ANTONIO - Erster Teil - Marcello De Nardo - E-Book

ANTONIO - Erster Teil E-Book

Marcello De Nardo

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Beschreibung

Wer war der Tote am Boden, der neben dem Stuhl lag, an den man Antonio, nackt und mit Augenbinde, gefesselt hatte? Und wie, in drei Teufels Namen, kam es, dass Michele, der während zehn Jahren, wie vom Erdboden verschluckt war, plötzlich bei dem Verhör in Wien auftauchte? Verdammter Michele, von dem man nicht wusste, woher er kam und wann er wieder ging. Verdammter Johannes, der sein Leben auf den Kopf stellte und ihm den Atem raubte. Es ist der 26. Februar 1993. Der Tag von Antonios Premiere, in London. Bald würden sie kommen und ihn ankleiden, während er allmählich hinabtauchte und zur Rolle wurde, zu diesem eigenwilligen Mann-Frau-Wesen, das alles sein und alles sagen durfte, was keiner sonst war und keiner sich zu sagen traute. Sie würden ihn schminken, bis ein anderes Gesicht auf seinem lag, bis jede weitere Verbindung zu seinem Leben gekappt war. Einem Leben, dessen Ereignisse ihn, im Laufe der Jahre überrollten und dem er dennoch nachjagte, so wie Kommissar Schwarzinger ihm nachjagen musste. «Die Liebe krönt euch und sie kreuzigt euch.» (Kahlil Gibran «Der Prophet»)

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Wenn die Liebe euch ruft, folgt ihr, Auch wenn ihre Pfade beschwerlich und steil sind. Und wenn ihre Schwingen euch umfangen, gebt euch ihr hin, Auch wenn das Schwert zwischen ihren Fittichen euch verwunden mag. […] Denn so wie die Liebe euch krönt, wird sie euch kreuzigen. So wie sie euer Wachstum befördert, stutzt sie auch euren Wildwuchs. […] Wie Garben sammelt sie euch und drückt sich euch an die Brust. Sie drischt euch, um euch zu entblößen. […] All das wird die Liebe euch antun, damit ihr die Geheimnisse eures Herzens erkennt und in diesem Erkennen zu einem Bruchteil vom Herzen des Lebens werdet.

Khalil Gibran, »Der Prophet«

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Basel 1970

Intermezzo

Frühjahr 1970

Frühjahr 1974

Intermezzo

Frühjahr 1975

Intermezzo

Frühjahr 1975

Frühjahr 1975

Intermezzo

Auf und davon

Intermezzo

Dunkle Wolken

Barriada de Aguadulce, adiós

Intermezzo

1975

Intermezzo

Sommer, Italien und andere Reisen

Intermezzo

Ein Sommer in Italien II

1

Prolog London, 26. Februar 1993 Vor Beginn

Mit stoischem Blick starrte der junge Mann in den Spiegel seiner Theatergarderobe. Als durchpflügte er akribisch jeden Quadratzentimeter seines Gesichtes. Als bekäme er, wenn er nur lange genug in seine Augen blickte, Antworten auf jene Fragen, denen er seit scheinbar ewigen Zeiten hinterherjagte – die ihn zugleich in den Zustand versetzten, atemlos in einem Hamsterrad zu rennen, das beliebig die Geschwindigkeit erhöhte.

Die Welt da draußen – mit ihren Kriegen und Katastrophen, mit all dem unfassbar Schönen und Hässlichen – hatte er ausgeblendet.

Und doch wusste er, egal, wie lange er hier sitzen blieb und starrte, die Welt knüpfte ihre Geschichte weiter, ungeachtet dessen, ob er sie verstand oder nicht, und würde sein eigenes Leben mit hineinweben.

Es war der Tag der Premiere. Seiner Premiere. Der heiß erwarteten – in London. Rund um das Theater war alles abgesperrt. Sicherheitsbeamte standen an jeder Ecke. Übertragungswagen zahlreicher internationaler TV-Stationen hatten Stellung bezogen. Er war Schlagzeile. Sie jagten ihn. Er war das Objekt der Begierde. Wie Bill Clinton, auf den alle schauten. Wie das Erdbeben in Indonesien, das über zweitausend Menschenleben gekostet hatte, und wie Paolo Borsellino, der von der Cosa Nostra in die Luft gesprengt worden war. Jeden Stein drehten sie um.

Es war der 26. Februar 1993.

Im Parkhaus des World Trade Center detonierte um 12.10 Uhr eine 700 Kilogramm schwere Bombe. Sechs Menschen starben, tausende wurden verletzt. Doch das wusste er nicht. Noch nicht!

Das Einzige, was er wusste, war, dass dieser Tag kein Ende nehmen wollte. Sein Blick senkte sich langsam und verlor sich im Nirgendwo. Die Kostüme hingen leblos an Kleiderhaken und die große Menge an Schminkutensilien war mit weißem Leinen bedeckt. Jeden Moment würden sie kommen. Die Maskenbildner und Ankleiderinnen. Ihm in die Korsage helfen und zuschnüren. Sie würden ihm die Perücke aufsetzen, seine Lippen schminken und ihn auf die Bühne hinausschieben. Leise öffnete sich die Tür und Sylvie, seine Garderobiere, betrat den Raum. Ihr Blick, der »Ich bin gar nicht da« zu sagen schien, streifte ihn prüfend, während sie an ihm vorbei zu den Heizkörpern huschte und mit flinken Fingern die trockene Wäsche abzunehmen begann.

»Geht’s dir gut?«, fragte sie mehr, um etwas zu sagen. Wirklich wissen wollte sie es nicht. Langsam drehte er sich um und sah ihr von der Seite ins Gesicht. Noch immer waren die dunklen Flecken auf Wangenknochen und Stirn zu sehen, ebenso die geplatzte Lippe, die nur schwer zu heilen schien. In ihren Augen jedoch lag etwas, das er nur allzu gut kannte.

»In etwa so wie dir«, gab er zurück und sah, wie sie ansatzlos den Kopf hob und an die Wand vor sich starrte. Reglos.

»Ich weiß«, bemerkte sie dann knapp, schob die Wäsche unter den Arm und drehte sich zu ihm um.

»Gleich geht’s los, was?«

Tony schwieg.

»Ich bring’ das nur schnell nach oben«, sagte sie, setzte ihr professionelles Packen-wir’s-an-Gesicht auf und zeigte dabei mit dem Zeigefinger unbestimmt zur Decke. »Die Kavallerie wird jeden Moment da sein …« Dann war sie verschwunden.

Einen Augenblick blieb Tony reglos auf seinem Stuhl sitzen. Da war er wieder, dieser Ton – vibrierend. Dumpf, leise, unheilschwanger.

Der ihn schon so lange begleitete. An wenigen Tagen kaum hörbar und doch immer da, nur durch eine hauchdünne Membran im Zaum gehalten, die irgendwann zu reißen drohte. – Nichts war vorbei. –

Einen kurzen Moment schloss er die Augen.

Die schnarrende Stimme aus der Mithöranlage ließ ihn plötzlich hochfahren. »Good evening, ladies and gentlemen. This is your first call, ladies and gentlemen. This is your first call.«

Im Hintergrund war der hektische Lärm der Bühnenarbeiter zu hören. Erneut starrte er in den Spiegel. »Ich sollte längst tot sein«, sagte er leise und seine Hände begannen zu zittern, als sie über sein Gesicht fuhren. – Atme! Reiß dich zusammen. Alles wird gut. –

Er versuchte, zuversichtlich in sein Gesicht zu blicken. Vielleicht lächeln? Egal, was geschehen war, er durfte nicht die Nerven verlieren. Nicht mehr lange und der rote Vorhang würde sich für das »European Theatre Festival« öffnen. Das Großereignis. Das Unsummen verschlungen hatte. Wegen ihm, für ihn. Das vor wenigen Wochen in Wien mit weltweiten, schrillen Schlagzeilen eröffnet hatte und dazu bestimmt war, rund um die Welt zu ziehen. Amerika, Japan, Australien – vorausgesetzt, London war ein Erfolg.

Sie rechneten mit ihm. Wenn er schlapp machte, standen sie alle auf der Straße. Seine Gedanken schossen kreuz und quer. Er wusste, sie würden ihn heute Abend in Einzelteile zerlegen und jedes Wort, jede Silbe drehen und wenden, bis sie sein Innerstes nach außen gekehrt hatten. Wie er spielte, würde kaum von Bedeutung sein. Das flaue Gefühl in seiner Magengegend nahm er ebenso beiläufig zur Kenntnis wie das Lampenfieber, das sich wie ein Pilz in seinem Körper auszubreiten begann.

Wie zum Teufel war er bloß hierhergekommen?

