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Mit zunehmendem Alter ziehen sich Lord und Lady Arden immer mehr auf ihren Familiensitz Arden Hall zurück. Ihre erwachsenen Kinder sind alle versorgt und kämpfen nun selbst mit den Schwierigkeiten, die die Partnerwahl ihrer eigenen Nachkommen mit sich bringt. Vor allem Charlie und Sibyl müssen ihren Kindern ein ums andere Mal in Liebesfragen zur Seite stehen. Doch egal, was passiert: Die Familie hält zusammen. Und auch wenn es oftmals nicht so scheint: Trotz gesellschaftlicher Hindernisse und schwerer Schicksalsschläge ist die Liebe immer nur einen Herzschlag entfernt.
Diese romantische Familien-Saga erzählt von den Mitgliedern der Familie Arden, ihren Freunden und Nachkommen und begleitet sie auf der Suche nach Glück und der großen Liebe.
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Seitenzahl: 318
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Arden Hall – Vermächtnis der Liebe
Arden Hall – Zeiten des Schicksals
Mit zunehmendem Alter ziehen sich Lord und Lady Arden immer mehr auf ihren Familiensitz Arden Hall zurück. Ihre erwachsenen Kinder sind alle versorgt und kämpfen nun selbst mit den Schwierigkeiten, die die Partnerwahl ihrer eigenen Nachkommen mit sich bringt. Vor allem Charlie und Sibyl müssen ihren Kindern ein ums andere Mal in Liebesfragen zur Seite stehen. Doch egal, was passiert: Die Familie hält zusammen. Und auch wenn es oftmals nicht so scheint: Trotz gesellschaftlicher Hindernisse und schwerer Schicksalsschläge ist die Liebe immer nur einen Herzschlag entfernt.
Es sind die Happy Ends, die uns glücklich machen. Davon ist Julia Schreiber überzeugt. Von vielen wunderschönen Happy Ends erzählt sie in ihrem Erstling, der Familiensaga Arden Hall. Julia Schreiber ist 1974 geboren und lebt mit ihrer Familie in Tübingen in einem Haus, das nicht ganz, aber fast ebenso alt ist wie Arden Hall.
Julia Schreiber
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Clarissa Czöppan
Lektorat/Projektmanagement: Johanna Voetlause
Covergestaltung: www.bürosüd.de unter Verwendung von Motiven © www.bürosüd.de
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-9826-7
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Glück gibt es in vielen Formen und Größen. Das Glück der Liebenden fließt süß und golden wie Honig. Das Glück, das uns ein neugeborenes Kind beschert, wiegt schwerer als die ganze Welt, während das Glück der Freiheit leicht ist wie eine Feder.
Glücklich macht uns allemal auch, wenn eine Geschichte ein gutes Ende nimmt.
Anmerkung des Erzählers
»Ich hoffe, du weißt, was du zu tun hast«, sagte Anne streng zu ihrem Bruder. Charlie Colstone saß an dem großen polierten Schreibtisch seines Arbeitszimmers. Er legte die Zeitung, in der er gelesen hatte, als sie den Raum betreten hatte, beiseite und sah zu ihr auf. Sie war immer noch dieselbe: die Kleidung schlicht, das glatte braune Haar streng aufgesteckt. Die ersten grauen Haare – den vierzigsten Geburtstag hatte sie inzwischen hinter sich – waren bewusst nicht gefärbt worden. Doch das Kleid war aus einem erlesenen Stoff, und der schlichte Schnitt so perfekt ihrer Figur angepasst, dass sie trotz der scheinbaren Zurückhaltung eine sehr eindrucksvolle Gestalt abgab. Manchmal fragte er sich, ob sie im Geheimen nicht doch recht viel Zeit auf ihr Aussehen verwendete, um exakt diesen Eindruck hervorzurufen.
»Anne, meine Liebe, ich fürchte, es ist ganz gleich, was ich tue. Mills Vorschlag wird abgelehnt werden, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.« Er seufzte leicht und wusste selbst nicht recht, ob er den politischen Umstand bedauerte oder die Tatsache, dass er seiner eigensinnigen kleinen Schwester nicht helfen konnte.
»Dir wird kein Zacken aus der Krone brechen, wenn du für einen gescheiterten Vorschlag gestimmt hast«, stellte Anne fest.
»Das nicht gerade«, brummte er und fuhr sich durch das dunkelblonde Haar, das ebenfalls etliche graue Strähnen aufwies.
Sie durchmaß das geräumige Arbeitszimmer zweimal mit raschen Schritten, ein deutliches Zeichen dafür, dass das Thema sie ernstlich aufbrachte. »Die Frauen sind denselben Pflichten unterworfen wie die Männer, sie zahlen Steuern, sie müssen sich an die Gesetze halten, sie werden bestraft, wenn sie es nicht tun. Es ist ein himmelschreiender Unsinn, dass sie vom Wahlrecht und damit von jeglicher Politik ausgenommen sind. Und ich denke, du bist dir dessen bewusst«, sagte Anne.
Er zuckte mit den Achseln. »Anne, mein Herz, ich bin zutiefst davon überzeugt, dass du oder Sybil oder zahlreiche andere Frauen keine schlechteren Gesetze erlassen würden als irgendein Mann, in vielen Bereichen vielleicht auch bessere. Ich glaube nur nicht, dass die Zeit in England schon reif ist für diesen Antrag.«
»Dann wird es in ein paar Jahren einen weiteren Antrag geben, und wieder und wieder, bis die Zeit eben reif ist«, gab Anne zurück.
Vor nicht allzu langer Zeit war Charlie ins Unterhaus gewählt worden. Dieser Tätigkeit gelang es derzeit, ihm Jagd, Reisen, Tanz und andere einem Gentleman angemessene Beschäftigungen zu ersetzen, die ihm nicht mehr offenstanden, seit er im Rollstuhl saß. Sybil fand manchmal, dass er fast ein wenig zu beschäftigt war, zumal er nach wie vor die Investitionen der gesamten Familie besorgte. Aber ein reger Geist will beschäftigt sein, und Charlie stürzte sich mit Feuereifer in die politischen Debatten.
