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Nach ihrer Hochzeit ziehen Anne und der junge Arzt Gilbert Blythe in ein kleines Haus am Meer. Schon bald gewinnt das junge Paar neue Freunde: Captain Jim, den alten Leuchtturmwärter, Miss Cornelia und vor allem die junge Leslie Moore – eine außergewöhnliche Schönheit, deren Leben von einem tragischen Geheimnis überschattet wird. Als Anne selbst einen schlimmen Schicksalsschlag hinnehmen muss, ist es Leslies Freundschaft, die ihr hilft, ihr Leben neu zu beginnen ... Der Jugendbuch-Klassiker auch endlich als eBook! Die herzerwärmenden Abenteuer von Waisenkind Anne auf Green Gables – nostalgische Unterhaltung für Jung und Alt. Annes zeitlose Geschichten sind jetzt auch in der Netflix-Serie Anne with an E zu sehen.
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Seitenzahl: 324
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Für Laura zur Erinnerung an alte Zeiten
Cover
Titel
Im Dachzimmer von Green Gables
Das Traumhaus
Im Land der Träume
Die erste Braut von Green Gables
Das neue Zuhause
Captain Jim
Die Braut des Lehrers
Besuch von Miss Cornelia Bryant
Ein Abend auf dem Leuchtturm
Leslie Moore
Leslie Moores Geschichte
Besuch von Leslie
Ein gespenstischer Abend
Novembertage
Weihnachten in Four Winds
Neujahr auf dem Leuchtturm
Winter in Four Winds
Frühlingstage
Sonnenaufgang – Sonnenuntergang
Die verschollene Margaret
Leslies Geständnis
Miss Cornelia kündigt einen Gast an
Owen Fords Ankunft
Captain Jims Tagebuch
Das Buch entsteht
Verwirrung der Gefühle
Auf der Sandbank
Spätherbst und Winter
Eine ernsthafte Unstimmigkeit
Leslies Entscheidung
Die Wende
Miss Cornelia sagt ihre Meinung
Leslie kommt zurück
Ein Traum wird wahr
Die Politik sorgt für Gesprächsstoff
Anne nimmt Leslie auf
Miss Cornelia hat Neuigkeiten
Rote Rosen
Captain Jims letzte Reise
Abschied vom Traumhaus
Abschied vom Traumhaus
Weitere Titel von Lucy Maud Montgomery
Weitere Infos
Impressum
In den Tempeln eurer Väter
sollt ihr beten zu euren Göttern;
in kleinen, liebenswerten Häusern
sollt ihr wohnen.
Rupert Brooke
„Bin ich froh, daß ich mich nicht mehr mit Geometrie herumschlagen muß“, sagte Anne zu Diana Wright. Sie schleuderte ein ziemlich ramponiertes Lehrbuch in eine große Bücherkiste, schlug triumphierend den Deckel zu und setzte sich darauf.
Anne liebte das Dachzimmer mit seinem geheimnisvollen Dämmerlicht. Durch das offene Fenster strömte der liebliche Duft eines sonnigen Augustnachmittags herein. Draußen raschelten die Zweige der Pappeln im Wind; und dahinter lagen der Wald und die Liebeslaube und der alte Obstgarten, dessen Bäume vollhingen mit rotbackigen Äpfeln. Und über der Erde türmten sich schneeweiße Wolken am blauen Himmel auf. Durch das andere Fenster konnte man in weiter Ferne das Meer mit den weißen Schaumkronen erkennen – den wunderschönen St.-Lawrence-Golf, der Abegweit trug wie einen Schatz. Abegweit – ein lieblicher, indianischer Name, der längst verdrängt worden war von der nüchternen Bezeichnung Prince Edward Island.
Diana Wright hatte sich in den drei Jahren von Annes Abwesenheit zu einer ziemlich matronenhaften Erscheinung entwickelt. Aber sie hatte immer noch dieselben dunklen, strahlenden Augen, dieselben rosigen Wangen und bezaubernden Grübchen wie zu jener Zeit, als sie und Anne Shirley sich in dem alten Obstgarten ewige Freundschaft geschworen hatten. In ihren Armen schlief ein kleines, schwarzgelocktes Wesen, zwei Jahre alt, in ganz Avonlea bekannt als „Klein Anne-Cordelia“. Warum Diana ihr den Namen Anne gegeben hatte, wußten alle, aber was es mit Cordelia auf sich hatte, blieb ein allgemeines Rätsel. Der Name Cordelia war bisher weder bei den Wrights noch bei den Barrys aufgetaucht. Mrs. Harmon Andrews äußerte die Vermutung, Diana hätte ihn in irgendeinem Kitschroman gelesen, und wunderte sich um so mehr, daß Fred seine Zustimmung gab. Nur Diana und Anne warfen sich ein bedeutungsvolles Lächeln zu. Sie wußten, wie Klein Anne-Cordelia zu ihrem Namen kam.
„Geometrie war dir schon immer ein Greuel“, erinnerte sich Diana. „Und überhaupt könnte ich mir denken, daß du froh bist, nicht mehr unterrichten zu müssen.“
„Nein, es hat mir Spaß gemacht zu unterrichten, außer Geometrie. Die drei Jahre in Summerside waren wirklich schön. Als ich zurückkam, meinte Mrs. Harmon Andrews zu mir, ich würde schon merken, daß das Leben einer verheirateten Frau auch nicht berauschender sei als das einer Lehrerin.“
Annes Lachen hallte durch das ganze Haus. Sie hatte dasselbe fröhliche und unwiderstehliche Lachen wie früher, es klang eher noch charmanter und reifer. Marilla lächelte, während sie unten in der Küche beschäftigt war; bei dem Gedanken, daß dieses geliebte Lachen Green Gables in den kommenden Jahren nur noch selten erfüllen würde, seufzte sie. Nichts machte Marilla glücklicher, als zu wissen, daß Anne die Frau von Gilbert werden würde; aber jede Freude bringt auch ein wenig Traurigkeit mit sich. Im Laufe der drei Summerside-Jahre war Anne oft in den Ferien und an den Wochenenden nach Hause gekommen; aber in Zukunft würde sie höchstens zweimal im Jahr zu Besuch kommen können.