2

Basel 1970

Bleib stehen, Spaghettifresser!!« Ohrenbetäubend heulte das hässliche Geschrei und Gejohle der Kinder hinter ihm her. Über den ganzen Schulhof jagten sie ihn. Sein Herz hämmerte bis zum Hals und seine Lungen drohten zu bersten. Mit etwas Glück war die Tür zum Büro des Schulwartes offen und er konnte sich in Sicherheit bringen. Der kleine Siebenjährige rannte um sein Leben.

»Hey, Itaker! Wir kriegen dich! Kriegen DICH! KRIEGEN DICH!«

Seine Gedanken überschlugen sich. Sollte er wieder mit zerrissenen Hosen nach Hause kommen, würde sein Vater ihm die Hölle heiß machen. Und die Hölle heiß machen bedeutete eine ordentliche Tracht Prügel. Es war schon beinah egal, von wem er sie bezog. Einen kurzen Moment dachte er daran aufzugeben. Einfach hinfallen und totstellen. Denn sich hier zur Wehr zu setzen hatte doch sowieso keinen Sinn. Er war klein, sie waren stark und viel zu viele.

»Komm schon, du Stinktier, bring’s hinter dich!« Die Stimme gehörte der dicken Anna. Jedes Mal fragte er sich erstaunt, wie dieser Koloss es schaffte, so schnell zu rennen, ohne dabei in Ohnmacht zu fallen. In einem Moment der Unachtsamkeit übersah er eine Baumwur zel, flog in hohem Bogen durch die Luft und landete unsanft auf dem Kies. Die Hose war zerrissen, seine Knie aufgeschürft. Es schmerzte höllisch.

Stöhnend biss er die Zähne zusammen und versuchte sich hochzukämpfen, da traf ihn ein Tritt in die Seite – der erste. »Bitte, bitte, lasst mich!«, bettelte er in gebrochenem Schweizerdeutsch. »Ma che cosa vi ho fatto. Vi prego, vi prego – Ich hab’ euch doch nichts getan. Bitte, bitte.«

Er kam sich erbärmlich vor. Dabei hatte ihm sein Vater versprochen, es würde hier alles besser werden. Von wegen. Wären sie doch nur in Italien geblieben. Mama wäre noch am Leben und er müsste nicht andauernd um das seine bangen.

»Bitte, lieber Gott, hilf mir«, flehte er still für sich, während sie ihn umzingelten. Er wusste, gleich schlugen sie zu. Weil er ihnen fremd war. Weil sein Haar, seine Augen viel zu dunkel waren und schließlich, weil er gerade da war. Die Gegend zwischen seinen Beinen wurde plötzlich feucht.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie einer aus seiner Klasse zum Schlag ausholte. Der Kleine schnappte nach Luft. Kniff die Augen zusammen, als könnte er sich, wenn er nur stark genug wollte, weit wegdenken, wo es keinen Schmerz gab und er nichts, gar nichts spüren würde. Zusammengerollt wie ein Hund machte er sich auf das Schlimmste gefasst. Nichts geschah. Vorsichtig öffnete er die Augen und nahm die Hände von den Ohren.

»Seid ihr schwerhörig?«, rief jemand. »Ihr sollt aufhören, ihr Arschlöcher! Lasst ihn in Ruhe oder ich schlag’ euch windelweich!«

Es war plötzlich still auf dem Schulhof. Widerwillig trat die Meute beiseite und der Kleine hob langsam den Kopf, sah über seine rechte Schulter und blickte erstaunt zu einem großen Jungen hoch. Er kannte ihn. Zwei Klassen über ihm. Er hatte ihn schon gesehen. Mit dieser unverkennbar blonden Mähne, die ihm wild um den Kopf flog, wenn er beim Fußballspielen mit den anderen über den Pausenhof jagte.

Einer der besten Schüler. Eine Sportskanone. Der große Geheimnisvolle. Die Mädchen gerieten regelmäßig ins Schwärmen, tuschelten und kicherten, wenn sie einen Blick aus seinen blauen Augen erhaschten – so tief wie Bergseen, deren Grund nie abzuschätzen war –. Sie besprachen ihn schnatternd, bis ins kleinste Detail. Angefangen bei seiner Statur. Dann das ernste Gesicht mit diesem – unglaublich – schönen Mund, der zum Lächeln wie geschaffen war. Doch die Sache war die, der Blonde, dieser Geheimnisvolle, lächelte nur selten. Manchmal tagelang nicht. Aber wenn er dann lächelte, dann – du lieber Himmel – fegte sein Lächeln alles hinweg und ließ reihenweise gebrochene Herzen zurück – und hier stand er nun zwischen ihm und seinen Peinigern. Seine Augen wirkten beinah schwarz vor Zorn. Seine Stimme klang tief und wütend, als er die Meute anherrschte.

»Schämt ihr euch nicht? So viele gegen einen?« Er machte eine ruckartige Bewegung. »Haut ab!«

Die Bande stob davon. Einen Moment war Stille, dann blickte er auf die halbe Portion, die noch immer vor ihm auf dem Boden lag. »Kannst du aufstehen?«, fragte er.

Der Kleine schaute verunsichert zu ihm hoch.

Einerseits war er völlig von den Socken und andererseits war er sich nicht sicher, ob er ihn richtig verstanden hatte. Nach mehr als einem Jahr in der Schweiz ähnelte dieser Dialekt noch immer mehr einer chronischen Halserkrankung als einer Sprache

»Komm schon, ich helfe dir. Wie heißt du?«

Keine Antwort, nur große Augen und Schultern bis zu den Ohren hochgezogen. Der Große verstand. Seine Arme holten mit weiten Bewegungen aus und deuteten, wie Tarzan zu Jane, erst auf sich und dann auf den Kleinen.

»Ich – Johannes. Und du?«

Wie nicht anders zu erwarten, stieß Johannes auf eine Armee von Fragezeichen in seinem Gesicht. Geduldig wiederholte er die Übung ein ums andere Mal. Erneut keine Antwort.

»Ich tu dir doch nichts … sag schon. Wie heißt du? – Brauchst keine Angst mehr zu haben. Sag.«

»Antonio!«, kam es schließlich mit kleiner Stimme zurück, »Antonio Montelli!«

***

»Ach du Scheiße, du hast dich angepisst«, bemerkte Johannes, nachdem sich der Junge aufgerappelt hatte. Antonio blickte an sich hinunter und spürte, wie ihm die Schamröte ins Gesicht schoss.

»Los, komm, wir gehen in den Waschraum. In diesem Zustand kannst du dich unmöglich auf den Heimweg machen. Wir nehmen den Weg hintenrum, durch die Tür vom Schulwart.«

Johannes setzte sich in Bewegung und zwinkerte ihm aufmunternd zu. Antonio, noch völlig durcheinander, versuchte vergeblich, nicht zu weinen. Dolch als Johannes sich kurz umdrehte, um sicher zu gehen, dass der Kleine ihm auch folgte, sah er die Tränen, die über Antonios Gesicht kullerten, von denen einige am Kinn zusammengelaufen waren.

Wortlos reichte er Antonio ein Taschentuch und wartete, bis sich er sich geräuschvoll geschnäuzt hatte.

»Ja, gut so. Raus was keine Miete zahlt. Komm, ich borg’ dir meine Trainingshose. Gehen wir! – Andiamo!«

Antonio sah in sein finsteres Gesicht, das ihn um gut zwei Köpfe überragte, schwieg aber vorsorglich. Noch immer war Johannes wütend auf diese feige Bande und am allermeisten auf sich selbst. Denn es war nicht so, dass er diesen Jungen nicht kannte. Er hatte ihn bereits des Öfteren gesehen. Vor allem, wenn er verloren auf der Treppe vor der Schule saß, darauf wartend, dass ihn jemand abholte, was nie geschah.

Eigentlich hatte er schon immer zu ihm laufen wollen, um ihm den schweren Schulranzen abzunehmen und mit ihm zu reden. Irgendwas. Doch er hatte es nie getan. Genauso wie er weggesehen hatte, wenn die anderen ihn geplagt und gedemütigt hatten. Doch heute war das Maß endgültig voll. Er konnte es nicht mehr mitansehen. Er hatte sich, noch bevor er richtig wusste, was er tat, gegen die Meute gestellt und entschieden, dass dieser Knirps vom heutigen Tag an unter seinem Schutz stand, dass er auf ihn aufpassen würde wie auf einen kleinen Bruder.

Während sie durch die leeren Flure des Schulhauses zur Toilette trotteten, linste Antonio immer wieder scheu zu Johannes hoch und versuchte zu rekapitulieren, was genau, in den vergangenen sechzig Minuten, geschehen war. Eine Bande hatte ihn angegriffen. Einer der Großen war ihm zu Hilfe geeilt, einer der Großen sprach mit ihm und würde ihn sogar gleich nach Hause begleiten. Sachen gab’s.

