kleine Päckchen mit Geschenken, die die Freundschaft erhalten sollten, aber es stand leider außer Frage, dass sie kurz vorbeikam und mir bei der Vermessung von Annas Möbeln half.

Es war ein komisches Gefühl, Annas Wohnungstür aufzuschließen. Als Kind hatte ich immer geklingelt. Ich war oft nach der Schule hier gewesen und hatte mir mittags den Bauch vollgeschlagen. Anna kochte Dinge, die ich mochte: Würstchen mit Kartoffelpüree, Nudeln mit Butter und Dosengemüse, Hühnersuppe mit Reis. Sie liebte die Dinge, die das Kochen einfach machten: Püree-Flocken, Kochbeutelreis, Bratensoße aus dem Päckchen. Das meiste davon hatte ich längst aus meiner Küche verbannt, aber dann und wann machte ich mir heute noch einen Teller mit Fertigpüree, »Erbsen und Möhrchen extrafein« sowie einem dicken Klecks Butter, um ein tröstliches Kindheitsgefühl heraufzubeschwören.

Zu Hause hatten wir abends warm gegessen. Meine Mutter arbeitete damals halbtags in einer Redaktion, und nachmittags probierte sie Rezepte für ihre Bücher aus. Ihr erstes Kochbuch trug den Titel Leckerschmecker – gesunde Gerichte für die ganze Familie, und wen immer sie mit der »ganzen Familie« gemeint haben konnte, ich war es nicht gewesen. Die gesunden Gerichte definierten sich meistens durch eine Vollkorn-Komponente: Vollkornnudeln, Vollkornbrot, Naturreis. Dazu gab es fettarmes Fleisch oder Fisch und sehr bissfest gegartes Gemüse. Rote Beete spielte eine wichtige Rolle, weil sie auf den Fotos, die für Kochbücher so wichtig waren, immer großartig aussah.

Wenn ich mich heute über diese Küche beschwerte, erklärte meine Mutter triumphierend, dass es zahllose Familien geben müsse, in denen genauso gekocht werde, denn das Buch wurde immer noch aufgelegt. Ich hielt es für wahrscheinlicher, dass kein Mensch dauerhaft so kochte, sondern dass für zahlreiche Eltern allein der Besitz eines vitaminreichen Kochbuchs eine gesunde Ergänzung zu Pfannkuchen und Dosenravioli darstellte. Diesen Verdacht hatte ich aber schon lange nicht mehr laut geäußert. Und wie dem auch sei, wenn ich mich mittags bei Anna mit Nudeln und Kartoffeln satt gegessen hatte, konnte ich den Experimenten meiner Mutter am Abend gelassen entgegensehen.

Heute erwartete mich in Annas Wohnung kein anheimelnder Geruch nach gebratenen Würstchen, sondern nur leicht abgestandene Luft. Seit Wochen war niemand hier gewesen. Als klar wurde, dass Annas Rekonvaleszenz längere Zeit in Anspruch nehmen würde, hatten Mama und ich die Topfpflanzen gerecht unter uns aufgeteilt. Seither wucherten Annas Grünlilien in meinem Badezimmer munter vor sich hin.

Für einen Moment war ich versucht, in Annas Wohnzimmerschrank das Fach mit den Knabbereien und Süßigkeiten zu öffnen, wie damals als Kind, und mich mit einer Tüte Tierkeksen und der altmodischen Fernsehzeitschrift in die Sofaecke zu kuscheln. Aber ich hatte ja zu tun. Ich schaltete alle Lichter an und zückte meinen Meterstab. Der kleine Zweisitzer würde in das Pflegeheimzimmer passen. Der Couchtisch war zu groß, das hatte ich mir schon gedacht. Vielleicht könnte man das – im Moment leere – Blumentischchen dafür verwenden? Oder die alte Holztruhe, in der Anna ihre Tischtücher aufbewahrte? Oder … Himmel, es gab viel zu viele Möbel hier drin! Erst jetzt fiel mir ein, dass mit diesen Möbeln irgendetwas passieren musste. Das Pflegeheim war nicht billig, und es machte gar keinen Sinn, die Miete für diese Wohnung weiter zu bezahlen, wenn Anna niemals hierher zurückkommen würde.

Ich biss mir auf die Lippe. Meine Mutter hatte bestimmt nicht daran gedacht, den Vermieter anzurufen, geschweige denn eine schriftliche Kündigung einzureichen. Auch das würde sicher an mir hängenbleiben. Wie hieß er noch mal? Ich suchte mir Adresse und Telefonnummer aus Annas Adressbuch heraus, das ordentlich neben dem Festnetztelefon lag. Die Wohnung war gut geschnitten, vielleicht würde man zügig einen Nachmieter finden, sodass Anna nicht noch monatelang für die ungenutzte Wohnung zahlen musste.

Kurz fühlte ich mich von der Menge der Aufgaben überfordert. Konnte nicht irgendein kompetenter Erwachsener diese Sache übernehmen und dafür sorgen, dass nichts vergessen wurde? Aber wie es aussah, war ich nun die kompetente Erwachsene in dieser Familie.

Ich notierte mir die Maße der Möbel und machte eine Liste der sonstigen Dinge, die Anna mitnehmen könnte: Fernseher und Radiowecker, einige Bilder, ein bisschen Kaffeegeschirr fürs Zimmer.

