Ansichten der Natur. Mit einem Essay von Heinrich Detering - Alexander von Humboldt - E-Book

Ansichten der Natur. Mit einem Essay von Heinrich Detering E-Book

Alexander von Humboldt

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alexander von Humboldts Ansichten der Natur, sie entstanden im Lauf eines halben Jahrhunderts, sind ein Pionierwerk der Wissenschaft wie der Literatur. Bewundert von Goethe und Darwin, entwickelt Humboldt vor unseren Augen sein Nature Writing: In poetischen und gelehrten, präzisen und packenden Darstellungen führt er uns kreuz und quer über den Planeten und durch die Erdzeitalter in eine ökologische Auffassung der Welt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 252

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alexander von Humboldt

Ansichten der Natur

Herausgegeben und mit einem Essay von Heinrich Detering

Reclam

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962265

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverabbildung: Ausschnitt aus Tafel »XXV. Le Chimborazo, vu depuis le plateau de Tapia«, in: Alexander von Humboldt, Vues des Cordillères et monumens des peuples indigènes de l’Amérique, Bildquelle: David Rumsey Map Collection, David Rumsey Map Center, Stanford Libraries: https://www.davidrumsey.com/luna/servlet/s/m0up89, Public Domain.

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962265-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014225-7

www.reclam.de

Inhalt

Vorrede zur ersten Ausgabe

Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe

Über die Steppen und Wüsten

Über die Wasserfälle des Orinoco bei Atures und Maypures

Das nächtliche Tierleben im Urwalde

Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse

Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in den verschiedenen Erdstrichen

Die Lebenskraft oder der rhodische Genius

Das Hochland von Caxamarca, der alten Residenzstadt des Inka Atahualpa

Zu dieser Ausgabe

Die von Humboldt gebrauchten Maßeinheiten

Im Freien

In wachsenden Ringen: Entstehung und Konzeption

»Alles ist Wechselwirkung«: Ökologisches Denken

»Dichterische Prosa«: Ökologie und Schreibverfahren

Abstraktion und Reportage: Perspektivenwechsel

Inhaltsübersicht

[5]Seinem teuren BruderWilhelm von Humboldtin RomBerlin, im Mai 1807 der Verfasser

[7]Vorrede zur ersten Ausgabe

Schüchtern übergebe ich dem Publikum eine Reihe von Arbeiten, die im Angesicht großer Naturgegenstände, auf dem Ozean, in den Wäldern des Orinoco, in den Steppen von Venezuela, in der Einöde peruanischer und mexikanischer Gebirge entstanden sind. Einzelne Fragmente wurden an Ort und Stelle niedergeschrieben und nachmals nur in ein Ganzes zusammengeschmolzen. Überblick der Natur im Großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt, sind die Zwecke, nach denen ich strebe. Jeder Aufsatz sollte ein in sich geschlossenes Ganzes ausmachen, in allen sollte eine und dieselbe Tendenz sich gleichmäßig aussprechen. Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der Komposition. Reichtum der Natur veranlasst Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes.1 Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Stil leicht in eine dichterische Prosa aus. Diese Ideen bedürfen hier keiner Entwickelung, da die nachstehenden Blätter mannigfaltige [8]Beispiele solcher Verirrungen, solchen Mangels an Haltung darbieten.

Mögen meine Ansichten der Natur, trotz dieser Fehler, welche ich selbst leichter rügen als verbessern kann, dem Leser doch einen Teil des Genusses gewähren, welchen ein empfänglicher Sinn in der unmittelbaren Anschauung findet. Da dieser Genuss mit der Einsicht in den inneren Zusammenhang der Naturkräfte vermehrt wird, so sind jedem Aufsatze wissenschaftliche Erläuterungen und Zusätze beigefügt.

Überall habe ich auf den ewigen Einfluss hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt. Bedrängten Gemütern sind diese Blätter vorzugsweise gewidmet.2»Wer sich herausgerettet aus der stürmischen Lebenswelle«,3 folgt mir gern in das Dickicht der Wälder, durch die unabsehbare Steppe und auf den hohen Rücken der Andeskette4. Zu ihm spricht der weltrichtende Chor:

Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte

Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;

Die Welt ist vollkommen überall,

Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.5

[9]Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe

Die zwiefache Richtung dieser Schrift (ein sorgsames Bestreben, durch lebendige Darstellungen den Naturgenuss zu erhöhen, zugleich aber nach dem dermaligen Stande der Wissenschaft die Einsicht in das harmonische Zusammenwirken der Kräfte zu vermehren) ist in der Vorrede zur ersten Ausgabe, fast vor einem halben Jahrhundert, bezeichnet worden. Es sind damals schon die mannigfaltigen Hindernisse angegeben, welche der ästhetischen Behandlung großer Naturszenen entgegenstehn. Die Verbindung eines literarischen und eines rein szientifischen6 Zweckes, der Wunsch, gleichzeitig die Phantasie zu beschäftigen und durch Vermehrung des Wissens das Leben mit Ideen zu bereichern, machen die Anordnung der einzelnen Teile und das, was als Einheit der Komposition gefordert wird, schwer zu erreichen. Trotz dieser ungünstigen Verhältnisse hat das Publikum der unvollkommenen Ausführung meines Unternehmens dauernd ein nachsichtsvolles Wohlwollen geschenkt.

