ANTONIO - Dritter Teil - Marcello De Nardo - E-Book

ANTONIO - Dritter Teil E-Book

Marcello De Nardo

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Beschreibung

Als Antonio am wenigsten mit ihm gerechnet hatte, tauchte plötzlich, eines Nachts, Johannes wieder auf. Nach all den Jahren...Letztlich war es Josés Beichte, die Johannes verwirrt und wütend zurückgelassen hatte und ihn dazu brachte Antonio aufzuspüren...nun fehlte nur noch Michele, damit auch wirklich alles aus den Fugen geraten konntet. Doch Michele schien, wie vom Erdboden verschluckt. Es ist der 26. Februar 1993. Der Tag von Antonios Premiere, in London. Bald würden sie kommen und ihn ankleiden, während er allmählich hinabtauchte und zur Rolle wurde -zu diesem eigenwilligen Mann-Frau-Wesen, das alles sein und alles sagen durfte, was keiner sonst war und keiner sich zu sagen traute. Sie würden ihn schminken, bis ein anderes Gesicht auf seinem lag, bis jede weitere Verbindung zu seinem Leben gekappt war. Einem Leben, dessen Ereignisse ihn, im Laufe der Jahre überrollten und dem er dennoch nachjagte -und wie Kommissar Schwarzinger ihm immer noch nachjagen musste. «...die Liebe krönt euch und sie kreuzigt euch.» (Kahlil Gibran «Der Prophet»)

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Inhaltsverzeichnis

Was bisher geschah

36. Intermezzo

37. Herbst 1986

38. Italien, Pieve 1988

39. Ca’ Bianca

40. Wien, Januar 1993

41. Endproben

42. Intermezzo

43. Premiere Wien

44. Wien, 3. Februar 1993

45. Intermezzo

46. Wien, 18. Februar 1993

47. Das Verhör

48. Intermezzo

49. Wien

50. Pause

51. Vorhang

52. Intermezzo

53. Nach der Vorstellung

54. New York

55. New York

56. 1994

57. Sarajevo

58. New York, 3. April 1994

59. Ca’ Bianca

60. Epilog

Was bisher geschah

Als Antonio am wenigsten mit ihm gerechnet hatte, tauchte plötzlich, eines Nachts, Johannes im Wettsteinpark auf und beobachtete ihn heimlich in einer Situation, die für Antonio unerträglich war.

Ausgerechnet in diesem Moment, nach so vielen Jahren, mussten sie sich wiederbegegnen.

In jener Nacht, die sie in einem schäbigen Puff verbrachten, klärte sich nichts zwischen den beiden und der Morgen danach, endete schließlich in einem Desaster.

Michele indessen, blieb, nachdem er sich am Strand von Jesolo davon geschlichen hatte, wie vom Erdboden verschluckt, während José das Zeitliche gesegnet hatte. Seine Beichte, bevor er starb, stürzte Johannes in eine tiefe Krise. Und Francesca? Endlich wieder frei, kehrte sie nach ihrer endlosen Odyssee aus Spanien zurück und stand eines Tages vor Giuseppes Tür. Als sich diese öffnete, brach eine Welt zusammen.

Warum nur in diesem Augenblick, so fragte sich Antonio, suchte ihn die Vergangenheit heim, anstatt sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Die Gegenwart war hier und jetzt.

Der 26. Februar 1993.

Der Tag von seiner Premiere, in London.

Auf das World Trade Center war ein Attentat verübt worden, doch das wusste er nicht.

Noch nicht!

Antonio saß in seiner Garderobe und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Bald würden sie kommen und ihm sein Kostüm anziehen, während er allmählich hinabtauchte und zur Rolle wurde – zu diesem eigenwilligen Mann-Frau-Wesen, das alles sein und alles sagen durfte, was keiner sonst war und keiner sich zu sagen traute. Sie würden ihn schminken, bis ein anderes Gesicht auf seinem lag, bis jede weitere Verbindung zu seinem Leben gekappt war. Einem Leben, dessen Ereignisse ihn, im Laufe der Jahre überrollten und dem er dennoch nachjagte – und wie Kommissar Schwarzinger ihm nachjagen musste. Denn noch immer war da dieser Tote, der neben dem Stuhl lag, auf den man Antonio nackt und mit Augenbinde gefesselt hatte.

36

Intermezzo

London, 26. Februar 1993

2. Akt, Ende 4. Szene

Im Halbdunkel kaum sichtbar, stand Steven zwischen den Samtabdeckern in der Seitengasse. Er wagte kaum zu atmen, während er Antonio in der Garderobenszene zwischen Agrado und Huma Roja zusah. Er spielte gesammelt und konzentriert, als hätte es die letzten Wochen, als hätte es die Katastrophe in Wien, Schwarzinger und das Verhör nie gegeben.

Jede Geste, jede Pause saß. Jedes gedankendurchdrungene Wort, nun gültig und wahrhaftig, wurde emporgehoben, bis in den letzten Winkel des Theaters – geboren aus der Gunst des Augenblicks, aus Agrados Kosmos heraus, die nichts von dieser Welt und ihren Dramen wusste. Auch nichts von dem Brief, der Steven in der Hosentasche Löcher durch den Stoff zu brennen schien und nach dem Tony fragen würde, sobald er wieder auf der Seitenbühne war.

Steven hatte ihn vorsorglich an sich genommen, weil er wusste, Antonio würde bei der erstbesten Gelegenheit in die Garderobe laufen und den Brief öffnen.

Er drehte sich etwas vom Geschehen auf der Bühneweg, als er den Brief aus der Hosentasche zog, damit der helle Umschlag nicht auf die Bühne reflektierte und Antonios Aufmerksamkeit erregen konnte. Antonio besaß Augen wie ein Adler. Mit schlechtem Gewissen las er Francescas kurzen Vermerk. Wichtig!

Einen Augenblick war er versucht, auf den Garderobenflur hinauszutreten und den Umschlag zu öffnen.

Aus dem Zuschauerraum war ein satter Lacher zu hören. Jemand begann zu klatschen und binnen Kurzem setzte der ganze Saal mit ein.

Leise vor sich hin fluchend, ließ Steven den Brief in der Hosentasche verschwinden.

37

Herbst 1986

Vor einer halben Stunde hatte sich die Tür hinter dem letzten Möbelpacker geschlossen und nun saß Antonio auf dem vorläufig einzigen Stuhl in seiner neuen Hamburger Wohnung, der sowohl aus der Verpackung geholt als auch schon von Kisten und Tüten befreit war, und sah verdrossen auf die Möbel und Bücherkisten, die sich beinah bis zur Decke türmten. Noch in London hatte er sich vorgenommen, sich von all dem Plunder zu trennen, den er über die Jahre angesammelt hatte, aber daraus war nichts geworden.

Die letzten zwölf Monate schienen mit dreifacher Geschwindigkeit an ihm vorbeigerauscht zu sein.

Spanien und Portugal waren der EU beigetreten, während ihn gleich nach der Preisverleihung eine Verpflichtung nach der anderen durch angespannte, stressige Wochen und Monate getrieben hatte.

Zuerst war er in Mailand für eine Produktion am Piccolo Teatro gewesen. Dann waren, Joeffrey Wilson sei Dank, ein Filmprojekt in Indien und ein anderes, nervenaufreibendes in Russland gefolgt. Sporadisch hatte er dazwischen verdrießliche, einsame Tage in London verbracht. Einsame Tage, weil Steven bei Paul in Paris oder mit anderen Projekten beschäftigt gewesen war. Meist war er danach weitergehetzt, bei Festivals auf roten Teppichen gestanden, hatte Interviews gegeben und in blitzende Kameras gelächelt.

Im Juni 1986 kürten die Österreicher schließlich Kurt Waldheim trotz einiger Unklarheiten hinsichtlich seiner Tätigkeit als Wehrmachtsoffizier im Zweiten Weltkrieg zum Bundespräsidenten. Für all die Mercier-Teidlbaums dieser Welt war es ein Schlag ins Gesicht.