Auch ohne Annes Intervention hätte er sich möglicherweise dem Antrag auf das Frauenwahlrecht angeschlossen. Es war keines seiner zentralen Anliegen, aber in dem Bewusstsein, dass seine eigene Frau nicht nur sachlich fundierte Entscheidungen treffen konnte, sondern auch allen Auseinandersetzungen mit großer Gelassenheit und Klugheit begegnete, wäre er der Letzte gewesen, einem halbwegs gebildeten weiblichen Wesen solche Fähigkeiten abzusprechen.
Das sahen allerdings durchaus nicht alle Parlamentsmitglieder so. Wo man das Thema aufbrachte, wurde es heftig diskutiert, von Frauen beinahe ebenso hitzig wie von Männern.
»Die Frau ist von Natur aus dem Manne unterlegen, in Kraft ebenso wie in Verstand«, dozierte einer der älteren Herren, Lord Lloyd, ein paar Tage darauf bei einer Abendgesellschaft, »sie wird daher immer vom Mann abhängig sein. Diese Erkenntnis mag manche schmerzhaft treffen, aber es ist ganz eindeutig, dass zum Schutze unserer Nation die Frauen von den Wahlurnen ferngehalten werden müssen.«
Im Gedanken an seine Schwester – zum Glück für den Lord war sie selbst nicht anwesend – gab Charlie zurück: »Der Beweis, dass Frauen uns generell an Verstand unterlegen sind, steht noch aus, solange sie nicht die gleiche Schulbildung genießen wie wir. Es gibt doch in unserer Gesellschaft etliche Beispiele für äußerst kluge und gebildete Frauen.«
»Wir werden nicht das Wohl Englands aufs Spiel setzen, nur um diesen überflüssigen Beweis zu führen«, brummte Lord Lloyd.
»Was wird aus unseren Kindern, unseren Familien, wenn Frauen beginnen, sich mit etwas so Unweiblichen, so Niedrigem wie Politik auseinanderzusetzen?«, fragte Lady Lloyd, offenbar ehrlich besorgt über diese Frage.
»Frauen müssen mit den Auswirkungen der Politik ebenso leben wie Männer«, bemerkte Kate Colstone, Charlies älteste Tochter. Sie ging in dieser Angelegenheit mit ihrer Tante d'accord. Dies war für sich genommen ein ungewöhnlicher Zustand. Beide liebten es, lebhaft miteinander zu streiten. Anne hielt Kate vor, dass diese eitel und vergnügungssüchtig sei, Kate hielt dagegen, dass Anne sich für Bücher mehr interessiere als für ihre eigenen Töchter und dass sie einem jedes Vergnügen missgönne. Gemildert wurde dieser Streit durch beider Liebe zu Annes älterer Tochter Carrie, die Kate wie eine Schwester nahestand, und vermutlich auch von beider Freude an wortreichen, leidenschaftlichen Auseinandersetzungen.
Dass Kate genau an jenen Veranstaltungen, die Anne in ihrer Jugend zutiefst verachtet und abgelehnt hatte, allergrößten Spaß hatte, war unbestritten. Sie hatte das dichte braune Haar und die gefälligen Züge ihrer Großmutter Sarah geerbt, und ihr Eintritt in die Gesellschaft im vorigen Jahr war ihr ein Fest gewesen. Wie ihr Vater einst flirtete und tanzte sie gerne und ließ sich keine Gelegenheit zu diesen beiden Beschäftigungen entgehen. Doch sie verfolgte auch die Londoner Politik mit Interesse, und jene Frage der Wahlrechtsreform hatte sie auf eine Linie mit ihrer Tante gebracht.
»Es liegt in der Natur einer Frau, dass sie sich in wichtigen Fragen von ihren Gefühlen und nicht von ihrem Verstand leiten lässt«, erklärte Christopher Morecomb, Duke of Roxmond, mit dem Anstrich von Geduld und Verbindlichkeit, »dies gibt ihnen wie keinem Mann die Fähigkeit, Kinder aufzuziehen und für ein harmonisches Familienleben zu sorgen. Aber es hindert sie gleichfalls daran, sich sinnvoll an den rationalen Debatten des Parlaments zu beteiligen. Gleich ob es um Wirtschaft, Außenpolitik oder moralische Fragen geht, diese können nur von Männern endgültig beantwortet werden.«
»Eine jede Frau, die in der Lage ist, die Zeitung zu lesen, weiß so viel von Politik wie jeder beliebige männliche Wahlberechtigte. Und nach allem, was ich höre, geht es auch in unserem Parlament manchmal recht emotional zu«, schoss Kate zurück.
»Das ist für mich ein weiterer Grund, mich gänzlich von der Politik fernzuhalten«, sagte Lady Lloyd sanft. »Stellen Sie sich vor, ein Mann und seine Ehefrau wären sich in einer politischen Frage uneins. Der Frieden der gesamten Familie stünde auf dem Spiel!«
»So ist es besser, wenn sich eine Frau getrost darauf verlässt, dass ihr Mann die richtige Meinung vertritt und für sie entscheidet, welche Partei geeignet ist, die Interessen der Familie am besten zu vertreten«, fügte der Duke of Roxmond an.
»Sie sind noch nicht verheiratet, oder?«, bemerkte Charlie spöttisch. Der Herzog gehörte in politischen Debatten zu seinen schärfsten Widersachern. Er hatte den Titel schon als Kind geerbt und war somit sehr früh zu Macht und Einfluss und der Überzeugung gekommen, dass ihm diese Dinge vor allen anderen zustanden – ein reicher, gut aussehender Mann, der sich lieber selbst reden hörte, als anderen Gehör zu schenken.
»Man möchte fast meinen, jene Herren, die sich für ein Frauenwahlrecht aussprechen, stünden allzu sehr unter dem Einfluss ihrer Ehefrauen«, gab Roxmond giftig zurück, »bei Ihnen, Sir Charles, mag dies ja an Ihren unglücklichen Lebensumständen liegen ...« Lord Lloyd räusperte sich, um den jungen Hitzkopf zu bändigen, bevor er durch unangemessene Argumente der gemeinsamen Sache Schaden zufügte.