Es war mittlerweile nach vier und schon fast dunkel, als Antonio etwas unbehaglich in der viel zu langen Trainingshose vor Johannes stand, nachdem er die eigene in seiner Schultasche hatte verschwinden lassen. Antonio hasste die Winternachmittage mit ihrer frühen Dämmerung. Er hatte immer das Gefühl, dass das Leben dann doppelt so schnell vorbeiging und er etwas Wichtiges verpasste.

»Wo musst du hin?«, fragte Johannes, schnappte sich Antonios Ranzen und schnallte ihn sich auf den Rücken. Antonio blickte beeindruckt zu ihm hoch. So jemand wie Johannes war ihm noch nie begegnet. Dieser Mut. Diese Tapferkeit. Es war ganz klar, er war ein Held – sein Held und er wünschte sich im selben Atemzug, er besäße einen kleinen Teil dessen, was Johannes auszeichnete. Alleine die Farbe seiner Haare würde ausreichen, um ihm das Leben zu erleichtern – sie würden in ihm keinen Spaghettifresser mehr sehen, keinen Itaker, Tschingg oder wie sie ihn sonst noch nannten. Johannes stieß Antonio vorsichtig an und riss ihn aus seinen Gedanken. »Wo wohnst du?«, fragte er erneut. »Verstehst du mich nicht?« Dabei erhöhte er die Lautstärke, als bedingten mangelnde Sprachkenntnisse automatisch Schwerhörigkeit. »Dove tu … äh, wohnen … ich bringen dich a casa«, verfiel er erneut in den Tarzan-Modus und stampfte enthusiastisch in der Knabentoilette umher, um das Verb ›gehen‹ zu demonstrieren.

Von der pantomimischen Einlage amüsiert, blickte ihn Antonio schief grinsend an.

»Mann, ist das anstrengend!«, schnaubte Johannes. »Das mit der Sprache können wir so nicht lassen, echt … ääh. Deine Casa? Dove?« und Johannes zeichnete mit seinen Händen Dächer in die Luft, rauchende Schornsteine. Vollführte in rascher Abfolge Gesten von Schlafen, Essen und Türen, die sich öffneten.

»Liitele Italy«, erklärte Antonio endlich und Johannes wusste, was er damit meinte. Das Arbeiterviertel im Hegenheimerquartier, das Itaker-, das Kanken-Ghetto, wie manche es nannten. Er zog Antonio Richtung Schulausgang.

»Andiamo, Piccolino«, sagte er dabei lässig.

Geraume Zeit bereits trotteten die beiden schweigend, wie Pat und Patachon, nebeneinander her, als Johannes – sein Blick war dabei sinnierend in die Ferne geschweift – in die Stille fragte: »Montelli also, ja?«

Ein kleines »Si« kam als Antwort.

Antonio hatte zu humpeln begonnen, die aufgeschrammten Knie brannten höllisch. Doch er hätte eher seine Nonna verkauft, als vor seinem neuen Freund wehleidig zu erscheinen.

»… tu italiano also, ja?«, versuchte sich der Große in Konversation. Statt einer Antwort blieb der Kleine plötzlich stehen, grinste über das ganze Gesicht, hielt sich eine unsichtbare Mandoline vor die Brust und schmetterte aus vollem Hals: »O sole mio, davant’ a te. O sole mio, sta nfronte a te …«

Abschließend verbeugte er sich wie ein dicker Opernsänger mit wedelnder Hand und ausladenden Gesten. Johannes blickte ihn überrascht an. In seinen Augen funkelte es plötzlich. Der Rest seines Gesichtes schien noch auf etwas zu warten. Dann endlich – oh Wunder – folgte sein Mund und schenkte ihm ein breites, strahlendes Lächeln.

3

Intermezzo London, 26. Februar 1993 Vor Beginn

Tony? … Tony!!«

Der Blick seiner schwarzen Augen hatte sich in weiter Ferne verloren und erst langsam bemerkte er Steven, der, so schien es Tony, wie von Zauberhand zwischen Tür und Angel aufgetaucht war. Durch die Mithöranlage drang gedämpftes Stimmengewirr aus dem Zuschauerraum und breitete sich wie zähflüssige Sauce in der Garderobe aus.

»Hi«, sagte Steven zögernd und schob sich, da Tony nicht reagierte, langsam in den Raum. Ein Blick in Tonys Gesicht genügte und er wiederholte wie so oft in den beklemmenden letzten Wochen: »Du musst das nicht tun«, was Tony zwar zur Kenntnis nahm, doch jedes Mal aufs Neue ignorierte. »Wenn alle Stricke reißen, steht die Zweitbesetzung bereit. Das weißt du.«

Tony schwieg.

»Wem willst du was beweisen? Sei gnädig zu dir!«

Das kurze, sarkastische Lachen aus Tonys Mund klang wie ein Husten.

»Ja sicher. Ich bleib’ zu Hause und lecke meine Wunden. Bist du verrückt? Wie würdest du als Produzent dastehen? Wie würden wir alle dastehen? Sie würden nicht zu spekulieren aufhören.« Mit einer knappen Kopfbewegung deutete er dabei auf den Zeitungsstapel, den Steven unter dem Arm trug.

Steven schloss die Tür und drehte die Mithöranlage aus. Auf einen Schlag erstarb das Gemurmel aus dem Zuschauerraum und Stille legte sich über die Garderobe. Behutsam berührte ihn Steven an der Schulter. »Wie schlimm ist es?«

Steven wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte, Tonys Schweigen, seine Augen, die ihn leer anblickten, oder die ganze Erscheinung, die verloren auf dem Stuhl vor ihm saß. Entschieden legte er den Zeitungsstapel auf den Tisch und zog Tony an sich. Dessen Kopf vergrub sich verzweifelt in seiner Umarmung, bis nur noch wenige Haarbüschel zwischen Stevens Unterarmen hervorschauten. »Ich bitte dich, Tony. Sag mir, was ich tun kann … Was? Das … Schlimmste ist vorbei … Alles wird gut.« Es klang wie eine Lüge. Einen Moment war es drückend still.

»Du machst mir echt Angst, hörst du?« Tony gab noch immer keinen Laut von sich.

»Ich bin ja da! Paul ist da. Wir lassen dich beide nicht aus den Augen.«

Endlich spürte er den Atem Tonys durch den Anzug dampfen, dessen verzweifeltes:

»Ich bin nicht wach. Ich bin nicht wach«, einen warmen Fleck auf seiner Bauchdecke hinterließ.

»Wie solltest du auch?«, murmelte Steven.

Noch immer könnte er sich ohrfeigen. Warum war er nicht länger geblieben?

Warum hatte er nicht besser auf ihn aufgepasst? Wären sie nach dieser verdammten Probe gemeinsam nach Hause gegangen, wäre nichts von alldem passiert – nicht die Nacht auf dem Präsidium in Wien und schon gar nicht Tonys Zustand am Morgen danach. Blass wie ein Gespenst hatte er vor ihm in der Hotellobby gestanden. Unfähig, etwas zu sagen.

Erst recht nicht über jenes Verhör, das bis zum Morgengrauen gedauert hatte und ihn so aus der Bahn geworfen hatte, als hätte er in einen gähnenden Abgrund geblickt.

Auch Schwarzinger, diesen Kommissar, erwähnte er seither mit keiner Silbe mehr.

Tony schälte abrupt den Kopf aus Stevens Umarmung, erhob sich und drehte die Mithöranlage wieder auf. »Oh Gott, diese Stille«, stieß er hervor, »ich werde verrückt dabei.«

Ziellos machte er einige Schritte, blieb mitten in der Garderobe stehen und lauschte konzentriert dem Stimmengewirr aus dem Zuschauerraum.

»Wie in einem Löwenkäfig, findest du nicht?«, fragte er ansatzlos und setzte sich wieder hin. Flüchtig streifte sein Blick die Titelseiten, die vor ihm auf dem Garderobentisch lagen und wandte sich angewidert ab. Er hatte genug Schlagzeilen gelesen – für ein ganzes Leben.

»Grotesk!«

»Was?«

»Da bettelt man ein halbes Leben um Aufmerksamkeit und jetzt, wo ich sie habe, wünsch’ ich mir, unsichtbar zu sein. Jeder Stein wird umgedreht, der etwas über Antonio Montelli ans Tageslicht bringen könnte.«

Steven nahm den Stapel und beförderte ihn mit einer schwungvollen Bewegung auf das Regal oberhalb des Spiegels. »Schon weg«, sagte er und machte ein Gesicht, als hätte er nie welche mitgebracht. Tony quittierte es mit einem matten Lächeln. Langsam ging Steven vor ihm in die Hocke und drehte sein Gesicht zu ihm.