Die zweite Ausgabe der Ansichten der Natur habe ich in Paris im Jahr 1826 besorgt. Zwei Aufsätze: ein »Versuch über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in den verschiedenen Erdstrichen« und die »Lebenskraft oder der rhodische Genius«, wurden damals zuerst beigefügt. Schiller, in jugendlicher Erinnerung an seine medizinischen Studien, unterhielt sich während meines langen Aufenthalts in Jena gern mit mir über physiologische Gegenstände. Meine Arbeit über die Stimmung der gereizten Muskel- [10]und Nervenfaser durch Berührung mit chemisch verschiedenen Stoffen7 gab oft unsern Gesprächen eine ernstere Richtung. Es entstand in jener Zeit der kleine Aufsatz von der Lebenskraft. Die Vorliebe, welche Schiller für den »rhodischen Genius« hatte, den er in seine Zeitschrift der Horen aufnahm,8 gab mir den Mut, ihn wieder abdrucken zu lassen. Mein Bruder berührt in einem Briefe, welcher erst vor kurzem gedruckt worden ist (Wilhelm von Humboldt’s Briefe an eine Freundin T[eil] II. S. 39), mit Zartheit denselben Gegenstand, setzt aber treffend hinzu: »Die Entwickelung einer physiologischen Idee ist der Zweck des ganzen Aufsatzes. Man liebte in der Zeit, in welcher derselbe geschrieben ist, mehr, als man jetzt tun würde, solche halbdichterische Einkleidungen ernsthafter Wahrheiten.«

Es ist mir noch im achtzigsten Jahre die Freude geworden, eine dritte Ausgabe meiner Schrift zu vollenden und dieselbe nach den Bedürfnissen der Zeit ganz umzuschmelzen. Fast alle wissenschaftliche Erläuterungen sind ergänzt oder durch neue, inhaltreichere ersetzt worden. Ich habe gehofft den Trieb zum Studium der Natur dadurch zu beleben, dass in dem kleinsten Raume die mannigfaltigsten Resultate gründlicher Beobachtung zusammengedrängt, die Wichtigkeit genauer numerischer Angaben und ihrer sinnigen Vergleichung untereinander erkannt und dem dogmatischen Halbwissen wie der vornehmen Zweifelsucht gesteuert werde, welche in den sogenannten [11]höheren Kreisen des geselligen Lebens einen langen Besitz haben.

Die Expedition, die ich in Gemeinschaft mit Ehrenberg und Gustav Rose auf Befehl des Kaisers von Russland im Jahre 1829 in das nördliche Asien (in den Ural, den Altai und an die Ufer des Kaspischen Meeres) gemacht, fällt zwischen die Epochen9 der 2. und 3. Ausgabe meines Buches.10 Sie hat wesentlich zur Erweiterung meiner Ansichten beigetragen in allem, was die Gestaltung der Bodenfläche, die Richtung der Gebirgsketten, den Zusammenhang der Steppen und Wüsten, die geographische Verbreitung der Pflanzen nach gemessenen Temperatur-Einflüssen betrifft. Die Unkenntnis, in welcher man so lange über die zwei großen schneebedeckten Gebirgszüge zwischen dem Altai und Himalaja, über den Thian-schan und den Kuen-lün11, gewesen ist, hat bei der ungerechten Vernachlässigung chinesischer Quellen die Geographie von Inner-Asien verdunkelt und Phantasien als Resultate der Beobachtung in vielgelesenen Schriften verbreitet. Seit wenigen Monaten sind fast unerwartet der hypsometrischen Vergleichung12 der kulminierenden Gipfel beider Kontinente wichtige und berichtigende Erweiterungen zugekommen, deren Kunde zuerst in der nachfolgenden Schrift (Bd. I, S. 75–76 und [12]116–117) hat gegeben werden können.13 Die von früheren Irrtümern befreiten Höhenbestimmungen zweier Berge in der östlichen Andeskette von Bolivia, des Sorata und Illimani, haben dem Chimborazo seinen alten Rang unter den Schneebergen des Neuen Kontinents mit Gewissheit noch nicht ganz wiedererteilt,14 während im Himalaja die neue trigonometrische Messung des Kinchinjinga (26 438 Pariser Fuß)15 diesem Gipfel den nächsten Platz nach dem nun ebenfalls trigonometrisch16 genauer gemessenen Dhawalagiri17 einräumt.

Um die numerische Gleichförmigkeit mit den zwei vorigen Ausgaben der Ansichten der Natur zu bewahren, sind die Temperatur-Angaben in diesem Werke, wenn nicht das Gegenteil bestimmt ausgesprochen ist, in Graden des 80-teiligen Réaumur’schen Thermometers ausgedrückt. Das Fußmaß ist das altfranzösische, in welchem die Toise 6 Pariser Fuß zählt. Die Meilen sind geographische, deren 15 auf einen Äquatorial-Grad gehen. Die Längen sind vom ersten Meridian der Pariser Sternwarte gerechnet.