„Mach dir keine Gedanken über das, was Mrs. Harmon behauptet“, sagte Diana mit ihrer vierjährigen Erfahrung als Ehefrau. „Das Eheleben hat natürlich seine Höhen und Tiefen. Daß immer alles ganz ohne Probleme verläuft, darfst du nicht erwarten. Aber eines kann ich dir versichern, Anne: Es ist ein glückliches Leben, vorausgesetzt, du hast den richtigen Mann geheiratet.“
Anne mußte ein Lachen unterdrücken. Dianas gute Ratschläge amüsierten sie immer ein wenig.
„Na ja, wahrscheinlich bin ich nach vier Jahren Ehe genauso“, dachte sie. „Aber vielleicht habe ich auch genügend Humor, daß es nicht soweit kommt.“
„Wißt ihr denn schon, wo ihr wohnen werdet?“ fragte Diana und knuddelte dabei Klein Anne-Cordelia in ihrer mütterlichen Art – ein Anblick, der Anne einen Stich versetzte und süße, fast schmerzliche Träume und Hoffnungen in ihr weckte.
„Ja, das wissen wir. Und genau darüber wollte ich mit dir sprechen, als ich dich am Telefon bat herüberzukommen. Übrigens kann ich mich gar nicht an den Gedanken gewöhnen, daß es jetzt in Avonlea Telefone gibt. So ein Fortschritt paßt überhaupt nicht zu diesem alten, verträumten Fleckchen Erde. Aber um auf deine Frage zurückzukommen, es ist schon alles geregelt.“
„Ja, wirklich? Hoffentlich zieht ihr nicht zu weit weg von hier.“
„Doch, leider. Gilbert will sich in Four Winds Harbour niederlassen – das liegt sechzig Meilen von hier entfernt.“
„Sechzig Meilen! Das ist ja genauso, als wären es sechshundert“, seufzte Diana. „Wo ich doch nie weiter rauskomme als bis Charlottetown.“
„Aber du mußt mich unbedingt in Four Winds besuchen. Es ist der schönste Hafen der ganzen Insel. An der Spitze der Insel liegt ein kleines Dorf namens Glen St. Mary. Dr. David Blythe, Gilberts Großonkel, hat dort seit fünfzig Jahren seine Arztpraxis. Er möchte sich zur Ruhe setzen, und Gilbert kann seine Praxis übernehmen. Dr. Blythe will allerdings auch weiterhin in seinem Haus wohnen, so daß wir für uns noch eine Unterkunft suchen müssen. Ich habe noch keine Ahnung, wo das sein wird, aber in meiner Vorstellung ist es schon da, mein kleines, hübsches Traumhaus.“
„Und wohin geht eure Hochzeitsreise?“ wollte Diana wissen.
„Nirgendwohin. Mach nicht ein so erschrockenes Gesicht, Diana. Ich möchte meine Flitterwochen in meinem Traumhaus in Four Winds verbringen.“
„Und du willst wirklich keine Brautjungfer bei der Hochzeit haben?“
„Ich wüßte nicht, wen. Du und Phil und Priscilla und Jane, ihr seid mir ja mit eurer Hochzeit zuvorgekommen. Stella ist als Lehrerin in Vancouver. Und außer euch habe ich keine ‚verwandte Seele‘. Irgendeine andere Brautjungfer möchte ich nicht haben.“
„Aber einen Schleier wirst du doch tragen, oder?“ fragte Diana besorgt.
„Das ja. Ohne Schleier käme ich mir nicht wie eine richtige Braut vor. Damals, als ich nach Green Gables kam, sagte ich zu Matthew, ich könnte mir nicht vorstellen, daß mich mal einer zur Frau haben will, so häßlich, wie ich sei, höchstens irgend so ein fremder Missionar. Ich dachte nämlich damals, Missionare könnten es sich nicht leisten, wählerisch zu sein, wenn sie eine finden wollen, die ein Leben mitten unter Kannibalen riskiert. Aber du hättest mal den fremden Missionar sehen sollen, den Priscilla geheiratet hat. Ich habe selten so einen hübschen und gutangezogenen Mann gesehen, und er schwärmte von Priscillas ‚überirdischer Schönheit‘. Aber in Japan gibt es eben auch keine Kannibalen.“
„Dein Hochzeitskleid ist wirklich ein Traum“, seufzte Diana hingerissen. „Du wirst aussehen wie eine richtige Königin – so groß und schlank, wie du bist. Wie machst du das bloß, daß du so schlank bleibst, Anne? Ich dagegen werde immer fetter – bald hab’ ich überhaupt keine Taille mehr.“
„Ich glaube, es ist Veranlagung, ob man stämmig oder schlank ist“, sagte Anne. „Immerhin kann dir das, was Mrs. Harmon Andrews bei meiner Rückkehr aus Summerside sagte, nicht passieren: ‚Also, Anne, du bist ja genauso dürr wie immer.‘ Schlank zu sein ist ja ganz schön, aber dürr steht schon wieder auf einem anderen Blatt.“
„Mrs. Harmon hat auch von deiner Aussteuer gesprochen. Sie gab zu, daß deine Sachen genauso schön seien wie die von Jane, obwohl sie einen Millionär geheiratet hätte, während du nur die Frau eines armen Schluckers würdest.“
Anne lachte. „Was meine Kleider angeht, die sind wirklich hübsch. Ich kann mich noch an mein allererstes Partykleid erinnern, es war braun, und Matthew schenkte es mir für ein Schulkonzert. Bis dahin hatte ich immer in so häßlichen Sachen herumlaufen müssen, aber an dem Abend fühlte ich mich wie neu geboren.“
„Ach ja, das war doch der Abend, als Gilbert deinen Zorn auf sich zog, weil er sich deine Rose aus Seidenpapier in die Brusttasche steckte! Damals hättest du dir wohl nicht träumen lassen, daß er dein Mann werden würde.“
„Nein, daran hätte ich damals nie gedacht“, sagte Anne lachend, während sie zusammen die Treppe hinunterstiegen.
Noch nie zuvor hatte es auf Green Gables eine solche Aufregung gegeben. Selbst Marilla konnte ihre Nervosität kaum verbergen – und das wollte schon etwas heißen.