»Hör zu, Euer Merkwürden, ich kann mir noch nicht einmal im Ansatz vorstellen, wo du dich gerade befindest, dazu fehlt mir zum Glück die Fantasie … Aber es bricht mir das Herz, wenn ich dich so sehe und nichts dagegen tun kann. Aber wir sind in London. Verstehst du? In dieser Stadt haben wir Fensterkitt gefressen. Tonnenweise. Von diesem ekelhaften Porridge ganz zu schweigen –.«

Gegen seinen Willen prustete Tony plötzlich los.

»Und heute ist die Bude voll, mit wichtigen Leuten. Wegen dir. Stell dir vor, Almodóvar ist schon zum vierten Mal in der Vorstellung.«

»Quatsch.«

»Wenn ich’s dir sage. Er war in der Wiener Premiere und in der dritten Woche nochmal. Und hier war er in der Generalprobe und heute Abend ist er wieder da.«

»Muss er ja. Ist ja auch sein Stück.«

Steven wischte seine Bemerkung mit einer knappen Handbewegung beiseite.

»Da wolltest du doch immer hin.«

Tony nahm plötzlich seine Hand und drückte sie fest, »Das will ich immer noch. Ich schaff’ das, wirst sehen. In ein paar Stunden werden wir lachen, es ist nur …«

In diesem Moment ging die Tür auf und die Maskenbildnerin, genannt Ruth, die flinke Schottin, betrat mit noch mehr Pinseln und Farbpaletten die Garderobe, dicht gefolgt von Sylvie mit High Heels, Strapsen und der Korsage in der Hand. Steven verstummte und blickte erst zu den Frauen, dann zu Tony.

»Es ist so weit, mein Herz«, flüsterte er leise. Es klang wie ein Urteil, eine unheilvolle Prophezeiung, die niemand zu hören schien außer Tony. »Zieh dich an. Und dann … dann geh da raus und … mach sie fertig, ja?« Stevens Knie knacksten, als er sich erhob. Schnell hauchte er Tony einen Kuss auf die Stirn, dann verließ er beunruhigt die Garderobe.

4

Frühjahr 1970 Little Italy

In diesem Frühjahr trennten sich die Beatles.

Die Concorde machte ihren ersten Überschallflug und die Explosion von Apollo 13 versetzte die ganze Welt in einen Schockzustand.

Richard Nixon wurde Amerikas neuer Präsident, Ulrike Meinhof befreite Andreas Baader und Brasilien gewann in Mexiko gegen Italien 4:1 und wurde Weltmeister.

In Memphis beschloss der King of Rock, Elvis Presley, zum ersten Mal seit 1958 wieder auf Tournee zu gehen, während Jimi Hendrix jämmerlich an Alkohol- und Tablettensucht verreckte.

Für Antonio, der in seinem kleinen Kosmos gefangen war, zogen die Ereignisse vorbei wie die Züge, die er sich gerne anschaute, wenn sie unter der Eisenbahnbrücke vorbeidonnerten. Er wusste nicht, woher sie kamen, und nicht, wohin sie fuhren. Er hatte genug mit seinem eigenen Leben zu tun. Nach Tagen wie diesen, mit blutigen Knien, schmerzhaften Beulen und verheultem Gesicht, wollte er nichts weiter, als die große Holztür seines Wohnhauses fest hinter sich verschlossen wissen – um das aufsteigende Gefühl der Sicherheit, wenn auch nur bis zum nächsten Morgen, in seinem Körper hochsteigen zu fühlen.

Kurz verharrte er, um sicherzugehen, dass der ganze Müll, der ihn heute gequält hatte, tatsächlich draußen geblieben war. Erleichtert atmete er auf.

Ein verführerischer Geruch nach Essen hing im Treppenhaus und umschmeichelte seine Nase. Antonio schnüffelte wie ein Hund, der Witterung aufgenommen hatte.

Der Hunger hing ihm plötzlich im Magen und trieb ihn das steile Treppenhaus zur Mansardenwohnung hinauf. Vorbei an schäbigen Türen, durch die jeden Tag Musik, laute Stimmen und nervtötendes Kindergeschrei drangen. Vorbei an fast unleserlichen Namensschildern von Nachbarn, die Monti, Petretti, Fumagallo oder Mazotti hießen und die wie sein Vater hier mit wenig Gepäck gestrandet waren. Weil es Arbeit, weil es Geld gab und weil das Leben eben war, wie es war.

Beinah jeder im Kanakenviertl, arbeitete bei einem dieser Chemiegiganten wie Ciba-Geigy, Hoffmann-La Roche oder auf dem Bau. All die Fremden, waren in die Stadt, die Schweiz und in alles, was daran angrenzte, eingefallen wie die Heuschrecken, hieß es, und man achtete peinlich genau darauf, den Baubaracken, in denen viele von ihnen hausten, möglichst fernzubleiben. Die enge Wohnung teilten sie sich mit vier Paesani. Da war Gino aus Rom, Vater von zwei Kindern, der wie sein Babo Witwer war. Gefolgt von Franco, der hier war, um Geld nach Hause zu schicken. Der Letzte im Bunde, der den Dachstock bewohnte, war: Michele. Michele Sartori.

Eines Morgens war er plötzlich da. Keiner wusste, woher er kam, und keiner wusste, wann er wieder ging. Daran würde sich auch nie etwas ändern.

Gino fand ihn eines Morgens frierend auf der Straße und beschloss kurzerhand, ihn einfach mitzunehmen.

Oft saß Michele schweigend in der Küche, mit seinem verschlossenen Gesicht, dem Mund, der wenig redete, und Augen, die so dunkel und finster blicken konnten, dass Antonio nicht selten auf dem Absatz kehrtmachte und im Zimmer, das er mit seinem Vater teilte, verschwand.

Michele war sechzehn und verdiente sein Geld als Schwarzarbeiter auf dem Bau.

Jeden Samstagabend, nachdem das Geschirr weggeräumt worden war und sich jeder für seine Verabredungen fertig gemacht hatte, stand auch Michele in seinem dunklen Anzug und weißen Hemd startklar in der Tür.

Der weiße Kragen über dem dunklen Revers hob sein kantiges Gesicht hervor. Betonte die schwarzen Locken, die nur schwer zu bändigen waren, und an seinen Manschetten, die unter seinem Jackett blütenweiß hervorblitzten, funkelten Knöpfe aus glänzendem Onyx. Antonio hat sie nicht vergessen – bis zum heutigen Tag nicht. Und zwischen seinen Brauen bildete sich regelmäßig eine steile Falte, ehe er zum Abschied in die Küche blickte, kurz nickte und »Io vò« murmelte. Was so viel bedeutete wie »Ich geh’ dann mal«.

Seinem Vater zufolge musste Michele bei Nacht und Nebel aus Kalabrien flüchten, weil er sich an Lucia her angemacht hatte, die jedoch die Verlobte seines Cousins war.

Lucia aber, die Treulose, wollte nach bestandenem Abenteuer den Cousin nicht mehr haben, sondern war verrückt nach dem schönen Michele.

Michele wiederum verlor danach das Interesse an Lucia, weil sie – nüchtern betrachtet – bei Weitem nicht so schön wie willig war. Und der gehörnte Cousin entwickelte daraufhin großen Ehrgeiz, Michele zu Cannelloni zu verarbeiten.

Ob die Geschichte stimmte, wusste Antonio nicht. Doch das Gefühl, dass mehr dahinterstecken musste, ließ ihn nie los. Als er Michele einmal darauf ansprach, wurde er nur angefahren: »Fatti i cazzi tuoi – Kümmere dich um deinen eigenen Scheißdreck.«

Gerade wollte Antonio die Klinke der Wohnungstür in die Hand nehmen, als sie mit heftigem Ruck aufgezogen wurde. »Ma dove sei stato? Porco cane!«

Es war immer das Gleiche. Sein Vater fragte nie »Wie war es in der Schule?« oder »Wie ist es dir ergangen?«, nein, nur »Wo warst du?«, »Wo kommst du her?«, »Warum so spät?«, zornig und ungeduldig, weil meist die Zeit, die Kraft und so vieles mehr fehlte.

In seinem Innersten wusste Antonio, dass sein Vater es nicht so meinte, und doch schien er jedes Mal zu schrumpfen, wenn er von ihm angefahren wurde. Einmal erklärte ihm Gino, das Leben hätte seinen Vater »geprägt«, und ließ ihn damit ratlos zurück. – Aber es gab doch auch andere Zeiten –, wollte er Gino nachrufen. – Als er heiter, großmütig und lustig war. – Er erinnerte sich ganz genau. Auch wenn es lange her zu sein schien. Lange bevor sie beschlossen hatten, hierher nach Basel zu ziehen. »Willst du da draußen Wurzeln schlagen?«, polterte sein Vater auf Trevisanisch.

Immer wenn er in Wut geriet, verfiel er in den starken Dialekt, den Antonio kaum verstand. Seine Mutter hatte stets darauf geachtet, dass er ordentlich sprach.