Berlin, im März 1849

[13]Über die Steppen und Wüsten

Am Fuße des hohen Granitrückens, welcher im Jugendalter unseres Planeten, bei Bildung des antillischen Meerbusens, dem Einbruch der Wasser getrotzt hat, beginnt eine weite, unabsehbare Ebene. Wenn man die Bergtäler von Caracas und den inselreichen See Tacarigua,18 in dem die nahen Pisang-Stämme19 sich spiegeln, wenn man die Fluren, welche mit dem zarten und lichten Grün des tahitischen Zuckerschilfes20 prangen, oder den ernsten Schatten der Kakao-Gebüsche zurücklässt, so ruht der Blick im Süden auf Steppen, die scheinbar ansteigend, in schwindender Ferne, den Horizont begrenzen.

Aus der üppigen Fülle des organischen Lebens tritt der Wanderer betroffen an den öden Rand einer baumlosen, pflanzenarmen Wüste. Kein Hügel, keine Klippe erhebt sich inselförmig in dem unermesslichen Raume. Nur hier und dort liegen gebrochene Flözschichten von zweihundert Quadratmeilen Oberfläche bemerkbar höher als die angrenzenden Teile. Bänke nennen die Eingebornen diese Erscheinung, gleichsam ahndungsvoll durch die Sprache den alten Zustand der Dinge bezeichnend, da jene Erhöhungen Untiefen, die Steppen selbst aber der Boden eines großen Mittelmeeres waren.

Noch gegenwärtig ruft oft nächtliche Täuschung diese Bilder der Vorzeit zurück. Wenn im raschen Aufsteigen und Niedersinken die leitenden Gestirne den Saum der [14]Ebene erleuchten oder wenn sie zitternd ihr Bild verdoppeln in der untern Schicht der wogenden Dünste, glaubt man den küstenlosen Ozean vor sich zu sehen. Wie dieser erfüllt die Steppe das Gemüt mit dem Gefühl der Unendlichkeit und durch dies Gefühl, wie den sinnlichen Eindrücken des Raumes sich entwindend, mit geistigen Anregungen höherer Ordnung. Aber freundlich zugleich ist der Anblick des klaren Meeresspiegels, in welchem die leichtbewegliche, sanft aufschäumende Welle sich kräuselt; tot und starr liegt die Steppe hingestreckt wie die nackte Felsrinde eines verödeten Planeten.

In allen Zonen bietet die Natur das Phänomen dieser großen Ebenen dar; in jeder haben sie einen eigentümlichen Charakter, eine Physiognomie, welche durch die Verschiedenheit ihres Bodens, durch ihr Klima und durch ihre Höhe über der Oberfläche des Meeres bestimmt wird.

Im nördlichen Europa kann man die Heideländer, welche, von einem einzigen, alles verdrängenden Pflanzenzuge bedeckt, von der Spitze von Jütland sich bis an den Ausfluss der Schelde21 erstrecken, als wahre Steppen betrachten, aber Steppen von geringer Ausdehnung und hochhüglichter Oberfläche, wenn man sie mit den Llanos22 und Pampas23 von Südamerika oder gar mit den Grasfluren am Missouri und Kupferflusse24 vergleicht, in denen [15]der zottige Bison und der kleine Moschusstier25 umherschwärmen.

Einen größeren und ernsteren Anblick gewähren die Ebenen im Innern von Afrika. Gleich der weiten Fläche des Stillen Ozeans hat man sie erst in neueren Zeiten zu durchforschen versucht; sie sind Teile eines Sandmeeres, welches gegen Osten fruchtbare Erdstriche voneinander trennt oder inselförmig einschließt, wie die Wüste am Basaltgebirge Harudsch, wo in der dattelreichen Oasis von Siwa die Trümmer des Ammon-Tempels den ehrwürdigen Sitz früher Menschenbildung bezeichnen.26 Kein Tau, kein Regen benetzt diese öden Flächen und entwickelt im glühenden Schoß der Erde den Keim des Pflanzenlebens. Denn heiße Luftsäulen steigen überall aufwärts, lösen die Dünste und verscheuchen das vorübereilende Gewölk.

Wo die Wüste sich dem Atlantischen Ozean nähert, wie zwischen Wadi Nun und dem Weißen Vorgebirge,27 da strömt die feuchte Meeresluft hin, die Leere zu füllen, welche durch jene senkrechten Winde erregt wird. Selbst wenn der Schiffer durch ein Meer, das wiesenartig mit Seetang bedeckt ist, nach der Mündung des Gambia steuert,28 ahndet er, wo ihn plötzlich der tropische Ostwind verlässt, die Nähe des weit verbreiteten wärmestrahlenden Sandes.

Herden von Gazellen und schnellfüßige Strauße durchirren den unermesslichen Raum. Rechnet man ab die im [16]Sandmeere neuentdeckten Gruppen quellenreicher Inseln, an deren grünen Ufern die nomadischen Tibbos und Tuaryks schwärmen,29 so ist der übrige Teil der afrikanischen Wüste als dem Menschen unbewohnbar zu betrachten. Auch wagen die angrenzenden gebildeten Völker sie nur periodisch zu betreten. Auf Wegen, die der Handelsverkehr seit Jahrtausenden unwandelbar bestimmt hat, geht der lange Zug von Tafilet bis Tombuktu30 oder von Murzuk bis Bornu31: kühne Unternehmungen, deren Möglichkeit auf der Existenz des Kamels beruht, des Schiffs der Wüste, wie es die alten Sagen der Ostwelt nennen.

