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Was suchen Erdnüsse in der Küchenschublade und wer stiehlt glänzende Sachen? Anne ist gerade erst mit ihren Eltern und ihrem Bruder umgezogen, da geschehen merkwürdige Dinge in der neuen Wohnung und als dann auch noch ihr geliebter Kompass verschwindet, ist das Maß voll. Als sie sich nachts auf die Lauer legt, um den Dieb auf frischer Tat zu ertappen, traut sie ihren Augen nicht. Was ist das für ein Wesen, das sie da gefangen hat? Soll das tatsächlich ein Heinzelmann sein? Doch damit nicht genug, in der Buchhandlung um die Ecke geht es nicht mit rechten Dingen zu. Am Eingang hängt ein Frauenkopf aus Stein, von dem Anne sich beobachtet fühlt, im hinteren Teil des Ladens sitzt ein seltener Papagei auf einem roten Sofa, den niemand außer ihr sieht und Mama benimmt sich wie verhext, wenn sie mit dem Buchhändler spricht. Da ihre Eltern ihr nicht zuhören und Bruder Swontje ein Quälgeist ist, bleibt Anne nichts anderes übrig als alleine Nachforschungen anzustellen. Dabei kommt sie hinter große Geheimnisse, schon bald ist nichts mehr so, wie es zu sein scheint - Hexen, Zauberer und Dämonen sind keine Märchengestalten. Anne gerät in ein Abenteuer, das nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer ganzen Familie ändern wird.
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Seitenzahl: 535
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Ines Langel
Anne und die Horde
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Ein haariges Ding unter dem Bett
Erdnüsse in der Küchenschublade
Frau mit Hut
Der steinerne Kopf
Rasmus Merymend
Der Kakapo
Der Kompassdieb
Die Glöckchenfalle
Durch die Wand
Unter dem Golfplatz
Ein Buchhändler bei Nacht
Alchemist in Ausbildung
Lodernde Scheiterhaufen
Hexenkerker
Flug mit Zantana
Der Hexentest
Leben als Hexe
Im Kreis des Dämonen
Freiheit für den Dämon
Annes Rettung
Der Morgen nach der Befreiung
Unter Papas Decke ist die Welt noch in Ordnung
Der Anne–Roboter
Der neue Meister
Wutgeschoss
Die Kunst der Beschwörung
Gespräche mit einem Feind?
Der neue Babysitter
Der Meister muss weg
Begegnung mit dem Übernatürlichen
Der Dämon muss raus
Zerstörung
Enzyclopedia Magica
Vertreibung aus dem Paradies
Ein Halsband für den Hund
Im Körper des Wolfshundes
Hexenzirkel
Schatten vor dem Haus
Hoffnung für Penelope
Rasmus und Penelope
Golf
Entführung
Wyrmatts
Verfolgung
Schrecken
Ein ungezogenes Kind
Penelope im Bau
Der Heilige Hain
Das trojanische Pferd
Das Geheimnis der Enzyklopädie
Angriff
Wilde Jagd
Mamas Familiengeheimnis
Dschinnflasche
Auf zum Brocken
Der Auftrag
Der Blocksberg
Jagd
Endsteinerung
Jagd
Unter heißem Wasser
Streit
Aura
Die Brockenbahn
Hexenzeichen
Jagd
Schierke
Jagd
Mama und der Zirkel
Auf dem Weg zu Anne
Gatsfreundschaft
Im Brockenhotel
Jagd
Bannkreis für einen Freund
Kampfvorbereitung
Auf dem Brocken
Der Ruf des Berges
Ein Gefühl von Heimat
Die 13. Hexe
Kein Weg nach Schierke
Basislager
Gefahr, die einem ins Gesicht lacht
Die Macht der Liebe
Verlaufen
Beschwerlicher Aufstieg
Der Dämon ist einer von uns
Wiedersehen
Die gefangene Penelope
Stein der Weisen
Flug der Monster
Ankunft der Monster
Penelopes zweite Chance
Leere
Ankunft des Bösen
Penelopes Schicksal
Swontje auf dem Brocken
Ein freier Dämon unter Sklaven
Einzelkämpfer-Taktik
Das Mysterium kehrt zurück
Dem Ziel so nah
Verfolgung
Schutzlos ausgeliefert
Kampf gegen Merymend
Kampf der Dämonen
Hilfe für Penelope
Zum Stein
Am Ziel angekommen
Absorbiert
Befreiung
Wiedersehen
Erster Schultag
EPILOG
Impressum neobooks
Anne-Lindje Kolbe lebte mit Mama Hanna, Papa Björn und ihrem älterem Bruder Swontje in der Umbertusstrasse in einer Neubausiedlung vor Köln. Sie lebten noch nicht lange dort. Erst vor zwei Wochen waren sie aus der lärmenden Stadtmitte hierher gezogen. Papa wollte für seine Kinder mehr Platz zum Spielen und Toben, vor allem aber mehr Natur. Mama wohnte ohnehin nicht gerne in der Stadt. Sie war ein richtiges Landei, wie Papa sagte. Was nicht wirklich stimmte. Denn Mamas Herkunftsort, Königswinter, war gar nicht so ländlich. Annes großer Bruder musste in diesem Jahr die Schule wechseln. Er kam in die fünfte Klasse eines Gymnasiums. Für ihn würde ohnehin alles neu sein. Doch Anne ärgerte sich über den Umzug. Sie würde alle ihre Freunde nach den großen Sommerferien nicht mehr wiedersehen können. Sie war neun Jahre alt, und nach den Ferien sollte sie in die dritte Klasse kommen. Sie musste in eine neue Schule mit neuen Lehrern und fremden Kindern. Anne hasste die neue Schule und sie hasste die neue Wohnung, ja sogar die Ferien waren ihr verhasst. Sie kannte ja niemanden hier. Papa hatte ihr versprochen, sie hin und wieder zu Linda, ihrer allerbesten Freundin zu fahren. Doch bisher hatte er sein Versprechen nicht gehalten.„Du siehst doch, was hier zu tun ist“, entschuldigte er sich. „Der Umzug macht sich nicht von alleine, und ich muss bald wieder arbeiten gehen.“Natürlich sah Anne, dass noch nicht alle Kisten ausgepackt waren, dennoch wollte sie zu Linda. Seufzend saß sie auf ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Wenn sie aus ihrem alten Fester gesehen hatte, waren da immer viele Menschen gewesen. Sie hatte direkt auf den belebten Neumarkt schauen können. Hier war die Aussicht richtig langweilig. Eine Wiese, ein Klettergerüst, ein bisschen Sand und im Hintergrund ein paar Bäume. Kein Mensch weit und breit, geschweige denn ein Kind. Anne hauchte an die Scheibe, bis diese beschlug, dann zeichnete sie ein trauriges kleines Mädchen in den Dunst, das allerdings gleich wieder verschwand. Sie hatte noch fünf Wochen Ferien. Was sollte sie bloß mit der vielen Zeit anfangen? Anne seufzte wieder tief. Da ging die Zimmertüre auf. Mama stand im Türrahmen.„Was machst du denn da? Wolltest du nicht endlich die Kartons auspacken?“Anne schüttelte den Kopf. „Nein, das wollte ich nicht. Nicht hier.“„Ach Anne-Maus“, sagte die Mutter und betrat das Zimmer. „Ich verspreche dir, dass du hier ganz schnell neue Freundinnen finden wirst. Und hast du nicht ein schönes großes Zimmer?“Anne zuckte mit den Schultern. Es stimmte, dieses Zimmer war doppelt so groß wie ihr altes. Ihr Vater hatte es in Himmelblau gestrichen, ihrer Lieblingsfarbe. Mama hatte zusätzlich eine Wand mit bunten Blumen bemalt. Sie hatte auch neue Möbel bekommen. Anne hatte sie selber ausgesucht. Es war ein schönes Zimmer, doch es war nicht ihr Zimmer. Anne sah ihre Mutter an, freilich nicht mehr ganz so grimmig. Diese lächelte.„Na siehst du. Komm, ich helfe dir, die Kisten auszupacken.“Anne seufzte erneut und setzte sich vor die erste Kiste auf den Boden. Alle ihre Spielsachen hatten in zwei große Umzugskartons gepasst. Doch die Bücher und die Brettspiele waren in vier weiteren Kisten untergebracht. Es würde eine Ewigkeit dauern, bis alles ausgepackt war. Anne starrte die Kiste vor sich an. Bis alles in den Regalen ist, ist Weihnachten vorbei, dachte sie.
Mama hatte schon begonnen, Bücher in das Regal zu stellen. Lustlos klaubte Anne die ersten Sachen aus der Kiste und setzte sie in ihr schönes weißes Regal. Stofftier um Stofftier, Buch um Buch, Spiel um Spiel landeten an ihren neuen Plätzen. Das Zimmer füllte sich. Ganz unten in dem Karton befand sich die Tasche mit den Schlittschuhen. Anne hob sie heraus, überlegte und beschloss, sie unter das Bett zu schieben. Sie legte sich bäuchlings auf den Boden. Es befanden sich schon Dinge unter dem Bett. Zwei Kisten mit ihren Drei Fragezeichen–CDs, sowie eine weitere mit Asterix-Comics, die Swontje nicht mehr haben wollte. Dazu kam der Lego-Zirkus, samt Zubehör. Anne musste erst einige Dinge zur Seite schieben, um ihre Schlittschuhe zu verstauen. Als sie gerade den Zirkus nach rechts schob, sah sie ein behaartes Ding.
Ein Affe mit blauen Augen?
Das Wesen riss die Augen auf, und Anne schrie. Sie schrie, was ihre Lungenflügel hergaben. Panisch schob sie sich unterm Bett hervor. Beim Aufspringen stieß sie sich den Kopf an der Bettkante. Mama war gleich bei ihr. Sie hielt ihre schreiende Tochter mit beiden Händen fest.