»Komm rein. Ich war schon ganz krank vor Sorge. Ma, si tu sta’n dove, Cristo?«, brummte er, was so viel bedeutete wie »Wo hast du denn so lange gesteckt?«, und stapfte zum Herd zurück, bevor das Abendessen anbrannte. Michele saß am Küchentisch, wie meistens in seinen »Corriere della Sera« versunken.

Aus dem Radio plärrte Patty Pravos »Tu mi buti giù« und Ginos Kinder, in große Badetücher gehüllt, quäkten fünfstimmig mit.

Die Badewanne in der Küche war bereits zugedeckt, was darauf schließen ließ, dass die anderen schon gebadet hatten und für Antonio kein heißes Wasser mehr übrig war.

– Auch recht –, dachte er sich. Blieb ihm wenigstens das zweifelhafte Vergnügen erspart, mit den Kleinen in die Wanne steigen zu müssen. Er hasste es, wenn sie voller Wonne ins Wasser pinkelten.

»Wessen Hose hast du eigentlich an?«, fragte Michele, von seinem »Corriere« aufblickend. Antonio stockte. Wenn Michele ihn so direkt ansah, verlor er meistens die Fassung. Dabei gab Micheles verschlossenes Gesicht keinen Hinweis darauf, ob er schlechte oder gute Laune hatte. An manchen Tagen mahlten seine Kieferknochen ungeduldig, wenn er unter Druck stand, und dann verliehen ihm die dunkel schimmernden Augen und die schwarzen Locken etwas Diabolisches. Nur wenn er mit Antonio herumalberte, entspannte sich das kantige Kinn und der harte Zug um seinen Mund wich einem sanften Lächeln. Dann durfte Antonio auf seinen Schultern sitzen oder er wurde herumgewirbelt, bis er vor Vergnügen schrie.

Micheles Frage bezüglich der Hose blieb unbeantwortet, was seinen Vater veranlasste, vom Topf hochzublicken, aus dem der Sugo dampfte. Der Blutfleck auf Johannes’ Turnhose war nicht zu übersehen. Besorgt legte er den Kochlöffel zur Seite, kam zu Antonio und schob wortlos das Hosenbein hoch. Ihre Blicke trafen sich stumm. Sollte sein Vater ihn noch lange so mustern, würde er die Fassung verlieren.

Antonio schlug die Augen nieder.

Giuseppe Montelli schwieg, während er die Wunde säuberte. Er hatte längst begriffen, dass sein Sohn ordentlich Prügel bezog. Beinah jeden Tag. Doch Giuseppe vertrat die Ansicht, dass der ganze Dreck, der einem tagtäglich widerfuhr, nur in kleinen Dosen erträglich war. Deshalb war es im Hause Montelli ein ungeschriebenes Gesetz, Kummer nicht weiter zu besprechen, um ihn nicht noch größer zu machen. »Sei ein Mann«, hieß es dann. Antonio hätte die Ermahnung heute nicht ertragen. Schweigend klebte Giuseppe ein Pflaster auf die Wunde.

»Lava te, e pi maniong – Wasch dich und dann essen wir«, befahl er resigniert und drückte ihm einen frischen Waschlappen in die Hand. Während Antonio sich wusch, stellte Giuseppe einen Teller mit Tagliatelle und Sugo auf den Tisch und streute Parmigiano darüber.

»Manja«, forderte er Antonio zum Essen auf.

Über den Tellerrand hinweg traf ihn kurz der Blick Micheles, der ihm plötzlich zuzwinkerte.

Als hätte ihm jemand ungefragt in die Seele geblickt, stützte Antonio seinen Kopf in die Hand und bedeckte die brennenden Augen. Er stieß seine Gabel in die Tagliatelle und stopfte die Nudeln in seinen Mund, als wäre es ab morgen unter Androhung der Todesstrafe verboten.

***

Satt und träge lag Antonio auf dem Bett und tagträumte von gefährlichen Abenteuern. Gemeinsam mit Johannes zog er auf großen Pferden und in schweren Ritterrüstungen durch den Wald. Auf der Suche nach dem gefürchteten Drachen. Ihre Rüstungen schepperten so laut, dass er das leise Öffnen der Tür überhörte, als sein Vater ins Zimmer trat. »Hast du für deine Mutter schon gebetet?«

Antonio setzte sich abrupt auf. »Si«, sagte er nicht sehr überzeugend. Für einen Moment huschte ein Lächeln über Giuseppes Gesicht. »Dammi un bacino e poi buona notte – Gib mir ein Küsschen und dann gute Nacht.«

Antonio legte die Arme um Giuseppes Hals und gab ihm einen Gutenachtkuss.

»Buona notte.«

»Lösch das Licht bald! Ciao.«

Kaum hatte sich die Tür hinter seinem Vater geschlos sen, sprang Antonio auf, kniete sich vor sein Bett und holte das Gebet an seine Mutter nach. Ein Feuerwerk an Wünschen und Hoffnungen sprudelte aus ihm heraus. Wie jeden Abend plapperte er drauflos und erzählte, was ihm alles widerfahren war. Dankte ihr für das glimpfliche Davonkommen und für den Retter, den nur sie ihm geschickt haben konnte, weil er ja plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Das Ganze beendete er mit »Mach mich bitte stark und fromm, damit ich in den Himmel komm«.

Dann kroch er ins Bett und löschte das Licht.

Aus der Küche drangen gedämpftes Lachen und die leisen Stimmen von Giuseppe und Michele, die sich mit denen der Nachbarn vermischten. Wie jeden Abend begleiteten sie ihn, ob er wollte oder nicht, in den Schlaf. Unter ihm schrie das Neugeborene der Fumagallos und daneben stritten sich die Petrettis. Ungefragt schob sich das Leben der anderen in das eigene. Geheimnisse hatten die Lebensdauer von Eintagsfliegen. Das war im Haus so und galt für das ganze Hegenheimerviertel. Suchte eine Mutter ihren Gianni, so konnte man getrost davon ausgehen, dass eine andere ihn vor Kurzem mit dem Sohn der Fanchettis gesehen hatte, wie sie der Fabiola die Zöpfe bis zum Hintern langgezogen hatten. So war das in Little Italy, das so überschaubar war, wie eine Streichholzschachtel und in dessen Zentrum sich der kleine Supermarkt der Bostichos befand – die Tauschbörse für Klatsch und Tratsch schlechthin und in dem beinah, das ganze Ghetto einkaufte. Nicht weit davon, befand sich die Wohnung seiner Zia Consilia und seines Zio Gerardo lag.

Jedes Wochenende luden Onkel und Tante zu Pizza und Wein und schoben dabei einen Fladen nach dem andern in den Ofen, bis die ganze Rixheimerstraße danach duftete. Eine Straße weiter, so schien es, war die Welt bereits zu Ende.

Dort stand das schäbige Haus, in dem sie früher gewohnt hatten, als Mama noch gelebt hatte.

Ob er wollte oder nicht, er musste an jenen strahlenden Sommertag denken, an dem sie nach Italien aufbrachen, an den vollbepackten Fiat, der unter der enormen Last schier die indische Schere machte, wie sein Zio bemerkte, was so viel hieß wie vor Erschöpfung alle Viere von sich strecken.

Sie waren so außer sich vor Freude gewesen. Endlich zurück nach Italien. Zurück in ihr wahres Zuhause. Zurück zur Nonna. Und dieses Mal würden sie bleiben. Für immer.

Aber nichts davon war eingetreten. Mama war tot.

Es war noch immer in seinem Kopf – dieses markerschütternde Geräusch von ineinanderkrachendem Blech, das weit über die Felder von Refrontolo zu hören gewesen war. Die Totenstille danach. Menschen hatten sich langsam in Bewegung gesetzt und waren in Richtung Unfallstelle gerannt.

Antonio wollte nicht laufen. Er wollte, nein, musste stehenbleiben. Wie angewurzelt.

Genauso wie nach dem Sommer. Als er immer wieder vor dem schäbigen Haus gestanden hatte, darauf hoffend, dass sich die Tür wie durch ein Wunder öffnete und Mama heraustrat, bis er allmählich begriff, dass er umsonst wartete.

Mama würde nie wieder auf die Straße treten. Sie würde ihm nie wieder die rote Fliege richten, ihn bei der Hand nehmen, so fein ausstaffiert, wie er war, und aller Welt begreiflich machen, wie stolz sie auf ihn war.

»Basta!«, sagte sein Vater leise. Geraume Zeit schon stand er im Dunkeln neben dem Bett und konnte Antonios Unruhe förmlich fühlen.

»Es ist genug, schlaf jetzt.«

Giuseppe schlüpfte zu ihm ins Bett, schob behutsam seinen Arm unter Antonios Kopf und drückte ihn an sich. »Va bene così?«

– Und wie alles in Ordnung ist –, dachte Antonio. Eine Weile lag er so an seinen Vater gekuschelt, lauschte seinem Atem, der immer tiefer wurde, und beruhigte sich allmählich.