Diese afrikanischen Ebenen füllen einen Raum aus, welcher den des nahen Mittelmeeres fast dreimal übertrifft. Sie liegen zum Teil unter den Wendekreisen selbst, zum Teil denselben nahe, und diese Lage begründet ihren individuellen Naturcharakter. Dagegen ist in der östlichen Hälfte des alten Kontinents dasselbe geognostische32 Phänomen mehr der gemäßigten Zone eigentümlich.

Auf dem Bergrücken von Mittel-Asien zwischen dem Goldberge oder Altai33 und dem Kuen-lün von der Chinesischen Mauer an bis jenseits des Himmelsgebirges und [17]gegen den Aralsee hin, in einer Länge von mehreren tausend Meilen, breiten sich, wenn auch nicht die höchsten, doch die größten Steppen der Welt aus. Einen Teil derselben, die Kalmücken- und Kirgisen-Steppen zwischen dem Don, der Wolga, dem Kaspischen Meere und dem chinesischen Dsaisang-See,34 also in einer Erstreckung von fast 700 geographischen Meilen, habe ich selbst zu sehen Gelegenheit gehabt, volle dreißig Jahre nach meiner südamerikanischen Reise. Die Vegetation der asiatischen, bisweilen hügeligen und durch Fichtenwälder unterbrochenen Steppen ist gruppenweise viel mannigfaltiger als die der Llanos und Pampas von Caracas und Buenos Aires. Der schönere Teil der Ebenen, von asiatischen Hirtenvölkern bewohnt, ist mit niedrigen Sträuchern üppig weißblühender Rosazeen, mit Kaiserkronen (Fritillarien), Tulpen und Cypripedien geschmückt.35 Wie die heiße Zone sich im Ganzen dadurch auszeichnet, dass alles Vegetative baumartig zu werden strebt, so charakterisiert einige Steppen der asiatischen gemäßigten Zone die wundersame Höhe, zu der sich blühende Kräuter erheben: Saussureen36 und andere Synanthereen, Schotengewächse,37 besonders ein Heer von Astragalus-Arten.38 Wenn man in den niedrigen tatarischen Fuhrwerken sich durch weglose Teile dieser Krautsteppen bewegt, kann man nur aufrecht stehend sich orientieren und sieht die [18]waldartig dichtgedrängten Pflanzen sich vor den Rädern niederbeugen. Einige dieser asiatischen Steppen sind Grasebenen, andere mit saftigen, immergrünen, gegliederten Kali-Pflanzen bedeckt, viele fernleuchtend von flechtenartig aufsprießendem Salze, das ungleich, wie frischgefallener Schnee, den lettigen39 Boden verhüllt.

Diese mongolischen und tatarischen Steppen, durch mannigfaltige Gebirgszüge unterbrochen, scheiden die uralte, langgebildete Menschheit in Tibet und Hindostan von den rohen, nordasiatischen Völkern. Auch ist ihr Dasein von mannigfaltigem Einfluss auf die wechselnden Schicksale des Menschengeschlechts gewesen. Sie haben die Bevölkerung gegen Süden zusammengedrängt, mehr als der Himalaja, als das Schneegebirge von Sirinagur und Gorka40 den Verkehr der Nationen gestört und im Norden Asiens unwandelbare Grenzen gesetzt der Verbreitung milderer Sitten und des schaffenden Kunstsinns.

Aber nicht als hindernde Vormauer allein darf die Geschichte die Ebene von Inner-Asien betrachten. Unheil und Verwüstung hat sie mehrmals über den Erdkreis gebracht. Hirtenvölker dieser Steppe: die Mongolen, Geten, Alanen und Usün41 haben die Welt erschüttert. Wenn in dem Lauf der Jahrhunderte frühe Geisteskultur gleich dem erquickenden Sonnenlicht von Osten nach Westen gewandert ist, so haben späterhin, in derselben Richtung, Barbarei und sittliche Rohheit Europa nebelartig zu überziehen [19]gedroht. Ein brauner Hirtenstamm (tukiuischer, d. i. türkischer Abkunft), die Hiongnu,42 bewohnte in ledernen Gezelten die hohe Steppe von Gobi. Der chinesischen Macht lange furchtbar, ward ein Teil des Stammes südlich nach Inner-Asien zurückgedrängt. Dieser Stoß der Völker pflanzte sich unaufhaltsam bis in das alte Finnenland am Ural43 fort. Von dort aus brachen Hunnen, Avaren, Chasaren44 und mannigfaltige Gemische asiatischer Menschenarten hervor. Hunnische Kriegsheere erschienen erst an der Wolga, dann in Pannonien, dann an der Marne und an den Ufern des Po: die schön bepflanzten Fluren verheerend, wo seit Antenors45 Zeiten die bildende Menschheit Denkmal auf Denkmal gehäuft. So wehte aus den mongolischen Wüsten ein verpesteter Windeshauch, der auf zisalpinischem46 Boden die zarte, langgepflegte Blüte der Kunst erstickte.