„Anne, Anne, Süße, was ist denn? Anne, hör doch auf zu schreien. Was hast du denn?
„Es hat Haare“, kreischte Anne.
Da ging die Tür auf, und Papa kam herein. Hinter ihm blieb Swontje neugierig im Türrahmen stehen.
„Was ist denn los?“, fragte Papa.
Mama zeigte auf das Bett. „Da unten sitzt eine behaarte Spinne.“
„Unterm Bett?“, fragte Papa und bückte sich bereits.
Anne schüttelte den Kopf. „Keine Spinne, “ entfuhr es ihr, „ein Affe oder so.“
Swontje feixte. Anne warf ihm einen wütenden Blick zu.
„Klar“, sagte ihr großer Bruder, „unter deinem Bett wohnt ein Affe.“
Mama streichelte Anne und drückte sie an sich. Papa war unter dem Bett verschwunden. Nur seine Beine ragten noch heraus.
„Ich sehe nichts“, rief er. „Weder Spinne noch Affe.“
Kopfschüttelnd kam er wieder zum Vorschein.
„Nee, nichts“, versicherte er.
„Vielleicht hat sie sich irgendwohin verkrochen“, meinte Mama. „Sieh doch noch mal genauer nach.“
Achselzuckend verschwand Papa erneut unter dem Bett.
„Wenn das ein Affe ist, bin ich ein Elefant“, witzelte Swontje.
Mama warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
„Hast du nicht noch was in deinem Zimmer zu tun?“, fragte sie ihn.
Swontje verdrehte die Augen, trat aber von der Tür zurück. Papa war wieder aufgetaucht.
„Ich finde keine Spinne, wirklich nicht.“
„Na schön“, sagte Mama. „Wir haben ja auch keine Angst, nicht wahr Anne? “
Anne nickte, und zumindest für sie stimmte es. Anne hatte noch nie Angst vor Tieren gehabt, ganz im Gegenteil. Sie wollte Tierforscherin werden und sah sich schon durch afrikanische Savannen und Regenwälder streifen. Mama hingegen tat nur so, als hätte sie keine Angst. In Wahrheit lief sie schon vor Marienkäfern davon.
Papa entstaubte seine Hose, sah sich in Annes Zimmer um und nickte.
„Langsam wird es wohnlich“, meinte er. „Na kommt, ich helfe euch schnell mit dem Rest, und dann kochen wir was Leckeres. Ich kriege langsam Hunger.“
Die Eltern machten sich an die Arbeit. Sie überlegten, was es zu essen geben könnte. Die haarige Spinne war bereits vergessen. Anne starrte ihr Bett an.
Das war keine Spinne und auch kein Affe.
Dessen war sie sicher. Allerdings hatte sie keine Ahnung, was es sonst gewesen sein könnte. Hier ging etwas vor, und Anne musste herausfinden, was es war.
Als Mama und Papa am nächsten Tag zum Einkaufen gingen, durfte Anne zu Hause bleiben. Sie durfte nicht oft und auch nie lange alleine bleiben. Doch Papa meinte, dass man auch mal eine Ausnahme machen konnte. Anne vermutete, dass sie nach all dem Ärger mit dem ungewollten Umzug versöhnlich gestimmt werden sollte. Ihr Bruder Swontje fuhr immer mit zum Einkaufen. Wie ein nörglerisches Kleinkind versuchte er die Eltern zu überreden, ihm allerlei Unfug zu kaufen. Anne war zu groß, um sich so albern zu benehmen. Ihr Bruder hingegen war immer nur auf seinen Vorteil bedacht. Als die Drei im Aufbruch waren, hatte Swontje ihr schnell noch die Zunge raus gestreckt. Aber sie hatte sich nicht provozieren lassen.
Anne hatte noch zu viel zu erledigen. Vor allem musste sie auf die Jagd gehen. Wäre doch gelacht, wenn die große Abenteuerin und Zoologin Anne-Lindje Kolbe das haarige Ding nicht zu fassen bekäme. Kaum war sie allein, zog sie ihre Ausrüstung an. Omas altes Nudelsieb war aus Blech. Mama benutzte es nicht, doch weil es schön bemalt war, hing es als Zierde an der Küchenwand. Anne nahm es vom Haken und setzte es sich auf den Kopf. Sie fixierte es mit Paketschnur unter ihrem Kinn. Es war immer gut, einen Helm zu tragen. Um Bauch und Rücken band sie sich zwei kleine Sofakissen. Darüber trug sie Mamas Wildlederweste. Handschuhe fand sie in der Schuhkiste. Dort fingerte sie auch Papas Arbeitsschuhe heraus. Die hatten vorne eine Stahlkappe. Sie passten natürlich nicht, doch ausgestopft mit Zeitung rutschen sie nicht mehr von den Füßen. An den Beinen trug Anne die Knieschoner, die fürs Schlittschuhlaufen gedacht waren. Fertig. Nun brauchte sie nur noch eine Waffe und den Kompass. Im Wandschrank fand sie den Staubsauger. Sie zog die Rohre auseinander und nahm das mittlere mit. Eine gute Schlagwaffe. In ihrem Zimmer zog sie die Nachttischschublade auf und entnahm der kleinen Kiste, die sie dort aufbewahrte, den Kompass. Sie liebte den Kompass, er war ihr größter Schatz, etwas, das sie niemals verlieren durfte, wenn sie auch sonst alles verlor. Sie hatte ihn im letzten Spanienurlaub im Schaufenster gesehen und gewusst, dass sie ihn haben musste. Es war nicht einfach nur ein Kompass. Auf der Rückseite befand sich auch eine ausklappbare Lupe.
„Was willst du denn damit?“, hatte Papa sie vor dem Laden gefragt.
„Ich brauche ihn für meine Safari“, hatte Anne gemeint. „Jeder Zoologe hat einen Kompass. Ach bitte, Papa! Bitte!“
Ihr Vater hatte gelächelt und ihr tatsächlich den Kompass geschenkt. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem Anne nicht mit dem Kompass unterwegs war. Nur in die Schule nahm sie ihn nie mit. Sie hatte zu viel Angst, er könnte ihr geklaut werden.
Anne begann mit der Suche natürlich in ihrem eigenen Zimmer, denn hier war das haarige Ding zuerst aufgetaucht. Akribisch suchte sie jeden Winkel ab, blickte überall drunter und sah auch in den Schränken nach. Doch sie wurde nicht fündig. Das einzige, was sie fand, waren Wollmäuse.
Als sie sich sicher war, dass sich nichts und niemand in ihrem Zimmer versteckten, verließ sie es, zog die Türe zu und versiegelte es mit gelbem Allzweckklebeband. Hier war sie fertig. Sie ging als nächstes in Swontjes Zimmer. Sie hasste Swontjes Zimmer, doch wenn sie gründlich sein wollte, musste sie auch hier suchen. Ihr Bruder war zwölf, fast dreizehn, doch sein Zimmer sah aus, wie das eines Erwachsenen. Alles hatte seinen festen Platz, nichts lag auf dem Boden, es hing keine Wäsche über dem Stuhl. Die Bücher standen nach Größe sortiert auf den Regalbrettern und seine Starwars-Sammelfiguren waren immer abgestaubt. Anne verzog angewidert das Gesicht. Wie konnte man nur so ordentlich sein? Ihr Zimmer war dagegen ein Schlachtfeld. Mama neckte sie deswegen oft, gerade dann, wenn Anne etwas suchte.
„Wenn du mehr Ordnung hieltest, müsstest du nicht so viel suchen. Ordnung ist das halbe Leben, Anne.“
Es lief ihr eiskalt den Rücken runter bei dem Gedanken, dass dies stimmen könnte. Wenn Ordnung das halbe Leben war, dann machte die andere Hälfte auch schon keinen Spaß mehr. Papa hatte ihr am Tag des Einzugs ein Türschild geschenkt.
„Annes Räuberhöhle. Bitte anklopfen“, stand darauf.
Anne hatte es gar nicht lustig gefunden, vor allem weil ihr Bruder ein Schild mit der Aufschrift „Swontjes Studierzimmer. Bitte Ruhe.“ bekommen hatte.
Studierzimmer, dass ich nicht lache!
Swontje verbrachte doppelt so viel Zeit mit Rollenspielen am PC, als mit seinen Hausaufgaben.
„Warum darf Swontje einen Computer im Zimmer haben und ich nicht?“, hatte sie bei Papa gejammert.
„Weil Swonje ihn ab jetzt für die Schule braucht. Wenn du in die 5. Klasse kommst, bekommst du auch einen Computer für dein Zimmer, versprochen.“
Anne fand das ungerecht, konnte aber nichts dagegen machen. Sie würde noch ein paar Jahre den Gemeinschaftscomputer im Wohnzimmer benutzen müssen.