„Das ist die allererste Hochzeit in diesem Haus“, sagte sie fast entschuldigend zu Mrs. Rachel Lynde. „Als Kind habe ich einmal einen alten Pfarrer sagen hören, ein Haus sei erst dann ein richtiges Zuhause, wenn in ihm ein Neugeborenes, ein Hochzeitspaar und ein Sterbender gesegnet worden seien. Todesfälle haben wir schon gehabt – mein Vater, meine Mutter und Matthew sind hier gestorben; sogar eine Geburt hat es gegeben. Vor langer Zeit, gleich nach unserem Einzug, wohnte vorübergehend ein Ehepaar bei uns, und die Frau gebar in diesem Haus ein Kind. Aber eine Hochzeit, die haben wir bisher noch nie gehabt. Es will mir gar nicht in den Kopf, daß Anne bald heiratet. Irgendwie kommt sie mir immer noch vor wie das kleine Mädchen, das Matthew vor vierzehn Jahren zu uns brachte. Ich kann kaum glauben, daß sie schon erwachsen ist. Nie werde ich vergessen, wie mir zumute war, als Matthew ein Mädchen brachte. Was wohl aus dem Jungen geworden ist, den wir eigentlich hätten bekommen sollen, wenn da nicht dieses Mißverständnis gewesen wäre?“
„Zum Glück hat es das Mißverständnis gegeben“, sagte Mrs. Rachel Lynde. „Obwohl ich zugegebenermaßen nicht immer so gedacht habe. Aber schließlich hat sich einiges geändert im Lauf der Zeit.“
Mrs. Rachel seufzte, geriet aber sogleich wieder in Fahrt. „Ich werde Anne zwei von meinen Baumwolldecken schenken“, sagte sie. „Eine mit braunen Streifen und eine mit Apfelbaumblättern. Apfelbaumblätter kämen wieder in Mode, sagte sie. Aber Mode hin, Mode her, ich finde, es gibt nichts Schöneres für ein Gästebett als eine Apfelbaumblätterdecke. Ich muß sie bloß noch bleichen, aber es ist ja noch ein Monat bis dahin.“
Nur noch ein Monat! Marilla seufzte und sagte dann nicht ohne Stolz: „Anne bekommt von mir die geflochtenen Vorleger, die ich auf dem Dachboden aufbewahrt habe. Sie hat mich darum gebeten, obwohl sie furchtbar altmodisch sind, aber sie sagt, sie will nur die und keine anderen. Sie sind aber auch wirklich gelungen. Ich habe sie aus hübschen Stoffresten selbst geflochten. Außerdem bekommt sie noch selbsteingemachtes Pflaumenkompott für ein ganzes Jahr. Komisch, die Pflaumenbäume haben seit drei Jahren nicht mehr geblüht, und ich dachte schon daran, sie fällen zu lassen. Und dieses Frühjahr waren sie auf einmal schneeweiß und brachten so viele Pflaumen hervor, wie ich es auf Green Gables noch nicht erlebt habe.“
„Hauptsache, Anne und Gilbert kriegen sich nun doch endlich. Darum habe ich immer gebetet“, sagte Mrs. Rachel; sie war offenbar festen Glaubens, daß ihre Gebete ausschlaggebend gewesen waren. „Ich war schon sehr erleichtert, daß sie diesen Kingsport-Kerl nicht genommen hat. Er war zwar reich, zugegeben, und Gilbert ist arm – zumindest jetzt am Anfang, aber immerhin ist Gilbert von der Insel.“
„Er ist eben Gilbert Blythe“, sagte Marilla zufrieden. Was Marilla aber auf keinen Fall zugegeben hätte, war, daß sie bei Gilberts Anblick jedesmal das Gefühl hatte, als hätte er ihr Sohn sein können. Irgendwie erschien es ihr, als würde durch die Heirat von Gilbert und Anne das Mißverständnis von damals aus dem Weg geräumt. So würde sich doch alles zum Guten wenden.
Anne selbst war so überglücklich, daß dieses Gefühl ihr fast angst machte. Es gab allerdings zwei Personen, die ihr dieses Glück mißgönnten und die es verstanden, ihr die Illusion zu rauben, sie hätte mit Gilbert das große Los gezogen und er sei immer noch genauso vernarrt in sie wie früher. Trotzdem waren diese beiden würdigen Damen Anne nicht feindlich gesinnt; im Gegenteil, sie mochten sie sogar recht gern und hätten sie in Schutz genommen wie eine eigene Tochter, wenn irgend jemand ihr Böses gewollt hätte. Aber die Natur des Menschen ist oft voller Widerspruch.
Mrs. Inglis – geborene Jane Andrews – erschien mit ihrer Mutter und Mrs. Jasper Bell. Jane war immer noch genauso freundlich wie früher und hatte sympathische Fältchen bekommen. Trotz der Tatsache, daß sie einen Millionär geheiratet hatte, war ihre Ehe glücklich (so jedenfalls hätte es Mrs. Rachel Lynde ausgedrückt). Der Reichtum hatte ihren Charakter nicht verdorben. Sie war noch die sanfte, liebenswerte, rotwangige Jane aus der alten Viererbande. Sie teilte das Glück ihrer alten Freundin und zeigte so reges Interesse an Annes Aussteuer, als ob diese es mit ihren eigenen Kostbarkeiten aufnehmen könne. Jane zeichnete sich nicht gerade durch übermäßige Intelligenz aus; wahrscheinlich hatte sie noch nie irgend etwas Geistreiches gesagt. Aber sie sagte nie etwas, was die Gefühle anderer verletzen würde – eine Eigenschaft, die nicht unbedingt positiv sein muß, dafür aber um so seltener und beneidenswerter ist.
„Gilbert hat also Wort gehalten“, sagte Mrs. Harmon Andrews, und es klang überrascht. „Ja, so sind die Blythes, sie halten sich an das, was sie sagen, komme, was da wolle. Warte mal – du bist jetzt fünfundzwanzig, Anne, stimmt das? Zu meiner Zeit war man mit fünfundzwanzig über das Schlimmste hinweg. Aber du siehst ziemlich jung aus. Alle Rotschöpfe sehen jung aus.“
„Rote Haare sind zur Zeit große Mode“, sagte Anne und versuchte zu lächeln, aber ihre Stimme klang reichlich kühl. Mit ihrem Humor hatte sie sich schon über so manche unangenehme Situation hinweggerettet; aber wenn jemand eine Bemerkung über ihr Haar fallenließ, verstand sie keinen Spaß.