Ebenfalls im Juni ergab sich eine Stippvisite bei Giuseppe – wortkarg wie immer –, bei der einmal mehr deutlich wurde, dass sie sich wenig bis gar nichts zu sagen hatten. Etwas später an jenem Besuchstag – inzwischen waren sie in der Küche gelandet und der Fernseher lief mit voller Lautstärke – kam schließlich der letzte Rest der kläglichen Unterhaltung zum Erliegen. Wie gebannt starrte Giuseppe auf die Mattscheibe, warf plötzlich die Arme in die Luft und heulte wie ein Wolf. Mit einem alles entscheidenden Tor siegte Argentinien in Mexico City mit 3:2 gegen die BRD. – Schlechtes Timing –, dachte Antonio und verabschiedete sich.

Flughäfen, Städte, Hotelzimmer und Talkshows zogen an ihm vorbei.

Es war der 9. Oktober 1986.

An diesem Abend, als Antonio ratlos, was er mit sich anfangen sollte, in Hamburg gerade ins Vorzimmer schlurfte, fand in London die Welturaufführung von Andrew Lloyd Webbers Musical »The Phantom of the Opera« statt.

Antonio saß gerade im Flur auf dem Boden. Den Stapel Post, den ihm die Hausmeisterin in London, Miss James, nach Hamburg nachgeschickt hatte, lag nun ausgebreitet vor ihm.

Er öffnete den Umschlag mit dem roten Siegel, zog die Karte heraus und sah auf die an ihn gerichtete Einladung. »Abendgarderobe« stand darauf sowie die Uhrzeit, wann ihn die Limousine vom Savoy abholen würde, die Wagennummer und schließlich der Treffpunkt für seine Red-Carpet-Begleitung. Antonio stöhnte auf. Er sollte in London neben Andrew Lloyd Webber stehen. Eine Verpflichtung, die er komplett vergessen hatte.

Stunden später, als auf dem roten Teppich vor Her Majesty’s Theatre in London das Blitzlichtgewitter über die Stars und die Prominenz aus Politik und Wirtschaft hereinbrach, schob sich Antonio irgendwo im Pulverteich in Hamburg im dunklen Hinterzimmer einer Lederkneipe zwischen halb nackten Körpern hindurch.

Er sah die Silhouette eines Jungen und blieb wie angewurzelt stehen. Atemlose Sekunden lang war er felsenfest davon überzeugt, in dem Jungen Johannes erkannt zu haben. Im Hintergrund höhnte Jon Bon Jovis »You Give Love a Bad Name« aus den Boxen. Frustriert stolperte er zur Bar und ließ sich mit Tequila volllaufen.

Zur exakt selben Zeit sicherte die Polizei in London den Tatort eines Wohnungseinbruchs in der Stanley Street Nr. 12 ab. Die Wohnung war bis aufs Letzte demoliert worden.

Miss James, die Hausmeisterin, blickte schockiert auf die mit Spraydosen besprühten Wände und das ganze Chaos. Nichts stand mehr an seinem Platz.

Zunächst wollten die Beamten nur ein Protokoll aufnehmen und wieder abziehen. Erst als Miss James ihnen erklärte, dass immerhin Tony Montelli, der Tony Montelli, bis vor wenigen Tagen noch hier gelebt hatte, kam das große Aufgebot angerauscht.

Mit den Nerven am Ende, versuchte sie Paul unter seiner Nummer in Paris zu erreichen.

Doch keiner ging ran.

Ebenfalls zur selben Zeit starrte draußen zwischen den Schaulustigen ein Mann mit hasserfüllten Augen zu den Fenstern im zweiten Stock hinauf. Sein Körper bebte immer noch vor Wut. Es hatte so viel Zeit, Geld und Mühe gekostet, ihn ausfindig zu machen, und als er endlich wusste, wo er wohnte, war sein Vögelchen bereits ausgeflogen.

Und nur wenige Meter von ihm entfernt stand Preston Saunders mit seinen Männern in der Menge und ließ seine Augen über die glotzenden Menschen wandern – auf der Suche nach irgendjemand Verdächtigem. Ohne zu wissen, wie der Verdächtige aussah.

Landmann atmete langsam ein und aus, dann löste er sich unauffällig aus der Menge.

»Ich krieg’ dich schon noch«, flüsterte er, »ich krieg’ dich noch« – und verschwand summend in der Dunkelheit.

***

»Hallo?«, keuchte Tony in den Hörer, nachdem er vom Stiegenhaus durch den langen Wohnungsflur beinah zum Telefon gehechtet war.

Nur das Freizeichen war noch zu hören. Ungehalten warf er den Hörer auf die Gabel zurück und drückte auf die blinkende Taste des Anrufbeantworters, den er heute Morgen endlich in einer Kiste gefunden hatte.

»Mann, wo steckst du denn?«, hörte er Stevens Stimme aus dem Lautsprecher quaken.

»Hab’ dich die ganze Zeit gesucht. Hast dich schon eingelebt? Paul erzählte mir gerade, dass in unserer alten Wohnung in London eingebrochen wurde. Alles ist demoliert. Spooky, was?

Hoffe, wir sehen uns bald. Ich vermisse dich. Ach ja, Mutter fragt schon, wo du bleibst. Bis dann.«

Ratlos starrte Tony einen Moment auf das Gerät und fragte sich, was gewesen wäre, wenn sie sich entschieden hätten, länger in London zu bleiben. Seine Nackenhaare stellten sich unvermittelt auf. Energisch schüttelte er sich, als könnte er so das klebrige Unbehagen, das ihn beschlichen hatte, abstreifen. Wie gerne hätte er kurz mit Steven gesprochen. Doch der war seit Wochen unerreichbar. Verloren starrte Tony auf die nackten Wände, auf die vielen Bücherkisten, die noch immer nicht ausgepackt waren, und fragte sich zugleich, wo er war und was er hier eigentlich wollte. Er war endlos viel herumgereist, hatte in unpersönlichen Hotelzimmern einsame, meist schlaflose Nächte verbracht, auf roten Teppichen gestanden und mit völlig Unbekannten unwichtige Gespräche geführt. Nun fühlte er sich erschöpft und plötzlich grenzenlos allein.

Lustlos schaute er auf das vor ihm am Boden liegende Textbuch und schob es mit der Schuhspitze beiseite. Die Proben hatten gerade erst begonnen und er fühlte sich abgespannt, als befände er sich in den Endproben. Als er etwas später in den gähnend leeren Kühlschrank blickte, überfiel ihn ein solches Heimweh nach dem Lindenhof, dass er am liebsten auf der Stelle nach Zürich geflogen wäre. Er sehnte sich plötzlich nach nichts mehr, als mit Vater Mercier gemeinsam vor dem Kühlschrank zu stehen und zu überlegen, was sie sich denn daraus nehmen könnten. Um dann genüsslich auf einer der Sitzbänke vor dem Haus mit ihm die Beute zu verzehren und mit vollem Mund über Gott und die Welt zu philosophieren. Energisch schlug er die Tür des Kühlschranks zu und machte sich auf den Weg zum Supermarkt um die Ecke.

Im Eiltempo stürmte er durch den Laden. Packte sich das Nötigste auf den Arm, bog um die Ecke, wo die Pasta aufgestapelt war, und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Er traute seinen Augen nicht. Vor Schreck ließ er sogleich alles fallen.

***

Konzentriert starrte Johannes auf die vor ihm liegende Zeitschrift. Über eine ganze Doppelseite lächelten ihn Antonios Augen aus dem Hochglanzmagazin an, als würden sie genau wissen, dass er hinsah. Hastig verschlang er den Artikel. Ein erfolgreiches, ein aufregendes Leben wurde darin beschrieben und während Johannes begierig jedes Wort aufsog, begann in ihm die Gewissheit hochzusteigen, dass aus ihm das geworden war, wovor ihn José auf seinem Sterbebett gewarnt hatte. Ein Zaungast. Ein erbärmlicher Zaungast, der dazu verdammt war, den anderen beim Leben zuzusehen. Wäre er in jener Nacht nicht aus diesem schäbigen Zimmer geflüchtet, hätte er nicht auf Prinzipien herumgeritten, die ihn um keinen Schritt weitergebracht hatten, hätte er Teil dieses Lebens werden können. Seine Hand verkrampfte sich zur Faust und der Drang, alles kurz und klein zu schlagen, wurde beinah übermächtig.