Charlie lachte nur, aber Kates Augen feuerten nun Blitze ab. »Erstens, Euer Gnaden, scheint mir Ihre Angst vor dem Einfluss der Frauen sehr emotional und damit Ihrer Rolle als Parlamentarier unangemessen, nicht wahr? Zweitens sollten Sie Ihr theoretisches Wissen über die Fähigkeiten und Ansichten der Frauen doch vielleicht damit untermauern, dass Sie sie um ihre Gedanken fragen – und wie sollte das besser vonstattengehen als bei einer Wahl!«
Mindestens ebenso hitzig rief der Herzog: »Sehen Sie? Lassen Sie eine Frau über Politik sprechen, und schon wird sie persönlich und unsachlich. Sie sind in Ihrer leichten Erregbarkeit doch selbst der beste Gegenbeweis für Ihre eigene Rede, Miss Colstone!«
Kate wollte zurückschießen, aber ihr Vater legte ihr sanft mahnend eine Hand auf den Arm, und sie besann sich. Anstelle einer scharfen Erwiderung schenke sie dem Herzog ein kühles, freundliches Lächeln, das seine Worte Lügen strafte und ihn einigermaßen aus der Fassung brachte. »Zumindest wurde hier einmal mehr der Beweis geführt, dass sich Politik nicht fürs Tischgespräch eignet«, sagte Lady Lloyd mit mildem Vorwurf. »Miss Kate, werden Sie am Freitag auf dem Ball von Lady Farrington sein?« Kate nickte, und die Dame fuhr freundlich fort: »Schließlich steht Ihnen bald eine Wahl bevor, die weit mehr als jede Entscheidung zwischen Tories und Whigs Ihr Leben beeinflussen wird – die Wahl eines passenden Ehemannes!«
Kate lachte. »Zumindest diese Entscheidung werde ich nicht dem britischen Parlament überlassen!«
»Ach, Lady Lloyd, Sie sprechen ein Herzensthema an«, meinte Charlie mit gespielter Verzweiflung, »beinahe ein Dutzend Wahlmöglichkeiten hat meine Tochter bislang gehabt, und dennoch konnte sie zu keiner Entscheidung kommen! Die Parlamentsdebatten sind wahrlich ein Kinderspiel dagegen.«
Lord Lloyd lachte, und der Duke of Roxmond, der sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund als Verlierer der Diskussion fühlte, blickte indigniert auf seinen Teller hinab.
Solche und ähnliche Diskussionen gab es in dieser Saison an verschiedensten Orten – auch dann noch, als John Stuart Mills Antrag auf Frauenwahlrecht zwar wie erwartet abgelehnt worden war, doch im Parlament überraschend viele Fürstimmen erhalten hatte. Es war nicht die einzige Gelegenheit, bei der Kate mit dem Duke of Roxmond aneinandergeriet. Sie machte es sich zur Gewohnheit, über sein hitziges Wesen und dessen Unvereinbarkeit mit einer parlamentarischen Arbeit zu sticheln, und er betonte mehrfach in ihrer Gegenwart, wie unweiblich es sei, sich mit Politik zu befassen, und wie unangemessen für eine Frau, ungefragt ihre Meinung zu irgendetwas abgeben zu wollen.
Bei einem Ball im August war dies allerdings anders. Kate lief Roxmond gleich zu Beginn der Veranstaltung über den Weg. Sie stand mit ihrer Cousine Carrie und einigen Freundinnen beisammen, und als sie merkte, dass er zu ihr hin sah, machte sie irgendeine politische Bemerkung, um ihn ein wenig zu provozieren. Aber er nickte nur grüßend und ging dann weiter. Kurz danach tauchte er aber doch wieder neben ihr auf. »Miss Colstone, darf ich Sie heute um einen Tanz bitten?«, fragte er beflissen.
»Ich weiß gar nicht recht, warum ich nicht abgelehnt habe«, flüsterte Kate danach Carrie zu.
»Das kann ich dir sagen: Weil du gerne mit gut aussehenden Männern tanzt«, meinte diese grinsend. Kate streckte ihr im Schutze ihres Fächers sehr undamenhaft die Zunge heraus, und beide Mädchen kicherten leise. Der Tanz selbst war eine eher schweigsame Angelegenheit. Roxmond machte ihr ein paar Komplimente, die in ihren Ohren bemüht höflich klangen. Sie selbst überlegte zwischendrin, ob nicht doch irgendein anderes Interesse bei ihm vorlag, ob er nicht irgendjemandem seine Höflichkeit gegenüber naseweisen jungen Damen demonstrieren wollte oder dergleichen. Sie spürte, dass viele Blicke auf ihr lagen. Das mochte aber auch daran liegen, dass er tatsächlich ein sehr gut aussehender Mann war, groß, aber nicht zu groß, mit dunklem Haar und markant geschwungenen Augenbrauen, und dass sie gewiss ein ausnehmend schönes Tanzpaar abgaben. Es war ihr nicht unangenehm, so im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Als die Musik aufhörte, verbeugte er sich höflich und verschwand rasch zwischen den anderen Gästen. Verwirrt ging Kate zu ihrer Cousine zurück. Carrie hob fragend die Augenbrauen.
»Er war – nett. Überraschenderweise«, sagte Kate zögernd.
»Vielleicht tut es ihm leid, dass er sich so oft mit dir gestritten hat«, bemerkte Carrie.
Kate zuckte die Achseln. »Wenn er erwartet, dass es mir auch leidtut, irrt er sich«, meinte sie trocken.
Aber das war offenbar nicht das, was Roxmond sich erwartete. Am übernächsten Tag trafen sie bei einer Teegesellschaft erneut aufeinander, und er nutzte die erstbeste Gelegenheit, sie anzusprechen. »Miss Kate, könnte ich einen Moment mit Ihnen reden?«, fragte er sehr höflich. Sie sah ihn erstaunt an, folgte ihm aber dann durch einen offenen Durchgang in einen Nebenraum.
»Was kann ich für Sie tun, Euer Gnaden?«, fragte sie ein wenig spitz.
Er zögerte eine Weile, kam dann aber anscheinend zu dem Schluss, dass es keinen Sinn ergab, um den heißen Brei zu reden. Knapp sagte er: »Miss Kate, ich möchte Sie bitten, mich zu heiraten.«
»Wie bitte?«, fragte Kate konsterniert.