Swontjes Zimmer war schnell durchsucht. Es gab keine Winkel, in denen man sich hätte verstecken können. Anne versiegelte es mit Klebeband, und zog weiter in das Elternschlafzimmer. Dieses Zimmer war für Anne das schönste der ganzen Wohnung. Selbst wenn die Eltern nicht da waren verströmte es eine Aura von Sicherheit und Geborgenheit. Hier nahm Anne sich besonders viel Zeit. Sie schaute in jede Kiste, in jeden Schrank und auch unter das große Bett. Sie fand nichts Außergewöhnliches, nur ein paar alte Fotos. Mama und Papa bei ihrer Hochzeit. Sie nahm die Bilder an sich. Sie würde sie später in Ruhe mit Mama ansehen. Im Wohnzimmer gab es mehr Verstecke, doch auch hier fand sie kein haariges Ding. Der Flur war ein langer Schlauch, hier konnte sich niemand verstecken. In der Küche durchsuchte sie gründlich den Wandschrank. Als sie dort auch nichts fand, wollte sie schon aufgegeben. Nur aus Trotz lugte sie noch in die Küchenschränke. Sie zog jede Schublade auf. Als sie die letzte Schublade aufzog, hielt sie überrascht inne. Auf dem Schubladenboden lagen drei Erdnüsse. Was hatten die da zu suchen? Anne öffnete die Tür zum Vorratsschrank und überblickte das Angebot. Keine Erdnüsse. Sie hatten noch nie Erdnüsse gehabt. Keiner hier im Haus mochte Erdnüsse. Anne legte den Kopf schief und sah sich die Nüsse genauer an. Nichts Ungewöhnliches war zu entdecken, doch sie gehörten eindeutig nicht hierher. Anne nahm die drei Nüsse an sich. Sie würde sie behalten. Sie wusste zwar noch nicht, ob die Nüsse mit dem haarigen Ding in Verbindung standen, doch sie würde es herausfinden. Gerade, als sie in ihr Zimmer gehen wollte, hörte sie den Schlüssel in der Tür. Die Einkäufer waren zurückgekommen.
„Anne-Maus, wir haben dir was mitgebracht“, rief Mama fröhlich und stand auch schon voll beladen in der Küche. Ihr Blick fiel auf Anne in voller Kampfmontur. Einen Moment war sie wie erstarrt, dann lachte sie laut los.
„Björn!“, rief sie ihrem Mann zu. „Komm mal gucken und bring den Fotoapparat mit!“
Noch bevor Papa die Küche betrat, erschien Swontjes Kopf im Türrahmen. Er lachte verächtlich.
„Mann, was soll denn das sein. Der Nudelroboter?“
„Haha, sehr komisch!“, sagte Anne und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Swontje, bitte“, sagte Mama. „Das ist doch süß.“
Mama küsste Anne auf die Wange. Papa kam mit dem Fotoapparat. Er strahlte als er Anne sah.
„Oh, Anne. Warst du auf Safari?“, fragte er. „Das müssen wir festhalten. Stell dich doch mal ans Fenster.“
Anne wollte nicht, doch ihre Eltern waren so glücklich, dass sie nicht anders konnte. Sie stellte sich vors Fenster, und sie lächelte breit, obwohl sie vorne eine Zahnlücke hatte.
Papa hatte das Foto von Anne auf Safari ausgedruckt und in die Küche gehängt. Für ihn war alles ein großer Spaß. Natürlich glaubte auch Mama nicht, dass ein behaartes Tier Erdnüsse in die Küchenschublade gelegt hatte. Sie sah verwundert auf die Nüsse und meinte:
„Ich wusste gar nicht, dass du so gerne Erdnüsse isst.“
„Tue ich ja auch gar nicht. Ich habe sie doch gefunden.“
„Eigenartig, es isst doch auch sonst niemand Erdnüsse von uns.“
Triumphierend hielt Anne die Nüsse unter Mamas Nase. Das war der Beweis.
„Siehst du, ich sage ja, dass hier jemand umgeht.“
„Und Nüsse verteilt?“, fragte Mama.
Der skeptische Blick sagte Anne, dass sie verloren hatte. Hier würde ihr niemand glauben.
„Es gibt bestimmt eine andere Erklärung, als eine riesige haarige Spinne, die in unsere Küchenzeile kriecht und…“
„Keine Spinne“, rief Anne genervt. Nervös drehte sie die nierenförmigen Dinger in ihrer Hand hin und her. „Ich habe dir doch gesagt, dass es sich um ein haariges…“
„Ach Anne“, meinte Mama und bekam den „Blick“. So schaute sie immer nur, wenn sie meinte verstanden zu haben, was das eigentliche Problem war.
„Dir ist sehr langweilig hier nicht wahr?“
Anne verdrehte die Augen. „Nein, ich…“
Mama hatte den Kopf schief gelegt und Annes Schulter gestreichelt. Anne wäre am liebsten davongelaufen.
„Ich verstehe das. Wir sind gerade erst hergezogen, und du hast noch keine Freunde. Die Schule geht erst in fünf Wochen wieder los. Du bist schon ein bisschen einsam, nicht wahr? Ich verspreche dir, dass ich mir was einfallen lasse.“
Mama hatte Wort gehalten und sich etwas einfallen lassen. Zum einen hatte sie ihrer Tochter eine Dauerkarte fürs nahe Schwimmbad gekauft. Anne sollte so oft hin- gehen, wie sie wollte.
„Bestimmt wirst du dort schnell ein paar Freundinnen finden.“
Anne hatte dazu nichts gesagt. Mama meinte es ja gut.
Zum anderen hatte Mama beschlossen, dass Anne neue Bücher brauchte. Aus diesem Grund waren sie gerade auf dem Weg zu einer Buchhandlung, die Mama beim letzten Einkauf entdeckt hatte. Eigentlich freute Anne sich auf die neuen Bücher, dummerweise wusste sie aber auch, dass Literatur nichts an dem Problem ändern würde. Zwar hatte Anne ihrer Mutter nichts mehr erzählt, doch sie hatte weitere Erdnusshaufen gefunden. Einer hatte im Badezimmer gelegen, an der Stelle, wo Mama ihren Schmuck hinlegte, wenn sie ihn vorm Schlafengehen auszog. Die Erdnüsse waren aufgetaucht und Mamas Ohrringe verschwunden. Seit Tagen suchte sie danach. Papa hatte selbst den Siphon aufschrauben müssen. Es hätte ja sein können, dass die Ohrringe ins Waschbecken gefallen waren und nun im Abfluss steckten. Natürlich hatte Papa nichts außer Schmutz und Haaren gefunden. Anne hatte die Nüsse an sich genommen, noch bevor ein anderer sie gesehen hatte. Nachher hätte Mama noch gedacht, dass sie hinter der ganzen Sache steckte. Erwachsene kamen oft auf komische Ideen. Sie hatte die Nüsse zu den anderen in ein altes Goldfischglas geworfen, das unter ihrem Bett stand. Einen weiteren Haufen hatte sie im Flurschränkchen entdeckt. Sie hatte keine Ahnung, ob, und wenn ja, etwas fehlte, denn hier wurde alles Mögliche gesammelt. Auch diese Nüsse waren im Glas gelandet. Lustig war, dass Swontjes Schlüssel verschwunden war. Die Ordnung in Person konnte ihn einfach nicht finden. Allerdings hatte Anne keine Nüsse gefunden, weshalb es sein konnte, dass Swontje den Schlüssel tatsächlich nur verloren hatte. So oder so, es war bewiesen:
Irgendjemand geht bei uns im Haus um und sammelt glänzende Dinge.
„Anne, du schläfst ja fast ein beim Gehen.“
Mamas Worte rissen Anne aus ihren Gedanken. Sie sah auf. Ihre Mutter stand im Eingang zu einem kleinen Laden. Die Türe hielt sie lässig mit einem Fuß geöffnet.
„Komm schon, wir sind da.“
Mit diesen Worten verschwand sie im Laden. Anne sah sich um. Mama hatte sie zu einem alten Steingebäude mitgenommen. Das Haus besaß einen olivfarbenen Anstrich. Neben der dunklen Holztüre war in einer Nische ein Frauenkopf aus Stein aufgestellt worden. Der Kopf wirkte sehr lebensecht, erschreckend lebensecht. Die Frau trug einen weißen Hut, von dem drei schwarze Federn abstanden. Ihr Gesicht war blass rosa, der Mund sehr rot. Er bildete ein stummes „Oh“. Sie hatte eine feine kleine Nase. Die Augen waren braun. Sie sahen aus wie Mandeln. Die Augenbrauen waren nach oben gezogen. Zusammen mit dem Mund gaben sie dem Gesicht einen Ausdruck von Überraschung. Unterhalb des langen Halses kam ein Teil der Schultern zum Vorschein. Die Frau hatte etwas Blaues an.
Vielleicht ein Kleid?
Anne schauderte. Ein ungutes Gefühl schnürte ihr die Kehle zu. Sie wusste, dass es Unsinn war, doch sie traute sich nicht, an diesem Kopf vorbeizugehen. Vorsichtig ging sie einen Schritt weiter auf die Türe zu. Sie ließ den Kopf nicht aus dem Blick. Als sie näher kam, konnte sie kleine Falten um den Mund und auf der Stirn erkennen. Anne schluckte, machte aber noch einen Schritt.
Sind das Wimpern?
„Anne, was trödelst du denn schon wieder?“
Mama hatte von innen die Tür geöffnet, um zu sehen, wo ihre Tochter blieb. Anne zuckte zusammen. Erschrocken sah sie ihre Mutter an. Wortlos zeigte sie auf den Frauenkopf. Mama sah in die gewiesene Richtung und lächelte.
„Ja, sehr schön, nicht wahr? “, sagte sie und warf einen kurzen Blick auf das Bildnis.
Anne schüttelte den Kopf, doch Mama bemerkte es nicht. Sie griff nach der Hand ihrer Tochter und zog sie hinter sich her in den Laden. Anne warf im Vorbeigehen einen letzten Blick auf den Frauenkopf. Sie hätte schwören können, dass die Mandelaugen sie ansahen.
Vom Inneren des Buchladens war Anne beeindruckt und eingeschüchtert zugleich. Ihre Überraschung hätte nicht größer sein können. Das olivfarbene Haus hatte von außen nicht vermuten lassen, dass sein Inneres so groß war. Doch das musste es auch sein, denn jeder Zentimeter Platz war mit Büchern gefüllt. An den Wänden standen Regale bis unter die Decke. An die obersten Reihen kam man nur mit einer großen Leiter. Anne wurde es schon beim Hinaufsehen schwindelig. Schnell wandte sie den Blick ab. Im Raum verteilt standen kleine Schränkchen, die ebenfalls mit Büchern gefüllt und auf denen sie gestapelt waren. Unter der Decke hingen Körbe. Anne konnte nicht hineinsehen, doch sie nahm an, dass auch dort Bücher verstaut waren. Der große Raum wirkte völlig überladen und ungeordnet. Wie sollte man sich hier nur zurechtfinden?