Von den Salzsteppen Asiens, von den europäischen Heideländern, die im Sommer mit honigreichen, rötlichen Blumen prangen, und von den pflanzenleeren Wüsten Afrikas kehren wir zu den Ebenen von Südamerika zurück, deren Gemälde ich bereits angefangen habe mit rohen Zügen zu entwerfen.

Das Interesse, welches ein solches Gemälde dem Beobachter gewähren kann, ist aber ein reines Naturinteresse. Keine Oase erinnert hier an frühe Bewohner, kein behauener Stein, kein verwilderter Fruchtbaum an den Fleiß [20]untergegangener Geschlechter. Wie den Schicksalen der Menschheit fremd, allein an die Gegenwart fesselnd, liegt dieser Erdwinkel da, ein wilder Schauplatz des freien Tier- und Pflanzenlebens.

Von der Küstenkette von Caracas erstreckt sich die Steppe bis zu den Wäldern der Guyana,47 von den Schneebergen von Mérida,48 an deren Abhange der Natrium-See Urao49 ein Gegenstand des religiösen Aberglaubens der Eingebornen ist, bis zu dem großen Delta, welches der Orinoco an seiner Mündung bildet. Südwestlich zieht sie sich gleich einem Meeresarme jenseits der Ufer des Meta und des Vichada bis zu den unbesuchten Quellen des Guaviare50 und bis zu dem einsamen Gebirgsstock hin, welchen spanische Kriegsvölker, im Spiel ihrer regsamen Phantasie, den Paramo de la Suma Paz,51 gleichsam den schönen Sitz des ewigen Friedens, nannten.

Diese Steppe nimmt einen Raum von 16 000 Quadratmeilen ein. Aus geographischer Unkunde hat man sie oft in gleicher Breite als ununterbrochen bis an die Magellanische Meerenge52 fortlaufend geschildert, nicht eingedenk der waldigen Ebene des Amazonenflusses, welche gegen Norden und Süden von den Grassteppen des Apure und des [21]La-Plata-Stromes begrenzt wird. Die Andeskette von Cochabamba und die brasilianische Berggruppe senden, zwischen der Provinz Chiquitos und der Landenge von Villabella, einzelne Bergjoche sich entgegen. Eine schmale Ebene vereinigt die Hyläa53 des Amazonenflusses mit den Pampas von Buenos Aires. Letztere übertreffen die Llanos von Venezuela dreimal an Flächeninhalt. Ja ihre Ausdehnung ist so wundervoll groß, dass sie auf der nördlichen Seite durch Palmengebüsche begrenzt und auf der südlichen fast mit ewigem Eise bedeckt sind. Der kasuarähnliche Tuyu (Struthio Rhea)54 ist diesen Pampas eigentümlich wie die Kolonien verwilderter Hunde, welche gesellig in unterirdischen Höhlen wohnen, aber oft blutgierig den Menschen anfallen, für dessen Verteidigung ihre Stammväter kämpften.

Gleich dem größten Teile der Wüste Sahara liegen die Llanos, oder die nördlichste Ebene von Südamerika, in dem heißen Erdgürtel. Dennoch erscheinen sie in jeder Hälfte des Jahres unter einer verschiedenen Gestalt: bald verödet, wie das libysche Sandmeer, bald als eine Grasflur, wie so viele Steppen von Mittel-Asien.

Es ist ein belohnendes, wenngleich schwieriges Geschäft der allgemeinen Länderkunde, die Naturbeschaffenheit entlegener Erdstriche miteinander zu vergleichen und die Resultate dieser Vergleichung in wenigen Zügen darzustellen. Mannigfaltige, zum Teil noch wenig entwickelte [22]Ursachen vermindern die Dürre und Wärme des neuen Weltteils.

Schmalheit der vielfach eingeschnittenen Feste in der nördlichen Tropengegend, wo eine flüssige Grundfläche der Atmosphäre einen minder warmen aufsteigenden Luftstrom darbietet; weite Ausdehnung gegen beide beeiste Pole hin; ein freier Ozean, über den die tropischen kühleren Seewinde wegblasen; Flachheit der östlichen Küsten; Ströme kalten Meereswassers aus der antarktischen Region, welche, anfänglich von Südwest nach Nordost gerichtet, unter dem Parallelkreis von 35° südlicher Breite an die Küste von Chili anschlagen und an den Küsten von Peru bis zum Cap Pariña55 nördlich vordringen, sich dann plötzlich gegen Westen wendend;56 die Zahl quellenreicher Gebirgsketten, deren schneebedeckte Gipfel weit über alle Wolkenschichten emporstreben und an ihrem Abhange herabsteigende Luftströmungen veranlassen; die Fülle der Flüsse von ungeheurer Breite, welche nach vielen Windungen stets die entfernteste Küste suchen; sandlose und darum minder erhitzbare Steppen; undurchdringliche Wälder, welche, den Boden vor den Sonnenstrahlen schützend oder durch ihre Blattflächen wärmestrahlend, die flussreiche Ebene am Äquator ausfüllen und im Innern des Landes, wo Gebirge und Ozean am entlegensten sind, ungeheure Massen teils eingesogenen, teils selbsterzeugten Wassers aushauchen: – alle diese Verhältnisse gewähren dem flachen Teile von Amerika ein Klima, das mit dem afrikanischen [23]durch Feuchtigkeit und Kühlung wunderbar kontrastiert. In ihnen allein liegt der Grund jenes üppigen, saftstrotzenden Pflanzenwuchses, jener Frondosität,57 welche der eigentümliche Charakter des Neuen Kontinents ist.