Wenn er nur die Zeit zurückdrehen und noch einmal in diesem Zimmer neben Antonio liegen könnte – diesmal würde er auf ihn hören. Er würde an seiner Seite bleiben, mit ihm durch die Welt ziehen und ein echtes Leben führen. Er würde –

Tollpatschige Händchen klatschten auf seinen Oberschenkel. Aus seinen Gedanken gerissen, sah Johannes irritiert hinunter und blickte geradewegs in die hellen Augen seines sechsjährigen Sohnes.

»Hola, Papa!« Die Ärmchen streckten sich Johannes entgegen und sein Herz schmolz dahin. Schwungvoll hob er den Kleinen hoch und drückte ihn sanft an sich.

»Hey, Manolito.«

Glücklich schmiegte sich der Kleine an seinen Vater. Johannes vergrub den Kopf in der Halsbeuge seines Sohnes und hoffte, dass der Druck in seiner Brust und das Brennen in den Augen nachließen. Hier und jetzt könnte er vor Sehnsucht nach Antonio fast zerspringen und zugleich war er beseelt davon, seinen Sohn an sich zu drücken.

»Spielen wir?«, fragte der Kleine.

Johannes hielt Manolito etwas von sich und betrachtete ihn. Wie hübsch er aussah. Das dunkle Haar stammte von seiner Mutter und die großen blauen Augen von ihm. Unvermittelt legte Manolito seine kleinen Hände auf Johannes’ Gesicht.

»Bist du traurig, Papa?«

»Nur ein kleines bisschen.«

»Spiel mit mir. Dann geht’s dir besser«, rief Manolito mit heller Stimme.

Johannes musste lachen.

»Ja, gleich«, sagte er während er ihn auf dem Boden absetzte, »lass mich noch das Magazin fertiglesen.« Manolito stapfte zufrieden davon.

Nachdem Johannes den Artikel beendet hatte, erhob er sich, ging in sein Arbeitszimmer, öffnete mit einem kleinen Schlüssel ein Fach und legte die Zeitschrift zu den anderen Artikeln über Antonio.

Dann ging er hinunter und spielte mit seinem Sohn.

***

Antonio starrte ihn an, als stünde er vor einer Erscheinung. Vor etwas, das nicht im Bereich des Möglichen war. Und doch, stand er vor ihm. Nach all der Zeit, nach all den Jahren. Wie der Geist aus der Flasche.

Michele.

Die Zeit schien auf einmal langsamer zu vergehen und Michele schluckte einmal leer.

Als ihn Marshall letzte Woche über den Wohnungseinbruch in London informiert hatte, war er ausgeflippt und hatte Marshall beinah zur Verzweiflung getrieben, bis dieser Antonios Adresse in Hamburg ausfindig gemacht hatte.

Seit Tagen war er auf der Lauer gelegen und jetzt, wo er vor ihm stand, wollte er nur noch flüchten. Damit er nicht erneut in diesen Strudel geriet. Damit er nicht wieder den Kopf verlor, sein Herz, sein Leben – alles.

»Ciao, Tonino« sagte er und seine Stimme klang rau.

»Ich nenne mich jetzt Tony«, gab Antonio hohl zurück.

Plötzlich packte Michele Antonio bei der Jacke und zog ihn in einem Höllentempo aus dem Supermarkt, als hätten sie soeben den Laden ausgeraubt.

An der nächsten Ecke riss sich Antonio ungehalten los. »Was – zum Teufel – machst du hier?«

Michele blieb ebenfalls stehen und blickte ihn finster an.

Das war die Frage, vor der er sich am meisten gefürchtet hatte. Was sollte er ihm sagen? Dass er an Ort und Stelle trat, weil er tagtäglich an ihn dachte, aber seine Nähe mied, weil er tief in seinem Inneren wusste, dass sie nicht gut füreinander waren, und zugleich vor lauter Sorge um ihn fast den Verstand verlor und ihn beschatten ließ? Wenn er ihm das sagte, wäre Antonio in der nächsten Sekunde verschwunden.

Langsam kam Michele näher, bis er dicht vor Antonio stand.

Antonio schloss die Augen. Versuchte sich zu sammeln. Zu nah war Micheles Gesicht. Zu dunkel seine Augen, um dabei gelassen zu bleiben.

Antonio schob ihn unsanft von sich.

»Wie wird es diesmal laufen, Michele? Haust du ein fach wieder so ab? Wie damals, vor beschissenen zehn Jahren? Aus dem Nichts tauchst du auf und ins Nichts verschwindest du wieder, wie am Strand.«

»Das ist nicht fair!«

»Was ist schon fair?«

Michele taxierte ihn von oben bis unten.

»Sei la mia fortuna o sfortuna!«

»Oh bitte, hör auf damit. Weder will ich das eine noch das andere sein.«

»Was willst du dann?«

Antonio stockte eine Sekunde. Was er wollte? Da war zu viel Sturm, zu viel Drang in seiner Seele um die Frage beantworten zu können und nur die vage Betrachtung aus sicherer Entfernung ließ das Chaos, in dem er lebte, erträglich erscheinen.

Michele wartete noch immer auf eine Antwort und bemerkte zugleich, wie blass er geworden war.

»Also? Was machst du hier?«, wiederholte Antonio und setzte sich in Bewegung. Michele folgte ihm schweigend. Er musste an Marsha denken, als sie vor ihm im Fitnessraum gestanden und gesagt hatte: »Chico, geh doch zu ihm und finde heraus, was los ist.« Michele sog scharf die Luft ein und schüttelte den Kopf. In Marshas Welt schien das wesentlich einfacher. In Marshas Welt fand das eben nicht mit erhöhter Pulsfrequenz statt. Ihre Art zu leben hatte etwas Spielerisches gehabt, etwas Leichtes, das Antonio und er nie besessen hatten. Immer ging es um alles oder nichts. Um Leben oder Tod. Selbst nach zehn verdammten Jahren.

Antonio sah ihn noch immer fragend an.

»Geschäfte«, gab Michele schließlich wortkarg zurück.

»Was für Geschäfte?«, fragte Antonio und meinte: Wo warst du?

»Immobilien.«

»Dann geht es dir also gut? Du bist erfolgreich?« – Wo warst du?

Michele blieb abrupt vor ihm stehen.

»Ja, bin ich.«

Antonio kämpfte um jeden Gedanken, um jedes Wort. Er wollte so vieles sagen, wollte so vieles wissen, doch stattdessen packte er Michele beim Jackett, zog ihn wortlos hinter sich her, die Straße hinunter, wo er wohnte, rein in den Hauseingang und hoch die Stufen. Blind fand er den Wohnungsschlüssel und öffnete. Polternd flog die Tür auf. Sie stolperten in den schmalen, langen Flur. Antonio fühlte die kühle Wand an seiner Stirn, während Michele ihn dagegen drückte, seine Arme um Antonio schlang, bis ihm die Luft wegblieb. Er fühlte Micheles Hände unter seiner Kleidung, auf seiner Haut. Sein Atem dicht an seinem Ohr und seine Bartstoppeln an seiner Wange. Antonio rieb sich daran, als müsste er sich Michele einmassieren, und doch war da die eine Frage, die eine verdammte Frage, die ihn bereits auf der Straße, ach, bereits zuvor im Supermarkt umgetrieben hatte, die ihn um die eigene Achse wirbeln und Michele mit plötzlicher Heftigkeit von sich stoßen ließ, sodass er an der gegenüberliegenden Wand aufprallte.

»Wo zum Teufel WARST DU?«

Einen Moment herrschte Stille.