Jeden Augenblick würde Giuseppes Nachtkonzert beginnen, er vermochte es am Rhythmus seines Atems zu erkennen.

»Babo?«, fragte er.

»Eh?«

»Kehren wir jemals wieder nach Hause zurück?«

»Ma, poi vediamo – Wir werden sehen. Schlaf jetzt.«

Später in der Nacht, als sein Vater schnarchte, als zersäge er die Hälfte des kanadischen Waldbestandes, düsten Antonio und Johannes auf einem großen, fetten, fliegenden Schwein namens Anna über den Pausenhof. Der Wind pfiff ihnen um die Nase, während sie gerade eine enge Schleife über Antonios Peiniger flogen. Die dicke

Anna hob ihren Ringelschwanz und pinkelte auf die Untenstehenden hinab.

»Vaffanculo!«, johlten Johannes und Antonio übermütig und flogen lachend davon.

5

Frühjahr 1974 Der Fischer und sein Geist

Egal, ob im Kaufhaus oder im Fahrstuhl, aus beinah jedem Lautsprecher dudelte »Sugar Baby Love« von den Rubettes. In der Schweiz entschied das Volk, die Gastarbeiter im Land zu behalten, während in Washington die Watergate-Affäre Nixon die Präsidentschaft kostete. Der erste Golf verließ in jenem Jahr in Wolfsburg die Werkshallen und Ike und Tina Turner rockten mit »Nutbush City Limits« die Charts rauf und runter. Die »Bravo« klärte mit Fotoromanen über Liebe und Sex auf und der Spion Günter Guillaume verriet Deutschlands Geheimnisse an die DDR.

»Hab’ ich dich!«, zischte es plötzlich von hinten.

Mit dem Schlimmsten rechnend, fuhr Antonio mit erhobenen Fäusten herum. Vor ihm stand Johannes und grinste gelassen über das ganze Gesicht.

»Probleme?«

Antonio sah ihn eine Sekunde entsetzt an und stöhnte dann erleichtert auf. »Du Arsch! Hast mich zu Tode erschreckt.«

»Ich weiß«, gluckste Johannes und behielt Antonio, der wie ein Boxer auf ihn zugetänzelt kam, im Auge. »Tu das nicht, Piccolino«, warnte er großzügig. Antonio hob unschuldig die Hände.

»Was hast du? Ich tu doch gar nichts.«

»Träum weiter«, erwiderte Johannes und versetzte Antonio einen prophylaktischen Stoß, der ihn schwungvoll in die nächste Rabatte beförderte.

»Hey!«, protestierte der Kleine, »das ist nicht fair. Ich bin doch nur eine halbe Portion!«

»Ach, sag bloß. Auf einmal? … Kannst du denn dein Zeugs für die Deutscharbeit, du halbe Portion?«

Die Frage kam unerwartet. Antonio wich seinem Blick aus. Tollpatschiger, als er war, rappelte er sich auf und fragte sich insgeheim, wozu das viele Lernen überhaupt gut sein sollte. Da, wo er herkam, beendeten die meisten Kinder mit elf die Schule, arbeiteten in der Fabrik und verdienten ihr eigenes Geld. Johannes stand breitbeinig vor ihm und wartete. »Also, was is’?«

»Was soll damit sein?«, gab Antonio zurück und begann, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, sein Hemd in die Hose zu stopfen und zupfte dabei jede einzelne Falte zurecht.

Johannes stieß ungeduldig die Luft aus. »Im Ernst, Antonio, was nützt die Plackerei, wenn du dann nicht lernst?«

»Ja-ha!!«

»Ich mein’s ernst.«

»Ist ja gut. Wer bist du? Meine Großmutter?«

Johannes sah ihn todernst an. »Seh’ ich so aus?«

Der Kleine kicherte auf einmal los.

»Nicht wirklich, meine Großmutter hat etwas mehr Oberlippenbart.«

Dann nahm er die Beine in die Hände, stürmte Rich tung Schulhaus davon und Johannes, wie könnte es anders sein, hinterher. Wie beinah jeden Morgen – immer vorausgesetzt, die Müdigkeit steckte ihnen nicht allzu sehr in den Knochen – erreichten sie den Schulhof unter Lachen und Schnaufen, noch ehe die Glocke geläutet hatte.

»Danach Mississippi?«, fragte Johannes und hielt ihm das Tor zum Pausenhof auf.

Mississippi war das Codewort für ihren geheimen Rückzugsort an der Birs, einem Seitenarm des Rheins. Sie nannten ihn Mississippi, damit die anderen die Stelle am Fluss nicht auch für sich entdeckten. Ganze Nachmittage verbrachten sie dort, egal, ob es warm oder eisig kalt war.

»Es ist der beste Ort der Welt«, hatte ihm Johannes damals vorgeschwärmt und schlichtweg untertrieben. Es war ein magischer Ort. Einer, an dem sie, wenn die Welt zu kompliziert wurde, zur Ruhe kamen. An dem sie manchmal einfach schwiegen und ihren Gedanken nachhingen, nur um gleich darauf ausgelassen übereinander herzufallen.

Jedes Mal, wenn sie unter der großen Trauerweide saßen, deren hängende Zweige träge mit dem Wasser spielten, schien sich die Welt langsamer zu drehen.

»Also, was ist jetzt?«, wiederholte Johannes.

»Dort!« Antonios Zeigefinger deutete unentwegt in eine Richtung. »Die dicke Anna und die anderen.«

»Vergiss es, Piccolino. Ich bin ja da. Also, Mississippi?«

Antonio verzog das Gesicht.

»Ich kann nicht. Hab’ den ganzen Krempel für die Schulaufführung zu Hause liegen lassen.«

Johannes hatte es komplett vergessen. »Der Fischer und sein Geist« – Antonio sprach seit Tagen von nichts anderem. Er sollte die Fee spielen, die ursprünglich ein Geist war, der immer um Mitternacht aus dem Wasser stieg. Antonio aber war der Meinung, ein Geist sei ziemlich gruselig und treibe den armen Fischer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in den Wahnsinn. Folglich beschloss er, dass es eine Fee sein sollte. Eine Wasserfee, um genau zu sein.

»Schaust du zu?«

»Fußballtraining«, entgegnete Johannes etwas schuldbewusst. Er wusste, wie viel es Antonio bedeutet hätte. Aber erstens hatte er wirklich ein Training und zweitens interessierten ihn Schulaufführungen überhaupt nicht. Die Enttäuschung stand Antonio ins Gesicht geschrieben. Die Glocke schrillte laut über den Hof. Antonio hielt sich die Ohren zu.

»Ich will auch Fußball spielen«, schrie er quengelnd gegen den Lärm an.

Johannes wandte schnell den Kopf ab, damit Antonio das plötzliche Grinsen auf seinem Gesicht nicht sah. Tatsache war, dass Antonio in etwa so viel Talent zum Fußballspielen besaß wie eine Weinbergschnecke zum Stabhochsprung.

»Du bist zu klein, Piccolino«, brüllte er im selben Augenblick, als die Klingel verstummte.

»Was schreist du so?«

»Du bist zu klein«, wiederholte Johannes und zog Antonio hinter sich her.

»Bin ich nicht!«

»Natürlich bist du das. Warum seid ihr Italiener auch immer so klein?«

»Weil man uns immer sagt, wenn du groß bist, musst du arbeiten, capisci?« Dabei kniff er Johannes grinsend in die Seite. Gerade wollten die beiden blödelnd die Stufen hochlaufen, als ein missmutiges »Hast du dein Kostüm, Montelli?« durch das Treppenhaus hallte.

Professor Berger stand auf dem oberen Treppenabsatz und sah, wie immer missbilligend, auf seinen Schüler hinunter. – Der Tag fängt ja gut an. –

Antonio konnte förmlich spüren, wie er unter dem Blick des Lehrers zu schrumpfen begann.

»Muss … muss … ich nach dem Unterricht … holen …«, stotterte er kleinlaut.

Einige Sekunden fixierte ihn Professor Berger mit seinen farblosen Augen und wandte sich dann langsam ab. Die übrigen Schüler, die schaulustig innegehalten hatten, setzten sich wieder in Bewegung.

Antonio blieb mit hängenden Schultern zurück. »Testa di cazzo!«

»Geh schon.« Johannes schob ihn sanft weiter. »Ich hol’ dich nach der Aufführung ab, ja?«

Antonio nickte kurz und begann, die Stufen hinaufzugehen.

»Hey, Piccolino!«, rief Johannes plötzlich.

Antonio drehte sich zu ihm um.

»Vaffanculo!«

Antonios Miene hellte sich plötzlich auf.