Wird daher eine Seite unsers Planeten luftfeuchter als die andere genannt, so ist die Betrachtung des gegenwärtigen Zustandes der Dinge hinlänglich, das Problem dieser Unleichheit zu lösen. Der Physiker braucht die Erklärung solcher Naturerscheinungen nicht in das Gewand geologischer Mythen zu hüllen. Es bedarf der Annahme nicht, als habe sich auf dem uralten Erdkörper in der östlichen und westlichen Hemisphäre ungleichzeitig geschlichtet der verderbliche Streit der Elemente; oder als sei aus der chaotischen Wasserbedeckung Amerika später als die übrigen Weltteile hervorgetreten, ein sumpfreiches, von Krokodilen und Schlangen bewohntes Eiland.58

Allerdings hat Südamerika, nach der Gestalt seines Umrisses und der Richtung seiner Küsten, eine auffallende Ähnlichkeit mit der südwestlichen Halbinsel des alten Kontinents.59 Aber innere Struktur des Bodens und relative Lage zu den angrenzenden Ländermassen bringen in Afrika jene wunderbare Dürre hervor, welche in unermesslichen Räumen der Entwickelung des organischen Lebens [24]entgegensteht. Vier Fünfteile von Südamerika liegen jenseits des Äquators: also in einer Hemisphäre, welche wegen der größeren Wassermenge und wegen mannigfaltiger anderer Ursachen kühler und feuchter als unsre nördliche Halbkugel ist. Dieser Letzteren gehört dagegen der beträchtlichere Teil von Afrika zu.

Die südamerikanische Steppe, die Llanos, haben, von Osten gegen Westen gemessen, eine dreimal geringere Ausdehnung als die afrikanischen Wüsten. Jene empfangen den tropischen Seewind, diese, unter einem Breiten-Zirkel mit Arabien und dem südlichen Persien gelegen, werden von Luftschichten berührt, die über heiße, wärmestrahlende Kontinente hinwehen. Auch hat bereits der ehrwürdige, langverkannte Vater der Geschichte, Herodot,60 im echten Sinn einer großen Naturansicht alle Wüsten in Nordafrika, in Yemen, Kerman und Mekran (der Gedrosia der Griechen),61 ja bis Multan in Vorder-Indien62 hin als ein einziges zusammenhangendes Sandmeer geschildert.

Zu der Wirkung heißer Landwinde gesellt sich in Afrika, so weit wir es kennen, noch der Mangel an großen Flüssen, an Wasserdampf aushauchenden, kälteerregenden Wäldern und hohen Gebirgen. Mit ewigem Eise bedeckt ist bloß der westliche Teil des Atlas, dessen schmales Bergjoch, seitwärts gesehen, den alten Küstenfahrern wie eine [25]einzeln stehende luftige Himmelsstütze erschien. Östlich läuft das Gebirge bis gegen Dakul hin, wo, jetzt in Schutt versunken, das meergebietende Karthago lag.63 Als langgedehnte Küstenkette, als gätulische Vormauer,64 hält es die kühlen Nordwinde und mit ihnen die aus dem Mittelmeere aufsteigenden Dämpfe zurück.

Über die untere Schneegrenze erhaben dachte man sich einst das Mondgebirge, Djebel al-Komr, von welchem man fabelte, dass es einen Bergparallel zwischen dem afrikanischen Quito, der hohen Ebene von Habesch,65 und den Quellen des Senegal bilde. Selbst die Kordillere von Lupata,66 die sich an der östlichen Küste von Mozambik und Monomotapa,67 wie die Andeskette an der westlichen Küste von Peru, hinzieht, ist in dem goldreichen Machinga und Mocanga68 mit ewigem Eise bedeckt. Aber diese wasserreichen Gebirge liegen weit entfernt von der ungeheuren Wüste, welche sich von dem südlichen Abfall des Atlas bis an den östlich fließenden Niger69 erstreckt.

[26]Vielleicht wären alle diese aufgezählten Ursachen der Dürre und Wärme nicht hinlänglich, so beträchtliche Teile der afrikanischen Ebenen in ein furchtbares Sandmeer zu verwandeln, hätte nicht irgendeine Naturrevolution, z. B. der einbrechende Ozean, einst diese flache Gegend ihrer Pflanzendecke und der nährenden Dammerde beraubt. Wann diese Erscheinung sich zutrug, welche Kraft den Einbruch bestimmte, ist tief in das Dunkel der Vorzeit gehüllt. Vielleicht war sie Folge des großen Wirbels, welcher die wärmeren mexikanischen Gewässer über die Bank von Neufundland an den alten Kontinent treibt und durch welchen westindische Kokosnüsse und andere Tropenfrüchte nach Irland und Norwegen gelangen. Wenigstens ist ein Arm dieses Meeresstroms noch gegenwärtig von den Azoren an gegen Südosten gerichtet und schlägt, dem Schiffer Unheil bringend, an das westliche Dünenufer von Afrika. Auch zeigen alle Meeresküsten (ich erinnere an die peruanischen zwischen Amotape70 und Coquimbo71), wie Jahrhunderte, ja vielleicht Jahrtausende, vergehen, bevor in heißen regenlosen Erdstrichen, wo weder Lecideen noch andere Flechten keimen, der bewegliche Sand den Kräuterwurzeln einen sicheren Standort zu gewähren vermag.