»Sie haben mich richtig verstanden«, sagte der Herzog beherrscht, »ich wünsche mir, dass Sie meine Frau werden.«
»Wie kommen Sie nur auf diese Idee?«, fragte Kate nicht gerade sehr feinfühlig.
Er lachte kurz auf, als wüsste er gar nicht, wo er anfangen sollte. »Ich komme auf diese Idee, weil Sie eine hinreißend hübsche, bezaubernde und anziehende Frau sind, und weil mich der Gedanke an Sie bis in den Schlaf nicht loslässt.«
»Aber – wir haben uns bisher immer nur gestritten!«, wandte sie ein und fühlte sich reichlich überrumpelt.
»Das weiß ich«, antwortete er, »aber mir ist klar geworden, dass ich mich hundertmal lieber mit Ihnen streite, als mit irgendeiner anderen Dame freundlich Konversation zu machen. Kate, gerade jenes Feuer ist es ja, das Sie vor allen anderen Damen auszeichnet.«
Darauf fiel Kate keine Antwort ein. Immer noch fassungslos sah sie ihn an, während er wartete. »Geben Sie mir Bedenkzeit?«, fragte sie endlich.
»Selbstredend, so viel Sie benötigen«, sagte der Herzog zuvorkommend.
Endlich fand sie auch ihre guten Manieren wieder. »Vielen Dank für Ihren Antrag, Euer Gnaden. Ich ... ich fühle mich geehrt und werde darüber nachdenken.«
Sie knickste höflich und wollte gerade den Raum verlassen, als er ihr noch einmal nachrief: »Kate?«
»Ja, Euer Gnaden?«
»Sie mögen aus unseren Diskussionen den Eindruck gewonnen haben, ich müsse einen sehr dominanten, sich überordnenden Ehemann abgeben, und dass meine künftige Frau keinen eigenen Willen haben darf. Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass dies nicht der Fall sein würde.«
Sie hob die Augenbrauen. »Darf ich fragen, was diesen Gesinnungswechsel bei Ihnen ausgelöst hat?«
Er musste selbst einen Augenblick nachdenken. Dann antwortete er langsam: »Die Erkenntnis, dass ich eine solch fügsame, unterwürfige Frau niemals lieben könnte, während es mir bei Ihnen das Einfachste der Welt scheint.« Einen Augenblick lang sahen sie sich in die Augen, dann ging sie ohne ein weiteres Wort zu der Gesellschaft zurück.
Kate fühlte sich sehr verwirrt. Unerwünschte oder überraschende Anträge hatte sie bereits bekommen. Stets war es ihr gelungen, den Antragsteller freundlich, aber bestimmt abzuweisen. Ihre Mutter hatte sie beizeiten gelehrt, dass ein Heiratsantrag niemals ein Anlass für Spott oder Klatsch sein dürfe. Ach, Mama! Am liebsten hätte sie ihrer Mutter jetzt das Herz ausgeschüttet. Aber diese weilte bei ihrer Tante an der Küste. Kate erwog, ihr zu schreiben, aber wie sollte man solch verwirrende Gedanken, die sich kaum mit definierten Gefühlsbegriffen bezeichnen lassen wollten, in geschriebene Worte fassen? Letztlich suchte sie ihren Vater in seinem Arbeitszimmer auf. Sie setzte sich auf einen Sessel und schlug in kindlicher Weise die Beine unter.
Charlie sah von der Korrespondenz auf, betrachtete seine geliebte älteste Tochter und wartete, bis sie irgendetwas sagen würde.
»Der Duke of Roxmond hat um meine Hand angehalten«, sagte sie schließlich.
»Oha!« Charlie runzelte erst die Stirn, dann lachte er kurz. »Na, wenn ich darüber nachdenke, gibt es wohl keinen Grund, davon überrascht zu sein. Was hast du ihm geantwortet?«
»Dass ich darüber nachdenken werde.«
Aufmerksam sah er sie an. Er hatte sich fest vorgenommen, dem Mann, in den sich Kate irgendwann ernstlich verlieben würde, nicht den Schädel einzuschlagen. Dass niemals, unter keinen Umständen, irgendeiner gut genug für sie sein würde, war ihm klar. Was immer er dachte, sie würde ihre eigenen Entscheidungen treffen müssen, und er wollte sie nicht beeinflussen.
»Und das tust du nun?«, fragte er also sanft.
»Ich nehme an, er ist eine gute Partie«, sagte sie betont neutral.
Er verzog den Mund. »Kate, du bist eine gute Partie, und zwar für jeden Mann in diesem Land.«
Sie lächelte schwach. »Was würdest du mir denn raten, Papa?«
»Ich werde den Teufel tun, dir irgendetwas zu raten, mein Kind. Ich würde ihn gerne erschießen, weil er es gewagt hat, dich anzusehen, aber das sollte deine Entscheidung nicht beeinflussen.«
Ärgerlich über den Scherz winkte sie ab. »Ich wünschte, Mama wäre hier!«
Er lächelte ernst. »Deine Mutter würde dir eine einzige Frage stellen, die du kennst und die nur du beantworten kannst.«
»Und wenn ich die Antwort nicht weiß?«, fragte sie bedrückt.
»Dann solltest du vielleicht tatsächlich noch weiter darüber nachdenken«, schlug er vor. Sie betrachtete ihre Hände. »Kate, du weißt, gleich wie du dich entscheidest, wir werden hinter dir stehen«, sagte er.
Sie nickte. Dann meinte sie: »Er hat ein paarmal nicht gerade sehr höflich mit dir gesprochen.«
Charlie lachte. »Das stimmt. Zum Teil bringt das die Politik wohl mit sich. Aber wer wäre ich, dass ich einem jungen Burschen nicht verzeihen könnte, der sich manchmal im Ton vergreift?« Er wurde wieder ernst. »All das muss deine Wahl nicht beeinflussen. Es zählt nur, wie er sich dir gegenüber verhält – das jedoch solltest du sehr wohl in deine Entscheidung einbeziehen!«
Sie erhob sich und fasste die Hand ihres Vaters, um sie kurz an ihre Wange zu legen. »Ich muss wohl wirklich noch darüber nachdenken. Danke dir, Papa!«
Wer kann sagen, in welchem Moment das Herz eine Entscheidung trifft? Im Nachhinein mag es sich anfühlen, als wäre alles von Anfang klar gewesen – und doch muss es den Augenblick geben, den der Verstand, träger und wankelmütiger, hinterher nicht mehr benennen kann. Es dauerte drei Tage, bis Kate sich sicher war und Herz und Verstand in Einklang gebracht hatte. Danach wollte sie keine Sekunde mehr warten, sich mitzuteilen, und ließ sich vom Kutscher zum Stadthaus des Herzogs fahren.
