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Europa im 22. Jahrhundert: Die wieder erstarkte katholische Kirche hat Himmel und Hölle real werden lassen. Rom kontrolliert eine Technik, die die Körper Verstorbener wiedererweckt. Damit zwingt sie den Menschen in einem äußerlich modernen Staat eine mittelalterliche Moral auf. Micha Berg, 21 Jahre alt und hochbegabt, giert nach Wissen. Sie will um jeden Preis Naturwissenschaften studieren, auch wenn es an der Päpstlichen Universität sein muss. Doch stattdessen wird sie in einem Sozialzentrum zur frommen Ehefrau ausgebildet. In ihrer Verzweiflung nimmt sie Kontakt zu den "Neuen Illuminaten" auf, einer Untergrundgruppe, die die geheimen Machenschaften des Vatikans aufdecken will. Auch dem "ewigen Papst" Bonifaz X. fällt Michas Genialität auf und sie gerät ins Visier seiner Heiligkeit. Als sie erkennt, was ihr übermächtiger Gegner vorhat, beginnt Micha einen scheinbar aussichtslosen Kampf ums Überleben der Welt.
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2024
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CHRISTIAN J.
MEIER
APEIRO
PHOBIA
Originalausgabe
© 2024, Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin
http://www.hirnkost.de/
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage September 2024
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Layout:benSwerk
Lektorat:Gabriele Vogel
ISBN:
PRINT: 978-3-98857-111-3
PDF: 978-3-98857-113-7
EPUB: 978-3-98857-112-0
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Ich sehe durch das offene Fenster hinunter zur Allee, wo das Sterben blüht. Die Blätter der Ulmen leuchten gelb und rostrot; nur um im nächsten Frühjahr in frischem, unschuldigem Grün wiedergeboren zu werden. Wie elegant die Natur es löst! Dass Papst Bonifaz den Herbst nicht abschafft, wundert mich – sicher hätte er die Mittel dazu.
Über den noch regennassen Asphalt rauschen Flexibusse; Zweiräder zischen auf ihren Fahrstreifen vorbei, über die Dächer knattern Hydrocopter. Die Herbstluft weht herein. Ich schließe das Fenster.
Die Türklinke, forsche Schritte, eine gesummte Melodie, die den Morgen begrüßt.
»Ach Micha«, ruft Lukas. »Hängst mal wieder deinen trüben Gedanken nach? Was würde Frau Mutter sagen, wenn sie dich so erwischen würde?«
»Wahrscheinlich«, antworte ich und wende mich meinem Bruder zu, »dass sich das für eine künftige Ehefrau nicht gehört.«
Er grinst, ich glaube, mit einer sarkastischen Note. Seit Lukas den Vollbart trägt, den der Codex erwachsenen Männer vorschreibt, erkenne ich die Nuancen seiner Mimik schlechter. Er zieht sich die Hose an, die bleistiftgraue, und setzt sich das silberne Barett auf, das alle Studenten der Päpstlichen Technischen Hochschule in den deutschsprachigen Kirchenprovinzen tragen. Der Neid sticht mich von innen in die Schädeldecke, dringt jedoch nicht nach außen; so geübt bin ich darin, die erste Todsünde jenseits von Eden vor der Emotionserkennung zu verbergen. Dabei gibt es in Kinderzimmern gar keine Linsen.
Ich gehe zur Mitte des Raumes, strecke mich nach der Gymnastikstange, die an der Decke hängt, und ziehe mein Kinn zwanzig Mal bis an das Rundholz. Noch außer Atem gehe ich zum Waschtisch und spritze mir ein paar Tropfen ins Gesicht, die ich mit dem Waschlappen verreibe. Wasser ist mal wieder knapp.
Unwillig zwänge ich mich in die verhasste Verkleidung: Eine Bluse, deren Kragenknopf den Atem nimmt, ein spröder Pullunder und ein knöchellanger Rock. Lukas stellt sich gewohnheitsgemäß hinter mich und zieht forsch den Reißverschluss zu. Meine Frage, ob er in Pauls Antiquariat Bescheid gegeben habe, quittiert er mit einem misslaunigen, aber zustimmenden Brummen. Er bleibt hinter mir stehen und atmet durch.
»Micha, ähm, naja: Im Hauptstudium nutzen wir fast nur noch die interne Literaturdatenbank. In diesen alten Lehrbüchern stehen ja nur Grundlagen. Ich werde bald nicht mehr vorgeben können, alte Lehrbücher lesen zu müssen. Außerdem werde ich schon schief beäugt, weil ich Bücher kaufe, statt sie in der Bibliothek zu lesen. Was ich sagen will: Ich werde dich nicht mehr zum Bücherkaufen schicken können.«
Schlagartig verdunkelt sich das Zimmer, die Luft stockt. Es ist also so weit. Wie soll ich jetzt an Bücher kommen? Wo sie verstecken, wenn nicht zwischen Lukas’ Lehrbüchern? Ich schiele zum Hängeschrank hinüber, wo ich die Buchrücken der Bände, die ich aktuell lese, mit einem Blick erfasse. Mein geheimes Reich, den regelmäßigen Kontrollsuchaktionen unserer einfältigen Frau Mutter, unserer häuslichen Hüterin des Codex, verborgen.
Lesen ist meine Überlebensstrategie. Vor allem nachts lese ich, allein schon gegen die Panik vor dem saugenden Dunkel.
Doch das Lesen bedeutet mir mehr als das: Es ist Futter für das gefräßige Tier in mir, das Neugier heißt.
Zurzeit fasziniert mich Quantenphysik.
Erst letzte Nacht habe ich etwas gelesen, was das Konzept des Papstes vom ewigen Leben hinterfragt. Es sind nicht die Atome, die den menschlichen Körper ausmachen. Sie werden ständig ausgetauscht. Es ist vielmehr die Information darüber, wie die Atome angeordnet sind, die zählt. Information: Das hat etwas Immaterielles. Und in der Quantenphysik hat Information eine erstaunliche Eigenschaft: Sie geht nicht verloren. Die Begründung ist einfach. Man kann Quanteninformation nicht kopieren. Gleichzeitig spielt es für diese Information keine Rolle, ob die Zeit vorwärts oder rückwärts läuft. Das Kopierverbot gilt also auch in der rückwärts laufenden Zeit. Was in der Normalzeit bedeutet, dass zwei gleiche Zustände nicht zu einem verschmelzen können. Quanteninformation darf sich also weder aufteilen noch verbinden. Kurz: Sie bildet ein Bündel aus unendlichen Fäden. Bedeutet das, dass die Quanteninformation, aus der ich bestehe, nach meinem Tod weiterexistiert? Und wenn ja, wie kann es dann sein, dass der Papst die Verstorbenen zu neuem Leben erweckt? Fängt er die Quanteninformation wieder ein? Und wenn nicht, kann dann dieser wiedererweckte Mensch überhaupt derselbe sein?
