Antonio - Zweiter Teil - Marcello De Nardo - E-Book

Antonio - Zweiter Teil E-Book

Marcello De Nardo

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Beschreibung

In nur wenigen Wochen, Antonio war sich dessen bewusst, stand ihm eine Reise bevor, von der er sich wünschte, sie nie antreten zu müssen. Während er in der flirrenden Hitze am Strand von Jesolo versuchte Ordnung in seinen Kopf zu bringen, machte sich Giuseppe auf den Weg zu Francesca. Zu jener Frau, die sein Leben auf den Kopf stellte. Die sich selbst und ihn herausforderte, wie ihn nie und niemand jemals herausgefordert hatte. Es ist der 26. Februar 1993. Der Tag von Antonios Premiere, in London. Bald würden sie kommen und ihn ankleiden, während er allmählich hinabtauchte und zur Rolle wurde -zu diesem eigenwilligen Mann-Frau-Wesen, das alles sein und alles sagen durfte, was keiner sonst war und keiner sich zu sagen traute. Sie würden ihn schminken, bis ein anderes Gesicht auf seinem lag, bis jede weitere Verbindung zu seinem Leben gekappt war. Einem Leben, dessen Ereignisse ihn, im Laufe der Jahre überrollten und dem er dennoch nachjagte -und wie Kommissar Schwarzinger ihm nachjagen musste. «...die Liebe krönt euch und sie kreuzigt euch.» (Kahlil Gibran «Der Prophet»)

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Wenn die Liebe euch ruft, folgt ihr,

Auch wenn ihre Pfade beschwerlich und steil sind.

Und wenn ihre Schwingen euch umfangen, gebt euch ihr

hin,

Auch wenn das Schwert zwischen ihren Fittichen euch

verwunden mag. […]

Denn so wie die Liebe euch krönt, wird sie euch kreuzigen.

So wie sie euer Wachstum befördert, stutzt sie auch

euren Wildwuchs. […]

Wie Garben sammelt sie euch und drückt sich euch an

die Brust.

Sie drischt euch, um euch zu entblößen. […]

All das wird die Liebe euch antun, damit ihr die Geheimnisse

eures Herzens erkennt und in diesem Erkennen

zu einem Bruchteil vom Herzen des Lebens werdet.

Khalil Gibran, »Der Prophet«

Inhaltsverzeichnis

Was bisher geschah

21. Jesolo, Sommer 1975

22. Herbst – November 1975

23. Intermezzo

24. Mont-Saint-Florêt sur Lac

25. Weihnachten 1975

26. Lindenhof

27. Januar 1976

28. Momente

29. Frühling 1976

30. Intermezzo

31. Juli 1980

32. Wettsteinpark

33. Frühjahr 1981

34. Herbst 1985

35. London 1985/1986

36. Intermezzo

Was bisher geschah

Es würde alles besser werden, hatte Giuseppe Antonio versprochen, als sie Italien verlassen hatten. Doch das Versprechen hatte sich nie eingelöst. In all den Jahre nicht.

Mama war gestorben, Johannes – sein Johannes, war weg und Michele, der sein Leben auf den Kopf stellte, war zunächst verschwunden, um dann plötzlich am Strand von Jesolo aufzutauchen, nur um sich dann abermals in Luft aufzulösen. Ein kleines goldenes Kreuz, hatte er Antonio in die Hand gelegt – ohne eine Erklärung. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, wohin er ging, oder wann er wieder kam. Oh Himmel, dieser Sommer hatte es in sich und ein Ende schien noch lange nicht in Sicht. Wenn die Sommerzeit vorbei war, das wusste Antonio, wartete das Internat auf ihn. Wo genau, sagte man ihm nicht. So hatten sie beschlossen – die Krähen, die Behörden, das Jugendamt… Und Giuseppe?

Wenn Antonio über ihn nachdachte, wollte er schreien. Vor Wut und Verzweiflung. Denn Giuseppe, auch das war Antonio klar, hatte längst nichts mehr zu sagen. Er ließ es geschehen, weil er musste. Weil alles seine Schuld war. Weil er kurz vor ihrer Abreise in den Urlaub, die Nerven verloren hatte, nachdem er Michele und Antonio in inniger Umarmung erwischt hatte und blind vor Wut auf sie eingedroschen hatte – wie ein Berserker. Wie war sein Babo mit diesem Menschen aus jener Nacht, in Verbindung bringen? Und wie war es möglich, dass Giuseppe, seit sie in Jesolo waren, ganz anders wirkte. Nicht düster und mürrisch. Nein, eher zuversichtlich und heiter, beinah glücklich. Wie konnte er es wagen?

Während Antonio in der flirrenden Hitze am Strand von Jesolo versuchte Ordnung in seinen Kopf zu bringen, machte sich Giuseppe auf den Weg zu Francesca. Zu jener Frau, die sein Leben auf den Kopf stellte. Die sich selbst und ihn herausforderte, wie ihn nie und niemand jemals herausgefordert hatte.

21

Jesolo, Sommer 1975

Das Klopfen an der Tür war leise und doch zerfetzte es die Stille, die in der Suite entstanden war, nachdem sich Vanessa, Georgia, Adosinda, Roberta und Susanne mit lautem Geschnatter, Lachen und mahnenden Worten – »Pass auf, wem du die Tür öffnest« – samt flatternden Balenciaga-Gucci-Hermès-Tüchern verabschiedet hatten.

Francesca ging ins Vorzimmer, öffnete die Tür und sah erst überrascht, dann erfreut und schließlich beunruhigt in Giuseppes finsteres Gesicht.

Ihre einladende Geste blieb in der Luft hängen.

»Alles gut bei dir?«, fragte sie zaghaft und betete inständig, ein simples »Ja« als Antwort zu erhalten.

»Habe gerade deine Hexen davonfliegen sehen.«

Francesca verzog keine Miene

»Und sie haben dich ungeschoren davonkommen lassen?«

Giuseppe quittierte die Frage mit einem leichten Achselzucken.

»War knapp. Hab’ mich in der Lobby hinter einer Säule versteckt.«

Für einen kurzen Augenblick glitzerte es verdächtig in seinen Augen, als er Francesca kichern hörte, doch schon verdüsterte sich sein Gesicht erneut.

»Hier«, sagte er und hielt Francesca linkisch einen Rosenzweig hin, »hab’ ich für dich geklaut.«

»Möchtest du ins Wohnzimmer kommen?«

»Nein … äh … können wir einfach … hier so rumstehen?«

Francesca musste lächeln.

»Ich denke, hier so rumstehen geht in Ordnung.«

Giuseppe schloss behutsam die Tür.

»Gut! – Also, weißt du … ich bin gekommen, weil ich dich fragen wollte … Geht’s dir gut?«

»Ja!«

»–«

»Giuseppe?«

»Francesca?«

»Du wolltest mich was fragen?«

»Ach so! Ja! Genau! … Ich meine … Hast du Lust? … Ähm … Willst du – meine Frau werden?«

Blieb die Zeit stehen? Hatte der Blitz eingeschlagen?

Unbehaglich wischte sich Giuseppe den Schweißfilm von der Oberlippe.

»Bin ich zu schnell, soll ich gehen und dich in Ruhe überlegen lassen?«

»Nein!«, rief Francesca lauter als beabsichtigt und dann kaum hörbar flüsternd: »Lass mich einfach kurz atmen.«

»Ich kann auch später wiederkommen.«

»Nein, Giuseppe Montelli, rühr dich nicht von der Stelle oder ich mach’ Hackfleisch aus dir.«

Giuseppe hob beschwichtigend die Hände.

»Gut, gut. Ich bleib hier. Ich rühr’ mich nicht vom Fleck.«

»Du willst mich heiraten?«

»Ja!«

»Mich?«

»Ja!«

»Sicher?«

»Absolut!«

»Wann?«

»Noch dieses Jahr!«

Francesca schnappte nach Luft.

»Hast du es ihnen schon –?«

»Nein!«

»Aber wann willst du es ihnen –«

»– nachdem wir geheiratet haben.«

»Du meinst heimlich?«

»Heimlich!«

Francescas Hände fuhren zum Mund. Erneut war es still im Vorzimmer.

»Überlege doch, Liebste«, erklärte Giuseppe, »wenn wir es ihnen vorher sagen, schneiden sie uns in Scheiben, noch bevor wir uns die Ringe an die Finger stecken können. Wir heiraten heimlich auf dem Standesamt und werfen uns danach den Löwen zum Fraß vor.«

»Oh, mein Gott«, stammelte Francesca, während sie die Hände sinken ließ, »das wird ihnen nicht gefallen. Deinen nicht und meinen schon gar nicht.«

Giuseppes Gesicht verdüsterte sich. Er hatte eine solche Reaktion erwartet und doch verstimmte sie ihn. Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugemacht, hatte gegen seine eigenen Widerstände angekämpft, damit er endlich den entscheidenden Schritt wagte, und nun schien ihm keine Kraft zu bleiben, um mit Francescas Zweifeln fertig zu werden. Was sollte er tun, damit sie begriff, dass Angriff die beste Verteidigung war? Das Letzte, was er wollte, war, das erniedrigende Gespräch mit seiner Mutter in der Küche im Detail wiederzugeben, also erzählte er Francesca eine abgeschwächte Version und hoffte auf das Beste.

»Ist das klug, Giuseppe?«

Verunsichert zog er die Schultern hoch.