Gegenüber der Eingangstür befand sich eine dunkle alte Theke. Sie reichte Anne bis an die Brust. Dahinter saß ein mürrisch dreinblickender Mann. Er war sehr dünn und groß, hatte eine Glatze und eine schnabelartige Nase. Es war schwer zu sagen, wie alt er sein mochte. Anne schätze, dass er älter war als Mama und Papa, doch sein Gesicht wirkte glatt und rosig. Zu Annes Erstaunen trug der Mann einen schwarzen Anzug und eine Fliege.
Vielleicht will er noch in die Oper, dachte Anne
Mama ging schnurstracks auf den Mann zu. Sie lächelte zurückhaltend und fragte dann.
„Arbeiten Sie hier?“
Der Mann sah sie an, als hätte sie die dümmste Frage der Welt gestellt.
„Wieso fragen Sie mich das?“, erwiderte er. Seine Stimme war hoch und näselnd.
Mama schien verdutzt. „Nun ja, Sie sitzen hinter der Theke.“
Der Mann stand auf und nickte. Er sagte nichts, zeigte stattdessen mit seinen langen Fingern auf die Theke, als wolle er auf etwas aufmerksam machen. Mama folgte verwirrt seiner Geste. Sie dachte angestrengt darüber nach, was ihr der Fremde zeigen wollte.
„Ganz schön staubig“, sagte Anne, die sich ebenfalls die Theke angesehen hatte.
Mama wurde rot. „Anne!“, sagte sie schnellt und dann, „Kinder, Sie wissen ja…“
Der Mann nickte. Seine Augen richteten sich auf Anne. Sie sahen aus wie zwei Kohlenstücke.
„Oh ja“, sagte er, „Kinder sind ganz wundervolle Geschöpfe.
Mama nickte und lächelte. Anne wusste es besser. Dieser Mann hatte zwar gesagt, Kinder seien wundervoll, doch gemeint hatte er etwas ganz anderes.
Ruckartig wand sich der Mann Mama zu. „Zu Ihrer Frage, Gnädigste.“
Mama blinzelte und wurde schon wieder rot.
„Ich arbeite hier nicht nur, ich bin der Besitzer dieses fantastischen Buchladens. Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Merymend. Rasmus Merymend.“
Daraufhin nahm er Mamas Finger und hauchte einen leichten Kuss auf ihren Handrücken. Zum dritten Mal lief Mama rot an. Nun sah sie aus wie eine reife Kirsche. Anne verzog angewidert das Gesicht. Dieser Merymend war ihr unsympathisch. Doch Mama schien von ihm sehr angetan zu sein.
„Oh“, sagte Mama verlegen, „Sie haben wirklich einen schönen Laden.“
„Nicht wahr“, bestätigte Merymend und entblößte beim Lächeln eine Reihe krummer, spitzer Zähne.
„Ich war nur so verwundert.“
„Verwundert Gnädigste, warum?“
„Nun, Sie sind so gut gekleidet, als wären sie auf einem Ball.“
„Das ist das mindeste, was ich meinen werten Kunden schuldig bin – und diesem Interieur.“
Ausladend wies Merymend mit der rechten Hand durch seinen Laden. Anne folgte der Bewegung. Dabei sah sie, dass der große Raum, in dem sie stand, noch nicht alles war. Rechts von der Eingangstüre, verborgen hinter Regalen, war ein Durchgang.
„Ich merke schon, Sie sind ein Mann der alten Schule“, sagte Mama und kicherte.
Herr Merymend nickte bloß und zeigte erneut sein Haifischlächeln.
Anne entfernte sich ein paar Schritte von den beiden Erwachsenen. Sie tat, als sähe sie sich interessiert um, während sie sich langsam auf den Durchgang zu bewegte.
„Merymend“, hörte sie ihre Mutter sagen. „Was für ein außergewöhnlicher Name.“
„Nun, meine Familie ist schon sehr alt. Ich kann meine Vorfahren bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Sehen sie hier.“ Er wies auf die Wand hinter seiner Theke. „Dies hier ist mein Stammbaum.“
„Sehr beeindruckend“, sagte Mama.
Den Rest nahm Anne nicht mehr wahr, sie hatte den Durchgang erreicht und blickte in den anderen Raum. Zuerst war sie enttäuscht, sah er doch auf den ersten Blick genauso aus wie der, in dem Mama sich gerade mit der Adlernase unterhielt. Doch bei näherem Hinsehen sah sie im hinteren Teil, dort wo es keine Fenster gab, ein Glimmen, schwach nur, aber deutlich sichtbar. Neugierig geworden, ging sie darauf zu, bis ihr ein Bücherregal den Weg versperrte. Als sie dahinter blickte, sah sie zu ihrer Verblüffung einen großen Vogel, der auf einem kleinen roten Sofa saß. Der Vogel war grün und das Sofa gerade groß genug, dass der Piepmatz darauf Platz fand. Verdutzt blieb Anne stehen. Auch der Vogel schien überrascht zu sein. Das Glimmen, das Anne zwischen den unteren Etagen des Bücherregals wahrgenommen hatte, kam von keiner elektrischen Lichtquelle, sondern von Zeichen, die auf den Boden gemalt worden waren. Kreisrund um das Sofa herum waren sie angeordnet. Anne hatte noch nie in ihrem Leben so etwas gesehen. Sie ging näher an den Kreis heran und hockte sich hin. Vorsichtig berührte sie eines der Zeichen mit ihrem rechten Zeigefinger. Schlagartig ging ein gleißendes Licht von dem Kreis aus. Anne erschrak. Sie riss ihre Hand fort und robbte zurück, bis sie mit dem Rücken an das Bücherregal stieß. Das Licht war erloschen, Anne konnte nichts sehen. Vor ihren Augen tanzten bunte Lichtpunkte.
Was war das?
Mit dem Handballen rieb sie die Augen. Als sie ihre Umgebung wieder betrachten konnte, sah sie, dass sich nichts verändert hatte. Nur der Vogel war von seinem roten Sofa gesprungen und stand nun direkt vor den Zeichen. Er sah Anne in die Augen. Dem Mädchen lief es kalt den Rücken runter. Der Vogel schabte mit seinen großen Krallen auf dem Boden. Anne beobachtete die Bewegung, dann nickte der Vogel ihr zu. Verständnislos runzelte sie die Stirn. Sogleich fing der Vogel wieder an zu schaben. Anne rückte ein bisschen näher heran. Der Vogel nickte. Langsam streckte sie die Hand nach dem Tier aus. Der Vogel beobachtete sie stumm. Als sie kurz davor war, das Gefieder zu berühren, zog sie erschrocken die Hand zurück. Anne hätte nicht sagen können warum, doch eine Eingebung sagte ihr, dass sie das Tier auf keinen Fall berühren durfte. Der Vogel schlug aufgebracht mit seinen Flügeln. Anne rannte davon, zurück in den anderen Raum zu Mama, die immer noch seelenruhig mit Herrn Merymend redete. Das Thema Familienstammbaum hatten die beiden abgehakt. Inzwischen war der große Mann dazu übergegangen, Bücher vor Mama aufzutürmen. Anne nahm ihre Mutter bei der Hand. Ihr Herz klopfte und sie wollte so schnell wie möglich hier weg. Mama wandte sich ihr zu.
„Und Maus? Hast du was Schönes gefunden?“
Anne schüttelte den Kopf. Merymend warf ihr einen prüfenden Blick zu.
„Sieh mal“, Mama zeigte ihrer Tochter ein Buch.
MOMO war auf dem Einband zu lesen.
„Möchtest du das mitnehmen? Herr Merymend sagt, dass es hervorragend wäre.“
Anne sah sich das Buch genauer an. Mama erzählte gerade, was sie vom Ladeninhaber über das Buch gehört hatte. Anne musste zugeben, dass die Geschichte sehr spannend klang.
„Ja, gerne“, sagte sie deshalb.
Mama war zufrieden, und Herr Merymend nahm das Buch mit einem Kopfnicken entgegen, bevor er es in eine Papiertüte packte.
„Du wirst es nicht bereuen, Kleines“, sagte Herr Merymend mit einem Lächeln, das Anne unheimlich vorkam.
„Bestimmt nicht“, sagte Mama, bevor Anne antworten konnte. „Wir nehmen erstmal das eine und kommen dann bei Bedarf wieder her. Ich bin schon lange nicht mehr so freundlich beraten worden.“
„Aber, aber, Gnädigste“, sagte Merymend und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist doch selbstverständlich.“
„Nein, nein“, meinte Mama, „nicht jeder gibt sich so viel Mühe.
Einer Eingebung folgend rief Anne zwischen die Lobhudelei: „Haben Sie ein Buch über Vögel?“
„Vögel?“, fragten Mama und Merymend gleichzeitig.
Anne nickte. „Ja, Papageien.“
Merymend zuckte kurz zusammen, doch Mama sah ihre Tochter nur fragend an.
„Wegen meiner Forschung“, meinte Anne und Mama lachte.
„Forschung?“, fragte Merymend argwöhnisch.
„Ja“, antwortete Mama, „Anne wird Forscherin wenn sie groß ist, da muss sie sich jetzt schon bilden.
Merymend nickte. „Ich habe da allerlei.“ Sogleich verschwand er in der Regalschlucht. Nach einigen Augenblicken kam er mit drei kleinen und einem großen Buch zurück.
„Sind in dem großen Bilder?“, fragte Anne.