Michele ließ Antonio nicht aus den Augen, sein Gehirn lief auf Hochtouren. Sollte er ihm wirklich sagen, was mit ihm los war? Was ihn umtrieb? Innerlich schüttelte er den Kopf. Nein. Er dachte nicht im Traum daran, diese Tür zu öffnen. Nicht hier und nicht jetzt. Zu lange hatte er auf das hier gewartet. Auf diesen Augenblick. Zu lange war er Gespenstern hinterhergejagt, hatte sich bereitwillig vorgaukeln lassen, dass das, was er mit Benitio in wirren Nächten trieb, irgendeiner Realität standhalten oder zumindest als kärglicher Ersatz taugen würde. Zehn verdammte Jahre war es her, seit er ihn zurückgelassen, eine Ewigkeit war vergangen, seit er so wie jetzt vor ihm gestanden hatte, ihn ansehen und anfassen durfte. Bei Tageslicht und in Wirklichkeit.

»Was kümmert’s dich wo ich war?«, entgegnete Michele. »Ich bin jetzt hier.«

Mit einem unbeschreiblichen Lächeln kam Michele auf ihn zu und Antonio spürte, wie seine Knie nachgaben und jeder Widerstand brach.

Micheles Lippen legten sich auf seine und gemeinsam sanken sie zu Boden. Schuhe, Hemden, Hosen, alles flog durch den Flur. Antonio legte sich nackte vor Michele auf den Boden, forderte ihn heraus, bot sich ihm an. Noch immer umspielte Micheles Mund dieses sagenhafte Lächeln, das er nie vergessen sollte. Dann, wie in Zeitlupe, legte sich Michele auf Antonio. So heiß, so warm war seine Haut. Gequälte Laute drangen aus Antonios Kehle, als berührte Michele verbrannte Stellen, schmerzhafte Wunden und Schrammen auf seiner Haut, entstanden durch unzählige seelenlose Begegnungen, die ihn ausgehöhlt hatten.

In seiner Brust war es auf einmal eng und seine Augen hielt er fest verschlossen, als würde er aus dunklen Hinterzimmern seiner Vergangenheit ans Licht gezerrt und endlich geheilt – mit Küssen. Mit sanften Berührungen und Micheles Wärme, die ihn wie ein schützender Mantel umhüllte. Am äußersten Rand seiner Wahrnehmung registrierte Antonio das irritierend knisternde Geräusch von Plastik.

»Warte, warte«, keuchte Antonio, als Michele sich etwas über den Penis zog.

»Was ist das?«

Michele verschloss ihm den Mund.

»Sei still. Erklär ich dir später.« Dann drang er in ihn ein. Nahm ihn, bis jeder Widerstand, jedes »Wo warst du?«, sich auflöste.

Überall Hände und Lippen, die sich suchten. Küsse, Schläge und Zärtlichkeiten. Schmutzige Worte wisperten durch die Dämmerung wie heilige Versprechen, bis Michele den Rhythmus erhöhte, Antonio regelrecht zerpflückte, bis er ihn mit Haut und Haaren besaß und sich beide in der Ekstase verloren.

Dann – endlich Stille.

Stunden später saßen sie erschöpft und ausgehungert in einem französischen Restaurant und fraßen sich durch die gesamte Speisekarte – meist schweigend.

Antonio stopfte das letzte Stück seines Tournedos mit Fritten in den Mund, während Michele ihn beobachtete.

»Che c’ è? – Was ist?«

»È niente! – Nichts.«

Antonio bedachte ihn mit einem finsteren Blick, wischte den Teller blitzblank mit Brot aus, spülte mit Wein nach und schob den Teller schließlich von sich, während Michele, ohne Antonio aus den Augen zu lassen, Wein nachschenkte.

»Was schaust du?«

Michele zuckte die Schultern. Ein kurzer Moment verstrich, dann nahm er sein Glas und leerte es auf einen Zug.

»Ich hab’ mich gerade gefragt, wie es dir in all der Zeit ergangen ist.«

Tony wartete, bis der Kellner mit den Tellern den Tisch verließ und Michele sein Glas abgestellt hatte.

»Gut.«

»Fein«

»Glaube ich«

»Du glaubst?«

»Ja, glaube ich.« Antonio fragte sich, wohin diese Unterhaltung führen sollte. »Ich hatte viel Glück in meinem Leben. Und geschafft hab’ ich das meiste nur, weil mir im richtigen Augenblick die richtigen Menschen über den Weg gelaufen sind.«

»Zum Beispiel?«, fragte Michele und stützte dabei, ganz die personifizierte Aufmerksamkeit, die Arme auf dem Tisch auf. Antonio war plötzlich auf der Hut.

»Was willst du?«

»Nichts, nichts. Ich wollte nur wissen, wem du dein Glück zu verdanken hast.«

Tony sah Michele misstrauisch an.

»Stefan!«, sagte er schließlich, »Ja, Stefan hab’ ich am meisten zu verdanken.«

Michele füllte erneut sein Glas. Natürlich war ihm bekannt, wer Stefan war. Der Junge damals im Wald von Mont-Saint-Florêt – Marshall hatte ihm Fotos geschickt. Nur wusste er über Stefans Rolle in Antonios Leben so gut wie nichts.

»Und Stefan ist also derjenige, auf den du immer gewartet hast?«

Es schwang etwas in der Frage mit, das Antonio sofort an die Situation mit Johannes in jenem Zimmer erinnerte, und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er alleine am Tisch zurückgelassen werden würde.

»Also?«

Ungelenk begann Antonio Michele in knappen Sätzen seine Beziehung zu Stefan zu erklären. Einen kurzen Moment schweiften seine Gedanken zurück zu jenem Nachmittag im Badezimmer der Mercier-Teidlbaums, als sie herausgefunden hatten, dass ihre gegenseitige Anziehung nicht über die Gürtellinie hinausging. Michele hörte mit stoischer Miene zu.

»Versteh ich nicht«, sagte er dann.

»Was genau verstehst du daran nicht?«

»Ich verstehe nicht, wie du mit mir ficken kannst, während du einen anderen hast.«

»Stefan und ich ficken nicht, du Arsch, es ist eine –.«

Michele riss übertrieben die Augen auf.

»Eine platonische Beziehung? Wie süß.«

»Michele, hör auf oder ich scheuer’ dir eine.«

»Was? Ich tu doch nichts. Ich sage bloß, ich verstehe nicht, was du mir da erzählst.«

»Gut, dann erkläre ich es dir. Wir schlafen nicht miteinander. Wir haben es versucht, aber es ging nicht.«

Antonio schwieg einen Moment, während er nach Worten suchte.

»Ich kann es nicht richtig erklären, aber: Er gehört zu mir … wie … wie mein rechter Arm. Wenn ich darüber nachdenke, wie mein Leben verlaufen könnte, sehe ich ihn klar und deutlich immer an meiner Seite wie … wie Bilder in einem Buch, das schon längst geschrieben ist. Ich liebe ihn, verstehst du das?«

»Und er? Tut er das auch.«

»Ich denke schon. Zumindest verhält er sich so.«

»Dann ist er also nicht der Junge, der dir damals das Herz gebrochen hat.«

»Nein. Das war Johannes.«

»Ah, genau, der heilige Johannes.«

»Stefan zumindest hat mein Herz bis jetzt noch nicht gebrochen. Im Gegenteil.«

Zwischen Micheles Augenbrauen hatte sich nun eine steile Falte gebildet.

»Und was, wenn ein anderer dazukommt, der dein Herz erobert?«

»Dann hoffe ich, dass jener andere es akzeptiert, dass es immer einen Stefan an meiner Seite geben wird.«

»Mit dem du dann ein großes Haus baust, mit vielen, vielen Zimmern für alle …«

»Richtig! Und im Esszimmer müsste ein großer Tisch stehen, an dem wir alle Platz hätten.«

»Wie großzügig. Wie viele dürfen es sein – in deinem Harem?«

»Okay, ich glaube, die Fragestunde ist beendet.«

»Werd’ nicht beleidigend. Ich bin nur neugierig.«

»Ja, aber du fragst mich wie bei einer Prüfung. Als wüsste ich auf alles eine Antwort. Wer bist du, die Beziehungspolizei?«

Michele zuckte unbeeindruckt die Schultern.