Alle anderen bonifazisch-katholischen Christen sagen, es sei ein Wunder.
Ich glaube das nicht.
Je mehr Fragen meine Lektüre aufwirft, desto mehr verlange ich nach neuer. Die Neugier juckt penetrant in meinen Hirnwindungen und lässt sich nur durch Lesen lindern.
Das Fazit ist unerbittlich: Das Schlimmste, was passieren kann, ist das Versiegen meiner Bücherquelle!
»Gut«, sage ich möglichst tonlos, doch in dem Wissen, dass Lukas meine Gedanken errät.
Ich höre ihn sich auf sein Bett setzen, während ich meine Haare zum Pferdeschwanz binde. Aus dem Spiegel sehen mir meine grünen Augen entgegen. Sie sind körperlicher Ausdruck meines Fremdheitsgefühls in der Familie, das sich sonst aus der Frage speist, woher meine Fähigkeit kam, Wissen so schnell aufsaugen zu können.
»Willst du nicht zum Frühstücken gehen?«, frage ich Lukas, während ich mir die matt grüne Haube der Unverheirateten aufsetze. »Frau Mutter wartet nicht gerne.«
Er sieht mich durch verengte Augenschlitze an, die Stirn in feine Falten gelegt.
»Ich habe dir immer gerne geholfen bei deinem Selbststudium, Micha. Aber ich finde es nicht besonders klug für eine Frau, Quantenphysik und Molekularbiologie zu pauken. Du wirst es nie vertiefen oder gar anwenden können. Du weißt doch, dass du die Päpstliche Uni nicht besuchen kannst!«
»Natürlich weiß ich das!«, belle ich ihn an.
Lukas zuckt mit den Schultern.
»Na also. Warum verhältst du dich nicht entsprechend?«
»Du hast leicht reden!«, entgegne ich. »Du wirst bald Ingenieur sein und in die Technikergilde aufgenommen werden.«
Er wedelt verneinend mit dem Zeigefinger.
»Ich könnte auch nicht an der Päpstlichen studieren.«
»Weil du zu …« Ich würge den Rest des Satzes ab.
»Ich weiß«, sagt er, »dass du mich von deiner hohen Warte aus für minderbemittelt hältst, Micha. Aber glaub mir eins: Selbst wenn du ein Mann wärst, würde dich die Päpstliche Uni nicht nehmen!«
»Aha. Und warum nicht?«
»Du bist die Tochter eines Mitgliedes der Technikergilde. Das reicht. Der Papst ist selbst Jesuit, wie alle Wissenschaftler, und will die Wissenschaft komplett kontrollieren. Er beugt jeder Infiltration durch die Gilde vor. Wer aus einer Gildefamilie kommt, dringt nicht in diese Festung vor!«
Ich schüttle vehement den Kopf.
»Sie würden nicht auf meine Begabungen verzichten können!«
»Nicht, dass ich dein Talent abstreiten würde. Gott hat dir einen brillanten Geist gegeben. Und Gott weiß, was er tut. Irgendwann, früher oder später, wirst du wissen, wozu es gut ist. Glaub mir, Micha!«
»Danke für die tröstlichen Worte«, schmeiße ich ihm hin.
»Micha, sei doch vernünftig«, wechselt er in diesen väterlichen Ton. »In ein paar Wochen wirst du heiraten! Dann wird sich einiges für dich ändern. Unser Kinderzimmer wird nicht mehr dein Refugium sein können, du wirst mit deinem Gatten in einem Bett schlafen.«
Jedes einzelne seiner Worte trifft mich wie ein Pfeil. Sie bohren sich mit weißer Glut ins Fleisch.
Lukas’ Blick wird weicher.
»Micha, du weißt doch, wie hart das Leben im Bonifazisch-katholischen Imperium ist, wenn man sich nicht fügt. Besonders für Frauen. Mach es dir doch einfach: Dein Zukünftiger hat eine glänzende Karriere in der imperialen Verwaltung vor sich. Du bist meine unfassbar clevere Schwester – du wirst aus diesem Leben etwas machen können! Du wirst sehen! Es ist eine Chance! Greif einfach zu!«
Großartiger Rat, denke ich. Man greift zu, wenn man etwas haben will. Doch was ich will, ist unerreichbar. Ich fühle mich wie ein besonders dickes Kamel, das vor dem kleinsten Nadelöhr der Welt steht.
»Lass uns frühstücken gehen«, beende ich das Gespräch, binde mir die Seelenuhr um das Handgelenk und wende mich zur Tür.
Frau Mutter thront am Kopfende des Frühstückstisches, wie immer, wenn Papa irgendwo im Imperium ein Geothermiekraftwerk baut. Ihr Gesicht gleicht einem spitzen Dreieck. Eine Nase wie ein Beil, die Augen wie bläulich-graue Glasmurmeln in tiefen Höhlen. Am liebsten würde ich sie ins Gesicht schlagen, wie ich es ein einziges Mal mit einer Mitschülerin getan hatte, damit sie endlich aufhörte, mich »grünäugige Schlange« zu nennen. Doch das fünfte Gebot fordert, die Eltern zu ehren, und in der Ecke über dem Kruzifix und dem Papstbild wacht eine Linse über den Ablauf des Morgenmahls.
Vor den drei Familienmitgliedern steht je eine Schüssel mit Manna und eine Tasse Brombeerblättertee. Frau Mutters Fuchsgesicht hebt sich zum Morgengebet. Wenn sie gen Himmel blickt, blitzt demütige Wollust in den Augen auf, ein Leuchten kalt und fern wie Nordlicht.
Nach dem Gebet löffle ich den faden Schleim und nippe nach je zwei Löffeln am Tee, um das Ekelgefühl hinunterzuspülen. Weil der Sommer extrem trocken war, gibt es kaum frisches Gemüse und nur wenig Brot. Ich hasse Manna, das sonst als Kalorienquelle den Mahlzeiten nur beigefügt wird. Als die Schale halb leer ist, lege ich den Löffel weg. Fast im gleichen Moment vibriert meine Seelenuhr.
»Iss auf!«, bellt Frau Mutter. »Man verschmäht Manna nicht! Denk an die vorimperiale Hungerzeit, von der dir dein Großvater erzählt hat!«
»Ich kann es doch auch morgen noch essen«, versuche ich es.