„Man soll ein Buch nicht nach seinen Bildern beurteilen“, sagte Merymend und sah Anne geringschätzig an.
„Ich möchte aber auch sehen, worüber ich lese.“
Mama nickte. „Ja, wir nehmen das Buch mit den Bildern.“
Merymend legte die kleinen Bücher beiseite und packte das große in eine neue Papiertüre. Er reichte sie Anne. Überrascht von dem Gewicht, hätte sie die Tüte fast fallen gelassen.
„Schwere Lektüre“, sagte Merymend.
Er sah Anne so durchdringend an, dass sie den Blick senkte.
„Nicht für meine Anne“, sagte da Mama. „Wenn sie an etwas interessiert ist, zeigt sie richtigen Entdeckergeist.“
„Gewiss, Gnädigste“, sagte Merymed, „die eigenen Kinder sind immer die besten“.
Mama kicherte, streichelte Anne über den Kopf und bezahlte. Dann reichte sie dem Buchhändler die Hand.
„Vielen Dank, Herr Merymend. Wir werden Ihnen berichten, wie das Buch war, dass sie so wärmstens empfohlen haben.“
Nur widerwillig ergriff Merymend die dargebotene Hand.
„Ich danke Ihnen, Teuerste. Bitte beehren Sie mich recht bald wieder, und bringen Sie diesen Fratz da mit.“
Damit warf er einen letzen Blick auf Anne, einen Blick der sagte: „Bleib bloß weg von hier, du Kröte “.
Anne schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Mama winkte noch mal Herrn Merymend zu, dann ging sie zur Tür. Ihre Tochter lief schnell hinterher. Sie wollte auf keinen Fall allein an diesem Ort bleiben, nicht eine Sekunde. Als die Türe hinter ihnen krachend ins Schloss fiel, atmete Anne erleichtert auf.
Als Mama am Abend mit Papa über den wundervollen Buchladen und den interessanten Herr Merymend redete, fragte sich Anne, ob sie mit Mama im selben Laden gewesen war. Sie hatte überhaupt nichts Wundervolles entdecken können. Der Laden war unordentlich und ziemlich schäbig, kein Vergleich zu der großen, von Licht durchfluteten, Buchhandlung, zu der sie vor dem Umzug immer gegangen waren. Herrn Merymend konnte man durchaus als interessant bezeichnen, allerdings beschrieb Mama ihn so, als gäbe es weit und breit keinen zuvorkommenendern, höflicheren, gebildeteren, besser aussehenden Mann als ihn. Anne fragte sich ernsthaft, ob ihre Mutter den Verstand verloren hatte. Sonst ließ sie sich nicht so schnell beeindrucken. Sie war keine dumme Frau, sie hatte Psychologie studiert und kannte sich aus mit den Menschen. Es war schwer, ihr etwas vorzumachen. Ausgerechnet auf diesen Merymend musste sie hereingefallen. Darüber würde Anne noch nachdenken müssen. Aber erst mal hatte sie genug zu tun mit den Rätseln, die sich plötzlich vor ihr auftaten wie ein schwarzes Loch: Das haarige Ding unter ihrem Bett, die Erdnüsse, die steinerne Frau mit Hut, der unheimliche Laden, der Vogel, der Kreis, das Licht… Und dann natürlich dieser undurchschaubare Herr Merymend, für den Mama so schwärmte. Konnte es sein, dass es in diesem Durcheinander von Dingen eine Ordnung gab, womöglich einen Zusammenhang?
Nach dem Abendessen hatte Anne sich gleich in ihr Zimmer zurückgezogen.
„Willst du denn nicht mitspielen?“, hatte Papa gefragt, der gerade ein Brettspiel aus der Küchenbank gezogen hatte.
Anne hatte nur den Kopf geschüttelt. Mama war gleich zu ihr gekommen, um ihr die Stirn zu fühlen.
„Wirst du krank?“
Anne hatte mit den Schultern gezuckt und Mama hatte sie gestreichelt.
„Geh ruhig ins Bett, Anne-Maus. Ich bringe dir gleich noch eine heiße Milch mit Honig. Das hilft bestimmt.“
Anne lag bäuchlings auf ihrem Bett, schlurfte die warme Milch und blätterte in dem Papageienbuch. Es gab viele schöne Papageien. Die Bilder luden zum Träumen ein. Wäre es nicht wundervoll, diese herrlichen Tiere mit eigenen Augen zu sehen?
Irgendwann werde ich sie sehen. Wenn ich erst mal Zoologin bin, werde ich alle Tiere der Welt sehen.
Anne lächelte bei diesem Gedanken. Anders als andere Kinder mochte sie nicht in den Zoo gehen. Die eingesperrten Tiere machten sie traurig. Anne liebte Dokumentarfilme. „Serengeti lebt!“ hatte sie schon oft gesehen. Papa hatte ihr die DVD zu ihrem letzten Geburtstag gekauft. Seitdem war der Film eine Art Sonntagsritual geworden. In aller Frühe stand Anne auf, machte sich einen Toast, setzte sich dann 60 Minuten auf das Sofa, und genoss die Tiere in der freien Wildbahn, wenn auch nur gefilmte. Solche Tiere wollte sie beobachten und erforschen, wenn sie groß war. Sie konnte sich keinen schöneren Beruf vorstellen als diesen.
Gedankenverloren blätterte sie eine Seite nach der anderen um. Sie glaubte schon nicht mehr daran, den Vogel aus der Buchhandlung zu entdecken, als sie an der folgenden Überschrift hängen blieb:
Der Kakapo – gefährdeter Bewohner Neuseelands
Aufgeregt betrachtete Anne das Bild. Das hier war genau der Vogel, den sie in der Buchhandlung gesehen hatte, ein großer, überwiegend grüner Papagei mit stark gebogenem Schnabel. Er verdiente es, als süß bezeichnet zu werden, denn in den schwarzen Knopfaugen lag ein sanfter Blick, der Annes Herz sogleich zum Schmelzen brachte.
Anne überflog den Text und runzelte die Stirn.
Der Kakapo ist eine Papageienart, die nur in Neuseeland vorkommt. Er ist flugunfähig, kann allerdings gut klettern. Zwar ist er der größte Papagei der Welt, aber auch extrem gefährdet. Es gibt nur noch so wenige seiner Art, dass die Zoologen in Neuseeland jedes Tier kennen und beobachten.
Anne besah sich das Bild erneut. Konnte es sein, dass ein fast ausgestorbenes Tier in Deutschland in Köln in einer Buchhandlung saß? Plötzlich fühlte sie sich wirklich krank. Ihr Bauch schmerzte und ihr Kopf tat weh. Sie schlug das Buch zu und legte ihren Kopf auf den harten Einband.
Was passiert hier?
Papa öffnete die Tür und lugte in Annes Zimmer.
„Mausezahn, du bist ja noch wach.“
Anne setzte sich auf. „Ich kann nicht schlafen.“
Papa öffnete die Tür ganz und trat zu ihr ans Bett.
„Tut dir was weh?“
Anne zeigte auf ihren Bauch. Papa setzte sich auf ihre Bettkante. Er nahm das große Buch und legte es auf ihren Nachttisch, dann schüttelte er ihre Kissen aus und legte sie mit sanftem Druck auf den Rücken. Als Papa die Decke über sie zog und ihr einen Kuss auf die Stirn gab, fühle Anne sich schon gar nicht mehr so schlecht.
„Soll ich dir eine Geschichte erzählen“, fragte Papa.
Anne lächelte. „Kannst du noch mal die von der kleinen Hexe erzählen?“
„Aber natürlich, mein Mäusemädchen.“
Anne schloss die Augen und lauschte Papas Stimme. Sanft erzählte er von der kleinen Hexe und ihrem Raben Abraxas. Anne zwang sich, wach zu bleiben, weil sie unbedingt den Schluss von der Geschichte hören wollte. Deshalb machte ihr Papa zum Einschlafen noch eine Drei-???-Kassette an, bevor er ihr Zimmer verließ. Anne fühlte sich seltsam erregt. Die Welt erschien ihr dumpf, wie in Watte gehüllt. Sie würde sich morgen wieder Gedanken machen und vielleicht sah die Welt dann klarer aus. Weniger verwirrend. Sie rollte sich auf die Seite. Mit der linken Hand zog sie ihre Nachttischschublade auf und öffnete das bunte Kästchen, das dort immer stand. Mit den Fingerspitzen strich sie über ihren Kompass.
Du wirst mir immer den Weg weisen, egal wo ich bin.
Als Anne am nächsten Morgen die Beine aus dem Bett schwang, trat sie auf etwas Hartes. Zuerst war sie verwirrt, doch dann entstand ein Bild in ihrem Kopf: Erdnüsse.
Tatsächlich, Anne war auf Erdnüsse getreten, die vor ihrem Bett gelegen hatten. Die Schalen waren eingetreten, die Frucht zermalmt. Unter ihrem Fuß klebten Krümel. Anne wischte sie fort und überlegte, ob etwas vor ihrem Bett gestanden hatte, das den Dieb interessiert haben könnte.
Es muss etwas Glänzendes sein.
Doch es wollte ihr nichts einfallen. Sie ging auf alle Viere und lugte unter das Bett. Das übliche Chaos blickte ihr entgegen. Anne schüttelte den Kopf. Unmöglich, herauszufinden, was alles da unten lag.
Ich muss wohl warten, bis ich etwas vermisse, dachte Anne und erhob sich.
Krachend stieß sie beim Aufstehen mit dem Hinterkopf an ihre Nachttisch-Schublade, die sie wohl gestern Abend zu schließen vergessen hatte. Murrend setzte sie sich zurück auf ihr Bett und blickte in die offene Lade. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Das Kästchen war offen, der Kompass verschwunden. Im Kästchen lagen Erdnüsse.
Entsetzt schrie Anne auf.