»Du mich auch.«

***

Es war nach sieben Uhr abends und draußen war es bereits finster. Die Doppeltür der großen Aula stand sperrangelweit offen. Johannes spähte hinein, nur um festzustellen, dass die Zuschauer den Saal längst verlassen hatten. Die Luft roch noch immer stickig und abgestanden. Hinten wischte der Schulwart den Boden und schickte sich an, die restlichen Stühle wegzuräumen, während sein Labrador ausgelassen mit einem zotteligen Knäuel spielte.

»Verzeihen Sie, aber haben Sie Antonio gesehen, den kleinen Italiener, der mitgespielt hat?« Der Schulwart blickte kurz auf, schüttelte den Kopf und schrubbte weiter.

Etwas ratlos verließ Johannes die Aula und blieb für einen Moment auf dem leeren Flur stehen. Nichts war zu hören. Niemand zu sehen. Nicht eine Menschenseele.

Gereizt nahm Johannes die vordere Treppe zum Haupteingang, stieß die schwere Holztür auf und trat ins Freie. Der Pausenhof war genauso leer. Fluchend machte er sich auf den Nachhauseweg. Er hatte bereits das Tor zur Straße geöffnet, als er unvermittelt stehen blieb.

»Nein, verdammt! - Das kann nicht sein. Wir waren verabredet!«

Johannes machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zum Schulhaus zurück. Auch wenn er nicht viel wusste, so war er sich sicher, dass niemand zuverlässiger war als Antonio, wenn es darum ging, eine Verabredung mit ihm einzuhalten.

Entschlossen betrat er das Schulhaus. Die schwere Holztür machte ein krachendes Geräusch, als sie hinter ihm ins Schloss fiel. Nur das schummrige Licht der Notbeleuchtung brannte noch. Der Schulwart war wohl schon nach Hause gegangen.

Johannes begann alle Toiletten, alle unverschlossenen Zimmer zu kontrollieren. Stockwerk für Stockwerk suchte er ab.

Von Antonio keine Spur.

Es gab nur noch einen Ort, wo er noch nicht gewesen war. Die abgelegene Treppe ganz hinten, im alten Teil des Schulgebäudes. Niemand hielt sich dort auf, wenn er nicht unbedingt musste. Johannes machte sich auf den Weg.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg er die Treppe hoch und bemerkte im ersten Stock, dass die Notbeleuchtung in diesem Teil des Gebäudes gar nicht mehr funktionierte. Kurz blieb er stehen und drehte sich suchend nach dem Lichtschalter um. Er drückte den Knopf. Alles blieb dunkel.

»Mist«, fluchte Johannes und ging mit zunehmend flauem Gefühl im Magen weiter. Nur die Lampen an der Hausfassade draußen warfen durch die großen Bogenfenster Licht auf die Stufen.

Ein undefinierbares Geräusch hallte plötzlich durch das Treppenhaus.

Ihm standen die Haare zu Berge. – Johannes Alvarez-Buri, sei kein Mädchen und reiß dich zusammen –. Er musste an Antonio denken – was der wohl von ihm halten würde, wenn er ihn so sehen könnte?

Energisch straffte Johannes die Schultern und ging weiter.

Im dritten Stock war das Geräusch erneut zu hören. Johannes stieg vorsichtig zum nächsten Treppenabschnitt hoch, bog langsam um die Ecke – und dann sah er ihn.

Einsam, mitten auf der Treppe sitzend. Eingetaucht in dieses kalte Licht, das durch die hohen Treppenfenster fiel – ihn hervorhob, wie ein kostbarer Gegenstand unter einem Glassturz.

Johannes hielt die Luft an. Reglos betrachtete er die kleine Gestalt, jedes Detail registrierend. Die Haltung des Körpers. Die Art und Weise, wie die Arme auf den Knien lagen. Der Kopf, der darin versunken war. Das Licht, wie es auf die Schultern fiel und jede Falte seines Umhangs betonte, der ihn glitzernd umhüllte und die Stufen hinunterfloss.

Johannes war dermaßen überrascht, Antonio so zu sehen, dass er vergaß, den Mund zu schließen. Wie in Trance zog er sich ein Stück zurück und beobachtete ihn mit angehaltenem Atem durch das schmiedeeiserne Treppengeländer, als wäre ihm durch den Spalt eines Vorhangs ein heimlicher Blick gewährt worden.

In diesem Moment hob Antonio langsam den Kopf und wischte mit beinah vollendeter Geste die Tränen aus seinem fleckig weiß geschminkten Gesicht, das sich scharf von der Dunkelheit abhob. Und seine Augen … seine Augen blickten dabei funkelnd wie schwarze Diamanten in den nächtlichen Himmel hinaus.

Johannes schluckte einmal leer. Dann trat er zögernd ins Licht.

»Ich hab’ das ganze Gebäude nach dir abgesucht«, begann er mit heiserer Stimme. Vorsichtig räusperte er sich.

Ohne ein Wort zu erwidern, vergrub Antonio erneut seinen Kopf aufschluchzend in seinen Armen. Johannes blieb verunsichert an Ort und Stelle stehen.

»Versteckst du dich hier, Piccolino?«

»Hau ab!«, fauchte Antonio plötzlich. Johannes zuckte zusammen. Sah Antonio schockiert an. Sein erster Impuls war zu gehen, einfach zu verschwinden, bevor ihm die Demütigung ins Gesicht geschrieben stand.

Doch dann hob Antonio gefährlich langsam den Kopf und blickte ihn wortlos an. Hielt ihm sein Gesicht entgegen. Dieses geschminkte Gesicht mit den schwarz umrandeten Augen, in denen ein Feuer loderte. Ein Feuer aus Trotz und Wut, tiefer Verletztheit und strotzend vor Kraft zugleich. Ein Wesen aus einer anderen Welt, das vor ihm saß, ihn herausforderte, mit einem sturen Zug um die rot verschmierten Lippen, abwartend, was Johannes als Nächstes tun würde.

Kein Geräusch war zu hören.

Um nichts in der Welt hätte Johannes seinen Blick abwenden können von diesem Wesen, das ihm fremd und vertraut zugleich war wie …wie ein … Es wollte ihm kein passendes Wort einfallen. Auch Jahre später nicht, wenn er sich daran erinnerte.

»Was ist?«, blaffte Antonio, als Johannes noch immer mit offenem Mund vor ihm stand.

»Wenn du weiter so blöd glotzt, verlang’ ich Eintritt.«

Für den Bruchteil einer Sekunde geschah nichts, dann klappte Johannes den Mund zu und Antonio zog die Nase hoch.

»Ich hab’ mich zum Affen gemacht heute, weißt du? So richtig schön zum Affen, zu einer ganzen Horde von Affen. Nein! Lass es mich anders erklären, wie ein Urwald von –.«

»Ist ja gut, ich hab’s kapiert«, unterbrach ihn Johannes und ließ die angestaute Luft aus seiner Lunge entweichen.

»Also gut, was war los?«, fragte er behutsam.

»Weißt du«, begann Antonio und seine Stimme drohte zu kippen, »ich hab’ mich wirklich auf heute Abend gefreut … ich … ich hab’ mich vorbereitet, weißt du?« Antonio suchte nach einem Taschentuch, das er jedoch nicht finden konnte, weil er nie eines bei sich trug.

»Ich bin nach dem Unterricht nach Hause und hab’ mein Kostüm geholt. Wir hatten es«, begann er auszuführen, »im Handarbeitskurs mit Batikfarben eingefärbt. Blau! Verstehst du? … Na ja, weil … weil Wasser und Fee! Du verstehst? Weißt du, wie viel Arbeit das eigentlich war? … Ein riesiges Leintuch wie dieses?« Er hielt den Fetzen demonstrativ in die Höhe.

Johannes ahnte bereits, dass die Geschichte länger dauern würde, und setzte sich neben Antonio auf die Stufen.

»Ich hatte die Öffnung für den Kopf noch nicht ausgeschnitten. Weil … ich hab’ mir gedacht, die werden mir in der Schule schon dabei helfen. Und ich hatte auch keine Schere zu Hause. Mein Vater, der –.«

»Komm auf den Punkt, Kleiner.«

»Ja, gut … Also hab’ ich mir mein blaues Bettlaken geschnappt und die Fische.«

Nun war Johannes hellwach. »Was für Fische?«

»Na, Fische eben.« Antonio schniefte und blickte in das ratlose Gesicht von Johannes. »Na, Fische!!! Weißt du? Meer, Wasser, Fee … Fische halt. Verstehst du?«

»Verstehe«, sagte Johannes und gab ihm ein Papiertaschentuch.