»Und was, wenn Stefan jemanden findet?«

»Hat er. Den entzückendsten Jungen, den ich jemals gesehen hab’.«

»Siehst du? Du hast auf alles eine Antwort. Das macht mir echt Sorgen.«

Michele sah ihn ruhig an, während Antonio vor Wut kochte.

»Und da sitzt ihr dann also zu viert am Tisch.«

»Nein, zu dritt.«

»Wie kommt’s?«

»Ich hab’ niemanden, den ich gerne am Tisch dabei hätte.«

»Das ist utopisch«, brauste Michele plötzlich auf.

»Ist es nicht! Wie simpel hättest du es denn gerne? Ich weiß, es ist nicht einfach, aber es ist das, was ich im Moment kann und verstehe. Und ja, vielleicht ist es wirklich eine Utopie. Erinnerst du dich noch an damals auf der Mauer? Ich fragte dich, ob es jemals dazu kommen wird, dass Menschen wie wir mit dem Freund Hand in Hand durch die Stadt ziehen können. Ohne beschimpft zu werden, ohne missbilligende Blicke zu ernten. Träum weiter, hast du zur Antwort gegeben. Damals schien es eine Utopie zu sein. Und heute? Ich weiß nicht, wo du lebst, aber hier und heute ist es möglich. Zumindest stehen die Chancen sehr gut. Dinge verändern sich, und wer weiß, vielleicht –.«

»Was bist denn so gereizt?«

»Weil du mich abklopfst!«

Michele angelte ungeduldig nach seinen Zigaretten und steckte sich eine an.

»Und dieser Johannes?«

Antonio sah ihn finster an. Auf eine Antwort wartend, hielt Michele Antonio die Zigarette hin, der sie ungeduldig nahm.

»Du gibst nie auf. Stimmt’s?«

»Dio mio! Was hast du gegen die Frage? Dieser Johannes scheint doch der Maßstab aller Dinge zu sein.«

Antonio stieß energisch den Rauch aus.

»Den gibt’s also nicht mehr?«

»Doch. Irgendwo. Was weiß ich – jedes Mal, wenn er mir über den Weg läuft, muss ich mein Leben neu ordnen. Er ist genau wie du. Er kommt und er geht.«

Michele blickte in sein Glas und schäumte innerlich vor Zorn.

»Was wäre«, begann er, »was wäre, wenn Johannes eines Tages –.«

»Es reicht!«, unterbrach Antonio entschieden, während seine Hand ungehalten zum Nacken fuhr und mit nervösen Fingern die Kette an seinem Hals suchte.

»Für Johannes gelten dieselben Regeln wie für die andern auch. Aber das wird nicht passieren. Johannes hat sich für Frau und Kind entschieden und wollte nie einen Weg mit mir beschreiten.« Seine Hand hatte inzwischen das kleine Kreuz gefunden und drehte es mechanisch zwischen den Fingern. Michele blickte erstaunt auf die Kette. Er hatte sie in der Hitze des Gefechts zuvor nicht bemerkt.

»Du hast sie noch immer?«

Antonio schüttelte unwirsch den Kopf.

»Was denkst du denn? Natürlich hab’ ich sie. Ich hatte sie immer bei mir«, stieß er hervor und ärgerte sich, dass er sich plötzlich so niedergeschlagen fühlte. »Verdammt, ich bin dir damals in Jesolo nachgerannt und hab’ dich gesucht. Du … du … hast mir so gefehlt.«

Michele blickte ihn herausfordernd an.

»Hab’ ich?«

»Immer.«

»Gut! – Wie sehr?«

Antonio sah ihn konsterniert an.

»Was?«

»So wie Johannes? Ein bisschen weniger als Stefan? Oder doch gleichauf?«

Ohne Vorwarnung riss Antonio Michele das Glas aus der Hand und klatschte ihm den Rotwein ins Gesicht. Die Gespräche im Lokal verstummten.

»Wohin bist du damals verschwunden?«

»Tonino –.«

»Was tust du hier auf einmal? Warum bist du einfach abgehauen und wo zum Teufel warst du?« Neugierige Augen glotzten zu ihrem Tisch, während sie sich mit Blicken maßen.

»Ach, vergiss es«, schnaubte Antonio, »du und Johannes, ihr könnt einem echt den letzten Nerv rauben.«

Michele wollte etwas erwidern und stockte für eine Sekunde.

Vielleicht sollte er besser gehen. Vielleicht war es überhaupt ein Fehler gewesen, hierherzukommen.

Das Stimmengewirr wurde wieder etwas lauter.

»Nach Amerika bin ich«, antwortete Michele schließlich, »ich wollte mein Glück versuchen, etwas von der Welt sehen« – und dich vergessen, hätte er beinah gesagt, doch er verkniff es sich. Dann wischte er sich den Wein aus dem Gesicht.

»Und? Glück gefunden? Die Welt gesehen?«

»Ja, Tonino, hab’ ich. Nicht nur, aber doch auch«, entgegnete er wortkarg. Er wollte nicht über sich reden. Nicht über New York. Nicht über sein Leben mit Marsha. Und schon gar nicht, wie es in ihm aussah. Er fürchtete, wenn er über sich zu sprechen begänne, würde die Kraft, die ihn all die Jahre angetrieben hatte, versiegen und er schlaff und abgeschlagen auf seinem Stuhl zurückbleiben.

»Warum hast du deinen Vornamen geändert?«, wechselte er übergangslos das Thema.

Antonio atmete langsam aus und nahm sein Friedensangebot an.

»In den Zeitungen fingen sie an, mich Tony zu nennen. Dann nannten mich die Kollegen so. Tony dies und Tony das. Also nannte ich mich irgendwann Tony Montelli. Findest du es blöd?«

Michele sah ihn unvermittelt zärtlich an und ergriff vorsichtig seine Hand. Sanft drückte er sie einen Moment.

»Es ist egal, wie wir uns nennen. Wir, du und ich und all die andern, die in der Fremde nach einem besseren Leben suchen, bleiben doch immer die, die wir sind. Immer ein wenig sehnsüchtig nach Erfolg und dem perfekten Glück strebend. Immer etwas heimatlos und manchmal fürchterlich einsam. Das liegt in der Natur der Sache«, lächelte er sarkastisch. »Schätze, der Trick beim Ganzen ist, dass wir uns Inseln schaffen, auf denen wir uns ausruhen und zu uns selbst finden können. Wo wir das Gefühl erleben, nach Hause zu kommen, und sei es auch weit weg. Wo wir für einen Moment Glück und Frieden erleben. Und wenn dir dein Stefan diese Insel sein kann, dann bist du der reichste Mensch, der mir jemals untergekommen ist … auch wenn ich es nicht verstehe oder … verstehen will.«

Antonio wich kopfschüttelnd seinem Blick aus und schluckte den fetten Kloß in seinem Hals hinunter. Jedes verdammte Mal verblüffte ihn Michele aufs Neue mit seinen plötzlichen Weisheiten, mit seiner Sanftheit. Schließlich blickte er ihn vorsichtig an und beugte sich zu ihm vor.

»Können wir bitte wieder dahin zurückgehen, wo wir hergekommen sind?«

Micheles Augenbraue hatte sich leicht gehoben.

»Nach Italien?«

Antonio blitzte ihn plötzlich vergnügt an.

»Du bewegst dich auf dünnem Eis, mein Freund.«

Michele nickte kurz.

»Ich weiß«, sagte er und winkte dem Kellner.