»Das weiß ich nicht. Ich habe es so satt, irgendwen um Erlaubnis zu fragen, ob ich mir die Freiheit erlauben darf, mit dir mein Leben zu verbringen.«

»Sie werden nicht erfreut sein.«

»Sie werden sich damit abfinden.«

Wie zwei Schulkinder standen sie einander gegenüber. Francesca musste unwillkürlich schmunzeln.

»Ich komme mir vor, als würden wir durchbrennen.«

»Gute Idee. Lass uns durchbrennen.«

Plötzlich lachte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen.

»Ist das ein Ja?«

»Ja.«

»Ja?«

»Ja. Verdammt noch mal.«

Lachend stürmte sie in seine Arme. Er fing sie auf, wirbelte sie herum. Drückte sie an sich und wagte nicht zu atmen. Lange blieben sie so stehen und sprachen kein Wort.

Dann hob Giuseppe Francesca hoch, trug sie durch den Salon in ihr Schlafzimmer, am bodenlangen venezianischen Spiegel vorbei, blieb stehen, machte einige Schritte zurück, bis er direkt davorstand. »Da, schau!«, sagte er, »schau hinein.« Er drehte sich so, damit sie sich darin sah. »Siehst du, wie schön du bist? Siehst du es?«, fragte er und sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein? Du siehst es nicht?«, neckte er, dann warf er sie aufs Bett und sie lachte. Er sprang hinterher, schnappte sie, entkleidete sie. Wie im Rausch bedeckte er ihre Haut mit Küssen. Roch sie. Liebkoste ihre Schultern, ihre Brüste. Vergrub seinen Kopf an ihrem Hals, in ihrer Achselhöhle und atmete sie ein. Sie lachte. Er lachte und blickte sie immer wieder bewundernd an. Er legte sie so hin, dass sie beide im Spiegel zu sehen waren, berührte ihre Scham, sie stöhnte. »Wie schön du bist«, sagte er immer wieder. Flehte: »Heirate mich. Bitte, heirate mich«, und sie sagte: »Ja! Das will ich.« Sie schlang ihre Beine um seinen Körper. Drängte ihm entgegen. Umhüllte ihn mit ihrer Liebe, mit ihrer Seele und riss ihn mit sich fort, wieder und wieder und wieder.

Der Abend dämmerte. Kühle Luft wehte ins Zimmer und blähte die weißen Gardinen zu großen Segeln auf. Friedlich schlummerten Giuseppe und Francesca inmitten zerwühlter Laken und Kissen. Ihre Körper ineinander verschlungen.

Giuseppe schreckte plötzlich hoch und blickte sie mit geweiteten Augen an.

»Bleib ruhig«, flüsterte sie.

Erleichtert sank er in die Kissen zurück. Zog Francesca an sich, legte ihren Kopf auf seine Brust und schloss die Augen. Frieden. Stille. Er hörte seinen Atem. Spürte das Schlagen seines Herzens und wusste, dass die Zeit um war.

Behutsam löste er sich aus ihrer Umarmung, setzte sich auf – jede Bewegung kontrolliert. Sie folgte ihm. Schmiegte sich von hinten an seinen Rücken, umfing ihn mit ihren Armen und blickte über seine Schulter in den großen Spiegel. Er tat es ihr gleich. Einen Moment lang versanken sie in den Anblick ihres Spiegelbildes. Als wäre es ein Gemälde. Ein Tor in eine andere Welt – eine bittersüße Momentaufnahme zweier Menschen, verschmolzen in friedlicher Symbiose.

Wie jung sie waren, wie schön und stark und wie verloren sie wirkten. Mit beinah fließenden Bewegungen lösten sie sich voneinander. Erhoben sich schweigend und kleideten sich an. Beide in Gedanken an die Aufgaben, Schlachten und Herausforderungen, die auf sie warteten.

Noch einmal blickte Francesca kurz in den Spiegel, ehe sie sich weiter anzog. Eine beunruhigende Zukunft stand ihr bevor – die Begegnung mit ihren Eltern, die Scheidung, die Schlammschlacht in der Presse.

Auch vor Giuseppe lag eine schwere Reise und erst recht vor Antonio, der eine Zeche bezahlte, die er, sein Vater, verursacht hatte. Für einen Augenblick katapultierte ihn der Gedanke zurück in jene Nacht blinder Wut und uferloser Gewalt, die Ereignisse ausgelöst hatte, die unvorhersehbar gewesen waren.

»Ich habe meinen Sohn verloren, Francesca«, stammelte Giuseppe. »Ich habe ihn verloren … Er wird mir nie wieder vertrauen und wer sollte es ihm verdenken?«

Er dachte an das bleierne Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, an die zermürbende Heimfahrt, die vor ihm lag. An die lange Liste der Heime, die ihm die Frau vom Jugendamt gegeben hatte. – Wir raten Ihnen dringend, diese Einrichtungen zu besuchen, Herr Montelli –, was ohne – allerdings unbezahlten – Urlaub unmöglich war. Wie sollte er sich das leisten? Und wessen Schuld war das?

Alles wollte plötzlich ungebremst auf ihn einstürmen. Die letzten Monate. Francesca. Er. Antonio. Seine Mutter. Ihre Unerbittlichkeit. Wie sie dasaß und das Huhn rupfte. Er sah die Federn zu Boden schweben. Hörte ihre Stimme, das »Basta«, das durch die Küche surrte wie ein Messer, mit dem sie ihm letztlich die Eier abgeschnitten hatte.

»Nicht, Giuseppe. Bitte«, flüsterte Francesca. »Mach dich nicht verrückt. Wir haben den ersten Schritt getan.«

Sie hielt seinen Kopf in ihren Händen und zwang ihn, sie anzusehen.

»Und wir werden den nächsten wagen. Mit Bedacht, bis alles vorbei ist. Und sobald José die Papiere unterschrieben hat, beginne ich mit den Vorbereitungen für unsere Hochzeit, Liebster. Dann sind wir an der Reihe.«

Giuseppe nickte stumm, schloss die Augen und atmete durch.

»Wann sehen wir uns?«, fragte er.

»Anfang Oktober, vielleicht sogar später.«

»Madonna!«, stieß er hervor und sie setzte ihm auseinander, wie schwierig und heikel die bevorstehende Zeit sein würde. Wie vorsichtig sie vorgehen müsse und dass sie sich keinen Fehler erlauben dürfe. Sie kämpfte nicht nur um die Scheidung von José, sondern auch um das Sorgerecht für Johannes. Die Presse würde ihr auf den Fersen sein und nur darauf warten, sie in einem moralisch zweifelhaften Licht erscheinen zu lassen. Giuseppe verstand. Er selbst würde Wochen und Monate brauchen, bis er alle Internate mit Antonio abgeklappert hatte.

Francesca sah ihn lange an.

»Und wie erreichen wir uns?«

Giuseppe zögerte, wollte etwas erwidern, doch sie unterbrach ihn sofort.

»Sag jetzt nicht: wie bisher. Bisher ist jetzt vorbei. Da reicht der Briefkasten nicht mehr. Meinst du nicht, dass du über deinen Schatten springen und ein Telefon von mir annehmen könntest, Giuseppe?«

Giuseppe schwieg.

»Echt jetzt?«, fragte sie ungläubig. »Die Ehre und so? Jetzt?«

Giuseppe verzog keine Miene.

»Du bist so stur!«

»Ich habe Prinzipien.«

»Du bist so stur.«

»Gut, ich bin stur und ich habe Prinzipien.«

Geraume Zeit sah sie in sein verschlossenes Gesicht. Auf seinen Mund, der leicht verkniffen wirkte. »Also gut«, seufzte Francesca, »dann soll es halt der verdammte Briefkasten sein, Montelli. Manchmal könnte ich dich echt in Stücke reißen.« Erneut schwieg sie einen Moment und forschte in seinem Gesicht. Sie gab schließlich auf. »Aber sollten wir uns aus irgendeinem Grund nicht erreichen, hinterlasse Consuelo eine Nachricht. Sie ist verschwiegen wie ein Grab. Du kannst ihr gegenüber offen sein. Sie richtet alles zuverlässig aus. Und wenn du zurück bist, besorge ich dir, ob du willst oder nicht, ein Telefon, verstanden?«

»Ich liebe dich«, sagte Giuseppe plötzlich und blickte in ihre blauen Augen. In diese Zuversicht, die in ihnen schlummerte, selbst wenn sie wie jetzt wütend waren, und drückte Francesca an sich. Sie sank an seine Brust. Schloss einen Moment ihre Augen und genoss die letzten Minuten in seinen Armen, bevor jeder von ihnen in seine Schlacht zog.

»Alles wird gut, Giuseppe. Du wirst sehen, wir werden eine Familie.«

Ein letztes Mal sahen sie in den Spiegel. Betrachteten schweigend das schöne Paar, das ihnen entgegenblickte. Giuseppe würgte den Kloß in seinem Hals hinunter und räusperte sich vorsichtig.

»Heilige Scheiße, was für ein Sommer.«

Francesca küsste ihn sanft auf die Schläfe.

»Tu, was du tun musst. Ich werde auf dich warten. Hörst du? Egal, wie lange es dauert.«

Giuseppe nickte.

Hand in Hand standen sie kurze Zeit später an der Anlegestelle des Gran Albergo Cipriani und warteten auf das Boot, das Giuseppe zum Lido zurückbringen würde.

Alle Gedanken ruhten. Alles war gesagt.

Leise schlugen die Wellen an die festgetauten Boote, während die untergehende Sonne die opulente Kulisse in rotes Licht tauchte.

Das Wassertaxi legte an.

Behutsam löste sich Giuseppe aus der Umarmung und ging zielstrebig den Steg entlang.