Diese Betrachtungen genügen, um zu erklären, warum, trotz der äußern Ähnlichkeit der Länderform, Afrika und Südamerika doch die abweichendsten klimatischen Verhältnisse, den verschiedensten Vegetations-Charakter darbieten. Ist aber auch die südamerikanische Steppe mit einer dünnen Rinde fruchtbarer Erde bedeckt, wird sie auch [27]periodisch durch Regengüsse getränkt und dann mit üppig aufschießendem Grase geschmückt, so hat sie doch die angrenzenden Völkerstämme nicht reizen können, die schönen Bergtäler von Caracas, das Meeresufer und die Flusswelt des Orinoco72 zu verlassen, um sich in dieser baum- und quellenleeren Einöde zu verlieren. Daher ward die Steppe bei der Ankunft europäischer und afrikanischer Ansiedler fast menschenleer gefunden.

Allerdings sind die Llanos zur Viehzucht geeignet; aber die Pflege milchgebender Tiere war den ursprünglichen Einwohnern des Neuen Kontinents fast unbekannt. Kaum wusste einer der amerikanischen Völkerstämme die Vorteile zu benutzen, welche die Natur auch in dieser Hinsicht ihnen dargeboten hatte. Die amerikanische Menschenraçe73 (eine und dieselbe von 65° nördlicher bis 55° südlicher Breite, die Eskimos etwa abgerechnet) ging vom Jagdleben nicht durch die Stufe des Hirtenlebens zum Ackerbau über. Zwei Arten einheimischer Rinder weiden in den Grasfluren von West-Kanada, in Quivira74, wie um die kolossalen Trümmer der Azteken-Burg, welche (ein amerikanisches Palmyra)75 sich verlassen in der Einöde am Gila-Flusse [28]erhebt.76 Ein langhörniges Mufflon, ähnlich dem sogenannten Stammvater des Schafes, schwärmt auf den dürren und nackten Kalkfelsen von Kalifornien umher. Der südlichen Halbinsel sind die Vicuñas, Huanacos, Alpacas und Lamas eigentümlich. Aber von diesen nutzbaren Tieren haben nur die ersten zwei Jahrtausende lang ihre natürliche Freiheit bewahrt. Genuss von Milch und Käse ist, wie der Besitz und die Kultur mehlreicher Grasarten, ein charakteristisches Unterscheidungszeichen der Nationen des alten Weltteils.

Sind daher von diesen einige Stämme durch das nördliche Asien auf die Westküste von Amerika übergegangen, und haben sie, kälteliebend, den hohen Andesrücken gegen Süden verfolgt, so muss diese Wanderung auf Wegen geschehen sein, auf welchen weder Herden noch Zerealien77 den neuen Ankömmling begleiten konnten. Sollte vielleicht, als das lang erschütterte Reich der Hiongnu zerfiel, das Fortwälzen dieses mächtigen Stammes auch im Nordosten von China und Korea Völkerzüge veranlasst haben, bei denen gebildete Asiaten in den Neuen Kontinent übergingen? Wären diese Ankömmlinge Bewohner von Steppen gewesen, in denen Ackerbau nicht betrieben wird, so würde diese gewagte, durch Sprachvergleichung bisher wenig begünstigte Hypothese wenigstens den auffallenden Mangel der eigentlichen Zerealien in Amerika erklären. Vielleicht landete an den Küsten von Neu-Kalifornien, durch Stürme verschlagen, eine von jenen asiatischen Priester-Kolonien, [29]welche mystische Träumereien zu fernen Seefahrten veranlassten und von denen die Bevölkerungsgeschichte von Japan zur Zeit der Thsinschi-huang-ti78 ein denkwürdiges Beispiel liefert.

Blieb demnach das Hirtenleben, diese wohltätige Mittelstufe, welche nomadische Jägerhorden an den grasreichen Boden fesselt und gleichsam zum Ackerbau vorbereitet, den Urvölkern Amerikas unbekannt, so liegt in dieser Unbekanntschaft selbst der Grund von der Menschenleere der südamerikanischen Steppen. Umso freier haben sich in ihr die Naturkräfte in mannigfaltigen Tiergestalten entwickelt: frei, und nur durch sich selbst beschränkt, wie das Pflanzenleben in den Wäldern am Orinoco, wo der Hymenäe79 und dem riesenstämmigen Lorbeer nie die verheerende Hand des Menschen, sondern nur der üppige Andrang schlingender Gewächse droht. Agutis,80 kleine buntgefleckte Hirsche, gepanzerte Armadille,81 welche rattenartig den Hasen in seiner unterirdischen Höhle aufschrecken, Herden von trägen Chiguiren,82 schön gestreifte Viverren,83[30]welche die Luft verpesten, der große ungemähnte Löwe, buntgefleckte Jaguars (meist Tiger genannt),84 die den jungen selbsterlegten Stier auf einen Hügel zu schleppen vermögen: – diese und viele andere Tiergestalten durchirren die baumlose Ebene.