Frau Mutters Augen verengen sich zu Schlitzen, die drei Furchen auf ihrer Stirn vertiefen sich zu Schluchten.
»Der Herr lässt das Manna über Nacht verderben!«, faucht sie mich an.
Ich beiße in die Innenseite meiner Unterlippe, was ich auf eine Weise beherrsche, die meine Lippen kaum verzieht. Dass Manna verdirbt, ist Aberglaube! Schließlich besitzen wir als Gildefamilie einen eigenen Kühlschrank, und für das gewöhnliche Christenvolk gibt es ausreichend Kapazitäten an Mietkühltruhen. Frau Mutters Augen verharren auf mir. Ich schiele über das Kruzifix. Wie ferngesteuert greifen meine Finger nach dem Löffel und füttern meinen Mund mit dem Rest des glibberigen Schleims. Wenn er doch wenigstens nach Honigkuchen schmecken würde wie sein biblisches Vorbild!
»Was besprecht ihr heute in der Ehevorbereitungsgruppe, Michaela?«, beginnt meine Mutter ein Gespräch.
»Es geht um die Sünde des Ehebruchs, Frau Mutter.«
Gewichtiges Nicken. »Ein äußerst wichtiges Thema, Tochter. Sei aufmerksam! Nächste Woche wirst du Balthasar kennenlernen. Da solltest du dich angemessen verhalten. Angesichts deiner Vorgeschichte ist er eine unfassbar gute Partie. Eine fromme Ehe mit einem solchen Mann ist deine Eintrittskarte ins ewige Paradies, das darfst du nie vergessen! Du weißt, was alles andere bedeutet.«
Die Erwähnung des ewigen Lebens kitzelt meine Panik an, doch ich kann sie gerade noch unterdrücken.
»Ich weiß es, Frau Mutter«, sage ich mit gesenktem Blick. Ich löffle schneller. Zwischendurch schiele ich zur Wanduhr. Frau Mutter taxiert mich weiter.
»Wenn wir zu Balthasar fahren, darfst du dein Haar auch mal offen tragen, Michaela«, sagt sie in einem Tonfall, als glaubte sie, dass ich das gut fände. »Du hast so schönes glänzend schwarzes Haar!«
»Ich werde es beim Treffen mit ihm offen tragen«, verspreche ich leidenschaftslos. Mein Haar hätte ich viel lieber, entgegen dem Codex, kurz getragen. Doch im Imperium gilt, dass Männer Männer sind und Frauen Frauen.
»Ich verlange, dass du dich anstrengst!«, insistiert Frau Mutter. »Ohne eine gute Ehe bist du nichts!«
Ich beiße auf die Unterlippe und nicke möglichst demütig.
Als ich aufgegessen habe, trinke ich den Tee aus und sage: »Zum Sozialen Zentrum« in die Seelenuhr. Die macht Pling und zeigt die Gondelbahn als schnellste Option.
»Muss los«, sage ich, obwohl kein Zeitdruck herrscht, stehe auf und verlasse die Küche.
»Sei rechtzeitig zu Kolosseum direkt zurück, Tochter«, ruft Frau Mutter mir nach. An der Garderobe greife ich nach der Herbstjacke und streife sie mir im Aufzug über. Wie jeden Morgen fühlt es sich wie eine Flucht an, eine Flucht ohne Ziel.
Rostrotes Laub bedeckt den Gehweg und macht ihn glitschig. Ich sehe Röcke und Hosenbeine wie graue Schatten an mir vorbeihuschen. Einige nur wenig mehr als knielange Röcke sind darunter, wie sie nun Mode zu sein scheinen, die dazugehörigen Unterschenkel stecken in anthrazitgrauen, undurchsichtigen Strümpfen. Die Trägerinnen tragen die weißen Hauben der Verheirateten. Ihnen gesteht man es zu, sich modisch zu kleiden. Vor mir viele Stimmen, Leute stehen um einen Mann herum, der auf dem Boden sitzt und um Geld bettelt.
»Natürlich gebe ich Ihnen etwas«, sagt einer, hält seine Seelenuhr an die des ärmlichen dünnen Mannes und transt ein paar Vatikanische Lira.
»Aber warum betteln Sie denn?«, will eine Frau wissen. »Das ist doch nicht nötig!«
Der Bettler antwortet, ein kaputter Immersionshelm habe einen finanziellen Engpass erzeugt, und mit dem Betteln könne er das Geld verdienen und gleichzeitig den Menschen Gelegenheit geben, durch Mildtätigkeit für Sünden zu büßen. Ich trete an ihn heran und transe ihm zehn Lira. Wofür ich büßen soll, weiß ich nicht, doch die Linsen würden es honorieren. Es ist ein Gefühl, den Linsen gefällig sein zu müssen. Ein Gefühl, von dem ich glaube, dass es mein Bedürfnis ausdrückt, nicht aufzufallen, in meiner Egokapsel zu bleiben. Angst vor dem Fegefeuer oder der Hölle ist es jedenfalls nicht. Die unterscheiden sich für mich nicht vom Himmel.
Am Haltepunkt steige ich die Stufen zur Gondelbahn hinauf. Ein junger Mann läuft die Treppen herunter und blickt mir einen Moment in die Augen, unwillkürlich verlangsamt er seinen Schritt. Sein Mund öffnet sich einen Spalt weit. Im nächsten Moment besinnt er sich, wendet seinen Blick ab und rennt umso schneller die Treppen hinab. Männeraugen verfangen sich gerne an mir, fliehen aber natürlich gleich wieder schuldbewusst.
Ich steige bis zur Plattform und von dort in die nächste Kabine.
»Zum sozialen Zentrum«, befehle ich und lasse mich auf den Sessel fallen. Der Bildschirm blendet die Fahrtzeit ein, während die Gondel auf Reisetempo beschleunigt. Auf dem Bildschirm vor mir erscheint eine grüne Hügellandschaft, die in ein kühles Licht getaucht ist, als würde sie von einem klareren Stern beleuchtet als die Sonne. Weiße Dörfer schmiegen sich an die Hügel, tiefblaue Flüsse schlängeln sich durch die Täler, auf einem Dorfplatz schlendern hell und aristokratisch gekleidete Menschen. Nie sieht man ihre Gesichter, trotzdem verströmt das Bild Harmonie und Glück.