»Addio«, sagte er schlicht, als er ablegte.

Als das Boot schon fast außer Sichtweite war, stand Francesca immer noch auf dem Steg, die Hand zum Abschied erhoben. Ihr war, als könnte sie ihn noch immer sehen.

»Bis bald, mon amour«, flüsterte sie leise. »Bis bald!«

22

Herbst – November 1975

Draußen war es noch dunkel, als Giuseppe, vom Schlaf benebelt, in die Küche schlurfte und wie jeden Morgen als Erstes das Radio andrehte. Während er vorsichtig Kaffeepulver in die Espressomaschine löffelte, sie zuschraubte und auf den Herd stellte, folgte er mit halbem Ohr den Meldungen des Tages.

Wie nach der Nelkenrevolution nicht anders zu erwarten, erhielt Angola die Unabhängigkeit von Portugal und steuerte auf einen Bürgerkrieg zu. Im Kino verschlang ein großer Fisch alles, was sich zu lange im Wasser aufhielt, und ging als »Der weiße Hai« in die Filmgeschichte ein.

Zeitgleich befand sich Spanien im Ausnahmezustand. General Franco lag zur Freude der Opposition mit Anzeichen galoppierender Schwindsucht und Verdacht auf Herzinfarkt im Krankenhaus. Das ganze Land hoffte auf seine Abdankung, während der Untergrund seine große Chance witterte. Dann folgten weitere Meldungen, danach das Wetter, die gleichen Aussichten wie die Tage und Wochen zuvor – trostlos.

Giuseppe nahm zwei Tassen vom Küchenbord, als in die morgendliche Stille der Heavy-Metal-Sound von Iron Maiden platzte. Irritiert starrte er das Radio auf dem Küchentisch an. Was war aus Patty Bravo und Gianni Morandi geworden? Einmal mehr überkam ihn die Gewissheit, dass die Welt aus den Fugen geraten war und willkürlichen Gesetzen folgte, denen er heillos ausgeliefert war. Giuseppe drehte am Senderknopf, bis er einen anderen Sender fand und schließlich das beruhigende Röcheln der Espressomaschine zu hören war.

Seit Wochen klapperten er und Antonio ein Internat nach dem anderen ab und hatten, scheinbar fernab von jeglicher Zivilisation, endlich eines im französischsprachigen Teil der Schweiz gefunden. Es war fünf Uhr morgens und Zeit, Antonio zu wecken.

Zwei Stunden später saßen Vater und Sohn gleichermaßen niedergeschlagen im roten Fiat und starrten dumpf durch die beschlagenen Fenster in die trübe Herbstlandschaft hinaus.

Was vor Wochen noch saftig grün gewesen war, hatte sich in trostloses Gelb, Braun und Grau verwandelt. Antonios eisernes Schweigen zerrte an Giuseppes Nerven, während das feuchte Wetter hartnäckig durch die Ritzen kroch, und noch immer hatte er Francesca nicht gesehen.

Sie waren übereingekommen, einander so lange nicht zu sehen, bis die Scheidung unter Dach und Fach war. Um den befürchteten Skandal zu vermeiden. Um Francescas guten Ruf in der Öffentlichkeit nicht zu beschädigen – und ihre Position im Streit um das Sorgerecht für Johannes nicht zu gefährden.

Aus dem Autoradio flehten The Carpenters: »Please, please, Mr. Postman.«

»Wir sind gleich da«, bemerkte Giuseppe und bekam, wie nicht anders zu erwarten, keine Antwort.

Zur Mittagszeit quälte sich der klapprige Fiat durch Neuchâtel, erreichte Moncruz, passierte La Coudre und landete schließlich in La Villette. Antonios Magen zog sich zusammen und ihm war speiübel. Zu allem Überfluss plärrte aus dem Radio Gloria Gaynors »Never Can Say Goodbye«. Kurz darauf hielt der Wagen auf dem Parkplatz an der Talstation der Standseilbahn.

Das Spiel war aus.

Schweigend entlud Giuseppe Antonios Gepäck und stapfte zur Schalterhalle. Über dem Eingang des Jugendstilgebäudes stand: Funiculaire.

»Was bedeuten die Buchstaben, Babo?«, fragte Antonio, während ihm das Herz in die Hose sank.

»Standseilbahn«, erwiderte Giuseppe kurz angebunden und stieß die quietschende Tür zur düster wirkenden Schalterhalle auf. Sie war leer.

»Was soll das sein? Eine Standseilbahn?«, bohrte Antonio weiter, nur damit er irgendetwas sagte, und war außerstande, das Vibrieren in seiner Stimme zu unterdrücken.

Vom kalten Steinboden des Wartesaals begann die Kälte an ihm hochzukriechen.

»Das Gegenteil einer Schwebebahn«, antwortete Giuseppe und war froh, dass er mit dem Rücken zu ihm stand, während er Antonios Fahrkarte kaufte. Seine Hand zitterte, als er das Wechselgeld entgegennahm.

»Sie steht auf dem Gleis und wird am Drahtseil hochgezogen. Capisci?«

Ihm war plötzlich jede Kraft abhandengekommen.

Zögernd drehte er sich um, hielt Antonio die Fahrkarte hin und sah in sein blasses Gesicht, in seine Augen, die verzweifelt »Bitte, schick mich nicht fort« flehten.

Die Worte blieben Giuseppe im Hals stecken. Seine Hand sank langsam nach unten.

»Was hab’ ich bloß getan?«

Die Frage hing wie ein müdes Gespenst in der Luft und es war dieses hilflose Eingeständnis, das Antonio zutiefst erschütterte. Weil es ihm tausendfach verdeutlichte, wie endgültig sein Schicksal besiegelt war. Dass nun jede Gelegenheit, die Sache mit Johannes noch irgendwie zu klären, an einen unerreichbaren Punkt gerückt war, mit der Konsequenz, dass er seinen besten Freund verloren hatte.

Genauso wenig würde er in der Abgeschiedenheit dieses Bergs etwas über Micheles Schicksal erfahren und alles, was ihm blieb, war das goldene Kreuz um seinen Hals.

Nie hatte er sich so verloren und verzweifelt gefühlt wie in diesem Augenblick.

Antonio stand vor seinem Vater und zog ratlos die Schultern hoch. Da packte ihn Giuseppe und zog ihn in seine Arme.

»Verzeih mir«, stammelte er. Immer aufs Neue und noch einmal und noch einmal wiederholte er die Worte. Drückte ihn verzweifelt an seine Brust. »Verzeih mir! Perdonami! Verzeih mir!«

Das schrille Klingeln der Seilbahn zerriss den Moment. Unfähig, weiterzusprechen, löste Giuseppe Antonios Hände, die sich in seinen Mantel gekrallt hatten, und schob ihn Richtung Kabine. Antonio wehrte und stemmte sich dagegen.

»Nicht, Babo! Bitte, schick mich nicht weg. Bitte, bitte. Nimm mich wieder mit. Bitte!«

Erneut ertönte die Klingel.

Giuseppe packte seinen Sohn an den Schultern, schüttelte ihn hilflos.

»Ich kann nicht. Verstehst du? Es geht nicht … Es … es … tut mir leid … Es ist zu spät. Guarda, Antonio … Jeden ersten Sonntag im Monat ist Besuchssonntag … Ich werde da sein … Ich werde keinen auslassen. Versprochen! Und … und einmal die Woche ist Telefonabend. Hörst du? Ich ruf dich an … jede Woche, bis es dir auf den Wecker geht … Also morgen. Ja? Morgen ist bereits Donnerstag. Ich ruf dich an, versprochen … Die Zeit wird schneller vorbeigehen, als du denkst.«

Antonio wusste, dass das eine Lüge war, und nickte kraftlos, während er sich über das nasse Gesicht wischte.

»Nun geh«, drängte Giuseppe, »du wirst oben abgeholt.« Ein letztes Mal wollte er seinen Sohn in die Arme nehmen, doch Antonio wich ihm aus. Starrte in sein Gesicht, als müsste er sich jedes Detail einprägen, und wandte sich dann wortlos ab. Die Türen der Seilbahn schlossen sich.

Eine knappe Minute später setzte sich die Holzkabine knarrend in Bewegung und zog Antonio langsam wie von Geisterhand auf 1.200 Höhenmeter. Weg von allem. Weg von Babo, Francesca, Johannes und Michele und weg von diesem verrückten Leben, das ihn überforderte.

Mutlos sank Antonio auf eine der Holzbänke und sah verloren zum Fenster hinaus.

Die Seile des Funiculaire zogen eine schnurgerade Schneise durch dichte Tannenwälder.

Die Kuppe des Bergs war von dichtem Nebel verdeckt.

Antonio schüttelte verzweifelt den Kopf. Und er hatte sich Sorgen gemacht, dass er von der Welt niemals mehr zu sehen bekommen würde als jenes kleine Stückchen Himmel, das er durch das Mansardenfenster ihrer Küche betrachten konnte.

Fünfundzwanzig Minuten später saß er auf dem kleinen Platz der Bergstation neben seinem Gepäck, umhüllt von dichtem Nebel. So dicht, dass die eigene Hand vor den Augen nicht zu erkennen war. Überall lag hoher Schnee, der die Konturen verwischte und jedes Geräusch dämpfte.

Nur das Rauschen des Windes in den unsichtbaren Tannenwipfeln hoch über ihm war zu hören. – Das war’s … Ich bin am Ende der Welt angelangt. –

Antonio wusste nicht, wie lange er schon gewartet hatte, als sich schließlich eine Gestalt aus dem Nebel schälte. Das Gesicht war nicht auszumachen.