Fast nur ihnen bewohnbar, hätte sie keine der nomadischen Völkerhorden, die ohnedies (nach asiatisch-indischer Art) die vegetabilische Nahrung vorziehen, fesseln können, stände nicht hier und da die Fächerpalme, Mauritia,85 zerstreut umher. Weit berühmt sind die Vorzüge dieses wohltätigen Lebensbaumes. Er allein ernährt am Ausflusse des Orinoco, nördlich von der Sierra de Imataca, die unbezwungene Nation der Guaraunen.86 Als sie zahlreicher und zusammengedrängt waren, erhoben sie nicht bloß ihre Hütten auf abgehauenen Palmenpfosten, die ein horizontales Tafelwerk als Fußboden trugen, sie spannten auch (so geht die Sage) Hangematten, aus den Blattstielen der Mauritia gewebt, künstlich von Stamm zu Stamm, um in der Regenzeit, wenn das Delta überschwemmt ist, nach Art der Affen auf den Bäumen zu leben. Diese schwebenden Hütten wurden teilweise mit Letten87 bedeckt. Auf der feuchten Unterlage schürten die Weiber zu häuslichem Bedürfnis Feuer an. Wer bei Nacht auf dem Flusse vorüberfuhr, sah die Flammen reihenweise auflodern, hoch in der Luft, [31]von dem Boden getrennt. Die Guaraunen verdanken noch jetzt die Erhaltung ihrer physischen und vielleicht selbst ihrer moralischen Unabhängigkeit dem lockeren, halbflüssigen Moorboden, über den sie leichtfüßig fortlaufen, und ihrem Aufenthalt auf den Bäumen: einer hohen Freistatt, zu der religiöse Begeisterung wohl nie einen amerikanischen Styliten88 leiten wird.

Aber nicht bloß sichere Wohnung, auch mannigfaltige Speise gewährt die Mauritia. Ehe auf der männlichen Palme die zarte Blütenscheide ausbricht, und nur in dieser Periode der Pflanzenmetamorphose enthält das Mark des Stammes ein sagoartiges89 Mehl, welches, wie das Mehl der Jatropha-Wurzel,90 in dünnen brotähnlichen Scheiben gedörrt wird. Der gegorne Saft des Baums ist der süße, berauschende Palmwein der Guaraunen. Die engschuppigen Früchte, welche rötlichen Tannenzapfen gleichen, geben, wie Pisang und fast alle Früchte der Tropenwelt, eine verschiedenartige Nahrung: je nachdem man sie nach völliger Entwicklung ihres Zuckerstoffes oder früher, im mehlreichen Zustande, genießt. So finden wir auf der untersten Stufe menschlicher Geistesbildung (gleich dem Insekt, das auf einzelne Blütenteile beschränkt ist) die Existenz eines ganzen Völkerstammes an fast einen einzigen Baum gefesselt.

Seit der Entdeckung des Neuen Kontinents sind die Ebenen (Llanos) dem Menschen bewohnbar geworden. Um den Verkehr zwischen der Küste und der Guyana (dem [32]Orinoco-Lande) zu erleichtern, sind hier und da Städte an den Steppenflüssen erbaut. Überall hat Viehzucht in dem unermesslichen Raume begonnen. Tagereisen voneinander entfernt liegen einzelne, mit Rindsfellen gedeckte, aus Schilf und Riemen geflochtene Hütten. Zahllose Scharen verwilderter Stiere, Pferde und Maulesel (man schätzte sie zur friedlichen Zeit meiner Reise noch auf anderthalb Millionen Köpfe) schwärmen in der Steppe umher. Die ungeheure Vermehrung dieser Tiere der alten Welt ist umso bewundernswürdiger, je mannigfaltiger die Gefahren sind, mit denen sie in diesen Erdstrichen zu kämpfen haben.

Wenn unter dem senkrechten Strahl der niebewölkten Sonne die verkohlte Grasdecke in Staub zerfallen ist, klafft der erhärtete Boden auf, als wäre er von mächtigen Erdstößen erschüttert. Berühren ihn dann entgegengesetzte Luftströme, deren Streit sich in kreisender Bewegung ausgleicht, so gewährt die Ebene einen seltsamen Anblick. Als trichterförmige Wolken, die mit ihren Spitzen an der Erde hingleiten, steigt der Sand dampfartig durch die luftdünne, elektrisch geladene Mitte des Wirbels empor: gleich den rauschenden Wasserhosen, die der erfahrne Schiffer fürchtet. Ein trübes, fast strohfarbiges Halblicht wirft die nun scheinbar niedrigere Himmelsdecke auf die verödete Flur. Der Horizont tritt plötzlich näher. Er verengt die Steppe, wie das Gemüt des Wanderers. Die heiße, staubige Erde, welche im nebelartig verschleierten Dunstkreise schwebt, vermehrt die erstickende Luftwärme. Statt Kühlung führt der Ostwind neue Glut herbei, wenn er über den langerhitzten Boden hinweht.

Auch verschwinden allmählich die Lachen, welche die gelb gebleichte Fächerpalme vor der Verdunstung schützte. [33]