»Der Himmel steht jedem bonifazisch-katholischen Christen offen«, sagte eine helle, sonore Stimme. »Die Ewigkeit wartet auf dich, verdiene sie dir«. Eine neue Totale erscheint, die die Landschaft, wahrscheinlich durch einen optischen Trick, endlos aussehen lässt. Eine Darstellung, auf die ich nicht vorbereitet bin. Panisch zwicke ich die Augen zu.
Doch es ist zu spät. Das Schwindelgefühl, das Herzrasen und die Schmerzen in der Brust setzen ein. Ich packe die Armlehnen des Sitzes. Es wird dämmrig, die feuchte, modrige Herbstluft wandelt sich in eine Mischung aus Weihrauch und verbranntem Fleisch.
Ich bin wieder vierzehn. Vor Wochen schon hat Frau Mutter beschlossen, mich an Allerseelen mit in die Kirche zu nehmen. Meine Flausen sollen mir ein für alle Mal ausgetrieben werden, ich soll mit eigenen Augen sehen, was es bedeutet, eine Sünderin zu sein. Papa hatte protestiert, indem er auf den Codex verwies, wonach Kinder unter einundzwanzig nicht an Allerseelen-Messen teilnehmen durften. Doch Frau Mutter hatte beim Pfarrer unserer Gemeinde, der die besondere Schwere meines Falles feststellte, eine Ausnahmegenehmigung erwirkt.
Nun knie ich in der ersten Reihe und soll Fürbitten beten. Und ja, ich bete. Nein: Ich flehe Gott an, dass mein Opa nicht unter den Auferstandenen sein möge. Ich würde es nicht ertragen, ihn leiden zu sehen. Fahnenstangen mit lanzenartigen Spitzen säumen den Gang zwischen den Kirchenbänken. Der Pfarrer steht am Lesepult, nur seine Lippen bewegen sich, seine Augen starren über unsere Köpfe hinweg. Seine Routine scheint ihn nicht vor immer neuem Entsetzen zu schützen. Von hinten nähern sich Schlurfen, Wimmern, Keuchen und Seufzen, schweres Schleifen von Sohlen über die Bodenplatten, das Platschen von nackten Füßen. Es müssen zehn oder zwanzig Auferstandene sein. Der Gestank nach Brandwunden und verbranntem Haar ätzt meine Schleimhäute. Mein Körper verweigert das Atmen, ich höre meinen Pulsschlag. Eine Todeszone kriecht von meiner Lunge aus in meinen ganzen Brustraum. Aus meinen Därmen steigt faulige Übelkeit auf, zäh wie Magma durch einen Schlot. Perfekte Kälte legt sich über meine Haut, kriechend, aber unerbittlich wie der Wintereinzug. Ich kenne diese Panik. Sonst packt sie mich, sobald ich der saugenden Schwärze der Nacht ausgesetzt bin, weshalb nachts ein orangenes Licht über dem Kopfende meines Bettes brennt. Sofern ich es nicht mit unter die Decke nehme, um in Lukas’ Matheschulbüchern zu lesen.
Im Augenwinkel erscheint die Spitze der Prozession. Die Ersten steigen die Stufen zum Altar hinauf, nackt bis auf einen Lendenschurz. Ich sehe Striemen und Verbrennungen, nässende Blasen und eitrige Stellen.
Ein Ministrant hält einen der Büßer am Ellbogen, um ihn zu führen. Seine Augenlider sind mit feinem Draht zugenäht, was ihn als Neider ausweist. Würmer nagen an meiner Magenwand, langsam, Biss für Biss fressen sie mich von innen her auf. Der Moder steigt in meinen Rachen. Als sich die Büßer auf dem Altar aufreihen, um unsere Fürbitten zu hören, wage ich kaum, in ihre Gesichter zu sehen. Doch meine Neugier verschont mich nicht davor.
Was ich sehe, überrascht mich. Der Schmerz, den die Wunden verursachen mussten, spiegelt sich zwar in den Gesichtern. Doch er dominiert sie nicht. Da ist etwas anderes: eine tiefe Zermürbtheit und ein unsäglicher Überdruss, die aus den Tiefen ihrer Leiber drängen.
Dann erkenne ich eines der Gesichter. Es ist viel jünger als in meiner Erinnerung, doch seine ovale Form, die gutmütigen Augen und hängenden Lider können nur meinem Onkel Eberhardt gehören. Sein Blick wirkt um ein Vielfaches ambitionsloser und träger als selbst zu Lebzeiten. Als er klare Zeichen einer Demenz entwickelte, holten ihn die Lebensmänner – man nennt es »Lebenshilfe bekommen«. Heute sehe ich ihn zum ersten Mal seitdem.
In seinen Augen blinkt ein Flehen, an mich gerichtet. Der Drang, aufzuspringen, eine der Fahnenstangen zu packen, auf den Altar zu stürmen und die Spitze in die Brust des gequälten Wesens zu rammen, überwältigt mich. Ich will los, doch die Muskeln versagen mir den Dienst. Ich will schreien, doch da ist nur ein totes Vakuum in mir. Mein Oberkörper wirft sich über die Kirchenbank; ich übergebe mich auf die frisch geputzten Marmorplatten.
Es wird wieder heller, ich sitze in der Gondel. Die Restfahrzeit hat sich kaum verkürzt. Der Bildschirm zeigt jetzt Nachrichten: eingestürzte Häuser am Stadtrand von Neapel. Nahe des Sperrgebietes »Phlegräische Felder« habe es ein starkes Erdbeben gegeben. Ich befehle, die Nachrichten abzuschalten, und lasse stattdessen die Stadt vor meinen Augen vorbeiziehen.
Ich mag diese entrückte Vogelperspektive aus der Gondelbahn. Es hat weiter aufgeklart. Im Park kehren Freiwilligengruppen das Laub, Laufgruppen joggen und Gymnastikgruppen machen ihre Übungen auf dem frisch gekehrten Rasen. Der ehemalige Zentralfriedhof zieht vorbei, auf dessen umzäunter Fläche ein neues Lebenszentrum erbaut wird. Ein riesiges Bauloch klafft, selbst von hier oben lässt sich kein Boden erkennen. Weiß uniformierte Lebensmänner bewachen das stahlvergitterte Einfahrtstor.
Etwas weiter passiert die Gondel eine weitere Ausschachtung, in welcher der neue Großbunker entsteht. »Das Bonifazisch-katholische Imperium schützt seine Gläubigen vor der Aggression des Bösen«, verkünden mannshohe Lettern auf den Bauzäunen.