***

Zwischen ungeöffneten Kisten stand Michele in Tonys Wohnzimmer und räumte Bücher in das riesige Regal an der Wand ein. Vor einigen Tage hatte er damit begonnen. Jeden Tag drei, vier Kisten. Erst tat er es, weil er sah, wie viel Freude es Tony bereitete, dann, weil es ihn glauben machte, er sei Teil von etwas, das er sich nie zu erträumen gewagt hatte.

Und doch, der morgige Rückflug ließ seine Stimmung auf den Nullpunkt sinken. Er wollte nicht gehen. Noch nie war er Tony so nahe gewesen, noch nie hatte er selbst so viel Nähe zugelassen. Beinah schien ihm, als führten sie ein normales Leben. Ein ausgeglichenes, ein ruhiges Leben – ohne die Unruhe, mit der sie schon seit ewigen Zeiten durchs Leben getrieben waren. Tony ging morgens zur Probe, Michele nahm seine Termine wahr und am Nachmittag trafen sie sich in der Wohnung und fielen übereinander her. Manchmal, wenn sie sich überwinden konnten, aus dem Haus zu gehen, führte ihn Michele in Restaurants aus. Dann saßen sie stundenlang bei Wein und köstlichem Essen und erzählten sich das Leben. Er sprach von New York und Tony von seinem Beruf, über Kunst und manchmal von Giuseppe. Wie unglücklich er mit Marilena war, die er aus falsch verstandenem Ehrgefühl geheiratet hatte, obwohl er sich doch die ganze Zeit nach jemand anderem sehnte, was ihn innerlich auffraß.

Jene Nacht, als Giuseppe ins Zimmer gestürmt war, berührten sie nicht. Unausgesprochen lag dieses Thema aber die ganze Zeit in der Luft.

An einem trüben Nachmittag war Michele, den Kopf mit der Hand abgestützt, auf dem Bett gelegen und hatte Tony zugehört, der vor sich hinplapperte, wie er die Wohnung einrichten wollte. Beim bloßen Gedanken, dass er bald wegmusste, hatte sich sein Magen zusammengezogen. Er wollte nur hier auf diesem Bett liegen und dabei zusehen, wie schön und friedlich das Leben sein konnte.

»Komm zu mir«, sagte er unvermittelt und streckte die Hand nach Tony aus. Stürmisch umfing er ihn und drückte ihn. Eine gefühlte Ewigkeit lagen sie einfach nur da. Brust an Rücken, die Augen geschlossen und keiner sagte ein Wort. Nur der zähe Hamburger Regen war zu hören, während Gesprächsfetzen und Szenen der letzten Tage eigenmächtig durch Micheles Kopf wanderten.

Er hatte längst begriffen, was Steven für Tony bedeutete. Er verstand, wie wichtig dieses Biotop aus Familie, Freundschaft und Zugehörigkeit für ihn war, auch wie sehr ihm Steven und dessen ganze Familie Halt gaben.

Aber Johannes, der Allgegenwärtige, der einen nicht unwesentlichen Teil von Tony in Anspruch nahm, steckte ihm wie ein Stachel im Fleisch. Auch wenn Michele wusste, dass dieser andere ihm nichts von Tony wegnahm, nagten Eifersucht und dieser nicht stillbare Zorn an ihm. Beides benebelte ihm oft den Verstand.

»Erklär es mir«, fragte Michele an jenem Nachmittag in den Frieden hinein und rechnete damit, dass die Hölle losbrechen würde, sobald er weitersprach.

»Was?«

»Das mit Johannes.«

Doch Tony blieb ruhig in seinen Armen liegen, während das Rauschen des Regens das ganze Zimmer ausfüllte.

Wie oft hatte sich Tony die Frage selbst gestellt. Wie oft war er die lange Liste von Johannes’ Attributen durchgegangen – mit dem Wissen, dass keiner der Vorzüge, die ihn auszeichneten, ausschlaggebend für ihn war. Selbst jetzt fiel es ihm schwer, sich darüber klar zu werden, geschweige denn darüber zu reden. Nicht einmal Steven konnte er die Stunden am Fluss mit Johannes ausreichend erklären.

Es war das Schweigen, das Nichtgesagte, das ihn zu Johannes hinzog und zugleich verrückt machte. Jene manchmal seltsam stillen Augenblicke, in denen für eine gefühlte Ewigkeit kein Wort fiel. Momente, in denen ihre Gedanken ungehindert flossen, ja oft sogar gleich schwangen – manchmal begleitet von gegenseitig zugeworfenen Blicken, die bestätigten, dass das, was hier gerade vor sich ging oder eben nicht vor sich ging, ziemlich gut war – wie Johannes sich ausdrückte. Es waren jene Momente, die für Tony etwas Erhabenes, etwas beinah Heiliges in sich bargen. In denen plötzlich Johannes’ Gedanken zu hören waren, während die Welt draußen, schrill und laut, oft alles andere überlagerte. Und dann, als hätte jemand eine geheime Tür aufgestoßen, waren Johannes’ Gedanken nicht nur zu hören. Sie waren zu sehen, in seinen Augen. In Johannes’ Gesicht. Dann wurde die Welt auf einmal groß und endlos weit, die Möglichkeiten und Träume schier unbegrenzt. Egal, wie unrealistisch und unerreichbar sie erschienen. Kein magischer Gedanke, kein Gefühl wurde eingeschränkt durch ein profanes, unbedachtes Wort oder eine alles entzaubernde Erklärung. In diesen Momenten schwebten sie. In diesen Momenten wurden sie eins. Zu intim waren diese Augenblicke für Tony, um überhaupt den Versuch zu wagen, sie in Worte zu fassen. Zu sehr standen ihm die Verinnerlichung seines Lebens, das Schweigen und vor allem das Lügen im Weg, das ihn schon so lange begleitete und ihn bereits im Ansatz scheitern ließ.

»Ich kann nicht«, sagte Tony schließlich und das Geräusch des Regens füllte erneut das ganze Zimmer aus.

Er glaubte, Micheles Enttäuschung spüren zu können, und hielt instinktiv die Arme, die ihn immer noch umschlangen, fest. Er hätte es nicht ertragen, wenn sich Michele zurückgezogen hätte. Doch Michele rührte sich nicht und Tony begann sich zu entspannen. Einige Minuten sprach keiner ein Wort. Gedankenverloren spielte Tony mit dem Armreif an Micheles Arm. Erst verzögert bemerkte er den Namen, der eingraviert war.

»Wer ist Marsha?«, fragte Tony und drehte sich zu ihm um. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Sie sahen sich sekundenlang schweigend an, dann drehte sich Michele auf den Rücken und starrte an die Zimmerdecke.

»Du musst nicht«, sagte Tony leise.

Michele schloss die Augen – er konnte sich gegen die plötzliche Flutwelle von Erinnerungen an Marsha nicht wehren.

Niemandem, nicht einmal Sven offenbarte er, wie es seit ihrem Tod in ihm aussah. Er besaß nur eine geringe Begabung für seine Gefühle Worte zu finden. Er taugte mehr dazu, die Ärmel hochzukrempeln und die Dinge in Angriff zu nehmen, egal, was es war. So machten sie das in Giffone. Ob sie ihre Toten begruben, ihr Land bestellten oder Vipern erschlugen, die sich ins Haus verirrt hatten. Er tat, was er tun musste. So war er es ihm seit Kindheit beigebracht worden und so war er bis jetzt am besten gefahren.

Doch an diesem Nachmittag, mit Tony in seinem Arm, vergrub er plötzlich das Gesicht in seiner Armbeuge und heulte zum ersten Mal. Jeden verdammten Tag vermisste er Marsha, ihre Eskapaden, ihren Humor, ihr Herz und ihre Großzügigkeit.

Stockend begann er ihre Geschichte zu erzählen. Wie sehr er sie geliebt hatte und wie sehr ihre Freundschaft jener von Tony und Stefan ähnlich gewesen sei.

Er beschrieb den Abend, als er Marsha zum ersten Mal in einem Club begegnet war. Wie umwerfend er sie gefunden hatte und wie er zu Hause unter ihren Rock gegriffen und völlig überraschend einen Zwanzig-Zentimeter-Schwanz in der Hand gehalten hatte. Tony lachte Tränen bei der Vorstellung, welches Gesicht Michele wohl dabei gemacht hatte.