„Eben, eben“, sagte Mrs. Harmon resignierend. „Man weiß nie, was für Verrücktheiten die Mode bringt. Also, Anne, deine Sachen sind wirklich hübsch, genau passend zu deiner Position, findest du nicht, Jane? Ich wünsche dir jedenfalls, daß du sehr glücklich wirst. Eine lange Verlobungszeit tut nämlich nicht immer gut. Aber in deinem Fall ging es natürlich nicht anders.“
„Gilbert sieht für einen Arzt reichlich jung aus. Ich fürchte, das könnte die Leute abschrecken“, sagte Mrs. Jasper Bell unheilverkündend. Dann preßte sie die Lippen zusammen, als ob sie etwas gesagt hätte, was sie für ihre Pflicht hielt zu sagen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.
Nach außen hin wurde Annes Vorfreude ab und zu getrübt, aber in ihrem Innern konnte nichts ihrem Glück etwas anhaben. Und die Sticheleien von Mrs. Bell und Mrs. Andrews waren vergessen, als Gilbert später kam und sie gemeinsam zu den Birken am Bach hinabschlenderten. Damals, als Anne nach Green Gables kam, waren es Schößlinge gewesen, aber jetzt standen sie da wie Pfeiler aus Elfenbein in einem dämmrigen, sternfunkelnden Märchenpalast. Im Schatten der Bäume plauderten Anne und Gilbert verliebt über ihr neues Zuhause und ihr gemeinsames Leben.
„Ich habe ein Nest für uns gefunden, Anne.“
„Wirklich, wo? Hoffentlich nicht mitten im Ort. Das würde mir überhaupt nicht gefallen.“
„Nein. Im Ort selbst war kein Haus zu bekommen. Es ist ein kleines, weißes Haus an der Küste, und es liegt zwischen Glen St. Mary und Four Winds. Es ist ein bißchen abgelegen, aber das macht nichts, wenn wir ein Telefon haben. Die Lage ist herrlich, man sieht den ganzen Hafen vor sich und kann den Sonnenuntergang beobachten. Die Sanddünen sind auch nicht weit – und man sieht, wie der Wind über sie hinwegfegt und wie die Gischt den Sand durchtränkt …“
„Aber das Haus selbst, Gilbert – unser erstes Zuhause, wie sieht es aus?“
„Es ist nicht sehr groß, aber für uns wird es reichen. Unten befindet sich ein wunderschönes Wohnzimmer mit einem Kamin, außerdem ein Eßzimmer mit Bück auf den Hafen und ein kleines Zimmer, das als Büro gut genug ist. Das Haus ist ungefähr sechzig Jahre alt, aber es ist in gutem Zustand, vor fünfzehn Jahren ist es renoviert worden – das Dach neu gedeckt, der Putz erneuert und neue Böden gelegt. Es gibt über das Haus irgendeine romantische Legende, aber die weiß angeblich nur Captain Jim.“
„Wer ist Captain Jim?“
„Der Besitzer des Leuchtturms von Four Winds. Das Licht wird dir gefallen, Anne. Vom Wohnzimmerfenster und von der Haustür aus können wir es beobachten.“
„Wem gehört das Haus?“
„Jetzt gehört es der presbyterianischen Kirche von Glen St. Mary, und ich habe es von den Treuhändern gemietet. Aber bis vor kurzem hat es einer alten Dame gehört, sie hieß Miss Elizabeth Russell. Im letzten Frühjahr ist sie gestorben, und da sie keine näheren Verwandten hatte, vermachte sie ihr Vermögen der Kirche von Glen St. Mary. Ihre Möbel stehen noch darin, und die meisten davon habe ich gekauft, für einen Apfel und ein Ei sozusagen, weil sie so altmodisch sind, daß die Treuhänder es aufgegeben haben, einen Interessenten dafür zu finden. Die Leute von Glen St. Mary bevorzugen anscheinend Plüschbrokat und verzierte Spiegelschränke. Aber Miss Russells Möbel sind schön, und ich bin sicher, daß sie dir gefallen werden, Anne.“
„So weit, so gut“, stimmte Anne vorsichtig zu. „Aber, Gilbert, Möbel sind nicht alles. Etwas ganz Wichtiges hast du vergessen. Gibt es Bäume rings um das Haus?“
„Haufenweise! Es gibt einen Tannenhain hinter dem Haus, Pappeln am Weg entlang und weiße Birken, die rings um einen wunderschönen Garten stehen. Unsere Haustür führt direkt in den Garten hinein. Aber es gibt außerdem noch ein kleines Tor zwischen zwei Tannenbäumen, deren Zweige obendrüber wie ein Bogen zusammenwachsen.“
„Da bin ich aber froh! Ich könnte nirgendwo leben, wo es keine Bäume gibt. Wenn ich jetzt auch noch nach einem Bach in der Nähe frage, ist das bestimmt zuviel verlangt.“
„Aber es gibt einen Bach – er führt durch den Garten hindurch.“
„Dann“, sagte Anne mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung, „dann ist dies und kein anderes das Haus meiner Träume.“
„Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wen du zur Hochzeit einlädst, Anne?“ fragte Mrs. Rachel Lynde, während sie eifrig Servietten bestickte. „Es wird langsam Zeit für die Einladungen.“
„Wir wollen nicht allzu viele Leute einladen“, sagte Anne, „nur unsere nächsten Verwandten und unsere besten Freunde. Zum Beispiel Mr. und Mrs. Allan und Mr. und Mrs. Harrison.“
„Es gab Zeiten, da hättest du Mr. Harrison kaum zu deinen besten Freunden gezählt“, sagte Marilla trocken.
„Na ja, begeistert war ich von ihm wirklich nicht bei unserer ersten Begegnung“, gab Anne lachend zu. „Aber wenn man Mr. Harrison näher kennt, ist er wirklich lieb. Und dann wären da noch Miss Lavendar und Paul.“
„Wollen sie denn diesen Sommer auf die Insel kommen? Ich dachte, sie wollten nach Europa.“
„Ich habe ihnen geschrieben, daß ich heirate, und da haben sie sich anders entschieden. Heute kam ein Brief von Paul; er schreibt, nichts könne ihn davon abhalten, auf meine Hochzeit zu kommen, auch Europa nicht.“
„Dieser Kindskopf, er hat dich schon immer abgöttisch verehrt“, bemerkte Mrs. Rachel.