»Antonio Montelli?«, hörte er eine körperlose Stimme aus der wabernden Milchsuppe fragen.

»Ja?« Antonios Stimme war klein und piepsig.

Nie würde er die endlosen Sekunden vergessen, als das Gesicht im Nebel ihn musterte – dieser Blick. Nie!

»Willkommen auf Mont-Saint-Florêt sur Lac. Ich bin Landmann!«

***

Das Telefongeklingel schraubte sich wie ein Drillbohrer in Josés Schädel und verursachte tektonische Plattenverschiebungen. Ächzend öffnete er die verquollenen Augen und setzte sich behutsam auf der Couch seines Arbeitszimmers auf.

Sein Fuß stieß an die Bourbon-Flasche, die scheppernd über den Boden rollte, während die Tatsache, dass er seit seiner Rückkehr aus Venedig in der Botschaft schlief, langsam wieder in sein Bewusstsein sickerte. In seinen Schläfen hämmerte es.

Angewidert glotzte er auf das schrillende Telefon vor ihm am Boden und streckte die Hand aus. Noch bevor er den Hörer ans Ohr hielt, wusste er, was geschehen war.

»Alvarez«, murmelte er und konzentrierte sich darauf, nicht auf den Teppich zu kotzen.

Mit schlaffen Gesichtszügen lauschte er der Stimme am anderen Ende und ließ danach den Hörer auf die Gabel zurückfallen.

Vor seinen Augen tanzten grelle Funken.

Es war so weit. Was sie alle seit Wochen befürchtetet hatten, war eingetroffen.

Franco war tot.

Zu diesem Zeitpunkt wusste die Welt noch nichts davon und das sollte vorerst auch so bleiben.

Erst am 20. November 1975 würde General Franco offiziell für tot erklärt werden. Das gab ihnen genügend Zeit, die restlichen Vorkehrungen zu treffen, um – wie längst geplant – Juan Carlos de Borbón y Borbón zum König von Spanien zu ernennen.

Er musste nach Madrid. Jetzt. Die Regierungsmaschine wartete bereits.

Erneut saß José wie ein Geier über der Landkarte seines Lebens und blickte auf die Scherben seiner Existenz. Alles war dahin. Seine Karriere. Seine Ehe. Und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis das Fiasko jener Nacht, die Trennung, mit allen schmutzigen Details in den Zeitungen breitgetreten würde. Wenn das geschah, würde die Chance, seine politische Karriere in die neue Ära Juan Carlos’ hinüberzuretten, gegen null schrumpfen – egal, wie viele Freunde er hatte und wie mächtig sie waren. Sie würden ihn nicht einmal mit der Zange anfassen wollen. Keiner.

Für einen Moment jagte das vor wenigen Tagen geführte, desaströse Gespräch mit seinem Vater durch den Kopf und sein Schädel begann zu dröhnen. Coronel Garcia Enrique Alvarez de Toledo. Ranghoher Offizier. Wie ihn diese Augen angeblickt hatten nach seiner Venedig-Niederlage. Voller Verachtung und Abscheu. Die Kälte, die Gefährlichkeit in der Stimme seines Vaters, als er gesagt hatte: »Bring das in Ordnung.«

José kniff vor Schmerzen die Augen zusammen und unterdrückte ein Wimmern.

Mit zittrigen Fingern wählte er Francescas Nummer. Wartete. Hörte ihre verschlafene Stimme. Erklärte ihr mit schleppender Zunge, dass er den Termin beim Anwalt heute nicht wahrnehmen konnte und die Scheidungspapier nächste Woche unterschreiben würde – »versprochen«, beteuerte er, »versprochen«.

Einen Scheißdreck würde er tun.

Er hatte nie vorgehabt, irgendetwas zu unterschreiben. Er durfte ganz einfach nicht. Er ließ Francescas wütende Stimme an sich vorbeiziehen, während er darum betete, dass der Schmerz in seinem Kopf abflaute.

Oh, sie war außer sich. So viel drang durch seine Schmerzen zu ihm durch. Er war überzeugt, sie würde, wenn es möglich wäre, samt ihrer verdammten Protector durchs Telefon springen und ihn über den Haufen schießen. Erst recht, wenn sie wüsste, dass ihre Eltern bereits in diesem Augenblick Gäste im Palais Alvarez in Madrid waren – von seinem Vater herbeizitiert und bei Laune gehalten.

Seit Portugal war das sein Plan gewesen – sie nach Madrid zu locken. Um sie in der eindrucksvollen Pracht des Palais Alvarez, die die Bedeutung und die Wichtigkeit seines Namens verdeutlichte, weichzuklopfen. Um eine zwingend notwendige Allianz gegen Francescas Scheidungspläne zu bilden. Er wusste, es lag in ihrem Interesse so sehr wie in seinem.

Doch die Niederlage in Venedig hatte ihn so geschwächt und niedergeschmettert, dass er zuwarten musste, bis er erneut bei Kräften war. Und wie immer in seinem verkorksten, missratenen Leben war ihm sein Vater, der Coronel, zuvorgekommen.

»Du verkommenes, unfähiges Subjekt. Ich hab’ das in die Hand genommen.«

Oh ja, das hatte er. Ohne sein Wissen hatte sein Vater bereits bei Francescas Eltern Alarm geschlagen. Geschimpft und gewütet und gedroht. Ihnen in anschaulichen Worten das Ausmaß des bevorstehenden Skandals vor Augen geführt und sie regelrecht nach Madrid beordert. Und dort waren sie nun. Der Zeitpunkt hätte – mit Francos Tod – nicht ungünstiger ausfallen können.

Das Treffen war für die nächsten Tage geplant, doch jetzt würde er es gleich nach seiner Landung in die Wege leiten. Er durfte keine Zeit verlieren. Es war das letzte Mittel, das ihm verblieb, um Druck auf Francesca auszuüben.

Erst jetzt realisierte José, dass sie ohne Verabschiedung aufgelegt hatte.

Während José sich erschöpft und grau im Gesicht ins Sofa zurücksinken ließ, stürmte Francesca wütend in ihrem Zimmer auf und ab – sich selbst, ihre Naivität und Dummheit verfluchend.

Sie hatte sich an all seine Forderungen gehalten, auch daran, nichts an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Sie hatte sich sogar dazu überreden lassen, bei offiziellen Anlässen neben ihm zu stehen, um einen Schein von Normalität zu wahren. Obwohl sie sich vor ihm gefürchtet hatte. Und jetzt? Jetzt hatte José im letzten Moment den Hals doch noch aus der Schlinge gezogen. Dabei hatte sie so erbittert mit ihren Anwälten um jeden Paragrafen gerungen, um das Sorgerecht gekämpft, in Rekordzeit seinen Auszug aus dem Haus erwirkt.

Vor wenigen Tagen erst hatte sie mit der Presse gedroht, falls er sich weigern sollte, die Papiere zu unterschreiben, nachdem sie wochenlang um dieses Datum gekämpft hatte. Damit alles mit ihrer beider Unterschrift besiegelt wäre. Damit sie Giuseppe morgen nach endlos langen Wochen wiedersehen und ihn überraschen konnte. Damit der Weg in ihre Zukunft frei war. Doch daraus wurde erst mal nichts.

Erst später, als Consuelo besorgt in ihrem Zimmer stand, nachdem sie ihrer Wut freien Lauf gelassen hatte, beruhigte sie sich allmählich, bis nur noch zermürbender Frust in ihr war.

Sie beschloss, ihre Vorsicht über Bord zu werfen und Giuseppe eine Notiz im zerbeulten Briefkasten zu hinterlegen, in der sie ihn bitten würde, heute am Abend zu ihr zu kommen, weil sie es nicht mehr aushielt. Keinen Tag länger. Consuelos Einwände wischte sie beiseite. Sobald sie den Brief hinterlegt hatte, wollte sie zum Friseur gehen und sich für ihn herausputzen.

Nachdem sie sich hingesetzt hatte, um an Giuseppe zu schreiben, begannen die Gedanken an José allmählich in den Hintergrund zu treten und nur noch um die Zukunft zu kreisen.

So schrieb sie jenen sehnsuchtsvollen, ungeduldigen Brief, den sie in den zerbeulten Briefkasten legte und den Giuseppe am Ende eines langen Arbeitstages las, nachdem er am Vortag Antonio nach Mont-Saint-Florêt gebracht hatte.

Giuseppe hatte die Handschrift auf dem Umschlag sofort erkannt.

Sein Herz setzte kurz aus. Ein seliges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und das erleichterte »Endlich« klang wie ein Stoßgebet. Ungeduldig nahm er den Brief aus dem Umschlag. Immer wieder las er ihn von vorne. Da stand es schwarz auf weiß, dass er sie heute Abend in seine Arme schließen können würde.

Alles wurde gut – alles.

Als Giuseppe Montelli die ausgetretenen Stufen zu seiner Wohnung hinaufstürmte, war alles, was er denken konnte: – Francesca. – Er sah ihr Lächeln vor sich, ihre Augen, roch den Duft ihrer Haut und fiel bei der Vorstellung, was er alles mit ihr anstellen würde, wenn er sie erst einmal in die Finger bekam, beinah die Treppe hinauf. Augenblicke später entledigte er sich im Vorzimmer seines Hemdes, schnappte sich Handtuch und Seife und eilte in die Küche, um sich zu waschen. Gino saß am Küchentisch und beobachtete ihn mit hochgezogener Augenbraue.