Ein Diener führte sie in einen sehr vornehmen Salon und zog sich dann zurück. Noch bevor sie auch nur ihren Knicks vor dem Herzog machen konnte, fand sie sich schon in seinen Armen wieder.
»Kate!«, sagte er, sein Mund bereits an ihren Lippen, »Kate, Liebste!« Lachend löste sie sich, obwohl die Berührung nicht unangenehm gewesen war.
»Darf ich wenigstens noch Ja sagen, oder ist mein Recht auf Meinungsäußerung jetzt bereits verwirkt?«
Er errötete und fasste ihre Hände. »Eigentlich reicht es mir, dass du hier bist«, sagte er. In seinem Blick lag so viel Zuneigung, dass ihre Wangen nun ebenfalls rosig wurden. »Aber dazu bist du gekommen, nicht wahr – um Ja zu sagen?«, fragte er sanft. Sie nickte und fühlte sich ungewöhnlich scheu. Ihr wurde bewusst, dass sie mit ihm allein in seinem privaten Salon war – etwas, das einem jungen Mädchen aus guter Familie niemals passieren durfte. Sie hätte gar nicht unbegleitet hierherkommen dürfen.
Sehr zart nahm er nun ihr Gesicht in seine Hände. »Gestattest du mir einen Kuss?«
Noch einmal nickte sie, und nun senkten sich seine Lippen tatsächlich auf die ihren. Es war nicht ihr erster Kuss, aber er war sanft und gleichzeitig voller Leidenschaft und so süß, dass sie ihn sofort zurückgab. Nun schlang er doch beide Arme um sie, um sie fest an sich zu drücken. Sie spürte seine Zunge in ihrem Mund und musste nach Luft schnappen ob der Gefühle, die diese neuartige Berührung in ihr weckten. Sie hatte lange ihr Herz erkundet, ob sie Liebe für diesen Mann empfinden könnte, der so heißblütig streiten konnte und andererseits so klare Worte für seinen Antrag gefunden hatte. Dass diese Liebe sich nun so schnell ihren Weg bahnte, dass sie sie bis in die Fingerspitzen als glühendes Feuer empfand, hatte sie nicht vorhergesehen.
»Du ahnst nicht, was du mit mir gemacht hast«, murmelte er, »du ahnst nicht, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, dich in meinen Armen zu halten. Es gab keine Nacht mehr, in der ich nicht von dir geträumt hätte, und keinen Morgen, an dem ich nicht mit deinem Bild vor Augen aufgewacht wäre.«
»Christopher«, flüsterte sie, diesen Namen zum ersten Mal aussprechend. Er dankte es ihr mit einem weiteren Kuss. Wieder spürte sie seine Zunge in ihrem Mund, und diesmal gab sie sich der Berührung hin. Seine Hände glitten über ihre Schultern, ihren Rücken, ihre Hüften, und erst, als sie schon das Gefühl hatte, unter diesen Liebkosungen dahinzuschmelzen, presste sie ihre Hände gegen seine Brust, um sich zu lösen. »Christopher, wohin soll das führen?«, fragte sie atemlos.
»Ich möchte, dass du die Meine wirst, hier und jetzt«, raunte er, und seine Hände fuhren nun durch ihr dichtes, dunkelblondes Haar, »und sag mir nicht, dass du dies nicht willst, denn es wäre eine Lüge.«
Sie lachte schwach. »Kennst du schon wieder meine Meinung, ohne mich zu fragen?«
Er hielt inne und fing ihren Blick ein. »Spürst du etwa nicht die Erregung? Fühlt sich deine Haut nicht an, als ob sie brennen würde? Schlägt dein Herz etwa nicht schneller?« Sie errötete und wollte seinem Blick ausweichen, doch sanft nahm er ihr Kinn. »Kate, ich werde nichts gegen deinen Willen tun, aber, Liebste, das muss ich auch nicht.«
Mit einer Hand zog er ihren Kopf wieder zu sich, um sie zu küssen, während seine andere Hand hinunterglitt über ihren Hals, ihr Schlüsselbein und seitlich entlang ihrer Brust. Kate gab ihren Widerstand auf und ließ sich gegen ihn sinken. Nach einem weiteren langen Kuss schob er sie zu einem samtenen Sofa hin, sein Atem ging rasch. Wie erregt sie schon war, spürte Kate, als er mit einer Hand unter ihren Rock glitt und ihn nach oben streifte, seine Hand an der Innenseite ihrer Schenkel. Dann war die Hand in ihrem Schoß, und sie schloss stöhnend die Augen, während sein Daumen behutsam über ihre Scham strich, sie streichelte und rieb, bis sie keinen Atem mehr hatte und er sich endlich über sie schob.
»Jetzt bist du mein, und ich bin dein«, flüsterte er danach, während er sie mit beiden Armen an sich presste. »Verzeih mir, dass ich nicht warten konnte!«
»Ich verzeihe dir«, murmelte sie, »aber nur, wenn du jetzt nicht aufhörst.«
Am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe ließ sich Kate von Christophers Kammerdiener nach Hause fahren. Sie hatte nur geringe Hoffnung, dass ihre Abwesenheit unbemerkt geblieben sein könnte, und diese erfüllte sich nicht. Als sie sich an den Frühstückstisch setzte, sagte ihr Vater in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Katherine, ich möchte, dass du nachher sofort in mein Arbeitszimmer kommst.«
Die jüngeren Schwestern schwiegen, sie wussten nicht, was Kate angestellt hatte, aber der Befehl konnte nichts Gutes verheißen.
»Papa, ich habe mich verlobt«, begann sie rasch, sobald sie alleine waren.