Michele erzählte von den wilden Nächten im »Village« und dass es keinen Ort gab, den er nicht mit ihr abgeklappert hatte. Er wischte sich über die Augen.

»Und dann ging diese Scheiße mit dieser verdammten Krankheit los. Binnen weniger Wochen waren die Klubs und Bars menschenleer. Was einmal vor Lebensfreude nur so pulsiert hatte, roch auf einmal nach Tod und Verderben.«

»Und du?«, fragte Tony auf einmal beunruhigt.

»Als Marsha starb, war ich bei meinem Arzt. Natürlich ließ ich mich untersuchen und hab’ Gott sei Dank Glück gehabt. Ich hab’ so viel rumgehurt, dass es an ein wahres Wunder grenzt.«

»Und deshalb die Kondome?«, fragte Tony zweifelnd.

»Mein Arzt sagte, nach seinem Verständnis, wie sich die ganze Scheiße entwickeln werde, sei es die einzige Möglichkeit, sich zu schützen. Gummis! Capisci? Und ich will, dass du sie auch benutzt, wenn du dich ficken lässt. Egal, von wem und wenn es dein heiliger Johannes ist.«

»Aber Johannes würde doch niemals …«

Im Bruchteil einer Sekunde saß Michele rittlings auf Tony und sah ihn wütend an.

»Du und dein verdammter Johannes! Ich mach’ ihn fertig, wenn ich ihn erwische. Noch einmal zum Mitschreiben: Du benutzt diese Dinger. Hast du mich verstanden?«

Tony verdrehte die Augen.

»Die werden ja denken, ich hab’ sie nicht mehr alle.«

»Hast du mich verstanden?«

»Mach nicht so einen Stress, es ist doch gar nicht gesagt, dass das auch zu uns nach Europa kommt.«

»Es kann überall hinkommen, hörst du? Es gibt Flugzeuge. Alles klar? Und wenn dich jemand für bescheuert hält, weil du es nur mit Gummi machst, dann hält er dich eben für bescheuert. Ich hab’ gerade erst Marsha verloren. Glaub mir, ich würde es schlichtweg nicht ertragen, bei deiner Beerdigung aufkreuzen zu müssen. War das jetzt deutlich genug, du Idiot?«

Tony sah ihn kleinlaut an.

»Alles klar. Ich hab’ verstanden.«

»Gut!«

Eine Weile lang maßen sie sich mit Blicken, ohne dass Michele von ihm herunterstieg.

»Ist es dir wirklich egal, von wem ich mich ficken lasse?«, fragte Tony unvermittelt.

Micheles eben noch wütendes Gesicht verzog sich zu einem diabolischen Grinsen.

»Du Kanaille. Du willst den Bäcker und die Semmel«, sagte er, als er sich zu ihm niederbeugte und in den Nacken biss.

»Nein«, schrie Tony plötzlich vor hysterischem Vergnügen, »ich wollte doch nur wissen …«

»Dir werd’ ich deinen Johannes schon noch austreiben.« Das war das Letzte, was Michele noch sagte. Danach zerlegte er Antonio in sämtliche Einzelteile.

Versonnen lächelnd stand Michele geraume Zeit später vor dem Bücherregal und tauchte aus seinen Erinnerungen auf. Er begutachtete den Stapel Bücher auf dem Regal und dann jenen, den er noch immer in der Hand hielt. Erst allmählich wurde ihm das heillose Durcheinander bewusst, das er veranstaltet hatte. Kein einziges Buch stand am richtigen Platz. Kopfschüttelnd entfernte er die Bücherreihe vor ihm, legte einen anderen Stapel zu Boden und grub in der nächsten Kiste nach weiteren Büchern. Nachdem die sperrigen Textbücher und Filmskripte zur Seite geschafft waren, die sich quergelegt hatten, hielt er plötzlich eine Mappe in der Hand, aus der Fotos herausrutschten und zu Boden fielen. Er wollte sich gerade danach bücken, als er plötzlich erstarrte. Eine wahre Bilderflut rauschte durch seinen Kopf. Ein Wald war auf den Fotos. Und Tony. Im Bruchteil einer Sekunde erinnerte er sich an den Nachmittag. Auf diesem Berg. Er erkannte den Wald. Das ganze Szenario stand vor ihm. Und plötzlich wusste er, wer der andere Mann auf den Fotos war.

Landmann!

Eindeutig und klar zu erkennen. Tony war von hinten zu sehen, wie er gerade von Landmann zu Boden gedrückt wurde. Es mussten die Bilder sein, die Steven aus seinem Versteck geschossen hatte. Micheles Hände begannen zu zittern. Hastig sammelte er die Fotos ein, steckte sie in die Mappe zurück. Zögerte. Legte die Mappe wieder in die Kiste. Nahm sie erneut heraus … und versteckte sie schließlich in seiner Reisetasche.

Er musste sofort Marshall verständigen.

Jetzt würden sie ihn finden.

38

Italien, Pieve 1988

Auf dem Lindenhof saß Steven auf einer der Bänke und genoss die letzten warmen Herbsttage. Die Bäume hatten sich zu verfärben begonnen und hie und da segelte ein welkes Blatt lautlos zu Boden.

Der Stapel Zeitungen, den er mit herausgebracht hatte, blieb ungelesen neben ihm liegen. Während er dasaß und die Seele baumeln ließ, schob er ihn in unregelmäßigen Abständen immer ein wenig weiter von sich, als könnte all das Hässliche und Unerfreuliche, das in der Welt geschah, ihn seiner momentanen Ruhe berauben.

Ihm blieben nur noch wenige Tage. Bald gingen die Proben zum nächsten Stück los. Gleichzeitig liefen die ersten Vorbereitungen zu seinem Kinofilm, für den er zum ersten Mal als alleiniger Produzent verantwortlich zeichnete. In den letzten Jahren hatte Steven entdeckt, dass er einen ziemlich guten Riecher fürs Filmgeschäft besaß und in der Lage war, so einiges auf die Beine zu stellen. Seine Beteiligung an »One For The Road« als Co-Produzent hatte ihm einige Türen geöffnet, ebenso wie die Tatsache, dass er immer häufiger Tonys Interessen als Manager vertrat. Eine ziemliche Herausforderung. Tony war in der Arbeit kompliziert. Oft störrisch und ungehalten im Umgang mit Produzenten. Kollegen, die sich seiner Meinung nach nicht auf der Höhe seiner Fähigkeiten befanden, zerriss er in der Luft. In Momenten der größten Hektik und Zeitknappheit – wenn die Nerven der Crewmitglieder blank lagen – brachte Tony mit seinem »Das sehe ich anders« die gesamten Dreharbeiten zum Stillstand und löste damit verzweifeltes Stöhnen und genervtes Augenrollen aus. Mehr als einmal hatte er türenschlagend die Produktion verlassen.

Es hatte Steven während der vergangenen Dreharbeiten den letzten Nerv gekostet, Tony so weit zu bringen, dass er den Ball flach hielt. Und dann, wie immer, nachdem die letzte Klappe gefallen war und der Film im Schneideraum seiner letzten Fassung zugeführt wurde, hatte Tonys Arbeit alle Mühen, Streitereien und Skandale überstrahlt und sie hatten ihn verziehen.

Die Frage war nur, wie lange noch.

Während Steven sich also umständlich auf der Bank ausstreckte und den Zeitungsstapel nun als Unterlage unter den Kopf schob, stand Tony in der Küche und rührte seit einer guten halben Stunde wütend in der Ratatouille. Immer wieder schüttelte er den Kopf.

Er verstand es nicht. Er verstand gar nichts mehr. Gerade als die Welt für einmal in Ordnung zu sein schien, nachdem Steven auf dem Set aufgetaucht war und in kürzester Zeit die gesamte Produktion zurechtgebogen hatte, geriet erneut alles in Schieflage. Es begann damit, dass zwei Wochen vor Drehschluss in Rom, Michele eines Tages breit grinsend vor dem Einfahrtstor der Cinecittà stand.