Zwei Kreuzungen weiter erreichen wir ein brutal massives, fensterloses Betongebäude. Vor seinem Eingang wachen zwei Schweizergardisten in ihren schicken, enganliegenden blauen Uniformen mit den rot-gelben Ärmeln. Ein sachlicher Schriftzug über dem Eingang weist das Gebäude als »Naturwissenschaftliche Fakultät der Päpstlichen Universität XLVII« aus. Es ist zwar nur eine provinzielle Zweigstelle, dennoch schließe ich die Augen, um nicht an der Gier nach den Geheimnissen hinter diesen Mauern zu verbrennen.
Die Gondel erreicht das Soziale Zentrum, ich steige aus und folge der Gebäudebrücke, die über die Straße ins Hochhaus führt. Der Aufzug huscht in den zwölften Stock, wo ich dem Gang bis zum Gruppenraum folge. Durch die offene Tür dringen Stimmengewirr und einzelne spitze Lacher. Ich betrete den Raum, bleibe an dessen Rand und beobachte, wie die Hochzeitsaspirantinnen ratschen, sich zur Begrüßung umarmen oder auf die Wangen küssen. Heute habe ich noch weniger Lust als sonst auf Theater spielen, lehne mich an die Fensterbank und verschränke die Hände. Die sozialen Rituale laufen vor mir ab wie ein ödes Video. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, in einem Hörsaal der Päpstlichen Uni zu sein, Mitkommilitonen mit Schulterklopfen zu begrüßen und über Lösungen der Probleme zu fachsimpeln, die der Prof letztes Mal als Hausaufgabe mitgegeben hat. Ein neues Rütteln der Seelenuhr reißt mich aus dem Traum. Das Vibrieren bedeutet, dass ich mehr sozialisieren soll. Es ist ein Gebot des Codex, über etwaige Antipathien hinwegzusehen und sich einzubringen. Die Gruppe zählt mehr als jede individuelle Regung. Innerlich seufze ich. Sozialer Umgang strengt mich an, denn dafür muss ich mein äußeres Ich bemühen, eine Art Regierungssprecher, dessen Job es ist, die inneren Abläufe vor der Öffentlichkeit abzuschirmen und irgendwie trotzdem sympathisch und teilnahmsvoll zu wirken.
Gott sei Dank rettet mich das Händeklatschen der Schwester Gruppenleiterin, die uns damit aufruft, im Stuhlkreis Platz zu nehmen.
Während die Gruppenleiterin die Sitzung eröffnet, gehe ich meine letzte Lektüre im Geiste durch, analysiere Gleichungen und labe mich an ihrer Eleganz und der Schönheit der Symmetrien. Daneben halte ich meine Außenantennen auf Empfang, falls die Schwester Gruppenleiterin mich aufrufen sollte. Ich bin gerade an einer der interessantesten Stellen des ganzen Quantenphysik-Buches, als sie es tatsächlich tut. Ich antizipiere ihre Frage aus dem, was ich zwischendurch aufgeschnappt habe. Welche Einstellung Jesus Christus zum Ehebruch hatte. Okay, das ist leicht.
»Jesus war sehr streng, was diese Sünde angeht, Schwester Gruppenleiterin. Schon ein lüsterner Blick war für ihn Ehebruch.«
Alle glotzen mich mit großen Augen an, die meisten als wäre ich ein unheimliches, fremdartiges Wesen. Die Schwester Gruppenleiterin hebt die Augenbrauen.
»Ähm, ja Michaela, das ist die Antwort auf die Frage, die ich dir gerade stellen wollte.«
Ich schlucke. Da bin ich also mit meiner Vorhersageübung etwas übers Ziel hinausgeschossen. Das nächste Mal warte ich einfach eine halbe Sekunde nach dem Aufrufen meines Namens, ob noch etwas kommt. Gleichzeitig freue ich mich darüber, wie gut mein Gehirn inzwischen in der Übung »Antizipation« ist.
Die Gruppenleiterin schiebt die Frage nach, woran ich meine Antwort festmache.
»Matthäusevangelium, Kapitel 5, Vers 28«, gebe ich prompt zurück, ohne explizit zu zitieren, als sei es selbstverständlich, Bibelstellen auswendig zu kennen. Die Schwester macht eine lobende Bemerkung und fährt fort.
Zwei Stunden später, wir sind auf dem Weg hinunter ins Foyer, ermahnt mich die Seelenuhr erneut, mehr zu sozialisieren, also versuche ich belanglose Konversation mit ein paar anderen Teilnehmerinnen zu machen. Die Frau, die ich ansprechen will, wendet sich jedoch schnell anderen zu. Eine andere unterdrückt diesen Reflex sichtlich mühsam und redet mit mir wortkarg über das Wetter. Es ist nicht leicht, eine Überfliegerin zu sein.
Vor dem Gebäude verabschieden wir uns. Ich gehe in Richtung der Päpstlichen Universität. Davor führt eine Nebenstraße in ein dahinter liegendes, vorimperiales Wohn- und Geschäftsviertel. Zu dieser Tageszeit schieben Mütter Kinderwagen über die Trottoirs, ältere Kinder spielen Lebensmänner oder Polizei, zeichnen mit Kreide Spielfelder auf den Asphalt. Ein Lebenswagen steht vor einem Hauseingang. Zwei Lebensmänner eilen mit einer Bahre heraus, auf der ein frisch Verstorbener liegt. Reflexartig sehe ich weg, um mich vor einer neuen Panikattacke zu verschonen. Das einsetzende Herzrasen beruhigt sich. Ich höre, wie sie die Bahre in den Wagen schieben und die Türen zugeknallt werden. Das Blaulicht blinkt und flink surrt der Wagen davon.
Ich biege um die Ecke und freue mich am Anblick von »Pauls Fachbuch-Antiquariat«, meine paradiesische Insel, greifbar, warm, voller Geschichten und Wissen.
Die Schellen der Ladentür und das Duftgemisch nach Papier, Holz, Pfeifenrauch und Kaffee begrüßen mich. Wie immer ist der Laden leer, die Ladentheke ebenso. Paul trinkt seine Tasse aus, bevor er mich bedient – Zeit, das gesuchte Buch zu finden. Ich verschwinde in einem der Regalgänge. Mein konzentrierter Blick rattert die Buchrücken durch. So viele Bücher, viele von vor der vorimperialen Hungerzeit, als über neun Milliarden Menschen gelebt haben, die jedes Jahr Hunderttausende von Büchern schrieben.
Dieses hier ist interessant: Grundlagen der Quantenteleportation. Dick, schwer, sicher hundert Jahre alt. Ich greife danach, rieche daran und spüre dem wohligen Duft nach vergilbtem Papier nach. Meine Hand wiegt das Werk und damit die Dauer des Denkvergnügens.