»Unter einer Verlobung verstehe ich etwas anderes«, sagte er streng.
»Es tut mir leid, Papa«, sagte sie und versuchte, reumütig zu klingen, »er wird nach der Kirche hierherkommen und um meine Hand anhalten.«
»Ach ja? Und was soll ich dazu noch sagen, nachdem du offenbar bereits die Nacht bei ihm verbracht hast? Wo ist denn überhaupt seine rationale männliche Überlegenheit in moralischen Fragen geblieben?«
Kate konnte nicht anders, sie musste lachen und wurde gleichzeitig sehr rot, als sie an die zurückliegende Nacht dachte. Charlie presste die Lippen aufeinander, dann gab er auf und verzog kopfschüttelnd das Gesicht zu einem Grinsen.
Sie trat zu ihm. »Verzeih mir, Papa, dass ich dich enttäuscht habe!«, sagte sie schmeichelnd.
Er seufzte. Dann meinte er zögerlich: »Deine Mutter wäre gewiss besser geeignet für ein solches Gespräch – aber wenn du irgendetwas wissen willst ...«
Sie setzte sich nieder und blickte auf ihre Hände hinab. »Ich könnte schwanger sein, oder?«
»Das könntest du«, antwortete ihr Vater, »und es wäre ein Grund, mit der Hochzeit nicht allzu lange zu warten.«
»Wie kann ich das wissen?«, fragte sie kläglich, und er seufzte noch einmal.
»Wenn jene, ähem, monatlichen weiblichen Erscheinungen auftreten, weißt du, dass du es nicht bist«, meinte er, »das bleibt also einfach abzuwarten.«
»Kann man es verhindern, schwanger zu werden?«, fragte sie weiter.
»Ja, das kann man«, meinte er streng, »und zwar indem du solche Kapriolen bis zur Hochzeit bleiben lässt. Sollte das noch einmal passieren, werde ich dich für den Rest deiner Verlobungszeit zu deiner Tante nach Llandudno expedieren. Und glaub mir, das wäre schade. Verlobt bist du, so Gott will, nur einmal, aber ein gemeinsames Schlafzimmer könnt ihr für den Rest eures Lebens haben.«
Sie nickte kleinlaut. Er ergriff vorsichtig ihre Hand. »Bist du glücklich?«, fragte er sanft.
Anstelle einer Antwort zeigte Kate ihm ihr strahlendes Gesicht, und er seufzte ein weiteres Mal, diesmal mit einem Lächeln.
In diesem Moment klopfte es. »Der Duke of Roxmond, Sir!«, meldete der Diener.
Charlie hob die Augenbrauen. »Ich dachte, er will nach der Kirche kommen?«
Sie zuckte entschuldigend die Achseln.
Im nächsten Moment betrat der junge Mann den Raum und fand sich Vater und Tochter gegenüber. Während er mit wohlgesetzten Worten sein Sprüchlein anbrachte, betrachtete Charlie ihn ausgiebig. Das war er also, der Mann, für den seine Tochter sich entschieden hatte: Schön war er zweifellos, konservativ und hitzköpfig und im Augenblick immerhin angemessen verlegen.
Nachdem er geendet hatte, bemerkte Charlie: »Da es sich ohnehin um ein Fait accompli handelt, will ich meine formelle Zustimmung nicht hinauszögern, auch wenn ich dies sehr gerne mit Kates Mutter besprochen hätte, die ja Ihrer Meinung nach ohnehin für familiäre Belange zuständig wäre.«
Der andere war offenbar viel zu nervös, als dass er diese Spitze registriert hätte. »Vielen Dank, Sir!«, sagte er, verbeugte sich und begann über das ganze Gesicht zu strahlen, und mit einem Mal sah er glücklich, erleichtert und sehr jung aus. Es spricht für ihn, dass er wahrhaftig verliebt ist, dachte Charlie und war weitaus gnädiger gestimmt, als er fortfuhr: »Ich denke, alles Weitere können wir später besprechen. Wir wollten gerade zur Kirche fahren, begleiten Sie uns, Euer Gnaden? In ein paar Minuten brechen wir auf. Ein wenig moralische Erbauung wird euch beiden sehr guttun!« Mit diesen Worten verließ Charlie den Raum, um die beiden frisch Verlobten für einen kurzen Moment des Glücks alleine zu lassen.
Die Eltern des Herzogs, seine Mutter und sein Stiefvater, waren einigermaßen überrascht von der Verlobung. Charlie, der seine Tochter bei ihrem Antrittsbesuch dort begleitete, wurde von der verwitweten Herzogin mit einigen scharfen Fragen bombardiert, während Kate am anderen Ende des Zimmers mit Christophers jüngeren Schwestern Konversation machte.
»Auf welchem Internat war Ihre Tochter, Sir Charles? Kann sie singen? Spricht sie französisch? Sie ist hoffentlich noch jungfräulich?«
»Darüber kann kein Zweifel bestehen«, meinte Charlie, und man musste ihn sehr gut kennen, um die Ironie in seiner Stimme zu hören. Lady Wraggmold hörte sie nicht. Sie war bald recht angetan von der Anmut und Bildung ihrer künftigen Schwiegertochter und fast noch mehr von der hohen Mitgift, die sie zu erwarten hatte.
»Danke, dass Sie für mich gelogen haben«, murmelte der Duke of Roxmond verlegen, als er seinem künftigen Schwiegervater später in den Garten half.
»Eine Lüge mehr oder weniger wird bei mir altem Sünder keinen Unterschied machen«, antwortete Charlie gut gelaunt.
Christopher holte tief Luft. »Es tut mir weiterhin leid, dass ich Ihnen in so vielerlei Hinsicht Anlass gegeben habe, schlecht von mir zu denken. Nicht nur, weil ich eine Haltung vertreten habe, die ich nun selbst korrigieren musste. Weil ich unhöflich war. Und weil ich mich als so schwach und amoralisch erwiesen habe. Eigentlich«, er klang sehr zerknirscht, »wegen fast allem, was Sie von mir kennengelernt haben.«
Charlie grinste. »Das sind große Worte, junger Mann. Wir alle sind auf der Welt, um zu lernen. Wenn Sie gelernt haben, künftig höflicher, unvoreingenommener und moralischer zu handeln, habe ich mehr Grund, Ihnen Respekt zu zollen, als Ihnen etwas nachzutragen.« Er blickte zu Christopher auf. »Wir werden schon miteinander zurechtkommen«, sagte er und merkte plötzlich zu seiner eigenen großen Erleichterung, dass er davon tatsächlich überzeugt war.