»Ist heut’ Stichtag?«

»Halt den Rand«, blaffte Giuseppe und setzte die halbe Küche unter Wasser. Ginos kleine Tochter Grazia schob sich in den Raum.

»Gehst du zu deiner Freundin?«, fragte sie und achtete darauf, mit ihren Pantöffelchen im Trockenen zu bleiben. Giuseppe sah sie schmunzelnd an und zwinkerte ihr zu.

»Ist sie hübsch?« Das Strahlen in seinem Gesicht genügte ihr als Antwort.

»Siehst du«, konstatierte sie altklug in Ginos Richtung, »sie ist hübsch.« Damit verließ sie die Küche, um es brühwarm ihrer besten Freundin, der berühmten Schauspielerin Anna Magnani, zu erzählen.

Nachdem Grazia verschwunden war, musterte Gino Giuseppe mit gerunzelter Stirn.

»Weißt du, was du da tust?«

Giuseppe prustete und kniff fluchend die Augen zusammen. Die Seife brannte in den Augen.

»Und die Briefe deiner Mutter?«, bohrte Gino weiter.

Die Frage stand wie ein Betonklotz im Raum. Giuseppe trocknete sein Gesicht und blickte in den Spiegel. Er sah alles verschwommen – so verschwommen wie alles in meinem Leben –, dachte er. Gino hatte recht. Er musste seiner Mutter schreiben. Mittlerweile war bereits der dritte Brief eingetroffen. Im ersten hatte sie ihn gedrängt, sich endlich Marilena zu erklären.

»Es vergeht kein Tag, an dem das Mädchen nicht vorbeikommt und fragt, ob du ihr etwas zu sagen hast …« Die anderen Briefe seiner Mutter hatte er nicht mehr geöffnet.

Fluchend wusch er sich den schmierigen Film aus den Augen und überhörte Ginos »Ich mein’ ja nur«, als er aus der Küche ging.

Achtlos warf Giuseppe das Handtuch auf den Stuhl und rannte in sein Zimmer. Er musste seiner Mutter reinen Wein einschenken, das wusste er. Aber nicht heute. Heute wollte er nur eines. Endlich seine Francesca sehen. Sein Leben in Ordnung bringen und seine Zukunft mit ihr planen. Mehr verlangte er nicht vom Leben.

»Bring es hinter dich«, rief Gino ihm nach.

»Ja verdammt!«

Während er nach einem frischen Hemd suchte, klopfte es an der Eingangstür.

»Gino, gehst du hin?«

Keine Antwort. Giuseppe ging ins Vorzimmer zurück und öffnete die Tür. Vor ihm stand die grauhaarige Zimmerwirtin.

»Verzeihen Sie die Störung, Herr Montelli, ich wollte Sie nur daran erinnern … wegen dem Anruf. Ihr Sohn.«

Giuseppe blickte sie verständnislos an.

»Heute ist Donnerstag. Sie sagten, Sie wollten Ihren Sohn anrufen. Falls das noch der Fall ist, bitte ich Sie, das jetzt zu tun. Ich gehe später zu meiner Tochter.«

Giuseppe schlug sich an die Stirn. Erst gestern Abend, nachdem er von Neuchâtel zurückgekehrt war, hatte er sie gefragt, ob er ihr Telefon benutzen dürfe, um seinem Sohn die Ankunft auf dem Berg etwas zu erleichtern. Er hatte es komplett vergessen und schämte sich nun. Trotzdem überlegte er einen kurzen Augenblick, den Anruf auf nächste Woche zu verschieben. Doch dann sah er seinen Sohn vor sich, wie er sehnsüchtig vor dem Telefon hockte und darauf wartete, dass es endlich klingelte.

Resigniert atmete er aus.

»Ja natürlich, Signora Wagner. Ich komme gleich mit Ihnen.«

Wenig später saß er auf einem kleinen Hocker neben dem Wandtelefon in Frau Wagners vollgeräumtem, muffig riechendem Flur. Nach dem dritten Klingeln vernahm er die atemlose Stimme Antonios.

»Home Baloise, Mont-Saint-Florêt sur Lac.«

Giuseppe musste schmunzeln.

»Bist du gerannt?«

»Babo?«, quietschte es vom anderen Ende der Leitung.

Giuseppe lachte.

»Ja, ich bin’s. Wie geht es dir?«

Ein Schwall aufgeregter Erzählungen quakte aus dem Hörer. Wie sehr er das Internat hasste. Dass es wie verrückt schneite und er am Nachmittag mit dem Schlitten zur Schule gefahren sei. Wie scheußlich das Essen und wie ungenießbar die Spaghetti waren. Wie riesig das Haus, in dem er wohnte. Plötzlich zog sich Giuseppes Herz zusammen und er versäumte es, auf eine Frage Antonios zu antworten.

»Babo, bist du noch dran?«

Giuseppe schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und räusperte sich vorsichtig.

»Babo?«

»Ja! Bin noch da. Ist es … ist es einigermaßen zum Aushalten?«

Plötzlich herrschte Schweigen. Nur das Rauschen und Knacken in der Leitung war zu hören.

»Antonio?«

In die schlechte Verbindung mischte sich unterdrücktes Weinen.

»Antonio?«

Giuseppe wartete. Dann kam es kläglich vom anderen Ende der Leitung: »Babo, willst du mich nicht mehr?«

Giuseppes Kopf sank in seine Hände. Er suchte nach Worten und wusste nicht, wo er beginnen sollte. Er wollte ihm erklären, dass es nicht mehr in seiner Macht stand, etwas daran zu ändern, und dass er tapfer sein solle. Dass die Zeit schneller verginge, als er glaube. Dass alle an ihn dachten und die Nonna geschrieben habe und ihn grüßen ließ. Er wollte ihm sagen, dass Ginos Fresspaket unterwegs war. Dass er ihn schmerzlich vermisste.

Seine Kehle war wie zugeschnürt und er hörte Antonio um Fassung ringen. Hätte er an jenem Abend nicht die Nerven verloren, wäre alles anders gelaufen.

»Babo?«

»Ich bin hier. Kopf hoch, Antonio. Schau, ich bin in zwei Wochen bereits wieder bei dir. Ich verspreche dir auch, ich komme ganz früh … und wer weiß …« Einen Augenblick überlegte er, Antonio zu erzählen, dass er Francesca treffen würde. Wie sehr er sie liebte und dass alles gut werden würde. Stattdessen sagte er nur: »Vielleicht habe ich dann schon tolle Neuigkeiten für dich. Eh? Va bene? … Tonino?«

Die Verbindung wurde schlechter.

»Babo? Die anderen Kinder warten. Ich muss auflegen. Komm bald, ja? Bitte!«

Antonio war kaum noch zu hören.

»Babo?«

»A presto, Tonino. Bis nächste Woche.«

Das Knacken und Rauschen wurde lauter. Dann war die Leitung tot. Außerstande, sich zu rühren, blieb Giuseppe mit dem Hörer in der Hand sitzen. Frau Wagner stand im Flur und betrachtete den zusammengesunkenen Mann auf dem Hocker.

»Alles in Ordnung mit dem Kleinen, Herr Montelli?«

Giuseppe hob den Kopf und blickte in das zerfurchte Gesicht mit den trüben, vom grauen Star gezeichneten Augen.

»Grazie, Frau Wagner, alles in Ordnung«, sagte er ergeben. Legte den Hörer auf die Gabel und ging zur Tür.

»Herr Montelli?«

»Si?« Giuseppe drehte sich um.

Die alte Frau schlurfte den Flur entlang und legte ihre faltige Hand auf seine, die auf der Klinke lag. Sie sah ihn mit ihren matten Augen an, als besäße sie die Fähigkeit, in ihn hineinzublicken. Giuseppe wollte davonrennen.

»Herr Montelli, es hat keinen Sinn, sich ständig zu fragen, was wäre, wenn alles anders gekommen wäre. Wir können es nicht wissen. Das steht nicht in unserer Macht. Haben Sie etwas Gottvertrauen. Der weiß schon, was er tut.«

Giuseppe spürte, wie Zorn in ihm aufstieg, bis unter die Kopfhaut, und es fehlte nicht viel, dass er das ganze Haus zusammengebrüllt hätte. – Ach wirklich!! Tut er das? Na, das ist ja eine tolle Sache. Gottvertrauen also. Ja? Gute Idee. Ich nehme drei Pfund davon, bitte. Packen Sie’s ein. Soll ein Geschenk werden … Gottvertrauen! Welches Scheißvertrauen denn? In wen und was? Wie soll man einem Gott vertrauen, wenn der nichts anderes tut, als einem auf den Schwanz zu pissen … Wo war Gott denn, als Giovanna starb? Wo war Gott, als der verdammte Unfall geschah? Wo war er, als ich meinen Sohn mit diesem Perversen erwischt habe? Wo? Von dem ganzen anderen Scheißdreck, der auf dieser verfickten Welt tagtäglich passiert, mal abgesehen, liebe Frau Holle, habe ich das Gefühl, dass sich der liebe Gott um die Montellis dieser Welt einen feuchten Furz schert. –

»Herr Montelli? Alles in Ordnung?«, fragte Frau Wagner.

»Grazie, Signora Wagner, für die netten Worte«, presste Giuseppe mühsam heraus, tätschelte die Hand der alten Frau und verließ die Wohnung.