Da ich Paul noch nicht höre, gehe ich in den Gang mit Romanen. Die Seelenuhr goutiert es nicht, doch zu sehr fasziniert mich die sündhafte Literaturgattung. Wohl, weil sie das Individuum vergötzt. Auf einem Buchrücken steht Frankenstein. Ein rätselhafter Titel, dem ich nicht widerstehen kann. Ich greife nach dem Buch und probiere daran meine Fortschritte im Schnelllesen. Ich stehe bei knapp vier Seiten pro Minute. Manches überblättere ich, um noch schneller zu sein. Gerade als Victor Frankenstein sein aus Leichenteilen zusammengesetztes Wesen mit Stromschlägen erweckt, höre ich die Dielen knarzen.
Ich verlasse den Regalgang, Paul erscheint hinter dem Tresen. Bei meinem Anblick zeigt er sein lückenhaftes Gebiss und in den Augenschlitzen hinter den randlosen Brillengläsern blitzt es. Paul gehört zu den Männern, deren Vollbart ihre Mimik eher verstärkt. Mein Äußeres gefällt ihm, vor allem meine Augen, die er kaum aus dem Blick lassen kann. Er tarnt seine Bewunderung gekonnt hinter professioneller Kundenfreundlichkeit. Pauls Augen beherrschen die Gratwanderung zwischen Freundlichkeit und Flirt virtuos. Die Linsen registrieren diesbezüglich jedes Schielen. Die Bergpredigt ist eindeutig: »Wenn dein Auge dir Anlass zur Sünde gibt, dann reiß es aus«.
Überfreundlich begrüßt er »die Bücherbotin«, greift unter die Ladentheke und holt den vorbereiteten Packen Bücher – Lukas’ Bestellung – hervor. Ich ertrage alles, lächle, so gut ich kann – Paul ist ein Verbündeter – und lege das Quantenphysikbuch auf den Stapel der anderen.
»Ah, da hat der Herr Bruder seiner schönen Frau Schwester noch eine zusätzliche Bestellung mitgegeben«, sagt Paul. Auch dieses Kompliment hat er elegant verpackt. Seine Seelenuhr scheint still zu bleiben.
Er nimmt das Buch, greift nach etwas unter dem Ladentisch, senkt auch die Hand mit dem Buch; ich höre, wie der Deckel sich öffnet und wieder schließt. Dann legt er das Buch auf den Stapel der anderen. Das alles dauert keine drei Sekunden.
»Ja, hat er«, antworte ich und stecke die Bücher in die Umhängetasche. »Bevor das Geld verrostet, gibt man es aus«, plaudere ich und halte ihm die Seelenuhr hin. Sichtlich genießt er den Anblick der frischen, vornehm blassen Haut meines Unterarms.
»Das freut den Geschäftsmann«, sagt er gedehnt und hebt das Zahlgerät an meine Uhr. Es piepst.
»Obwohl ich die Liras ebenfalls verleben muss«, fährt er fort. »Vor Kurzem bin ich an der Vermögensgrenze angelangt.«
Wenn er stolz darauf ist, verbirgt er es sehr gut. Eigentlich sagt man so etwas nicht, aber Paul ist eben besonders. Gleichzeitig bezweifle ich, dass es stimmt: Noch nie habe ich einen anderen Kunden hier gesehen.
Ich wende mich zum Gehen.
»Bis zum nächsten Mal, Lieblingsbücherbotin!«, sagt Paul.
Ich stutze, drehe ihm meinen Blick zu.
»Lieblingsbücherbotin? Gibt es denn noch jemanden wie mich?«
Paul senkt die Pupillen. Offenbar habe ich einen peinlichen Punkt berührt. Eine Affäre? Da ich danach definitiv nicht fragen kann, verabschiede ich mich und gehe.
Auf der Heimfahrt im Flexibus bin ich neugierig, was Paul in mein Buch gelegt haben mag. Zwischen den Seiten lugt etwas heraus, ein Kärtchen. Ich greife in die Tasche, öffne den Buchdeckel und lese, was auf dem Zettel steht. Etwas Handschriftliches: »Bitte auswendig lernen und vernichten.« Darunter eine Adresse. Diese liegt im alten Zechenviertel der Stadt. Meine Neugier flammt auf äußerst unziemliche Art auf.
Ich komme heim, reinige Toilette, Waschbecken und Küche, wir essen und treffen uns schließlich im Wohnzimmer zu Kolosseum direkt. Frau Mutters Augen triefen vor gerechter Blutgier. Lukas aufeinandergepresste Lippen hingegen können seinen Unwillen kaum vor den Linsen verbergen. Ich bin da die bessere Schauspielerin und täusche mit einem Lächeln bescheidene Vorfreude vor. Doch beim Aufsetzen des Immersionshelms pocht mein Herz in angstvoller Erwartung. Seit meinem einundzwanzigsten Geburtstag habe ich dem monatlichen Pflichtritual zehnmal beigewohnt, doch es hat nichts von seinem Schrecken verloren.
Der Helm sitzt perfekt: Er ist auf mich personalisiert – und hält das ganze erste Leben lang. Imperiale Wertarbeit! Im gleichen Moment stehe ich im gewaltigen Rund des Kolosseums in Rom, auf dem dritten Rang, unterer Bereich, wie er Gildefamilien zusteht. Ich wünschte, im obersten Rang auf einer der Holzbänke zu sitzen, fünfzig Meter über der Arena, wo die Sicht am schlechtesten ist. Stattdessen nehme ich die Perspektive eines privilegierten Römers ein, der im gleichen Moment dort auf dem dritten Rang steht. Um mich herum reden die Leute, sie lachen, manche haben ein Picknick mitgebracht, ich rieche gegrillte Auberginen, neben dem Zugangstunnel spielt jemand Gitarre. Offensichtlich ist es warm und sonnig in Rom. Über unseren Köpfen werden gerade Stoffbahnen über die Takelage gezogen, um uns vor der Sonne zu schützen. Es war eine der besten Propaganda-Ideen von Papst Bonifaz, das Kolosseum in den Zustand zurückzuversetzen, den es im ersten Jahrhundert gehabt hatte – Brot und Spiele, ein zeitloses Prinzip.