„Dieser ‚Kindskopf‘ ist mittlerweile ein junger Mann von neunzehn Jahren, Mrs. Lynde.“
„Wie die Zeit verfliegt!“ stellte Mrs. Lynde geistreich fest.
„Charlotta die Vierte kommt vielleicht mit ihnen. Das hängt davon ab, ob ihr Mann es erlaubt, schreibt Paul. Ob sie wohl immer noch diese riesengroße blaue Brille trägt? Und ob ihr Mann sie Leonora nennt oder Charlotta? Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn sie kommen könnte. Und dann wären da noch Phil und Jo, der Geistliche –“
„Also schrecklich, wie du von einem Priester sprichst, Anne“, sagte Mrs. Lynde streng.
„Seine Frau nennt ihn so.“
„Sie sollte wirklich mehr Respekt zeigen vor seinem würdevollen Amt“, erwiderte Mrs. Rachel.
„Sie habe ich aber auch schon einmal über die Priester schimpfen hören“, lästerte Anne.
„Schon möglich, aber dann mit der nötigen Ehrfurcht“, verteidigte sich Mrs. Lynde. „Einen Spitznamen wirst du jedenfalls aus meinem Munde nicht gehört haben.“
Anne mußte ein Grinsen unterdrücken. „Also, und dann wären da noch Diana und Fred und der kleine Fred und Klein Anne-Cordelia – und Jane Andrews. Auf Miss Stacy, Tante Jamesina, Priscilla und Stella werde ich wohl verzichten müssen. Stella ist in Vancouver, Pris in Japan, Miss Stacey hat nach Kalifornien geheiratet, und Tante Jamesina ist in Indien, um zu sehen, wie ihre Tochter dort als Missionarsgattin lebt. Es ist wirklich schlimm, wie die Leute sich über die ganze Welt verstreuen.“
„Zu meiner Zeit heiratete man dort, wo man aufgewachsen war, und ließ sich auch dort nieder, oder wenigstens in nächster Nähe“, sagte Mrs. Rachel. „Zum Glück bleibst du auf der Insel, Anne. Ich hatte schon befürchtet, Gilbert würde dich bis ans Ende der Welt zerren.“
„Aber wenn jeder an dem Ort bleiben würde, wo er aufgewachsen ist, gäbe es bald ein ganz schönes Gedränge.“
„Also, ich habe keine große Lust, mit dir darüber zu diskutieren, Anne. Ich bin schließlich keine Studierte. Um welche Uhrzeit soll die Hochzeitsfeier überhaupt sein?“
„Wir haben gedacht, um die Mittagszeit. Wir könnten dann in Ruhe den Abendzug nach Glen St. Mary nehmen.“
„Und soll die Trauung im Salon stattfinden?“
„Nein – es sei denn, es regnet. Wir haben an den Obstgarten gedacht – bei blauem Himmel und Sonnenschein. Wißt ihr, wann und wo ich am allerliebsten getraut werden würde? Im Morgengrauen, bei einem wundervollen Sonnenaufgang. Überall in den Gärten würden die Rosen blühen, und mitten in den Buchenwäldern, im Schutz der grünen Zweige, wie unter der Kuppel einer Kathedrale, würden Gilbert und ich heiraten.“
Marilla schniefte mißbilligend, Mrs. Lynde war schockiert.
„Was für ein abwegiger Gedanke, Anne, ich frage mich, ob das überhaupt zulässig wäre. Was würde Mrs. Harmon Andrews bloß dazu sagen?“
„Aha, da liegt der Hase im Pfeffer“, seufzte Anne. „Warum soll man immer alles mögliche unterlassen, bloß um Mrs. Harmon Andrews zu gefallen? Wenn ich bedenke, was für tolle Sachen man machen könnte, wenn man nicht auf sie Rücksicht nehmen müßte.“
„Also manchmal verstehe ich dich überhaupt nicht, Anne“, beklagte sich Mrs. Lynde.
„Anne hatte immer schon eine romantische Ader“, entschuldigte Marilla sie.
„Na, ich denke, das Eheleben wird sie schon noch davon kurieren“, sagte Mrs. Rachel ermutigend.
Anna lachte und huschte davon in Richtung Liebeslaube, wo sie sich mit Gilbert traf. Und beide hatten weder die Befürchtung noch die Hoffnung, daß ihre Ehe sie von ihren romantischen Gefühlen kurieren könnte.
In der Woche danach kamen die Leute von Echo Lodge, und Green Gables schäumte über vor Fröhlichkeit. Die drei Jahre seit ihrem letzten Besuch auf der Insel waren an Miss Lavendar fast spurlos vorübergegangen; um so mehr staunte Anne über Paul. War es möglich, daß dieser hoch aufgeschossene junge Mann der kleine Paul aus den alten Schultagen von Avonlea war?
„Also, ich komme mir richtig alt vor neben dir, Paul“, sagte Anne. „Ich muß tatsächlich zu dir aufschauen.“
„Sie werden niemals alt, Frau Lehrerin“, sagte Paul. „Sie gehören zu den Glücklichen, die anscheinend aus dem Quell der Jugend getrunken haben – Sie und Mutter Lavendar genauso. Wenn Sie verheiratet sind, werden Sie für mich immer noch meine ‚Frau Lehrerin‘ sein und nicht Mrs. Blythe. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“
Paul zog ein Notizbuch voller Gedichte hervor, die er selbst geschrieben hatte. Sie gefielen Anne sehr; sie waren so voller Liebreiz und Hoffnung.
„Du wirst noch mal berühmt werden, Paul. Es war immer schon ein Wunschtraum von mir, einen berühmten Schüler zu haben. Ein Professor schwebte mir vor – aber ein großer Dichter ist noch besser. Eines Tages werde ich damit angeben, daß ich den berühmten Paul Irving einmal verdroschen habe. Aber leider habe ich dich nie verdroschen, stimmt’s, Paul? Was für eine Gelegenheit habe ich mir da entgehen lassen! Aber immerhin glaube ich mich zu erinnern, daß ich dich mal in die Ecke gestellt habe.“
„Aber vielleicht werden Sie selbst mal berühmt, Frau Lehrerin. Ich habe in den letzten drei Jahren einiges von Ihnen gelesen.“
„Nein, ich kenne meine Grenzen. Ich kann Gedichte schreiben und lustige kleine Sketche, die den Kindern gefallen und für die mir die Verleger freundlicherweise einen Scheck zukommen lassen. Aber zu etwas Großem reicht es nicht. Eine Ecke in deinen Memoiren ist für mich die einzige Chance, der Nachwelt eine Spur von mir zu hinterlassen.“
Charlotta die Vierte hatte ihre blaue Riesenbrille abgelegt, aber ihre Sommersprossen sah man noch genauso.