»Ich dachte mir, das sieht bestimmt toll aus, wenn ich aus dem Wasser aufsteige und überall in den Falten meines Kostüms hängen glitzernde Fische. Ich hab’ sie aus Stanniolfolie gebastelt.«

»Tatsächlich?«

»Mhm. Ich hab’ wochenlang daran gebastelt. Weißt du, wie viel Arbeit das ist?«

»Ja, das sagtest du bereits.«

»Und vom Schmuck wollen wir gar nicht reden.«

»Schmuck? Wieso denn Schmuck?«

»Mensch! Das ist doch ganz klar! Ich …«, dozierte Antonio altklug auf sich zeigend, damit kein Zweifel aufkam, von wem hier eigentlich die Rede war, »… ja? Wasserfee! Klar?«

»Klar.«

»Da kann es doch gut sein, dass diese Fee den Schmuck von Poseidon bekommen hat – als er das letzte Schiff zum Kentern brachte.«

»Ach, der spielte auch mit?«

»Nein, das hab’ ich mir nur so ausgedacht. Ich wollte einfach, dass diese Wasserfee prächtig aussieht. Verstehst du?«

Johannes nickte.

»Dann lief ich rüber zu meiner Zia Conzila, weil die versprochen hatte, mir ihre Perücke, den Puder und den Lippenstift zu borgen.« Wieder standen Fragezeichen in Johannes’ Gesicht.

»Das ist doch klar! Weil die Penner hier ja nichts haben. Also! Ich komm her, mach mich bereit, setz’ die Perücke auf und behänge mich mit meinen Stanniolschmuck. Dann, vor der Aufführung, kommt dieser Berger daher. ,Alle Schauspieler mal herkommen, hahaha, kurze Besprechung.‹ Was der immer blöd lachen muss, würd’ ich gerne mal wissen. Also ging ich hin …«

Johannes merkte beunruhigt, dass neue Tränen drohten, und suchte schon mal nach dem nächsten Taschentuch.

»… und als ich dann dazukam, waren alle plötzlich ganz still. Die starrten mich an, als hätte sie der heilige Geist von San Lorenzo heimgesucht. Ich sage: ›Was glotzt ihr denn so blöd? Wohl noch nie eine Wasserfee gesehen?‹ Und zu Berger: ›Können Sie mir mit dem Kostüm helfen, ich weiß nicht, wo das Kopfloch hinkommt?‹ Da sagt dieser Cornuto: ›Du brauchst keine Öffnung, du bist doch sowieso nur ein Geist. Wir hängen dir das Leintuch einfach über den Kopf. Das wird toll aussehen!‹ Ich sage: ›Wie bitte? Ich bin doch kein Geist, ich bin eine Wasserfee!‹

›Bist du nicht. Du bist ein Geist.‹

›Ich bin eine Wasserfee.‹

›Geist.‹

›Wasser–.‹

»Aber ein Scheißdreck bist du! Du siehst nicht aus wie eine Wasserfee, sondern eher wie eine babylonische Hure – und zwar auf der Flucht.‹«

Johannes presste die Lippen aufeinander, hielt ihm das nächste Taschentuch hin und wartete, bis Antonio sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

»So eine Scheiße und alle fingen an zu lachen – also saß ich da und wartete auf meinen Auftritt. Dann, du ahnst es nicht, kam der blöde Berger mit seiner noch viel blöderen Frau daher und fragte mich, warum ich denn mein Kostüm noch nicht anhatte. Ich sagte: ›Wie denn? Ich sehe ja nichts unter dem Laken.‹ ›Ach das ist kein Problem, ich schneid’ dir einfach zwei Augenlöcher rein‹, sagt die Kuh, hängt mir das Laken über den Kopf und schiebt mich, schwups, auf die Bühne raus.«

Johannes konzentrierte sich auf seine Atmung.

»Das verdammte Laken musste sich verschoben haben, denn ich konnte nichts sehen, verstehst du? Also! Ich bin trotzdem weiter raus auf die Bühne und dann, wie das Gespenst von Canterville, beim Fischer wohl vorbeigewankt und dann mit Karacho – zack – links gegen den Pfosten geknallt. Ich hab’ Sterne gesehen und bin auf der anderen Bühnenseite wieder hinausgetorkelt.«

Johannes presste die Hand vor den Mund, bis er unter akuter Atemnot litt.

»Da hör’ ich, wie der Fischer draußen seinen Text daherleiert: ›Meine Frau, die Ilsebill, will nicht.‹ Ich kann gerade noch sagen: ›Hilfe, mein Stichwort‹, worauf mich irgendwer von der anderen Bühnenseite wieder rausgeschupst hat – ›… will nicht so, wie ich gern will.‹ … In der ganzen Hektik muss ich mir vorne auf den Saum gestiegen sein, denn hinten zog sich das Laken nach oben. Mitten im einzigen Satz, den ich zu sagen hatte, merkte ich, dass ich mit dem Rücken zum Publikum stand und nun ein jeder freie Sicht auf meine Unterhose hatte. Der Fischer kicherte und die da unten haben sich nicht mehr eingekriegt. Dann gab ich dem Fischer die Fische und bin wieder von der Bühne. Zack! Diesmal in den rechten Pfosten. Die verdammte Szene wiederholte sich auch noch dreimal. Jedes Mal, wenn ich auftrat, lachten die sich im Publikum halb schlapp – schrien, mehr links‹ oder, mehr rechts‹, bis ich wieder – zack! – gegen einen Pfosten krachte. Und als der Fischer zum letzten Mal mit ›Meine Frau, die Ilsebill, will nicht so, wie ich gern will‹ anfing, habe ich ihm die restlichen Scheißfische vor die Füße geknallt und bin mit einem ›Leck mich!‹ abgegangen.«

Antonio zog schniefend den Rotz hoch und sah zu Johannes.

Der hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und gab beunruhigende Geräusche von sich. Seine Schultern bebten, bis er die Beherrschung verlor und sein brüllendes Gelächter das Treppenhaus erfüllte. Es nahm kein Ende. Immer wenn er glaubte, er hätte es überstanden, ging das Ganze wieder von vorne los. Johannes war am Rande einer Hysterie. Schon wenn er sich das »Zack« vergegenwärtigte, als Antonio gegen den Pfosten geknallt war, erstickte er beinah vor Gelächter.

Antonio wartete geduldig, bis sich Johannes einigermaßen gefangen hatte. Dann fragte er: »Was ist eigentlich eine babylonische Hure und warum ist sie auf der Flucht?«

Ein, zwei Sekunden war Stille. Dann – oh Himmel – schrie Johannes fast vor Vergnügen. Und während Antonio zusah, wie es ihn zerfetzte, ohne den geringsten Anhaltspunkt zu haben, weshalb, begann sich seine Miene mehr und mehr zu verziehen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, bis er schließlich vor Lachen nur noch so mitwieherte.

Später, nachdem sie bereits ein gutes Stück des Heimwegs zurückgelegt hatten und sie bei ›ihrer‹ Kreuzung angelangt waren, fragte Johannes plötzlich: »Wo ist eigentlich die Perücke deiner Tante abgeblieben?« Antonio zuckte mit den Schultern. »Die ist weg.«

Johannes machte kehrt Richtung Schule.

»Vergiss es!«, hielt ihn Antonio auf, »die hat sich der Hund des Schulwarts geschnappt.«

Erneut herrschte einen Moment Stille. Johannes erinnerte sich an den Labrador des Schulwartes, an das undefinierbare Knäuel in seinem Maul und ein leises Glucksen arbeitete sich aus seinem Mund, bis sein Körper fremden Gesetzen gehorchte und lautlos einknickte.

»Ziemlicher Scheißtag heute, was?«, konstatierte Antonio.

Dann war es aus. Ihr Lachen ähnelte dem Geräusch heißgelaufener Motoren.

»Genug!«, japste Johannes. »Mach, dass du nach Hause kommst.«

»Ja genau. Ich kann dich … nicht mehr sehen«, quietschte Antonio haltlos und stakste Richtung Little Italy davon.

Ein paar Mal noch drehten sie sich um, riefen einander gackernd unverständliche Dinge zu, bis jeder in der Dunkelheit verschwand und nichts mehr von ihnen zu sehen und zu hören war.

6

Intermezzo London, 26 Februar 1993»Überleg’s dir und gib mir Bescheid«

Weder erhob sich Tony vom Stuhl, nachdem Steven die Garderobe verlassen hatte, noch vermochte er die beiden Frauen ansehen. Stevens letzte Bemerkung, die Art und Weise wie er, – Es ist bald soweit… – , geflüstert hatte, lag ihm noch immer in den Ohren und nun war ihm auf einmal, als stünde er neben sich, und sein Körper verweigere jeden Befehl. Nur am Rande nahm er zur Kenntnis, wie die beiden Frauen das zusätzliche Make-up und die Kostümteile zurechtlegten, während aufgescheuchte Stückfetzen durch seinen Kopf wirbelten. Kurz blickte er zur Uhr über der Tür, während die Stimmen aus dem Zuschauerraum, durch die Mithöranlage, in die Garderobe drangen.