Und weil niemand mich sah, öffnete ich danach den Wohnzimmerschrank und zog eine Packung Kekse heraus. Anna war irgendwann von den Tierkeksen auf eine »Kaffeegebäckmischung« umgestiegen. Die Fernsehzeitschrift hatte ich abbestellt, nachdem ich beim Abtransport der Zimmerpflanzen den vollgestopften Briefkasten fast nicht mehr hatte öffnen können. Stattdessen griff ich mir eine alte Illustrierte und machte es mir auf dem Sofa bequem. In meiner eigenen Wohnung hatte ich nie Kekse, am allerwenigsten eine Kaffeegebäckmischung.

Ich schickte Selin eine Textnachricht: Stehle gerade Kekse von meiner dementen Großmutter.

Es dauerte nur einen Moment, dann schrieb sie zurück: Mahlzeit. Und gleich danach: Ist A schon wieder zu Hause?

Nein. Sie kommt ins Luisenheim. Muss die Wohnung auflösen. Brauchst du einen Couchtisch aus Rauchglas oder eine Kiste voll Tischtücher?

Nur wenn sie extrem schön sind. Sie fügte einen Grinse-Smiley hinzu, und ich fühlte mich etwas besser.

Während ich viel zu viele von den Keksen aß, dachte ich darüber nach, wie ich vorgehen musste. Umzugskisten für die Dinge, die ins Pflegeheim kommen sollten. Große Müllsäcke für Altkleider und Bettwäsche, von denen es meiner Erinnerung nach mehrere Stapel gab. Ein paar der Möbel konnte ich vielleicht abfotografieren und über das Internet verkaufen oder verschenken. Und am Schluss brauchte ich einen Miettransporter, mit dem ich den ganzen restlichen Kram zur Deponie fahren konnte.

Die Schränke auszumisten könnte vielleicht sogar Spaß machen. Die große Tortenplatte mit den abstrakten Blumen hatte ich schon immer geliebt – jetzt war der Zeitpunkt, zu dem sie in meine eigene Wohnung umziehen könnte. Vielleicht würden noch andere Schätze meiner Kindheit auftauchen. Auch bei den Büchern gab es das eine oder andere, das ich gerne mitnehmen würde. Okay, also mindestens eine Umzugskiste für die Sachen, die ich selbst gebrauchen konnte.

Ich stopfte die restlichen Kekse wieder zurück in den Schrank und warf einen letzten Blick ins Zimmer. Über der Kommode hing Annas Hochzeitsfoto: Sie trug ein hochgeschlossenes Kostümjäckchen mit rundem Kragen. Opa Albert, schmaler und jünger, als ich ihn je gekannt hatte, im dunklen Anzug. Beide lächelten strahlend in die Kamera. Wenn Anna starb, war niemand mehr da, der sich an diesen Tag erinnern würde. Vielleicht war die Erinnerung jetzt schon im Nebel ihrer Demenz verloren gegangen. Alles, was bleiben würde, war dieses alte, nicht besonders scharfe Foto.

Schnell verließ ich das Wohnzimmer und zog die Wohnungstür hinter mir zu.

6

»Du hättest viel mehr Umzugskartons besorgen müssen«, sagte meine Mutter streng. Wir standen in Annas Wohnung mitsamt den Kartons, den Müllsäcken und ein paar zusätzlichen Koffern für Annas Kleidung.

»Wozu? Mehr als vier oder fünf Kartons passen ohnehin nicht ins Luisenheim.«

»Und die ganzen anderen Sachen? Hier, das schöne Tafelservice zum Beispiel. Und die Bücher. Und die Kaffeemaschine.«

Ich seufzte. Am Telefon hatte ich ihr erklärt, wie ich bei der Wohnungsauflösung vorgehen wollte, aber entweder hatte sie nicht zugehört, oder sie hatte es wieder vergessen. Beides war typisch für sie.

»Mama, in die Umzugskartons kommen heute nur die Sachen, die entweder in das Pflegezimmer passen oder die eine von uns mitnehmen möchte. Möchtest du das Tafelservice haben?«

»Ich? Auf keinen Fall, ich habe so viel schönes Geschirr. Aber du könntest es doch brauchen und endlich mal deine alten Ikea-Teller wegwerfen.«

»Ich will kein Tafelservice mit Goldrand, das ist nicht spülmaschinenfest. Entweder wir verschenken es, oder wir werfen es weg.«

»Aber das ist noch viel wert!«

»Dann stell es bei eBay rein.«

»Wieso denn ich? Du hast doch so viel Zeit, du kannst damit auf den Flohmarkt gehen. Samstags hast du doch sicher nichts vor.«

Ich seufzte noch einmal. »Ich hasse Flohmärkte. Meinetwegen kann ich das Service abfotografieren und bei der Free-your-stuff-Gruppe einstellen. Aber wenn es bis zum 24. keiner abholt, wird es mit dem Müll abtransportiert.«

»Das ist bestimmt viel wert«, wiederholte meine Mutter, richtete ihren Blick dann aber auf etwas anderes. »Sieh nur, dieses hübsche alte Radio! Das willst du doch sicher mitnehmen.«

»Wozu brauche ich ein Radio? Möchtest du es haben?«

»Ich habe eine Stereoanlage«, sagte meine Mutter pikiert.

»Also Elektroschrott«, kommentierte ich.

»Aber nein! Bestimmt kann das noch jemand brauchen. Stell es auch bei Free-your-Schrott ein oder wie das heißt.«