– Porca miseria –, fluchte er innerlich, während er die Treppen hochstapfte. – Wie kann das sein? Vor einer halben Stunde hatte ich Eier so groß wie Kokosnüsse und nun sind sie zusammengeschrumpft auf die Größe von Rosinen. Gottvertrauen! Bitte, Francesca – er öffnete die Wohnungstür – lass uns bald heiraten. Damit wir eine richtige Familie werden, damit Ruhe einkehrt und der Wahnsinn ein Ende findet. Dann ja, dann hab’ ich auch wieder Gottvertrauen. –

Zehn Minuten später stürmte er die Treppen hinunter, zog die Eingangstür auf und rannte beinah eine unbekannte Frau in einem bunten Kleid über den Haufen.

Ohne Entschuldigung jagte er weiter.

***

Seit Tagen schon lag dichter Nebel über dem Hamburger Hafenbecken und verdammte die Menschen auf den Schiffen zu lähmender Untätigkeit. Wie Geisterschiffe schoben sich die fahlen Ozeanriesen vorsichtig aneinander vorbei, bis sie ihren Ankerplatz erreichten.

Warten! Sven verfluchte diesen Zustand. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Schicksalsergeben wandte er sich vom Fenster ab, schnappte sich sein Bier und prostete dem Kerl neben ihm am Tresen zu.

Weder wusste er seinen Namen noch, woher er kam. Zufällig war er ihm in »Elses Ritze« über den Weg gelaufen. Man war ins Reden gekommen und seitdem standen sie an der Bar und ließen sich volllaufen.

Der Fremde hatte ihn mit unzähligen Fragen über Amerika gelöchert. Wie das Leben dort so war. Wie man überhaupt dort hinkam. Ob man einfach so auf einem Schiff anheuern konnte und welche Papiere man dafür brauchte. Am zweiten Abend, kurz vor Sperrstunde, wollte er dann plötzlich wissen, wie man drüben, wenn man denn wollte, unbemerkt vom Schiff käme, ohne dem Zoll oder Grenzbeamten in die Hände zu fallen.

Sven hatte ihn aus verengten Augenschlitzen angesehen, erst geschwiegen und dann das Thema gewechselt. Später verschwand der Fremde – wie bereits die Nächte zuvor – im dichten Nebel, nur um am nächsten Mittag, wenn Sven die Kneipe betrat, bereits am Tresen zu stehen und ihm zuzunicken. Dann begann das Ganze von vorne. Sie redeten. Sie schwiegen. Meist redete Sven, der Fremde schwieg. Sie tranken und redeten weiter und schwiegen wieder.

Und heute – vielleicht, weil der Nebel noch dichter war als die Tage zuvor oder weil ihm langweilig war oder weil der Unbekannte heute noch verdrossener wirkte – fragte Sven: »Wie heißt du eigentlich?«

Der Fremde musterte Sven argwöhnisch. Die vorangegangenen Tage hatten sie sich nicht die Mühe gemacht, einander vorzustellen. Es hatte völlig ausgereicht, sich zu betrinken, Blödsinn zu reden und die Zeit totzuschlagen. Was sollte der plötzliche Sinneswandel? Einen Moment sah der Fremde zur Eingangstür, als wollte er sich schleunigst davonzumachen.

»Michele«, schob er schließlich zwischen den Zähnen hervor, »Michele Sartori. E tu? – Und du?«

»Sven Gehrke. Angenehm. Italiener, richtig?«

Die Frage war rhetorisch gemeint und zog eine längere Pause nach sich, die nicht mit einer Antwort belohnt wurde.

»Was macht einer aus dem sonnigen Italien in einem Scheißnebelloch wie Hamburg und fragt einem Löcher in den Bauch?«

Michele kippte seinen Korn weg und goss mit Bier nach. Es dauerte einige Zeit, bis er sich zu einer Antwort entschloss.

»Auf das richtige Schiff warten.«

Sven legte den Kopf schief.

»Ach so, daher weht also der Wind – noch zwei Korn, Else«, rief er über den Tresen und wandte sich dann wieder Michele zu.

»Hast du dich wegen einer Überfahrt an mich rangeschmissen?«

Michele schüttelte den Kopf. »Nein – vielleicht«, sagte er und korrigierte sich eine Sekunde später: »Ja. Auch.«

Sven schwieg, bis Michele weitersprach. »Aber die Idee ist erst langsam entstanden … Ich habe keine Ahnung von Schiffen … ich hab’ eigentlich von gar nichts eine Ahnung – wie es scheint. Hauptsächlich wollte ich reden. Hab’ davor lange Zeit nicht geredet. Dann hab’ ich dich getroffen. Den Rest kennst du …«

»Prost!«

»Salute!«

Michele leerte sein Glas in einem Zug und schwieg danach erneut.

»Du willst also weg?«

»Unbedingt!«

Einer Eingebung folgend, fragte Sven: »Willst du oder musst du?«

»Beides.«

Sven musterte Michele, der in sein leeres Bierglas starrte.

»Hast du was ausgefressen oder ist jemand hinter dir her?«

»Ja und nein.«

»Schon wieder. Ganze Sätze, wenn’s geht.«

Michele grinste plötzlich unfreiwillig und blickte dabei geradewegs in Svens Augen. Aus unerfindlichen Gründen vertraute er ihm. Als er den Blick wieder abwandte, überlegte er kurz, ob es nicht besser wäre, einfach zu verschwinden.

»Ja, ich hab’ was ausgefressen«, sagte er und kratzte sich am Hinterkopf. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob jemand hinter mir her ist. Das ist aber nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, dass ich mein Leben auf die Reihe kriegen will und ich das Gefühl habe, an Ort und Stelle zu treten. Und das langweilt mich. Davon mal abgesehen ist die Welt so riesengroß, da wär’s doch idiotisch, immer am gleichen Ort zu hocken. Findest du nicht?«

Sven blickte Michele mit gespieltem Erstaunen an. »Alter, das war ja mal ein richtiger Vortrag.«

Micheles Grinsen wurde breiter.

»Erstaunlich, was?«

»Allerdings. Du erzählst zwar nicht viel, aber wenn du loslegst, dann gute Nacht, schöne Gegend. Hast du das öfter?«

»Bei schlechter Wetterlage.«

Sven grinste und bestellte ein weiteres Gedeck.

Eine Weile waren die Männer mit ihren Schnäpsen beschäftigt, bis Sven sagte: »Na, dann leg mal los.«

Michele zögerte und begann schließlich stockend zu erzählen. Woher er kam. Von seiner Familie. Was in Giffone geschehen war. Von der Mafia. Von der Zeit in der Schweiz. Aber nichts von Antonio. Nichts von jener Nacht, von seiner Flucht. Nichts davon, wie ratlos es ihn noch immer machte, dass er Antonio plötzlich mit anderen Augen gesehen hatte. Und er nichts dagegen tun konnte. Ab und zu warf Sven eine Frage ein. Bemerkte Micheles Ausflüchte, doch er drang nicht weiter in ihn. Er ließ Michele erzählen. Als der geendet hatte, sah ihn Sven lange Zeit schweigend an. Sein Gesicht wirkte wieder verschlossen und finster. Was Michele anging, so hatte er für eine Ewigkeit genug geredet.

»Hast du einen Pass?«, fragte Sven unvermittelt.

»Hab’ ich.«

»Visum?«

Michele schwieg und Sven verdrehte die Augen.

»Kannst du arbeiten?«

Michele nickte.

»Bist du zäh?«

Michele blickte ihn direkt an.

»Oh ja. Das bin ich.«

Sven schüttelte den Kopf. Er fragte sich, worauf er sich da einließ. Er würde sich in größte Schwierigkeiten bringen. Jetzt war die Gelegenheit, dem Kerl auf die Schulter zu klopfen, ihm alles Gute zu wünschen und schleunigst seiner Wege zu gehen. Aber irgendwie mochte er diesen heruntergekommenen Vogel, der nicht viel mehr zu besitzen schien als den zerknitterten Anzug, den er am Leibe trug. Und war er nicht selbst vor nicht allzu langer Zeit gerade in einer ausweglosen Situation gewesen, als ihm ein beinah fremder Mensch eine Chance geboten hatte? Sven war der festen Überzeugung, dass man etwas von dem, was man bekommen hatte, an andere weitergeben musste.

»Der Nebel muss mein Gehirn aufgeweicht haben«, knurrte er. Eine Sekunde später: »Alles klar. Du bist angeheuert.«

»Come?«

»Du bist angeheuert, Matrose«, bekräftigte Sven und klopfte dem sprachlosen Michele kräftig auf die Schulter. Es dauerte einige Sekunden, bis Svens Worte einsanken. War es so weit? War das die sich öffnende Tür, wenn sich eine andere geschlossen hatte? Hatte er endlich etwas Glück? War das der berühmte Silberstreifen am Horizont?

Michele wandte den Kopf auf die andere Seite und kämpfte gegen das Brennen hinter seinen Augen. Er musste an Kalabrien denken, ans Zuhause. An den Anfang seiner Odyssee. An seine Mutter und ihren Brief. »Tu das Richtige und mach uns stolz.« Was war richtig und wer sollte schon stolz auf ihn sein? Etwa Antonio? Michele hätte beinah laut gelacht. Warum sollte er? Er hatte ihn liegen lassen. Ihn nicht beschützt. Ausgerechnet ihn. Der ihm unter die Haut ging wie nichts und niemand auf der Welt. Er hatte einen Eid geschworen. Ja, das hatte er. Und nun? Nun stand er hier – und fühlte sich mit einem Mal furchtbar einsam und endlos erschöpft.

»Ich – ich weiß nicht, wie ich dir jemals – danken soll«, stammelte er.