Reden und Lachen ersterben; ich sehe zur Loge hinunter. Ein langer Mann in roter Soutane und mit einem roten Käppchen tritt aus dem Zugang auf die Loge, gefolgt von vier Schweizergardisten, und breitet die Arme aus. Es ist nicht der Papst, der dem Spektakel selten selbst beiwohnt, sondern seine rechte Hand, Kardinalstaatssekretär Serge Coulin, ein Mann mit kleinen, kalten Augen und pfeilförmiger Nase. Aus seinem schwarzen getrimmten Vollbart wölben sich volle Lippen, die stets das gleiche diabolische Grinsen zeigen.
Coulin segnet das Publikum und gibt die Spiele mit einem lässigen Handzeichen frei. Er setzt sich auf einen barocken Stuhl. Von der Arena aus fährt ein hölzernes Knarren in die gespannte Stille. Mitten im großen sandgefüllten Oval öffnet sich eine Klappe, ein Kopf erscheint, ein nackter, muskulöser Oberkörper. Feindseliges, verächtliches Pfeifen und Buhen aus Tausenden Mündern, während mehr vom Körper erscheint: das Lendentuch um die Hüften, Oberschenkel wie Baumstämme und nackte Füße auf der Hebeplattform. Jeder hier hat längst den mehrfachen Ehebrecher und Mörder seiner Kinder aus der Kirchenprovinz Bukarest erkannt, der vor fünf Jahren hingerichtet wurde.
»Die Löwen!«, brüllt ein Mann hinter mir, ein ganzer Pulk stimmt ein und kurz darauf auch die siebzigtausend anwesenden Kehlen. Darunter auch die von Frau Mutter, in typischer Kolosseumshysterie, zum Glück gedämpft durch den Immersionshelm.
Ich sehe hinunter zum Kardinalstaatssekretär, dem die Entscheidung obliegt: Löwe, Bär, Alligator oder ein berittener Schweizergardist, der den Bösewicht mit Schwert oder Lanze jagt. Coulin erhebt sich und dreht sich gemächlich um die eigene Achse, um das gesamte gewaltige Oval mit seinem Blick zu erfassen. Er gilt als jemand, der die Stimmungen im Volk erspürt, überhaupt als ein recht weltnaher Geistlicher. Coulin hebt die Arme, das Gejohle ebbt ab, bis zu fast perfekter, gespannter Stille.
Ich erwarte, dass Coulin die letzte Strafe für den Kindermörder noch erhöht. Vor vier Monaten wurde der Missetäter von einem angestachelten Bären getötet. Starrende Augenpaare und halboffene Münder warten auf das Urteil. Der Kardinalstaatssekretär tritt an die Brüstung und stützt sich darauf.
»Erst soll ihn ein Reiter und dann Maximus jagen!«
Jubel brandet auf; Coulin hat das Ausmaß der gerechten Wut des Volkes richtig eingeschätzt. Kaum jemand hatte es so verdient, in der Hölle zu schmoren, wie dieser Mann in der Arena. Der gewaltigste, gierigste Löwe Maximus kam nur selten zum Einsatz; heute ist eine Sternstunde im Kolosseum, für die meisten jedenfalls. Mir zieht es nur den Magen zusammen, das Manna darin wird wohl bald auf dem Wohnzimmerteppich landen.
Mehrere Klappen öffnen sich im Boden der Arena, Bäume und Sträucher fahren heraus, die Regie will Savannenatmosphäre schaffen. Das Tor an einem Ende der Arena öffnet sich und ein Schweizergardist reitet auf die Sandfläche heraus, bewaffnet mit einem Schwert. Er galoppiert auf den Mörder los, der den Reiter herankommen lässt und unvermittelt nach rechts davonläuft, die geringere Wendigkeit des Pferdes ausnutzend. Das gilt als einer der Reize solcher Jagden. Menschen, die zu Lebzeiten die schwersten Sünden begangen haben, kommen in eine besonders tiefe Hölle. Dieser Mörder muss seine Untat immer wieder am eigenen Leib erdulden. Mit der Zeit, Schleife für Schleife, kämpft er immer besser, und die Jäger müssen immer geschickter vorgehen, um ihn zu quälen. Am Ende jedoch muss der Sünder chancenlos bleiben – keinesfalls darf er als Held aus der Arena gehen.
Der Reiter ist gut, er ahnt den nächsten Haken des Mörders voraus, holt aus und trifft ihn am Rücken. Schreiend stürzt der Gejagte, auf seinem Rücken klafft eine lange, blutige Wunde. Das Publikum kreischt wie aus einem Mund. Ich kneife die Augen zu, was meine Seelenuhr mit einem heftigen Zittern beantwortet, also sehe ich weiter zu.
Der Gejagte wuchtet sich hoch und rennt zur Umfassungsmauer der Arena, springt an ihr hinauf in dem Versuch, ihren runden oberen Rand zu fassen, doch seine Hände gleiten ab und er stürzt auf den Sand der Arena. Der Reiter steigt ab, stapft mit zum Todesstoß bereitem Schwert auf sein Opfer zu. Angekommen, richtet er den Blick zur Loge. Coulin erhebt sich von seinem Sessel, schreitet zur Brüstung und stützt sich darauf ab. Er holt tief Luft und schreit: »Verschone ihn für Maximus!«
Der Schweizergardist lässt das Schwert sinken, steigt auf sein Pferd, reitet durch das Portal hinaus und hinterlässt die Arena in gespannter Stille. Kaum steht der Mörder wieder auf den Beinen, hebt sich knarrend ein Käfig aus dem Boden der Arena. Der Hölleninsasse posiert breitbeinig und mit abgespreizten Armen in rund zwanzig Metern Entfernung vor dem auffahrenden Käfig, durch dessen Gitterstäbe ein riesiger Löwe sichtbar wird. Ein Brüllen, das mir sogar aus sicherer Entfernung die Luft abschneidet, füllt die Arena und hallt von den Rängen wider. Die Menge stößt einen lustvollen Schauderklang aus.
Quietschend öffnet sich das Gitter des Käfigs. Das Tier schreitet heraus, muskulös, stolz, elegant und über drei Meter lang. Sein potenzielles Opfer versucht, bedrohlich zu wirken, ohne die Raubkatze anzusehen. Längst hat er gelernt, dass Davonlaufen zwecklos ist. Den Löwen vom Angriff abhalten zu wollen, muss indessen ein netter Versuch bleiben, so aggressiv wie dieser ist. Die riesige Katze rennt los. Der Mörder bleibt eisern stehen, wo er ist. Maximus springt ihn an, erkennbar seinen Nacken im Visier. Das Maul öffnet sich furchterregend weit. Der Angegriffene indessen taucht ab, wirft sich dem Tier entgegen und rollt unter ihm hindurch.
