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1990 ist das Jahr, in dem Judith Butlers Buch Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity – in deutscher Übersetzung Das Unbehagen der Geschlechter – erschien. Warum dieses Buch den bis dahin herrschenden feministischen, ja sogar den politischen Diskurs vollständig umkrempeln und Butlers Analysen und Thesen ein derartiges Gewicht erlangen konnten, diesen Fragen geht Tatjana Schönwälder-Kuntze in ihrem Beitrag im Kursbuch 192 nach. Sie geht dabei von der These aus, dass Butler mit Gender Trouble einerseits in ein Diskursvakuum gestoßen sei, das durch die zeitgleiche Auflösung der beiden anderen großen Analysekategorien "Klasse" und "Rasse" entstanden sei. Als großes Unterscheidungsprinzip sei die binäre Geschlechterdifferenz geblieben, deren Legitimität nun ebenfalls infrage gestellt wurde. Darüber hinaus habe das Buch erstmals ein verbreitetes Unbehagen an gängigen Narrativen des Feminismus zum Ausdruck gebracht, die ihrerseits Ausschlüsse und Verletzungen produziert und sich dadurch delegitimiert hätten.
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Seitenzahl: 23
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Frauen II
Inhalt
Tatjana Schönwälder-Kuntze Antigones Verletzungen Anmerkungen zum Gender Trouble bei Judith Butler
Die Autorin
Impressum
Tatjana Schönwälder-Kuntze Antigones Verletzungen Anmerkungen zum Gender Trouble bei Judith Butler
1990 war ein wichtiges Jahr für Frauen – der Bayerische Verwaltungsgerichtshof entscheidet, dass fürderhin Frauen bei den alle zehn Jahre stattfindenden Oberammergauer Passionsfestspielen ungeachtet ihres Alters und Geschlechts gleichberechtigt auf allen Ebenen mitwirken dürfen. Das war einschneidend. 1990 war auch das Jahr, in dem die Selbstauflösung der Sowjetunion nicht mehr aufzuhalten war – für deren weithin friedlichen Verlauf erhielt Michail Gorbatschow in jenem Dezember den Friedensnobelpreis – und in dem das Apartheidregime in Südafrika entschieden hatte, Nelson Mandela ohne Bedingungen aus der Haft zu entlassen. Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde also nicht nur mit der Besiegelung des Endes des Staatssozialismus eingeläutet, sondern gleichermaßen mit dem Ende des letzten, explizit auf Rassentrennung beruhenden Staatssystems in Südafrika. Im gleichen Jahr erschien in den USA Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity1. Mit leichter Verzögerung erschien auch die deutsche Übersetzung Das Unbehagen der Geschlechter, geschrieben von einer unbekannten US-amerikanischen Philosophin namens Judith Butler.
Sie war zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt und unterrichtete an der George-Washington-Universität als Assistenzprofessorin Philosophie. 1984 war sie mit einer Arbeit über die zeitgenössische französische Hegel-Rezeption in Yale promoviert worden.2 Ihr Fokus galt der Frage, was die Franzosen aus Hegels (und Spinozas) Vorstellung von Begehren und Anerkennung gemacht hatten. Wen hat das interessiert? Zumindest den Philosophen und Hegel-Kenner Robert Pippin, der eine überschwängliche Rezension über die 1987 veröffentlichte Doktorarbeit verfasst hat – aber sonst? Niemanden – bis zu dem Tag, kann man fast sagen, an dem Gender Trouble erschien; ein Buch, das nicht nur Judith Butlers Leben vollständig umgekrempelt hat, sondern irgendwie auch den bis dahin herrschenden feministischen, wenn nicht gar politischen Diskurs überhaupt. Warum? Dazu möchte ich im Folgenden ein paar Überlegungen anstellen, die Butlers Einmischung in die feministische Theoriebildung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als »Ereignis« (in freier Anlehnung an Foucault) auffassen und analysieren.
Warum haben Butlers Analysen solches Gewicht erlangt?
Unter der Prämisse, dass Butler zu einem Kulminationspunkt einer Debatte geworden ist – um die sich auch dieses Kursbuch dreht –, und zwar sowohl die Zustimmung als auch die Ablehnung ihrer Analysen betreffend, lautet meine Leitfrage: Warum konnten Butlers Analysen und Thesen ein solches Gewicht erlangen? Denn eigentlich handelt es sich doch um einen sehr philosophischen Diskurs, der gemeinhin im akademischen Elfenbeinturm stattfindet und außerhalb seiner Mauern wenig beachtet wird. Meine erste Vermutung geht dahin, dass Butler zeithistorisch betrachtet mit Gender Trouble in ein gewisses Vakuum vorgestoßen ist, das sich daraus ergeben hat, dass die anderen beiden großen gesellschaftsstrukturierenden Unterscheidungen, oder (Analyse-)Kategorien, um es mit der Historikerin Joan Scott 3