Zwei Tage später verließ die »Bremen« an einem grauen Novemberabend im Jahr 1975 den Hamburger Hafen in Richtung New York, während Giuseppe seine Francesca wiedersehen wollte.

***

Es war stockdunkel und es regnete in Strömen, als Giuseppe durch die Stadt zu Francescas Haus raste. Die Scheibenwischer quietschten. Da stockte auf einmal der Verkehr vor ihm. Gereizt schaltete Giuseppe vom dritten in den zweiten Gang. Bremste. Fluchte. Gab Gas und bremste erneut. Jede Bewegung so hektisch wie seine Gedanken, die rastlos in alle Richtungen jagten – und doch immer wieder zu Francesca zurückkehrten. Ein Wiedersehen nach so vielen Wochen. Wie würde es sein? Befremdend? Unsicher oder stürmisch? Würden sie reden können? Es gab so viele Dinge zu klären. Wo sollten sie wohnen? Wo heiraten? Wann sagten sie es seinen Eltern? In seine Ungeduld mischte sich Unbehagen, wenn er an Ginos »Klär das endlich mit deiner Mutter« dachte, an die Briefe, die ungeöffnet auf dem Tisch lagen.

Er konnte sich nur schwer auf den Verkehr konzentrieren. Hörte Antonios Stimme, die so niedergeschlagen aus dem Hörer gedrungen war, die ihm einmal mehr sein Versagen vor Augen geführt hatte. Gottvertrauen. Ja – vielleicht bald. Wenn alles gut ging. Wenn er und Francesca heiraten konnten. Wenn er die Frau vom Jugendamt überzeugen konnte, dass er kein Schläger war, dass ihn bloß Überforderung – kopflose Überforderung – in den Wahnsinn getrieben hatte. Wenn er beweisen konnte, dass er eine Familie hatte und jemand auf seinen Sohn aufpasste und alles wieder gut und richtig war – dann ja, dann wäre sein Gottvertrauen wiederhergestellt, dann könnte er Antonio in wenigen Wochen wieder von diesem furchteinflößenden Berg, aus diesem Heim, diesem Gefängnis, holen.

Die Ampel vor ihm schaltete plötzlich auf Rot. Eine kreischende Vollbremsung katapultierte ihn nach vorne. Gottvertrauen – es klang wie ein Fluch.

Sein Oberkörper klebte einige Schrecksekunden am Lenkrad. Allmählich drang das Quietschen der Scheibenwischer wieder in sein Bewusstsein und holte ihn langsam aus seiner Erstarrung.

Erschöpft ließ er sich in den Sitz fallen. Starrte dumpf auf die Bremslichter vor ihm. Die Ampel schaltete auf Grün, doch die Wagen kamen auf der Kreuzung nicht vom Fleck. So würde er niemals zu Francescas Haus kommen.

Er wartete zähe Minuten, träumte sich weg. Stellte sich Antonios große Augen vor, wenn er an einem Besuchssonntag mit Francesca aus dem Fiat stieg, und sein Gesicht hellte sich auf.

Drei Wagen weiter hinten gab es plötzlich einen Krach, der Giuseppe in die Wirklichkeit zurückkatapultierte. Giuseppe hielt das Lenkrad fest umklammert und versicherte sich, dass ihm keiner aufgefahren war.

Entnervt schloss er die Augen.

Er wollte endlich weg. Zu Francesca – in ihre Arme.

Im Rückspiegel sah er Menschen aus ihren Wagen steigen und vor ihm setzte sich der Verkehr endlich in Bewegung.

Zwanzig Minuten später bog er auf der Suche nach einem Parkplatz in Francescas Straße ein.

Noch immer folgte sein Verstand eigenwilligen Regeln, sodass er die parkenden Wagen beinah gerammt hätte. Dabei hatte ihn Francesca in ihrem Brief ausdrücklich darum gebeten, vorsichtig zu sein, keine Aufmerksamkeit zu erregen, damit die Nachbarn nichts merkten, bis alle Angelegenheiten geregelt waren.

Für einen flüchtigen Augenblick vermeinte er eine Gestalt, einen Schatten zu sehen, als er an der Einfahrt vorbeifuhr. Wenig später, nachdem er den Wagen in eine Parklücke gezwängt und die Schlüssel abgezogen hatte, schloss er erleichtert die Augen und atmete aus.

Er war angekommen. Endlich.

Er würde Francescas Gesicht erblicken, in ihre Augen sehen und darin ertrinken. Er würde ihre Lippen küssen und ihre Berührungen bis in die Nervenenden spüren, wenn sie ihre Arme um seinen Hals legte und ihre Hände in seinem Haar vergrub.

Das flaue Gefühl im Magen schob sich in den Hintergrund und vorsichtige Freude und kindische Ungeduld durchströmten seinen Körper.

Mit wenigen Schritten legte er den Weg vom Wagen zur Haustür zurück.

Kurz blickte er auf den Messingknopf neben der großen Eingangstür. Zögerte. Holte tief Luft und drückte die Klingel. Er musste zurückdenken an damals, als er mit Antonio das erste Mal vor ihrer Tür gestanden und gewartet hatte.

Nichts geschah.

Giuseppe runzelte die Stirn und drückte den Klingelknopf erneut.

Und da war sie wieder, diese Unruhe, die ihn, seit er das Haus verlassen hatte, so hartnäckig verfolgte und sich nicht abschütteln ließ.

Nach weiteren Minuten vergeblichen Wartens entschied Giuseppe, eine Runde zu drehen. Vielleicht hatte sich Francesca lediglich verspätet. Oder sie war gerade auf dem Klo.

Als er eine Viertelstunde später erneut den Knopf drückte und sich noch immer nichts tat, begann ihm die Sorge den Hals abzuschnüren. Wie damals in Pieve, in der kleinen Bar, als er auf ihren Anruf gewartet hatte. Als er sich, sie und die ganze Welt verflucht hatte, weil nichts seinen einfachen Weg ging. Weil immer irgendwie Sand im Getriebe war. Giuseppe sah auf seine Uhr. Eine Stunde war vergangen. War ihr etwas zugestoßen, war sie erneut von José verprügelt worden war und lag verletzt im Haus? Nirgendwo im Haus war Licht zu sehen und die Gardinen hinter den Fenstern bewegten sich nicht. Schließlich beschloss Giuseppe, über den Zaun zu klettern, um die Villa herumzugehen und einen Blick durch die großen Fenster in den Salon zu riskieren. Doch das Wohnzimmer lag ruhig und verlassen da.

Während er über den Zaun zurückkletterte, ging ihm plötzlich das Bild aus Venedig nicht mehr aus dem Kopf. Als er in den großen Spiegel geblickt und ihn der Anblick von Francesca und sich darin gefangen genommen hatte. Die Verlorenheit und die Anmut dieses Augenblicks, der leise, bittersüße Stich im Herzen, den er damals gefühlt hatte, waren plötzlich allgegenwärtig. Viel zu spät bemerkte er das diffuse Blaulicht, das von den Häuserwänden und in den Bäumen reflektiert wurde, durch den dichten Schleier seiner Gedanken.

Doch dann hörte er die bellenden Befehle: »Keine Bewegung … Kommen Sie vom Zaun weg und Hände hoch.« Erst als er eine schroffe Entgegnung zurückgab und sein Körper eine Sekunde später gewaltsam in den nassen Asphalt gedrückt wurde – da erst war er bei sich. Da erst begriff Giuseppe, er hätte an diesem Abend niemals hierherkommen dürfen.

Der Schatten, den er zuvor an Francescas Einfahrt zu sehen vermeint hatte, stand plötzlich über ihm und sprach in schnellem Stakkato auf ihn ein. Ein zweiter, auch er in Zivil, rannte, gefolgt von mehreren Polizisten, herbei. Weiter hinten führten Beamte Polizeihunde über das Gelände und ihr Bellen klang wie wütendes Husten, während der Mann, von dem Giuseppe, in den Boden gepresst, nur die Füße sah, weiter auf ihn einbrüllte.

Allmählich begriff Giuseppe, dass er spanisch sprach, dass es sich um jene Leute handeln musste, die José beschützten und bewachten und die Francesca so sehr fürchtete.

Giuseppes Körper wurde plötzlich auf die Knie hochgerissen und er spürte die kleinen Kiesel, die sich schmerzhaft in sein Fleisch bohrten. Der Mann stand über ihm. Sein Gesicht war im Gegenlicht nicht zu erkennen. Wütend gab ihm Giuseppe zu verstehen, dass er kein Spanisch sprach. Wiederholte nach jedem Wortschwall seines Bewachers dieselben Worte – »No hablo espagñol! No hablo« –, bis der Mann der Guardia Civil in schlechtem Deutsch zu einem Schweizer Polizisten sagte: »Ist der verrückt? Was tut er hier? Weiß er nicht, was los ist?«

Zwei weitere Streifenwagen waren inzwischen eingetroffen. Fenster in den Nachbarhäusern wurden geöffnet und die ersten Schaulustigen fanden sich ein. Giuseppe fluchte zwischen den Zähnen. Er hatte so viel Aufmerksamkeit erregt, wie es irgend möglich war. Am Rücken klickten die Handschellen.

»Das ist ein Missverstän–.«

»Schnauze!«, blaffte einer der Polizisten, »was hast du hier zu suchen?«

Giuseppe suchte nach Worten und stammelte »Ich … ich bin verabredet«.

»Tatsächlich? Und wir sind bei der Queen zum Tee geladen. Also noch einmal: Was hast du hier verloren?«

Giuseppe platzte beinah vor Wut.