„Das geht zu weit! Du kannst alles haben, aber nicht den Kompass!“
Schreiend und tobend lief sie durch ihr Zimmer und suchte nach ihrem liebsten Schatz, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Der Dieb war bereits über alle Berge und würde erst dann wieder auftauchen, wenn er den nächsten Gegenstand holte. Wenn sie ihren Kompass jemals wiedersehen wollte, dann musste sie das haarige Ding einfangen. Sie musste ihm eine Falle stellen und es zwingen, alles wieder herzugeben, was es geklaut hatte.
Mamas verschlafenes Gesicht erschien in Annes Türrahmen.
„Anne? Was machst du für einen Krach?“
„Das behaarte Ding hat meinen Kompass gestohlen und dafür Erdnüsse zurückgelassen.“
Mama rieb sich die müden Augen und gähnte.
„Du meinst die große Spinne?“
„Keine Spinne!“, schrie Anne, so laut sie konnte.
Mama sah sie befremdet an. „Anne, was ist das für ein Ton?“
Ja, wie redete sie mit ihrer Mutter? Anne tat es sogleich leid.
Swontje erschien hinter Mama und nörgelte: „Kann man denn hier nie seine Ruhe haben?“
„Ach, lass doch“, meinte Mama, „Anne hat einen Aussetzer. Das geht vorüber. Ich geh mal und mache Frühstück. Möchtest du ein Ei, Bärchen?“
Swontje zog missbilligend die Augenbrauen hoch. „Mama, ich bin zu alt dafür.“
„Für Eier?“ Mama gähnte erneut.
„Nein“, flüsterte Swontje, „für Bärchen.“
Mama tippte Swontje auf die Nase. „Das mag sein, doch ich bin es noch nicht, und solange ich es noch nicht bin, wirst du Kosenamen ertragen müssen, obwohl du psychologisch betrachtet völlig im Recht bist, mein Murmeltier“.
Mama ließ Swontje stehen und ging in die Küche. Anne grinste.
„Mein Murmeltier“, äffte sie ihre Mutter nach, wobei sie ziemlich genau deren Tonfall traf.
„Du bist ja bescheuert!“, knurrte Swontje und verschwand in seinem Zimmer.
Anne stieß einen Seufzer aus. Normalerweise machte es ihr mehr Spaß, Swontje zu ärgern. Aber ihr Kummer war durch das kleine Zwischenspiel mit Mama und Bruder nicht ausgeräumt.
„Mein schöner Kompass“, seufzte sie leise und fühlte, wie sich ihr Magen zusammen zog.
Sie brauchte etwas Glänzendes, etwas, das leuchtete, funkelte, glitzerte, so schön, dass dieses haarige Wesen unmöglich widerstehen konnte. Es durfte nur nichts Wertvolles sein, schon gar nicht, wenn es Mama oder Papa gehörte.
Anne setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl und dachte nach.
Was glänzt und ist schön?
Anne schnippte mit den Fingern. Das war die Idee: Weihnachtsbaumschmuck.
Schnell zog sie sich den Morgenmantel und die Hauschuhe an. Im Flur schnappte sie sich Haus- und Kellerschlüssel vom Haken und schlich, so leise sie konnte, mit schlechtem Gewissen aus der Wohnung. Papa wollte nicht, dass seine Kinder allein in den Keller gingen. Eigentlich war Anne auch nicht sehr scharf darauf. Es war dunkel, staubig und gruselig dort unten. Doch für den Kompass würde sie fast alles tun. Im Parterre begegnete sie Herrn Friedel, einem netten alten Mann, der den Kolbekindern öfter mal Süßigkeiten zusteckte. Man sah ihm an, dass er auch selber der süßen Versuchung nicht abgeneigt war. Anne fand, dass er ein bisschen aussah wie Humti Dumti. Alles an ihm war rund, der Bauch, der Kopf, die Nase, die Augen, der lächelnde Mund, sogar die kleine Brille, die er immer trug. Der Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass er kaum noch Haare auf dem Kopf hatte und der Hals sehr kurz war.
„Anne!“, rief Herr Friedel und lachte. „Mensch, das ist ja schön, dich zu sehen. Hast du dich mittlerweile bei uns eingelebt? Was machst du denn so früh hier unten im Schlafanzug?“
„Morgen Herr Friedel“, stotterte Anne und hoffte, dass Mama nichts mitbekommen hatte. „Ich möchte in den Keller.“
„Ganz alleine? So mutig war ich in deinem Alter aber nicht.“
„Ist ja nur kurz“, sagte Anne schnell und hoffte, dass Herr Friedel ihr die Aufregung nicht anmerkte. “Und Sie? Morgenspaziergang?“
Herr Friedel zeigte auf seinen Dackel. „Otto muss Pipi.“
Anne lächelte, bückte sich und streichelte den Hund.
„Na Otto, wie geht es dir heute Morgen? “
„Otto hat immer gute Laune“, meinte Herr Friedel fröhlich.
Anne lächelte. „Das hat er von Ihnen.“
Herr Friedel schaute erst überrascht drein, lachte dann aber herzlich.
„Da hast du Recht, Anne. Wenn man so lange zusammenlebt, wird man sich immer ähnlicher“
Anne lachte ebenfalls. Herr Friedel suchte und fand in seiner Tasche zwei Karamellbonbons.
„Hier Anne, gib eins deinem Bruder, ja? Wir müssen. Otto drängt. Viel Spaß im Keller.“
Friedel blinzelte ihr mit dem rechten Auge zu. Anne tat es ihm gleich, obwohl sie nicht wusste, warum. Sie sah den beiden nach, wie sie in die Sonne traten, dann setzte sie ihren Weg in den Keller fort. Die Kellertüre quietschte, als Anne an ihr zog, fast wie in den Gespenstergeschichten, die Mama manchmal zum Besten gab. Anne atmete tief ein. Sie wusste, dass es keine Gespenster gab. Allerdings war dieses Wissen durch die Ereignisse der letzten Tage ein wenig geschwächt worden. Das Neonlicht surrte, ansonsten war es still. Anne brauchte einige Zeit, bis sie den richtigen Holzverschlag gefunden hatte. Papa hatte den Familiennamen auf die Tür geschrieben, sonst hätte Anne wohl alle Schlösser durchprobieren müssen. Das Schloss öffnete sich problemlos. Der Keller war so gut wie leer. Mama hatte vieles weggeworfen, als sie umgezogen waren. Papas Werkzeug war ordentlich in einem Regal an der rechten Wand untergebracht. Auf der linken Seite befanden sich Mamas Dekorationssachen für Karneval, Ostern, Weihnachten und Kindergeburtstage. Anne wusste, dass in den blauen Kartons der Weihnachtsschmuck war. Sie öffnete einen und schaute verzückt auf eine Reihe kleiner roter Glöckchen. Sie waren genau wie die Kugeln aus dünnem Glas und glänzten wie poliert. Anne nahm ein Glöckchen aus der Schachtel. Es war leicht wie eine Feder. Ein kleiner Klöppel steckte in seinem Hohlkörper. Wenn man es schüttelte, bimmelte es sogar. Dieses kleine Glöckchen war die perfekte Falle für jemanden, der glänzende Dinge stahl. Da war sich Anne ganz sicher.
Anne saß auf ihrem Bett und drehte das Glöckchen in ihren Händen. Bei jeder Umdrehung schlug der kleine Klöppel an.
Pling, pling, pling, pling…
Anne hörte es gar nicht, sie war mit ihren Gedanken weit weg. Sie musste sich eingestehen, dass sie Angst hatte. Sie hatte keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tun hatte. Doch eines wusste sie ganz sicher, dieser Jemand war kein Mensch. Allerdings auch kein Tier. Für ein Tier war er zu intelligent. Intelligente Wesen konnten sehr viel gefährlicher werden als zum Beispiel ein wilder Elefant. Das sagte Papa immer, und Anne glaubte ihm. Aber sie durfte sich nicht einschüchtern lassen. Sie musste ihren Kompass wiederhaben, unbedingt. Sie brauchte ihn. Anne seufzte tief. In diesem Augenblick betrat Mama ihr Zimmer.
„Anne-Maus, Zeit zum Schlafen.“
Anne nickte stumm, legte sich auf die Seite und wartete, dass Mama die Decke über sie zog.
„Geht es dir immer noch nicht gut?“, fragte Mama fürsorglich und befühlte Annes Stirn.
„Geht schon“, meinte Anne.
Mama lächelte und zog die Decke über ihre Tochter.
„So, nun mummel dich ganz fest ein, und morgen sieht die Welt schon wieder viel besser aus.“
Anne lächelte ihre Mutter an: „Ja, bestimmt.“
„Ganz bestimmt“, sagte Mama und küsste sie auf die Wange. „Schlaf gut, mein Mausezahn.“
„Nacht“, sagte Anne und schloss die Augen.
Mama löschte das Licht und zog beim Rausgehen die Tür hinter sich zu. Kaum war sie draußen, richtete sich Anne wieder auf. Sie legte das Glöckchen, das sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, auf den Nachttisch. Dann zog sie das Rollo so weit hoch, dass genügend Licht von der Straße hereinfiel, um das Glöckchen im Auge zu behalten. Es würde nicht leicht sein, im Dunkeln wach zu bleiben und aufmerksam alles zu beobachten, was vor sich ging. Doch Anne musste es versuchen.
Die Minuten verstrichen. Annes Augenlider wurden immer schwerer. Ihr war klar, dass sie wahrscheinlich nicht die ganze Nacht durchhalten würde, deshalb hoffte sie innständig, dass bald etwas passierte. Sie hatte kein Talent, lange wach zu bleiben. Noch nicht mal Sylvester schaffte sie es, bis Mitternacht durchzuhalten. Das hier war eine echte Herausforderung.