Die beste Freundin von Sarah Colstone der Jüngeren, Charlies zweiter Tochter, hieß Amelia Whitfield. Ihre Mutter war auch eine Freundin von Sarahs Mutter Sybil, weswegen diese es sogleich begrüßte, als Mrs. Whitfield vorschlug, den beiden Mädchen sowie zwei Cousinen Amelias im Haus der Whitfields einen Tanzkursus angedeihen zu lassen, bevor sie im nächsten Jahr debütieren sollten.
Kann man sich etwas Alberneres, Kichernderes vorstellen als ein Grüppchen von vier fünfzehnjährigen Mädchen, die gemeinsam lernen sollen, wie man sich einem Kavalier gegenüber verhält? Eine erfahrene französische Gouvernante und ein russischer Tanzlehrer waren nötig, um die Mädchen halbwegs zu bändigen und dazu zu bringen, ihre Tanzschritte, Knickse und huldvollen Handbewegungen einzustudieren. Mit einem Wort: Sarah und Amelia hatten eine Menge Spaß bei diesen über mehrere Monate einmal in der Woche stattfindenden Treffen.
Neben dem Haus der Whitfields am Rande der Stadt befand sich eine Fabrik. »Was wird dort gemacht?«, fragte Sarah neugierig ganz zu Beginn des Tanzkurses. Das Backsteingebäude mit den hohen Kaminen hatte etwas Faszinierendes für sie.
»Nichts«, sagte Amelia.
»Wieso nichts?«, fragte Sarah.
»Die Fabrik ist nicht in Betrieb. Ein gewisser Mr. Maudley hat sie vor zwei oder drei Jahren erbaut, aber er wurde krank und starb, bevor dort je irgendetwas gefertigt werden konnte. Irgendetwas mit Maschinen und Metallteilen oder dergleichen. Ich glaube, die Maschinen darin sind nie fertig geworden.«
»Ich würde zu gerne einmal hineinsehen. Warst du schon einmal in dem Gebäude?«
»Nein, das dürfen wir auf keinen Fall. Mama sagt, die Maschinen sind gefährlich, und überdies sind die Türen alle mit Schlössern versehen«, gab Amelia mit Bedauern zurück. Dann rief der Tanzlehrer die beiden Mädchen vom Fenster weg, und der Unterricht begann wie immer mit der Entgegennahme eines höflichen Handkusses.
Nachdem die Mädchen schon etliche Wochen ihre Knickse geübt hatten, hörte Sarah eines Tages, als sie aus der Kutsche stieg, lautes Schlagen und Rattern aus der Fabrik.
»Mr. Maudleys Erben haben sich geeinigt. Ein gewisser Mr. Hammond, irgendein Cousin oder Neffe oder Großneffe von Mr. Maudley, soll die Fabrik endlich in Betrieb nehmen. Schon die ganze Woche lärmt er mit ein paar Arbeitern darin herum. Du wirst ihn nachher kennenlernen, Mama hat ihn zum Tee eingeladen, weil wir doch Nachbarn sind und dort drüben noch gar nichts funktioniert. Aber er ist der langweiligste Mann, den man sich vorstellen kann, redet die ganze Zeit nur über Schrauben und Kolben und andere degoutante Dinge.«
»Wie kann denn eine Schraube degoutant sein?«, fragte Sarah lachend und schüttelte ihr rotes Haar.
»Als Gesprächsthema ist es auf jeden Fall abscheulich langweilig, und man sollte doch die Themen immer so wählen, dass alle mitreden können – sagt Madame Laroche zumindest!«
Wie angekündigt, traf nach der Tanzstunde Mr. Hammond ein, um mit den Whitfields den Tee einzunehmen. Die Gegenwart von vier jungen Mädchen schien ihn ein wenig einzuschüchtern, sodass er zumindest zu Beginn der Mahlzeit nichts über Schrauben oder andere geschmacklose Themen von sich gab. Er gab auch sonst nicht viel von sich, antwortete etwas unbeholfen auf die freundlichen Fragen der Gastgeber und langte ansonsten tüchtig zu. Trotzdem gefiel er Sarah. Er hatte mittelblondes Haar und ein rotwangiges Gesicht. Seine Hände sahen ebenfalls sehr rot aus, offenbar hatte er sie zuvor vehement geschrubbt.
Endlich fragte ihn Mr. Whitfield, ob denn bald damit zu rechnen sei, dass die Fabrik ihre Produktion aufnehme.
»Ich wünschte, ich wüsste es«, sagte Mr. Hammond düster, aber zumindest zum ersten Mal etwas lebhafter. »Es sind gleich mehrere Anlagen, die nicht funktionieren und zum Teil meiner Meinung nach von Anfang an falsch ausgelegt worden sind. Da sind zum einen die Revolverdrehmaschinen ...«
Sarah sah, wie Amelia die Augen verdrehte, und unterdrückte ein Grinsen. Trotzdem blieb sie neugierig. »Darf man die Fabrik denn einmal besichtigen, Mr. Hammond?«, fragte sie.
Etwas überrascht sah der junge Mann zu den Mädchen hinüber. »Nun, das dürfen Sie gewiss, Miss ... äh ...«
»Colstone.«
»Ja, richtig, Miss Colstone. Wenn die Damen wünschen, kann ich Sie gerne einmal hindurchführen. Gleich nachher, wenn Sie möchten!«
Mr. Whitfield räusperte sich. »Gewiss müssten Sie vorher einige Vorbereitungen treffen, Teppiche auslegen oder dergleichen«, erinnerte er seinen Gast.
»Teppiche? Für den Boden? Ach so, natürlich, wenn Sie meinen. Ja, das könnten wir machen«, sagte Mr. Hammond zögernd, der offenbar überlegte, wie viel Arbeitszeit dafür verschwendet werden würde, seine Fabrik in einen für Damen begehbaren Zustand zu versetzen.