Und genau wie die beiden anderen Male, als Michele einmal mehr unerwartet aufgetaucht war, tat Tony nicht viel mehr, als ihn sprachlos anzuglotzen und stellte dabei fest, wie meilenweit er von jedem vernünftigen Gedanken entfernt war. Zugleich fragte er sich wie lange es wohl dauern mochte, bis sie sich in die Haare gerieten und Michele der Frage, wo zum Teufel er denn die ganze Zeit gewesen sei, mit seinem unverschämten Lächeln gekonnt ausweichen würde.

Während Tony den Inhalt der Pfanne malträtierte, wanderte seine Erinnerung ungefragt zu jenem frustrierenden Abend vor zwei Jahren in Hamburg zurück. Als er – es war Micheles letzter Abend in der Stadt gewesen – von der Probe nach Hause gehetzt war und lediglich eine Notiz vorgefunden hatte. »Mi dispiace, Tonino … Musste meinen Flug auf heute vorverschieben.« Tief verletzt und ratlos war Tony danach im Wohnzimmer gestanden, hatte geistesabwesend auf die halb eingeräumten Bücherregale gestarrt und sich gefragt, was er schon wieder falsch gemacht hatte. Wie immer, verfluchte er wenig später sich, Michele und die gesamte Welt dafür, dass er nicht endlich reinen Tisch machte.

Doch dieses Mal in Rom schien alles anders. Sie stritten sich nicht. Sie fielen nicht übereinander her. Sie standen zunächst nur da und sahen sich an, ohne das leise Hupen des Wagens hinter sich zu hören, der sich – da sich keiner von ihnen vom Fleck bewegt hatte – vorsichtig an ihnen vorbei vom Filmgelände schob.

In einer Hand hielt Michele eine Blume, der während der Zeit, die er am Tor gewartet haben musste, die Farbe aus der Blüte gewichen war und die müde den Kopf hängen ließ.

Gegen Tonys Willen schlich ein Lächeln ins Gesicht.

»Was tust du hier?«

»Dich erobern«, gab Michele, ohne zu zögern zurück. Er sagte es schlicht. Ohne Aufwand. Ohne dass sich eine zornige Falte zwischen seinen Brauen zeigte.

Tony zweifelte nicht eine Sekunde an seiner Absicht – ungeachtet dessen, ob er das wollte oder nicht.

Es war ein so komplett anderer Auftakt, mit einem gänzlich fremden Rhythmus, den Michele vom ersten Augenblick an bestimmte.

Und Tony ließ es einfach geschehen. Ließ sich davontragen, durch Tage, die mit traumhafter Leichtigkeit daher tanzten und denen etwas beinah Unwirkliches anhaftete. Überrumpelt und verträumt zugleich stolperte er neben Michele während den Drehpausen durch die Gassen der Altstadt. Betrachtete ihn heimlich von der Seite, wenn sie an freien Tagen durch die Campagna stromerten oder wenn Michele schlief. Leicht verunsichert, ob es sich dabei tatsächlich um den Richtigen, den Echten handelte. Denn der Kerl der seit kurzem neben ihm lag, glich nicht jenem angespannten Michele, der atemlos durchs Leben hetzte. Den immer etwas antrieb und der meinte, alles und jeden, der ihm nahestand, bis aufs Blut beschützen zu müssen. Dieser Michele hier war heiter und gelassen. Von einer Behutsamkeit und mit einer ansteckenden Zuversicht erfüllt, die Tony an ihm bisher nicht gekannt hatte. Einer Zuversicht, die so ansteckend auf ihn wirkte und seine Gedanken ungefragt in eine Richtung wandern ließ, vor der er bisher immer auf der Hut gewesen war.

Es war das Schweigen. Dieser Frieden und die Stille, die Tony aus der Fassung brachten. Nachdem sie den ganzen Tag herumgestreift waren, landeten sie oft auf der Spanischen Treppe, saßen in der Abendsonne und sagten kein Wort.

Nichts.

Oh, es gab auch zuvor schon reichlich stumme Augenblicke zwischen ihnen. Hauptsächlich, wenn Michele düster vor sich hinbrütete und die Luft geladen schien – da war es auch weiß Gott, besser zu schweigen.

Doch mit Michele einfach irgendwo zu sitzen und friedlich zu schweigen war nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.

Jedoch an jenem Tag, als sollte er der Höhepunkt aller vorangegangenen Tage sein, als sie ohne ein Wort zu sprechen von den Stufen auf die Piazza di Spagna und das Menschengewusel hinunterblickten, da vermochte ihn Tony auf einmal fühlen. Diesen allumfassenden Zustand. Wie sie beide, für einen unbeschreiblichen Augenblick lang, in einem magischen Gleichklang schwangen. Micheles Energie war förmlich spürbar und Tony hätte beschwören können, sie schwebten.

Fasziniert und erschrocken zugleich hielt er die Luft an und schloss einen Moment die Augen.

Langsam, als hätten sie denselben Gedanken, trafen sich ihre Blicke. Michele wirkte beinah schüchtern und schluckte einmal leer. Wie jung er in diesem Augenblick wirkte. Seine Augen schimmerten unergründlich tief und in ihrem Glanz lag eine Verletzlichkeit, die Tony beinah den Atem raubte.

»Ist es … ist es … in etwa so mit deinem Johannes?«

Eine kleine Ewigkeit verstrich, bis Tony die gestammelte Frage begriffen und verdaut hatte. Er sah Michele sprachlos an. Auf unerklärliche Weise fühlte er sich ertappt und entblößt. Als hätte Michele eine verborgene Tür aufgestoßen und ihn in seinem Heiligtum überrumpelt, von dem Tony angenommen hatte, dass es sich Michele nie erschließen würde – jener magische Augenblick. Dieser Zustand, den er mit Johannes oft erlebt, für den er aber damals in Hamburg keine Worte gefunden hatte und an dem er letztlich den Unterschied zwischen ihm und Johannes festmachte. Jenen Unterschied, der ihn unbewusst einer Entscheidung enthob. Und jetzt? Welches Argument blieb ihm noch, wenn ihn Michele fragte, was Johannes besaß, das er nicht hatte? Wie sollte sich Tony jemals wieder vor diesem Hitzkopf in Sicherheit bringen, sich in sein Schneckenhaus verkriechen können, das ihm manchmal zentnerschwer auf dem Rücken lag? Und was hielt ihn generell davon ab, Michele diesen Augenblick, diesen magischen Moment zuzugestehen? Er wollte etwas sagen, doch er bekam kein Wort heraus. Stattdessen erhob sich Tony komplett überfordert und zugleich beschämt. Michele sah er dabei an, als wäre dieser in seinen verbotenen Garten vorgedrungen und hätte in völliger Unachtsamkeit die Beete zertrampelt.

Völlig aus der Bahn geworfen setzte sich Antonio in Bewegung, stolperte blind die Stufen zur Piazza hinunter und verschwand, Michele zurücklassend, in den Menschenmassen.

Die Straßenbeleuchtung brannte, als er immer noch ziellos durch die Altstadt wanderte und am Rande bemerkte, dass er vor dem kleinen Restaurant – irgendwo in Trestevere – stand, in dem sie gerne aßen. Zunächst unschlüssig, was er tun sollte, betrat Tony schließlich den Gastgarten im Hinterhof und setzte sich automatisch an ihren angestammten Platz. Wie lange er so da gesessen hatte, vermochte er nicht zu sagen. Erst ein irritierendes Kribbeln im Nacken brachte ihn dazu, sich umzudrehen und geradewegs in das Gesicht Micheles zu blicken. Seine Augen schimmerten gefährlich. Antonio hatte keine Ahnung, wie lange er schon hinter ihm stand. Schließlich setzte sich Michele und sah Antonio schweigend an.