Zwei Mal waren ihr die Augen zugefallen, zwei Mal war sie erschrocken wieder zu sich gekommen und hatte mit Erleichterung festgestellt, dass die Glocke noch da war. Angestrengt überlegte sie, wie sie sich wach halten konnte, als sie plötzlich ein Geräusch hörte. Anne hielt die Luft an und lauschte. Jemand war vor ihrer Tür. Sie konnte ein leises Schaben hören. Anne starrte auf die Klinke.
Sie konnte sie im Dunkeln kaum erkennen, hätte aber schwören können, dass sie sich bewegte. Und tatsächlich, ihre Zimmertür wurde langsam aufgeschoben. Anne zog sich die Decke bis unter die Nase. Gebannt starrte sie Richtung Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Dann sah sie etwas das Zimmer betreten. Es konnte nicht größer als einen Meter sein und war in der Dunkelheit kaum zu sehen. Langsam kam dieses Etwas auf sie zu. Annes Finger verkrampften sich in der Decke. Sie schloss die Augen bis auf einen Schlitz, durch den sie beobachtete, was geschah. Anne meinte, einen runden Kopf mit spitzen Ohren auf einem gedrungenen Körper zu erkennen. Als das Wesen noch näher kam, sah sie das dunkle Fell. Annes Herz raste. Das konnte der Dieb sein, den sie fangen wollte. Aber der mutige Vorsatz war untergegangen in ihrer Angst. Sie wollte schreien und brachte keinen Ton heraus.
Der Eindringling stand nun so dicht vor ihr, dass sie ihn hätte berühren können. Das Wesen aber beachtete Anne nicht, ja schien sie nicht mal zu bemerken. Es starrte nur auf das Glöckchen auf dem Nachttisch, das im einfallenden Licht der Straßenlaterne matt glänzte. Anne zweifelte nicht länger an der Absicht des haarigen Wesens. Trotzdem war sie erleichtert. Wenn das Wesen nur Augen für das Glöckchen hatte, drohte ihr offenbar keine Gefahr. Sie fasste wieder Mut.
„Oh“, flüsterte das Wesen. „Glänzeding. Feines Glänzeding.“
Anne schluckte. Das Wesen konnte sprechen. Seine Stimme klang hell und ein bisschen näselnd. Das machte Anne noch ein bisschen mutiger. Wenn das Wesen sprechen konnte, war es auch möglich, sich mit ihm zu verständigen. Aber dazu musste verhindert werden, dass es weglaufen konnte. Gerade streckte das Wesen die Pfote nach dem Glöckchen aus, da nahm Anne sich ein Herz, schoss hoch, riss die Decke von sich und warf sie über den Eindringling. Dann sprang sie aus dem Bett und warf sich selber über ihn. Das Wesen unter ihr gab panische Laute von sich. Fast hatte Anne Mitleid mit ihm, doch diese Regung verging schnell, als ihr bewusst wurde, dass sie den Kompassdieb vor sich hatte. Jetzt zog sie die Decke noch fester zu. Als sie sicher war, dass der Eindringling nicht entkommen konnte, tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. Ihre Augen mussten sich erst an das Licht gewöhnen. Blinzelnd betrachtete sie den Haufen. Das Wesen rührte sich nicht. Nichts deutete darauf hin, dass unter der Bettdecke etwas Lebendiges lag.
„Hallo“, sagte Anne.
Keine Antwort.
„Hallo“, sagte sie noch mal.
Immer noch keine Antwort.
„Ich weiß, du bist da drinnen, und ich weiß, du kannst sprechen.“
„Uijuijuijui“, sprach es unter der Bettdecke. „Uijuijui, das geht doch nicht, nein, nein, wirklich nicht.
Das Wesen klang verzweifelt.
„Ich will meine Sachen wieder haben, klar? Vor allem meinen Kompass“. Anne bemühte sich, streng zu klingen, war sich aber nicht sicher, ob ihr das gelang. Das Wesen antwortete nicht, schien gar nicht zuzuhören, sondern fing an, mit sich selber zu sprechen.
„Hohlkopf. Zankintos Hohlkopf. So dumm, so dumm. Uijuijui, schlimme Sache. Viel zu warm hier. Zankintos keine Luft kriegen. Uijuijui.“
Anne lauschte der dumpfen Stimme. Dann begriff sie.
„Zankintos? Heißt du Zankintos?“
Der Gefragte antwortete nicht. Anne wartete ungeduldig.
„Zankintos. Das ist doch dein Name?“
Zuerst blieb es weiter still. Dann fragte das Wesen schüchtern:
„Woher du wissen?“
„Du hast mit dir selber geredet.“
„Ach“, kam es aus der Decke. „Zankintos Hohlkopf.“
„Nein, bist du nicht“, sagte Anne, die gerne etwas Nettes sagen wollte. Irgendwie rührte sie ihr Gefangener. „Aber du bist ein Dieb.“
„Stimmt nicht“, kam die Antwort.
„Du hast meinen Kompass geklaut“, sagte Anne streng.
„Ich bezahlt haben, immer Erdnüsse dagelassen.“
„Das ist doch keine richtige Bezahlung. Mein Kompass ist viel mehr wert als deine drei Nüsse. Außerdem ist es nur dann kein Diebstahl, wenn ich einverstanden bin. Aber du hast ja nicht mal gefragt.“
Darf Zankintos doch nicht“, sagte Zankintos beleidigt, „Darf nicht sprechen mit Menschen, nie, nie, nie.“
„Tja“, meinte Anne, „gerade sprichst du mit einem Menschen.“
„Uijuijuijui.“
„Ach hör doch auf. Sag mir lieber, wo mein Kompass ist.“
„Geht nicht“, sagte Zankintos zerknirscht.
„Klar geht das.“
„Nein, geht nicht“, kam prompt die Antwort. Und dann: „Zankintos Hohlkopf. Saudummer Heinzel.“
„Hör zu“, sagte Anne, die langsam die Geduld verlor, „du sagst mir jetzt, wo mein Kompass ist oder ich tu dir weh, klar?“
„Geht nicht, geht nicht.“
Anne zog die Bettdecke enger um ihren Gefangenen und drückte zu. Dabei sagte sie immer wieder:
„Wo ist der Kompass, wo ist der Kompass, wo ist der Kompass?“
Zu Anfang hatte das Wesen noch gestrampelt. Doch nun lag es ganz still. Anne erschrak. Sie horchte.
„Was ist mit dir?“, fragte sie.
„Luft“, kam die Antwort.
„Was?“, fragte Anne.
„Krieg keine Luft.“
Wie zur Bestätigung hustete der Gefangene.
Anne erschrak. Was sollte sie tun? Sie hatte nicht vor, das Wesen zu ersticken oder ihm wirklich weh zu tun.
„Also gut“, sagte sie. „Ich werde dich raus lassen – unter einer Bedingung: Ich kriege meinen Kompass zurück.
„Uijuijui. Geht doch nicht. Na gut. Muss gehen. Versprochen“, sagte Zankintos mit trauriger Stimme.
Anne zog die Bettdecke vorsichtig zur Seite und erstarrte. Zakintos hatte Ähnlichkeit mit einem Affen, war aber kein Affe. Auf seinen großen runden Kopf saßen die Ohren wie bei den Katzen obenauf. Noch eindrucksvoller als die kleine runde Nase und der weiche Mund waren die großen, meerblauen Augen mit langen Wimpern. Zankintos war kaum größer als 50 Zentimeter. Sein ganzer Körper war mit dunkelbraunem Fell bedeckt. Es sah so weich aus, dass Anne ohne zu überlegen die Hand ausstreckte, um es zu streicheln. Zankintos sah sie mit großen Augen an.
„Du bist so weich“, sagte Anne.
Zankintos entspannte sich. Er zog dabei seinen langen, schwarz-weiß geringelten Schwanz nach vorn. Mit der linken Hand – er hatte wirklich Hände und keine Pfoten - hielt er ihn umklammert, während die Finger der rechten mit der Schwanzspitze spielten.
„Bist du sehr böse auf mich?“
Anne nickte und versuchte ein grimmiges Gesicht aufzusetzen. Zankintos Augen füllten sich augenblicklich mit Tränen.
„Uijuijuijui, Oh jemine, uijuijui“, heulte er.
Anne sah ihn verständnislos an.
„Was hast du denn gedacht? Du brichst in unsere Wohnung ein und klaust unsere Sachen. Ist doch klar, dass ich nicht glücklich darüber bin.“
„Hab doch bezahlt.“
„Mit Erdnüssen, die nichts wert sind. Und ich habe dir auch erklärt, dass man fragen muss, wenn man etwas haben will.“
Zankintos wischte mit der Schwanzspitze über die Augen.
„Kann aber doch niemanden fragen.“
„Warum nicht?“
„Darf nicht reden mit Menschen.“
„Sagt wer?“
„Zucker.“
„Wer?“, fragte Anne.
„Oberster Bruder.
„Dein ältester Bruder heißt Zucker?“
„Ist nicht mein Bruder, ist ältestes Hordenmitglied. Kennt sichaus mit den Menschen. War dabei, als Schneidersfrau Erbsenausstreute, um Heinzel zu fangen.“
„Die Schneidersfrau?“, Anne verstand kein Wort.
„Wie in altem Gedicht“, meinte Zankintos, zog einen Zettel aus dem Beutel, der um seinen Hals hing und gab ihn Anne. In schnörkeliger Schrift stand da geschrieben:Neugierig war des Schneiders WeibUnd macht` sich diesen Zeitvertreib:Streut Erbsen hin die andre Nacht.Die Heinzelmännchen kommen sacht;Eins fährt nun aus, schlägt hin im Haus,Die gleiten von Stufen und plumpsen in Kufen,Die fallen mit Schallen,Die lärmen und schreienUnd vermaledeien.Sie springt hinunter auf den SchallMit Licht: husch, husch,verschwinden all.Anne erinnerte sich, das Gedicht schon mal gehört zu haben. Sie musste eineWeile nachdenken, bevor es ihr wieder einfiel.