Die Menge stößt ein enttäuschtes, aber auch leise bewunderndes Geräusch aus. Der Mörder schwingt sich aus seiner Rollbewegung heraus wieder auf die Beine. Maximus hat schon einen Haken geschlagen und rennt erneut auf seinen Gegner zu. Für den ist es zu spät, den gleichen Trick nochmals anzuwenden. Dennoch bleibt er standhaft. Mit dem linken Arm schützt er seine Halsgegend, den rechten schwingt er in weitem Bogen – und schlägt dem heranfliegenden Löwen aufs Auge. Das Tier brüllt auf, während sein Gewicht den Mörder niederwirft. Maximus strauchelt, als seine Läufe den Sandboden treffen. Diesmal klingt das Publikum tief enttäuscht. Doch es sind erste Jubelrufe für den namenlosen Mörder zu hören: »Hurra! Respekt!«
Der Mörder rappelt sich auf und dreht sich dem Tier zu, die Arme nach oben gestreckt, sichtbar bemüht, den Löwen einzuschüchtern. Ich halte die Luft an; ein Rückzug des Tieres wäre ein einmaliger Triumph. Womöglich sähe Coulin sich genötigt, es als Zeichen Gottes zu interpretieren, und müsste den Mörder ins Fegefeuer entlassen, womit er die Chance hätte, nach dem Jüngsten Gericht in den Himmel zu kommen. Es wäre eine Sensation, die das Imperium erschüttern würde.
Der Löwe ist rasch wieder auf den Beinen, dreht sich zu seiner wehrhaften Beute herum und brüllt so laut, wie ich es noch nie gehört habe. Ich schlucke, der Speichel quält sich durch meinen von einer dunklen Urangst verengten Hals.
Ein paar mutige Zuschauer skandieren: »Grüne Insel, Grüne Insel!«, der volkstümliche Ausdruck für den Himmel.
In der Arena stehen sich unsterblicher Mensch und Bestie gegenüber. Unvermittelt rennt das Tier los, setzt zum Sprung an – doch es springt nicht. Im Gegenteil senkt es sein riesiges Haupt, legt es quer und beißt seinem Opfer in die Wade. Ein Abgrund an Verzweiflung explodiert aus dem Mund des Opfers. Blut strömt aus der Wunde. Das Tier wendet sich flugs dem Nacken des Mörders zu, reißt sein Maul für den Todesbiss auf, hält jedoch inne. Anscheinend will es den Mörder, der es so verärgert hat, nicht so schnell töten. Stattdessen beginnt es, ihn lebend zu Tode zu zerfleischen, beginnend beim Bein.
Ich bete, dass die Schreie des Unsterblichen, die selbst das schauerlich-entsetzt-schadenfreudige Johlen der Masse übertönen, bald aufhören würden. Mühsam unterdrücke ich die Übelkeit. Es dauert Minuten, die halbe Arena ist voll Blut, da der Löwe sein Opfer bisweilen hinter sich herschleppt, nur um sein Werk woanders fortzusetzen. Endlich lässt das Tier ab. Ein Trupp Lebensmänner rennt mit einem Trog in die Arena, um die Leichenteile rasch einzusammeln und so schnell zu verschwinden, wie sie gekommen waren. Im ganzen Imperium gibt es keine Berufsgruppe, die es so eilig hat.
Als Einwohnerin des Bonifazisch-katholischen Imperiums bin ich einiges gewöhnt. Doch diese Vorstellung ist besonders brutal gewesen.
Unmittelbar danach flüchte ich auf die Toilette und übergebe mich. Erschöpft mache ich mich bettfertig. Die Lampe über meinem Bett hilft nicht beim Einschlafen. Hinter der Zimmerdecke fühle ich das saugende Nichts des Universums. Das paradoxe Gefühl, nach oben zu stürzen, quält mich. Ich kneife die Augen zu und presse die Hände auf die Ohren. Doch vergebens: Atemnot, Kälte und Schwindel packen meinen Leib. Ich schleudere die Decke weg, steige auf mein Bett und greife nach dem neuen Buch. Wie im Fieber krame ich in der Nachttischschublade die Stirnlampe hervor.
Den Rest der Nacht lese ich, mit Stirnlampe auf dem Bauch liegend und die Bettdecke über den Kopf gestülpt. Es hilft – noch einmal gelingt mir die Flucht in meine Panikkapsel. Was mich aber bis dort hinein verfolgt, ist das Bewusstsein, dass ich Bücher nur einmal lesen kann. Denn ich merke mir ihren gesamten Inhalt. Ich zehre von einer begrenzten Ressource in einer unendlichen Welt.
Die nächsten Tage rattern routiniert herunter, mit Küchendienst in einer Verwaltungskantine, Putzdienst in einem Versorgungszentrum, mittäglichen Gymnastikgruppen, nachmittäglichen Kursen im Sozialen Zentrum; Pflichten, die niemand hinterfragt. Die Liras landen auch so auf dem Konto. Ich funktioniere, ohne etwas zu fühlen, ohne etwas Erinnernswertes zu sehen oder zu hören. Das Hamsterrad surrt glatt und leer.
Nachts tauche ich in mein papierenes Abenteuerland ab. Dort ringe ich mit Texten, Gleichungen und Graphen. Die Zeit gewinnt Leben und Struktur. Sie verwandelt sich in ein Feuerwerk, in dem jeder Funke eine Geschichte erzählt und mit jedem anderen Funken in Verbindung tritt, um ein faszinierendes Netz zu bilden, aus dem neue Bedeutungen und Ahnungen aufsteigen. Es sind uferlose Nächte geistiger Ekstase. Wie ein Ausbruch aus dem festen Gefüge.
Der nächste Tag, ein Sonntag, beginnt mit einer Flexibusfahrt in das Wohnviertel hoher Verwaltungsbeamter. Es ist ein sonniger, warmer Novembertag. Frau Mutter trägt ihr Sonntagskleid, den Rücken durchgestreckt, den Blick streng nach vorne gerichtet, den Griff der hellbraunen Handtasche umklammernd, die auf ihrem Schoß ruht. Ich trage einen grünen Schleier über meinem offenen Haar und dazu mein Sonntagskleid, das mir seines weichen Stoffs wegen angenehmer ist als die Alltagskleidung. Es würde mir sogar gefallen, mich schön zu kleiden – wenn ich selbst bestimmen könnte, wann und für wen. Doch das sind Träume, ferner und blasser als der Andromedanebel.
Ich sehe aus dem Busfenster hinaus, doch über die vorbeiziehenden Fassaden legt sich zunächst undeutlich und dann klarer werdend ein anderes Bild.