„Ich hätte nie gedacht, daß ich jemals so tief sinken würde, einen Yankee zu heiraten, Miss Shirley, Ma’am“, sagte sie. „Aber man weiß nie, was kommt, und schließlich kann er ja nichts dafür.“
„Dadurch, daß du einen Yankee geheiratet hast, bist du selber einer, Charlotta.“
„Das bin ich nicht, Miss Shirley, Ma’am! Und wenn ich ein Dutzend Yankees heiraten sollte, wäre ich deswegen noch lange keiner! Tom ist ganz nett. Außerdem sagte ich mir, es ist besser, nicht allzuviel zu erwarten, wer weiß, ob sich was Besseres findet. Tom trinkt nicht, beklagt sich nicht über seine Arbeit, und wenn er macht, was ich sage, bin ich zufrieden, Miss Shirley, Ma’am.“
„Ruft er dich Leonora?“ wollte Anne wissen.
„Du lieber Himmel, nein, Miss Shirley, Ma’am. Ich wüßte ja gar nicht, wen er meint. Natürlich mußte er bei unserer Hochzeit sagen: ‚So nehme ich dich, Leonora…‘, aber ich kann Ihnen sagen, Miss Shirley, Ma’am, ich hatte das schreckliche Gefühl, er meint überhaupt nicht mich und wir wären gar nicht richtig getraut. Und jetzt heiraten Sie also selbst, Miss Shirley, Ma’am? Ich wollte eigentlich immer einen Doktor heiraten. Es wäre so praktisch, wenn die Kinder mal Masern haben oder Krupp. Tom ist bloß Maurer, aber er ist ein gutmütiger Mensch. Ich sage zu ihm: ‚Tom, kann ich zu Miss Shirleys Hochzeit gehen? Ich gehe zwar sowieso, aber du sollst ruhig zustimmen.‘ Daraufhin sagt er: ‚Tu, was du willst, Charlotta, mir soll’s recht sein.‘ Mit so einem Mann läßt es sich leben, Miss Shirley, Ma’am.“
Philippa und Jo, der Geistliche, kamen am Tag vor der Hochzeit nach Green Gables. Nach einer stürmischen Begrüßung setzten sich Anne und Phil gemütlich zusammen und plauderten über vergangene und zukünftige Zeiten.
„Anne, du siehst aus wie eine Königin. Ich dagegen sehe schrecklich aus, ich bin ganz abgemagert seit der Geburt der Kinder. Aber ich glaube, Jo mag mich so. Ich finde es toll, daß du Gilbert heiratest. Roy Gardner wäre absolut nichts für dich gewesen, absolut nichts, das sehe ich jetzt ein, obwohl ich damals furchtbar enttäuscht war, daß aus euch nichts geworden ist. Ich muß schon sagen, Anne, du hast Roy ziemlich schlecht behandelt.“
„Aber es heißt, er hätte sich davon erholt“, lachte Anne.
„O ja. Er hat geheiratet, und er ist absolut glücklich mit seiner Frau. Alles wendet sich irgendwann zum Guten, das steht in der Bibel, dann muß es ja stimmen.“
„Sind Alex und Alonzo inzwischen verheiratet?“
„Alex ja, Alonzo nicht. Es war wirklich eine schöne Zeit, die wir damals in Pattys Haus zusammen hatten, Anne!“
„Bist du noch mal dort gewesen?“
„Ja, ich fahre oft hin. Miss Patty und Miss Maria sitzen immer noch vor dem Kaminfeuer und stricken. Ach, da fällt mir ein, sie haben mir für dich ein Hochzeitsgeschenk mitgegeben, Anne. Rate mal, was es ist.“
„Keine Ahnung. Woher wußten sie, daß ich heirate?“
„Ich habe es ihnen letzte Woche gesagt. Was würdest du dir denn aus Pattys Haus am meisten wünschen, Anne?“
„Willst du etwa damit sagen, Miss Patty schenkt mir ihre Porzellanhunde?“
„Genau das. Ich habe sie im Koffer. Warte, ich hole auch gleich den Brief für dich.“
„Liebe Miss Shirley“, lautete Miss Pattys Brief. „Maria und ich haben uns sehr über die Nachricht Ihrer bevorstehenden Hochzeit gefreut. Wir möchten Ihnen hiermit unsere herzlichsten Glückwünsche aussprechen. Als Geschenk haben wir uns für die Porzellanhunde entschieden, weil sie Ihnen so gut gefallen haben. Sie wissen ja, der mit dem Blick nach rechts ist Gog, der mit dem Blick nach links ist Magog.“
„Ich stelle mir gerade die beiden Hunde vor dem Kamin in meinem Traumhaus vor“, sagte Anne begeistert. „Das ist wirklich eine freudige Überraschung.“
Am Abend herrschte geschäftiges Treiben auf Green Gables. Anne entschlüpfte in der Dämmerung. An diesem letzten Tag ihrer Mädchenjahre hatte sie noch etwas zu erledigen, etwas, wozu sie allein sein wollte. Sie besuchte Matthews Grab auf dem kleinen Friedhof von Avonlea und ließ in der Stille die Erinnerung an ihn wach werden.
„Wie glücklich wäre Matthew, wenn er den morgigen Tag erleben könnte“, dachte sie. „Aber ich glaube, er weiß alles und freut sich mit mir – irgendwo. Ich habe einmal gelesen, daß unsere Toten erst dann tot sind, wenn wir sie vergessen haben. Für mich wird Matthew niemals tot sein, denn ich werde ihn nie vergessen.“
Sie schmückte sein Grab mit Blumen und ging dann langsam wieder den Hügel hinab. Es war ein wundervoller Abend. Die Schäfchenwolken leuchteten am Himmel blutrot und golden. Und darunter schimmerte das Meer im Abendrot. Ringsum in der ländlichen Stille lagen die vertrauten Hügel, Felder und Wälder, die sie so sehr liebte.