»Porca miseria, wenn ich’s doch sage, ich war hier verabredet und als keiner die Tür öffnete, wollte ich nachsehen.«

»Kannst du das beweisen?«

»Was?«

»Dass du hier verabredet bist?«

In Giuseppes Kopf war nur noch Luft und er blickte den Beamten aus zornigen Augenschlitzen an.

»Ma che cazzo te ne frega? – Was zum Teufel geht dich das an?«

Erneut wurde er bäuchlings in den Asphalt gedrückt.

»Noch einmal! Kannst du beweisen, dass du hier verabredet bist?«

Natürlich konnte er. Für wen hielt ihn dieser Mensch? Er drang nicht einfach so in fremder Leute Gärten ein. Aber den Teufel würde er tun und ihm Francescas Brief zeigen, der nebst ihrer Verabredung intime und kompromittierende Dinge enthielt, die ihm beim bloßen Gedanken daran die Röte ins Gesicht trieben. Wenn er den Brief den Beamten als Beweis übergab, war es nur eine Frage der Zeit, bis ihn die Guardia Civil und dann spielend leicht die Presse in die Finger bekam. Francescas Vorsicht, ihr Ruf, die strategischen Überlegungen im Kampf gegen José wären mit einem Schlag dahin. Giuseppe schwieg beharrlich.

»Also, was ist jetzt?«

Giuseppe lächelte den Polizisten spöttisch an.

»Ma vaffanculo – Verpiss dich.«

Der Beamte wurde zornig.

»Papiere?«

»Die sind im Wagen.«

»Schlüssel?«

»In meiner Hosentasche.«

Ohne Vorwarnung wurde Giuseppe wie eine Wurst auf den Rücken gerollt. Nachdem der Beamte seine Hand in Giuseppes Hosentasche vergraben hatte und keinen Schlüssel gefunden hatte, wurde er unsanft hochgerissen.

»Wo sind die Wagenschlüssel?«

»Die müssen in meiner Hosentasche sein.«

»Wo sind die Schlüssel?«

»Verdammt! Ich weiß es auch nicht. Es kann sein, dass ich sie verloren hab’, als ich über den Zaun geklettert bin.«

Der Beamte kam plötzlich so nahe, dass Giuseppe den Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.

»Kanakenbürschchen, hältst du uns für blöd? Hast du überhaupt eine Ahnung, wo du hier bist?«

Giuseppe reichte es. Er hatte sich zu Boden werfen lassen, man hatte ihn im Dreck gewälzt, er wurde geduzt und nun beschimpften sie ihn auch noch. Langsam drehte er den Kopf und blickte dem Polizisten direkt in die Augen.

»A casa di tu’ madre, stronzo!! – Im Haus deiner Mutter, Arschloch!!«

»Abführen!«

***

Zwei Stunden früher an jenem Abend – es war bereits dunkel und regnete in Strömen – stieß Consuelo außer sich vor Sorge die Taxitür auf und bat den Fahrer zu warten.

»Es dauert nicht lange«, versicherte sie, während sie die schäbige Eingangstür in Augenschein nahm. Das Haus entsprach Francescas Schilderung und die Hausnummer stimmte. Als sie die Tür öffnen wollte, wurde sie so heftig von innen aufgezogen, dass sie in den dunklen Hausflur gerissen wurde. Um ein Haar wurde sie von einem herausstürmenden Mann über den Haufen gerannt. Ohne Entschuldigung jagte er weiter.

Verdattert betrat Consuelo den engen Flur und hetzte die ausgetretenen Stufen empor. Der abgestandene Geruch nach Essen und muffiger Feuchtigkeit in den Wänden stieg ihr in die Nase. Es war ein Geruch, der auch die Häuser in den Armenvierteln Madrids durchdrang. Consuelo suchte nach Namensschildern. Vergeblich. Entweder waren keine an den Türen oder sie waren unleserlich. Consuelo wurde nervös. Auf keinen Fall durfte sie den Flug verpassen.

Als sie schnaufend die oberste Etage erreichte und an die letzte Tür klopfte, hoffte sie inständig, dass es die richtige Wohnung war. Ein entzückendes Wesen öffnete die Tür. Die dunklen Locken des Mädchens standen in alle Himmelsrichtungen ab und wirkten wie Antennen, die nach einem selten gehörten Radiosender suchten.

»Hola, querida. Wie heißt du denn?«

»Grazia«, lächelte die Kleine und zeigte die charmanteste Zahnlücke der Welt.

»Hola, Grazia. Ich bin Consuelo.«

»Ciao, Gonzelo«, piepste Grazia und zwirbelte eine Locke zwischen ihren Fingern.

»Ist Giuseppe da? Giuseppe Montelli?«

Grazia schüttelte kichernd den Kopf.

»Aber er wohnt doch da?«

Mit ernster Miene nickte sie. Consuelo atmete erleichtert auf.

»Gut. Und dein Papa? Ist der da?« Mit wachsender Sorge blickte Consuelo auf ihre Uhr.

»No!«, quietschte Grazia und kicherte erneut. Consuelo war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Der Auftrag lautete ausdrücklich, sie solle die Nachricht Giuseppe Montelli persönlich überbringen. Aber er war nicht da. Und warten konnte sie auf keinen Fall. Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen gefalteten Brief hervor. Ihr war nicht einmal genügend Zeit geblieben, den Brief in einen Umschlag zu stecken. Dann ging sie vor der Kleinen in die Hocke und sah sie eindringlich an.

»Hör gut zu, meine Süße. Diesen Brief«, radebrechte sie halb auf Italienisch, halb auf Spanisch, »gibst du Giuseppe Montelli, hörst du? Es ist sehr wichtig. Am besten, du legst den Brief auf sein Bett. Ja? Oder besser auf den Küchentisch. Capisci?«

Consuelo faltete dem Brief noch einmal und noch einmal, bis er in Grazias Hand passte, und schloss die kleinen Finger darum.

»Nicht vergessen, hörst du?«, mahnte sie eindringlich. Grazia sah sie mit großen Augen an und nickte ernst. Consuelo konnte nicht wiederstehen, der Kleinen über die Locken zu fahren.

»Also. Adiós, Grazia. Bis bald.« Dann erhob sich Consuelo und eilte die Treppe hinunter.

»Adiós!«, quäkte Grazia.

»Adiós, querida.«

»Ciaaoo …« Eine ganze Weile ging das hin und her, bis Consuelos Schritte verklangen.

»Was treibst du da eigentlich?«, ertönte Ginos Stimme einen Halbstock tiefer, nachdem er die Klotür hinter sich geschlossen hatte.

»Niente!«

»Und mit wem hast du geredet?«

»Anna Magnani.«

»Toll!«, knirschte Gino. Diese Magnani-Sache wurde allmählich zum Problem. Seit Monaten unterhielt sich seine Tochter ununterbrochen mit Anna Magnani – engste Vertraute und beste Freundin. Und unsichtbar.

»Und wie geht es Signora Magnani?«

»Bäääh!«, machte Grazia, die es nicht leiden konnte, wenn ihr Vater sich über sie lustig machte, und rannte in die Küche. Einer plötzlichen Eingebung folgend, kletterte sie auf den Hocker unter dem Fenster und öffnete es.

»Ciaaooo«, rief sie auf die Straße hinunter, als sie das bunte Kleid der netten Frau auf dem Gehsteig erkannte. Grazia fand, es wäre überaus hübsch, wenn es jetzt schneien würde. Ihre Fingerchen zerpflückten Consuelos Zettel in viele kleine Flocken.

»Ciaaooo!«

Consuelo entdeckte das Mädchen am Mansardenfenster und winkte ihm ein letztes Mal. Dann stieg sie ins Taxi.

»Und nun zum Flughafen – so schnell Sie können! Ich zahle den doppelten Preis.«

Während das Taxi Richtung Flughafen Basel Mulhouse Freiburg davonraste, schwebten weiße Papierflocken aus dem Mansardenfenster und tanzten im Wind, der gerade die Hegenheimerstraße entlangfegte.

***

Lähmende Kälte hatte sich in Francescas Körper festgebissen.

Sie fühlte keinen Hunger und keine Müdigkeit. Während des Flugs hatte sie reglos in ihrem Sitz gesessen und gebetet, dass alles nur ein Irrtum, ein schreckliches Missverständnis sei.

Nun stand sie im Flur der pathologischen Abteilung des Hospital Clínico San Carlos in Madrid und es gab nichts mehr zu beten und nichts mehr zu leugnen. Jedes Mal, wenn sich vor Erschöpfung ihre Augen kurz schlossen, tauchte in schlaglichtartigen Bildern der ganze Wahnsinn vor ihr auf.

Sie hatte darauf bestanden, dass man sie zum Unfallort brachte. Sie wollte, nein, musste sich überzeugen, dass es tatsächlich wahr war. Verkohlte Leichenteile auf nassem Asphalt. Ineinandergeschobene Fahrzeuge, als wären sie aus Papier. Verletzte. Der Geruch verbrannter Reifen. Schreie. Blut, abgetrennte Gliedmaßen.

Mechanisch begann Francesca auf und ab zu gehen. Ihre Schritte hallten gleichmäßig von den weiß gekachelten Wänden wie das gespenstische Ticken einer Uhr. Warum hatte es ausgerechnet ihre Eltern treffen müssen? Warum waren sie überhaupt hierhergekommen? War es wegen der Scheidung? Wollten sie den Coronel treffen? Oder war es einfach Zufall, ein blöder Zufall, dass sie in Josés Botschaftslimousine saßen?