„Stimmt“, rief sie aus. „Das ist das Heinzelmännchengedicht. Mama hat es mirschon mal vorgelesen. Und mit der Schule haben wir ein Theaterstück über Heinzelmännchen besucht.“ Skeptisch sah sie Zankintos an.
„Das kann aber nicht sein. Heinzelmännchen sehen ganz anders aus.“
Zankintos war verblüfft. „Anders? fragte er. „Wie anders?“
Anne stand auf und ging zu ihrem Bücherregal. Sie brauchte nicht lange, da hatte sie das kleine gebundene Buch gefunden, das sie gesucht hatte.
Die Heinzelmännchen von Köln
„Hier“, sagte sie und hielt Zankintos das aufgeschlagene Buch vor die Nase.
Dieser sah sich interessiert die Abbildung an.
„Ist ja ein Gartenzwerg!“, rief er aus.
Jetzt betrachtete auch Anne das Bild genauer.
„Stimmt“, meinte sie. „Doch so sehen Heinzelmännchen nun mal aus. Und du hast keine Ähnlichkeit mit dem hier. Du hast ja noch nicht mal eine rote Zipfelmütze auf dem Kopf.“
„Bin aber trotzdem Heinzelmann“, beharrte Zankintos.
„Kannst du das beweisen?“
„Beweisen?“
„Ja, eigentlich macht ihr doch sauber und seid hilfsbereit. Du bist aber einDieb und wahrscheinlich auch ein Lügner.“
„Uijuijuijui“, heulte Zakintos.
Sofort tat es Anne leid. „Hey, nicht weinen.“, sagte sie und rutschte näheran den kleinen Heinzelmann heran. „Ich bin nur sauer, weil du meinen Kompassgeklaut hast.“
„Du mich nicht mögen“, jammerte Zankintos.
„Doch, eigentlich mag ich dich schon.“
Anne legte den Arm um ihn. Zakintos sah fragend zu ihr auf.
„Wirklich?“
„Ja“, sagte Anne, „ich finde dich süß.“
Zankintos Nase wurde ganz rot. Schnell blickte er zu Boden.
„Dich ich auch“, flüsterte er. „Hab euch zugesehen beim Einziehen. Mochte dich auf ersten Blick. Mag rote Haare bei dir und Sommersprossen. Hast so traurig ausgesehen. Wollte ein bisschen auf dich aufpassen. Heimlich. Wenn Zucker das hätte gewusst… uijuijuijui… Hätte er gar nicht gut gefunden. Wollte wirklich nur aufpassen auf dich, ehrlich. Doch all die Dinge, so glänzend und schön, konnte Zankintos nicht widerstehen.“
Anne wurde ganz warm ums Herz. Da gab es wirklich jemanden, der sich um sie gekümmert hatte. Spontan drückte sie Zankintos einen Kuss auf den runden Kopf.
„Oh!“, hauchte dieser und krallte sich an seinem Schwanz fest.
Anne lächelte.
„Was machst du mit den Sachen, die du hier weggenommen hast?“, fragte sie.
„Ich meinen Bau schmücken. Willst du sehen?“
„Ja, gerne.“
Zankintos sprang auf. „Dann mitkommen, ich dir zeigen.“
„Jetzt?“, fragte Anne.
„Ja, schnell.“
„Es ist mitten in der Nacht“
„Weiß ich. Na und?“
„Überleg doch mal. Wie sollen wir hier unbemerkt rauskommen?“
„So wie Zankintos reingekommen. Gleicher Weg. Ganz einfach.“
Bisher hatte sich Anne noch keine Gedanken gemacht, wie derHeinzelmann in die Wohnung gekommen sein konnte.. Doch jetzt, wo er davon sprach…. natürlich, ganz klar, es musste einen Weg geben, den außer ihm niemand kannte.
„Durch den Schornstein bist du jedenfalls nicht ins Haus gekommen.“
„Nicht Schornstein“, sagte Zankintos, „durch Wand“.
Anne hatte einen Geheimgang vermutet. Sie hatte genug Drei ??? – CD´s gehört, um ausreichend über derlei Dinge Bescheid zu wissen. Doch was jetzt geschah, hatte sie nicht erwartet. Zankintos rieb seine Hände aneinander, immer schneller, bis ein leises Zirpen zu hören war, dem einer Grille nicht unähnlich. Dann legte er seine Zauberhände auf eine beliebige Stelle der Wand. Sogleicht verflüssigte sich die berührte Stelle
„Sieht nur aus wie Wasser“, sagte Zankintos, „ist aber ganz trocken. Schnell beeil dich, hält nicht lange an.“
Anne überwand ihre Scheu und schlüpfte durch die Wand. Sie war tatsächlich nicht nass geworden. Es hatte sich angefühlt, als wäre sie von ihrem Zimmer einfach in den Flur gegangen. Vom Hausflur gelangten sie unbemerkt ins Freie.
„Das ist unglaublich“, rief Anne. „Woher kannst du das?“
„Jedes Heinzelmännchen kann das.“
„Kann man das lernen?“
„Nein.“
„Woher weißt du das? Hast du schon mal versucht, es jemandem beizubringen?“
Zankintos schüttelte den Kopf. „Nein, aber die Heinzelmädchen können es auch nicht.“
„Was?“ Anne war empört. Sie hatte zu oft von Swontje zu hören bekommen, dass Mädchen dümmer seien als Jungs. Und bei den Heinzeln schien diese Meinung ebenfalls vorzuherrschen. Eine Gemeinheit war das, eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
„Ungerecht? Wieso ungerecht?“ Zankintos begriff die Welt nicht mehr.
Annes Augen blitzten vor Zorn. „Kapierst du das nicht? Eure Jungs dürfen durch Wände gehen. Und eure Mädchen, was dürfen die? Häkeln und malen und artig sein. Oder was?
„Nein“, sagte Zakintos ein wenig beleidigt. „Mädchen bei uns nicht häkeln. Jungs können gehen durch Wand. Mädchen bei uns können fliegen.
„Fliegen?“ Von einem Augenblick zum anderen verflog Annes Zorn. Sie war sprachlos vor Staunen.
Zankintos nickte. „Ja, klar, Mädchen bei uns haben Flügel.“
„Flügel?“
Zankintos nickte wieder. „Ja, ganz allein Mädchen. Noch keinem Heinzelmann Flügel gewachsen. Jeder hat seins. Ist doch gerecht.“
Anne nickte. Sie schämte sich etwas, weil sie so vorschnell geurteilt hatte. „Wohin gehen wir?“, fragte sie schnell.
Zankintos zeigte in Richtung Kinderspielplatz. „Dort lang.“
Sie stapften los. Zankintos lief ziemlich schnell für seine Größe. Anne konnte kaum mithalten. Hinter dem Spielplatz begann ein Wäldchen. Zankintos verschwand plötzlich im Unterholz. Anne, völlig außer Atem, konnte ihren Begleiter nirgendwo sehen.
„Zankintos!“, rief sie erschrocken. Sie bekam keine Antwort. Wieder: „Zankintos!“ Wieder keine Antwort. Wo konnte er nur sein? Eben war er noch neben ihr gewesen. Zögerlich lief sie weiter.
Was wenn er abgehauen ist?
Ihr wurde ganz schlecht bei diesem Gedanken. Wie sollte sie ins Haus zurück- kommen ohne dass ihre Eltern was mitbekamen? Und würde sie je ihren Kompass wiedersehen? Außerdem, Zankintos könnte so ein toller Freund sein, aber nicht, wenn er sie hereingelegt hatte. Dann nicht.
Anne blieb stehen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte Zankintos freigelassen. Sie hatte ihm vertraut und war mit ihm losgezogen mitten in der Nacht. Und jetzt?
Anne war drauf und dran, umzukehren, da hörte sie Zankintos Stimme.
„Anne?“
„Hier!“, rief sie. Ein Stein fiel ihr vom Herzen.
Zakintos Kopf erschien im Gestrüpp.
„Wo du bleiben?“
„Du warst plötzlich weg.“
Zakintos nahm sie an die Hand. „Schnell, komm.“
Anne hatte das Gefühl, dass sie an seiner Hand viel rascher vorankam. Hinter dem Wäldchen lag ein weites Gelände, in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Nur einen kleinen See glaubte Anne zu sehen. Das ganze Gelände schien eingezäunt zu sein. Dort, wo sie standen, rieb Zankintos seine Hände und legte sie auf den Maschendraht, der sogleich flüssig wurde. Zankintos zog Anne hinter sich her, und schon standen sie auf einem sehr kurz geschnittenen Rasen.
Anne blickte sich um. Sie sah ein paar Erdhügel. Es schien nicht nur diesen einen See zu geben. Buschwerk und wenige Bäume hoben sich schwarz gegen den Nachthimmel ab. Der helle Fleck ließ erkennen, wo sich hinter der Wolkendecke der Mond verbarg.
„Was ist das hier?“, fragte Anne.
„Ist Golfplatz“, sagte Zankintos. „Wohnen noch nicht so lange hier.“
„Ihr wohnt auf einem Golfplatz?“
Zankintos nickte. „Genug Platz, verstehst du? Und am Abend nichts los hier. Heinzel ganz ungestört. Ist schwer, Platz zu finden in Köln, um Bau zu graben. Menschen machen sich überall breit mit ihre Häuser und Parks und U-Bahnen, vertreiben Heinzel. Überall Menschengewimmel, über der Erde, unter der Erde.
„Verstehe“, nickte Anne.
„Komm, ich dir zeigen meinen Bau. Dann Kompass zurückgeben.“