„Es ist genau wie damals, als wir das erstemal zusammen den Hügel hinabstiegen“, sagte Gilbert, als Anne ihn am Tor traf.
„Ja, ich kam auch damals gerade von Matthews Grab zurück und begegnete dir hier am Tor; ich legte meinen jahrelangen Stolz ab und sprach dich an.“
„Von dem Augenblick an konnte ich mich wieder meines Lebens freuen“, sagte Gilbert. „Als ich dich dann nach Haus gebracht hatte und zurückkehrte, war ich der glücklichste Junge der Welt, denn du hattest mir verziehen.“
„Dabei hatte ich dir mehr Anlaß gegeben, mir zu verzeihen. Ich war wirklich undankbar und gemein zu dir gewesen – sogar, als du mir das Leben gerettet hast, auf dem Weiher damals. Wie ich dieses Gefühl der Verpflichtung dir gegenüber gehaßt habe! Eigentlich habe ich dieses Glück mit dir nicht verdient.“
Gilbert lachte und drückte die Hand, die seinen Ring trug, noch fester. Annes Verlobungsring war mit Perlen besetzt. Einen Diamanten hatte sie damals nicht haben wollen.
„Ich mag Diamanten nicht mehr, seit ich weiß, daß sie gar nicht purpurrot sind, wie ich früher dachte. Jedesmal wenn ich einen Diamanten sehe, bin ich aufs neue enttäuscht“, hatte sie gesagt.
„Aber Perlen sind wie Tränen, sagt ein altes Sprichwort.“
„Das macht mir nichts aus. Außerdem gibt es nicht nur Tränen der Trauer, sondern auch der Freude. Ich hatte immer Tränen in den Augen, wenn ich besonders glücklich war – zum Beispiel, als Marilla sagte, sie würde sich freuen, wenn ich auf Green Gables bleiben würde, oder als Matthew mir das hübscheste Kleid der Welt schenkte, oder als ich hörte, daß du das schlimme Fieber überstanden hast. Bitte schenk mir einen Ring mit Perlen, Gilbert. Die Freude daran wird mir über jedes Leid hinweghelfen, das mir das Leben bringt.“
Heute aber dachten Anne und Gilbert nur an das Glück, denn morgen sollte ihr Hochzeitstag sein. Und an der nebelumhüllten Küste von Four Winds Harbour wartete schon ihr Traumhaus auf sie.
Als Anne am Morgen ihres Hochzeitstages aufwachte, blinzelte die Sonne zum Fenster herein, und der frische Septemberwind spielte mit den Vorhängen.
„Wie schön, daß die Sonne auf mich herabscheinen wird“, dachte sie glücklich.
Sie erinnerte sich an den Morgen, als sie zum erstenmal in diesem kleinen Zimmer aufwachte und die Sonne durch die Blütenpracht des Kirschbaumes hindurch in ihr Bett gekrochen kam: Es war kein fröhliches Erwachen gewesen, denn der Morgen brachte die bittere Enttäuschung des vorhergehenden Abends zurück. Aber bald schloß sie dieses kleine Zimmer doch noch in ihr Herz, denn es wurde der Mittelpunkt einer glücklichen Jugend und Kindheit. Wenn sie länger fort war, freute sie sich immer wieder darauf, in ihr Zimmer zurückzukehren. An seinem Fenster hatte sie gekniet und um Gilberts Leben gebangt, und an seinem Fenster hatte sie am Abend ihrer Verlobung gesessen, überwältigt vor Glück. Wie oft hatte sie wach gelegen, vor Freude wie vor Traurigkeit.
Und heute sollte sie dieses Zimmer für immer verlassen. Von nun an würde es nicht mehr ihr gehören. Dora, die inzwischen fünfzehn Jahre alt war, sollte es übernehmen. Anne wollte es auch gar nicht anders, denn das kleine Zimmer war der Zeit der Jugend und Kindheit gewidmet – einer Zeit, die heute zu Ende ging. Ein neues Kapitel sollte sich heute in ihrem Leben öffnen.
An diesem Morgen herrschte auf Green Gables ein reges, fröhliches Treiben. In der Frühe kam Diana mit dem kleinen Fred und Klein Anne-Cordelia, um bei den Vorbereitungen mitzuhelfen. Davy und Dora, die Zwillinge von Green Gables, entführten die Kleinen hinaus in den Garten.
„Paßt auf, daß Klein Anne-Cordelia ihr Kleid nicht schmutzig macht“, ermahnte Diana besorgt.
„Du kannst sie Dora ruhig anvertrauen“, sagte Marilla. „Sie ist vernünftiger und umsichtiger als so manche Mutter. Ganz im Gegenteil zu dem anderen Wildfang, den ich da aufgezogen habe.“
Marilla warf Anne ein Lächeln zu. Es hatte ganz den Anschein, als ob sie diesen Wildfang besonders gern hatte.
„Die Zwillinge sind wirklich nett“, sagte Mrs. Rachel, als sie außer Hörweite waren. „Dora ist schon so erwachsen und hilfsbereit, und Davy entwickelt sich zu einem sehr intelligenten jungen Mann. Er ist längst nicht mehr der Quälgeist von früher, der ständig etwas angestellt hat.“
„Das erste halbe Jahr, als er hier war, hat er mich wirklich zur Verzweiflung gebracht“, gab Marilla zu. „Danach habe ich mich wohl an ihn gewöhnt. Er hat neuerdings großes Interesse an der Landwirtschaft, und er möchte gern nächstes Jahr die Farm probeweise übernehmen. Das kommt mir gelegen, weil Mr. Barry wahrscheinlich aufhören will und dann sowieso einiges umgestaltet werden muß.“
„Es ist wirklich ein wunderschöner Tag für deine Hochzeit“, sagte Diana, während sie sich eine Schürze über ihr Seidenkleid stülpte.
„Ja, und ich bin so glücklich und wünsche mir, daß alle anderen genauso glücklich sind wie ich.“
„Ich hoffe bloß, daß dein Glück von Dauer ist, Kind“, seufzte Mrs. Rachel. Und sie meinte es wirklich so und glaubte auch daran, fand aber, daß Anne ihr Glück ein wenig zu offen an den Tag legte.