»Nächste Woche dann?«, fragte Sarah, die nicht wollte, dass die Besichtigung weiteren Besorgnissen der Whitfields zum Opfer fiel.
»Wie Sie wünschen«, meinte Mr. Hammond seufzend.
Wie vereinbart fand nach der nächsten Tanzstunde die Führung durch die Fabrik statt. Die anderen Mädchen sowie Mrs. Whitfield hatten sich angeschlossen – gleich wie langweilig die Schrauben und Maschinen als Gesprächsthema waren, die Gelegenheit, die geheimnisvollen Hallen einmal aus der Nähe zu sehen, wollten sie sich nicht entgehen lassen. Mr. Hammond hatte, wie zugesichert, einen Weg zwischen den Anlagen mit Teppich auslegen lassen.
Die Fabrikhallen waren in der Tat der merkwürdigste Ort, den man sich denken konnte. Schwere Maschinen, einige glänzend, andere geschwärzt, standen nebeneinander. Dazwischen verliefen Dampfkessel, Rohre und Kamine, die ins Halbdunkel nach oben verschwanden. Es roch nach Ruß und Öl, sodass sich Mrs. Whitfield ihr parfümiertes Taschentuch vor die Nase presste. Die Mädchen bestaunten die Anlage, die so wunderlich und verworren wirkte und doch offenbar einem von Menschen erdachten Sinn folgte.
Mr. Hammond erklärte so detailreich Zweck und Funktion eines jeden Aufbaus, dass er bald die Aufmerksamkeit der Gruppe verloren hatte. Sarah aber hörte zu. Es schien ihr ein Wunder, dass sich nur mithilfe von Dampf und Hebeln festes Eisen in jede gewünschte Form bringen ließ – und dass Mr. Hammond offenbar genau verstand, wie das an welchem Gerät vonstattenging. Als sie eine dementsprechende Bemerkung fallen ließ, winkte er ab.
»Eigentlich wird all dies bald schon wieder veraltet sein. Es gibt jetzt die ersten Maschinen mit elektrischem Antrieb, diesen gehört die Zukunft! Wenn es nach meinen Plänen geht, wird diese Fabrik in zehn Jahren elektrische Maschinen bauen.«
Sarah nickte beeindruckt, ohne genau zu wissen, was dies eigentlich sein sollte. Aber auch, nachdem die Führung beendet war, ließen sie die Gedanken daran nicht los.
»Papa, weißt du, was elektrische Maschinen sind?«, fragte sie ihren Vater beim Abendessen.
Charlie hob verblüfft die Augenbrauen. »Nun, ich nehme an, das sind Maschinen, die sich den Elektromagnetismus zunutze machen. Sie treiben damit irgendetwas an.«
»Was denn?«
»Ich weiß nicht – was immer man will, vermutlich. Aber ich bin weder Physiker noch Ingenieur, ich kann dir das nicht erklären.« Dann sah er die Wissbegierde in den Augen seiner Tochter und lachte. »Wenn dies für dich von Interesse ist, würde ich dir raten, neben dem Tanzkurs auch noch einige Stunden in Physik zu nehmen.«
»Oh, darf ich, bitte, Papa?«, fragte sie eifrig.
»Kind, möchtest du das wirklich? Mich deucht, das ist von allen Wissenschaften die, die du im Leben am wenigsten benötigen wirst!«
Nun runzelte Sarah die Stirn. »Tatsächlich? Mir scheint eher, dies sei die Wissenschaft, der man im Leben am häufigsten begegnet und die künftig das Leben am stärksten verändern und bestimmen wird«, meinte sie ein wenig altklug.
»Sarah, wenn du dich darin weiterbilden willst, werde ich dich keinesfalls daran hindern«, sagte Charlie abschließend, und so durfte Sarah tatsächlich Physikstunden nehmen.
Die theoretischen Grundlagen der technischen Erfindungen der letzten Jahre hatten ihre eigene Faszination. Aber die Anziehungskraft der realen Maschinen wurde nicht dadurch geschwächt, dass man begriff, wie sie funktionierten – im Gegenteil. In den folgenden Wochen besuchte Sarah immer wieder Mr. Hammond in seiner Fabrik. Nachdem sie das erste Mal unangemeldet am Eingang der Halle erschienen war, machte dieser sich nicht mehr die Mühe, irgendwelche Teppiche auszulegen. Er war offenbar froh, eine interessierte Gesprächspartnerin gefunden zu haben, der er die Fortschritte und Rückschläge seiner Arbeit auseinandersetzen konnte und die nicht nur geduldig zuhörte, sondern auch kluge Fragen stellte und – nicht immer, aber mit einigen Erklärungen doch oft – verstand, worum es dabei ging.
Neben den Maschinen war es auch Mr. Hammond selbst, der Sarah beeindruckte. Dass er sich nie über ihre Fragen mokierte oder sie abwimmelte, trug dazu bei. Weder flirtete er mit ihr, noch nahm er jene gönnerhafte Haltung ein, die sich manche jungen Männer zu eigen machten, wenn sie sich einem Mädchen in etwas überlegen fühlten. Er nahm einfach ihr Interesse für bare Münze – im Gegenteil, er wunderte sich nur, dass nicht alle Menschen seine Leidenschaft für technische Anlagen teilten. Nur in ihren stillsten Stunden gestand Sarah sich ein, dass ihr ein bisschen mehr Interesse für ihre Person recht angenehm gewesen wäre.
Meistens waren neben Mr. Hammond noch etwa ein halbes Dutzend Arbeiter in der Fabrik beschäftigt, die seinen Anweisungen folgten und Sarah mit Grinsen und Augenzwinkern begrüßten, wenn sie kam. Aber an einem Tage war alles still. Als Sarah die schwere Tür aufschob, dachte sie zuerst, die Fabrik wäre leer und irgendjemand hätte vergessen abzuschließen. Aber dann sah sie Mr. Hammond. Er saß alleine an eine der Maschinen gelehnt auf dem Boden. Er trug eine lederne Arbeitsschürze über der Kleidung, seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt und gaben die schmutzigen Unterarme und die Hände frei, die er um die Knie gelegt hatte.