Wie strahlend und schön sah Anne aus, als sie gegen Mittag die Treppe herabstieg – die erste Braut von Green Gables, von schlanker Gestalt und mit leuchtenden Augen, einen großen Strauß Rosen im Arm. Gilbert, der unten in der Diele auf sie wartete, sah ihr mit bewunderndem Blick entgegen. Endlich würde sie seine Frau werden, Anne, nach der er sich so lange gesehnt und auf die er jahrelang geduldig gewartet hatte. War er ihrer überhaupt wert? Würde er sie glücklich machen können? Wenn er nun versagte, wenn er ihrer Vorstellung von einem Ehemann nicht standhalten konnte – doch dann streckte sie die Hand aus, ihre Blicke trafen sich, und alle Zweifel waren ausgelöscht. Sie waren füreinander bestimmt, und was ihnen das Leben auch immer bescheren würde, nichts konnte daran etwas ändern.
Im Sonnenschein des alten Obstgartens, umringt von lieben, vertrauten Freunden, wurden sie getraut. Mr. Allan nahm die Trauung vor, und Jo, der Geistliche, trug das „wunderschönste Hochzeitsgebet“ vor – wie Mrs. Rachel Lynde es nannte. Von einem versteckten Zweig ertönte der liebliche Gesang eines Vogels, während Gilbert und Anne sich das Jawort gaben. Der Gesang des Vogels berührte Anne zutiefst; auch Gilbert hörte ihn, und er fragte sich, warum nicht alle Vögel der Welt in seinen Jubelgesang einstimmten. Paul hörte ihn und schrieb später ein vielbewundertes Gedicht darüber. Charlotta die Vierte glaubte fest, daß der Gesang ihrer geliebten Miss Shirley Glück bringen würde. Der Vogel sang so lange, bis die Zeremonie beendet war, und verabschiedete sich mit einem kurzen, lustigen Triller. Noch nie zuvor hatte das alte, graugrüne Haus einen so fröhlichen Nachmittag erlebt. All die alten Witze, die wohl schon seit Menschengedenken zu jeder Hochzeit gehören, wurden aufgetischt und lösten so viel Heiterkeit aus, als wären sie gerade erst erfunden worden. Und nach einem Tag voller Lachen und Fröhlichkeit machten sich Anne und Gilbert zur Abreise bereit. Die Zwillinge warfen Reis und alte Schuhe, und Marilla stand am Tor und schaute der Kutsche nach, wie sie langsam entschwand. Am Ende des Weges drehte sich Anne noch einmal um und winkte zum letztenmal. Nun war sie fort – Green Gables war nicht mehr ihr Zuhause. Marillas Gesicht sah grau und alt aus, als sie sich zu dem Haus umwandte, das Anne vierzehn Jahre lang mit Frohsinn und Leben erfüllt hatte, sogar zu Zeiten ihrer Abwesenheit.
Diana und die Kinder, die Leute von Echo Lodge und die Allans blieben noch, um den beiden alten Frauen über die Einsamkeit des ersten Abends hinwegzuhelfen; es gab ein nettes, ruhiges Abendessen, und danach saßen alle noch lange um den Tisch herum und plauderten über den schönen Tag.
Am Bahnhof wartete schon Dr. David Blythe’ Pferdewagen auf Anne und Gilbert. Der Junge, den er geschickt hatte, überließ ihnen den Wagen mit einem freundlichen Grinsen. Im strahlenden Abendlicht traten Anne und Gilbert die Fahrt zu ihrem neuen Zuhause an.
Außerhalb des Dorfes bot sich Anne ein wundervoller Anblick. Noch war ihr Haus nicht zu sehen, aber vor ihr lag Four Winds Harbour wie ein silberner Spiegel. Weiter südwärts sah man die Hafenmündung zwischen Dünen auf der einen und schroffen Felsen auf der anderen Seite. Jenseits der Dünen schimmerte das Meer. Das kleine Fischerdorf, das in einer kleinen Bucht lag, wo Sandbank und Hafenküste aufeinandertrafen, sah aus wie ein großer Opal. Der würzige Duft des Meeres lag in der Luft, und ein paar Segelschiffe zogen wie Schatten die Küste entlang. Drüben, auf der anderen Seite, läutete die Glocke vom Turm einer kleinen, weißen Kirche; das Licht des Leuchtturms auf dem Felsen blitzte. Weit draußen am Horizont kräuselte sich die graue Rauchfahne eines vorbeifahrenden Dampfschiffes.
„Wie schön, wie wunderschön“, murmelte Anne. „Ich werde Four Winds lieben, Gilbert. Wo ist unser Haus?“
„Es ist noch nicht zu sehen – es liegt hinter den Birken, die dort drüben an der Bucht stehen. Es liegt ungefähr zwei Meilen von Glen St. Mary entfernt, und vom Haus bis zum Leuchtturm ist es noch mal eine Meile. Wir werden also nicht gerade viele Nachbarn haben, Anne. Es gibt in unserer Nähe nur ein einziges Haus, und ich weiß nicht, wer dort wohnt. Wirst du dich einsam fühlen, wenn ich weg bin?“
„Nicht in dieser wundervollen Landschaft. Wer wohnt denn in dem Haus dort, Gilbert?“
„Ich weiß es nicht. Es macht aber nicht gerade den Eindruck, als ob verwandte Seelen darin wohnen, was sagst du, Anne?“
Das Haus, das Anne meinte, war ein riesiges Gebäude mit knallgrünem Anstrich, wogegen die Landschaft fast blaß aussah. Hinter dem Haus gab es einen Obstgarten und vorne einen gepflegten Rasen, aber irgendwie machte es einen eintönigen Eindruck. Alles, das Haus, die Scheune, die Obstbäume, der Garten, der Rasen und der Weg, alles war so kahl und nüchtern.
„Wer eine Vorliebe für eine solche Farbe hat, scheint wirklich keine besonders verwandte Seele zu sein“, stimmte Anne zu, „es sei denn, es war keine Absicht. Ich brauche bloß an unsere knallblaue Diele zu denken. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, daß da Kinder wohnen. Ich habe noch nie so was Unpersönliches gesehen wie dieses Haus.“
Auf der ganzen Küstenstraße war ihnen bis jetzt keine Menschenseele begegnet. Aber kurz bevor sie die Birken