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Manchmal ist das Leben eine schwarze Katze Als Catgirl begeistert Lola das Publikum. Und nicht nur nachts im Traum, sondern auch in der Schule ergattert sie eine große Rolle: Sie darf bei der Theateraufführung Schneewittchen spielen! Um sich darauf vorzubereiten, legt sich Lola zur Probe in einen echten Sarg und stellt sich mit Flo in Papais Restaurant auf die Bühne. Da wird eine Agentin auf die beiden aufmerksam und lädt sie zum Casting für einen Kinofilm ein. Das ist Lolas Chance, so richtig berühmt zu werden! Doch dann kommt alles anders als gedacht … Die beliebte Kinderbuchreihe, inhaltlich überarbeitet und mit neuen Illustrationen von Alexandra Rügler Der vierte Band der Lola-Reihe von Bestsellerautorin Isabel Abedi in neuem Look. Kinder ab 9 Jahren können Lola auf ihren täglichen Abenteuern begleiten und werden durch die selbstbewusste, authentische Protagonistin ermutigt, ihre Träume zu verwirklichen! Eine hochaktuelle Reihe, die so vielfältig ist wie die Welt. Mit Geschichten über Freundschaft und Zusammenhalt, Identität und Diversität – mit tollen Illustrationen von Alexandra Rügler. Der Titel ist bei Antolin gelistet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Inhalt
Warum erst das ganze Kino und dann meine beste Freundin weinte
Unerfüllte Wünsche und ein fliegender Taschenkrebsschwanz
Schneewittchen und der Spiegel
Ein Sarg für Schneewittchen
Ein Liebesbrief für den Spiegel
Ein Sketch auf der Bühne und ein berühmter Gast
Draculas Töchter
Blutdurst und das kleine Körper-ABC
Wir sind zusammen und das ist das Wichtigste
Gloria und der König der Löwen
Verteilte Rollen
Eine gute und eine schlechte Nachricht
Herzlichen Glückwunsch, Flo
Dialoge
Löwennachwuchs gesucht
Flo ganz oben
Ohne Flo
Das richtige Talent und die falsche Farbe
Zwerge, Prinzen und ein Vater
Schneewittchen für Leute von heute
Sprühregen und ein weißes Gesicht
Die Party für Kinder und der Tanz der Vampire
Frühstück bei Flo
Eine Wasserpistole, ein giftiger Kamm und drei tanzende Emanzen
Ankunft auf Burg Blutenstein
Flo weint, Naomi Fatoba kreischt und ich werde ohnmächtig
Ich streite mit Flo und zwei Stimmen streiten in meinem Kopf
Ich drücke Knöpfe und sage meinen Satz
Eine graue Welt und ein buntes Paket
Der schönste und der schrecklichste Tag
Mir kommt ein furchtbarer Gedanke und ich weiß, was ich tun muss
Wir kommen und jemand ist schon da
Vater, Mutter, Kind
Flo und ich
Zwei Tage im Krankenhaus und eine Entdeckung am Handy
Zum guten Schluss
Sensitivity Reading durch
1.
Warum erst das ganze Kino und dann meine beste Freundin weinte
Meine Freundin sagt, manchmal ist das Leben eine wütende Katze. Es schleicht sich unbemerkt an einen ran, fährt die Krallen aus und zerkratzt einem das Herz. Meine Freundin sagt dauernd so seltsame Sachen über das Leben und früher wusste ich manchmal nicht, was sie damit meint. Aber dann war mein Leben plötzlich eine wütende Katze und als es die Krallen ausfuhr, verstand ich meine Freundin. Nur dass sie da nicht mehr meine Freundin war – und genau darum geht es in dieser Geschichte. Es geht natürlich noch um mehr; um Schneewittchen und die sieben Zwerge, um Draculas Töchter und meinen Kampf mit dem Drachen, um den Cooltuer, Gloria und den König der Löwen und natürlich um meinen Wunsch und den Unfall, der … Aber halt, jetzt bin ich viel zu weit gegangen. Das versteht ja kein Mensch, wenn ich die Geschichte von hinten erzähle. Also beginne ich beim Anfang.
Am Anfang war ich Catgirl und draußen fiel Schnee. Der Schnee war weiß und mein Samtanzug war schwarz wie meine Lackstiefel und mein Katzenschwanz, den ich auf dem roten Teppich hinter mir herzog. Der rote Teppich lag vor dem Kino, denn heute feierte mein Spielfilm Premiere.
Seit Monaten lief die Vorschau in allen Kinos und die Welt konnte es kaum noch erwarten, mich zu sehen. Mich, die berühmte Schauspielerin Lola Veloso – als Catgirl. Natürlich hatte ich schon in vielen Filmen die Hauptrolle gespielt, aber Catgirl war eindeutig der beste. Als im Kino das Licht ausging, war es mucksmäuschenstill. Dann öffnete sich der Vorhang und der Film begann: Ich kletterte auf Hochhäuser, ich schlug die Feinde mit meinen Krallen in die Flucht und natürlich rettete ich die Welt. Aber meine Lieblingsszene war die, in der ich den Jungen rettete, den ich liebte. Und ihn anschließend küsste. Der Junge, den ich liebte, hieß Alexandre. Ich hatte ihn in mein Versteck gebracht, denn er war schwer verletzt und deshalb küsste ich als Erstes seine Wunden. Als Catgirl hatten meine Küsse eine magische Wirkung, müsst ihr wissen. Als ich seine Wunden heilgeküsst hatte, küsste ich Alexandre auf den Mund. Dort war er zwar nicht verletzt, aber eine magische Wirkung hatte mein Kuss auch dort, denn Alexandre fragte mich, ob ich ihn heiraten würde. Ich überlegte und dann sagte ich „Miau“, das hieß in der Katzensprache: „Ja, ich will.“
An dieser Stelle weinten alle Leute im Kino, am meisten mein Papai, der natürlich auch zur Premiere gekommen war, zusammen mit Mama, Oma, Opa, meiner Tante Lisbeth, Penelope, meinem Freund Alexandre und meiner besten Freundin Flo. Die hatte übrigens auch eine Rolle in Catgirl, nur nicht die Hauptrolle, denn die hatte ja ich. Trotzdem fing auch meine beste Freundin an zu weinen. Erst leise und dann immer lauter und dann so laut, dass ich meine Augen öffnete – und zurück in die Wirklichkeit kehrte. Ihr wisst schon, wohin, oder?
Ja, die Wirklichkeit, das war mein Kinderzimmer in der Bismarckstraße 44 – und dort war ich zwar Lola Veloso, aber nicht Catgirl und auch keine berühmte Schauspielerin, sondern die Tochter von Mama und Papai, Enkeltochter von Oma und Opa, Nichte von Tante Lisbeth, beste Freundin von Flo – und schlaflos wie fast jede Nacht. Ihr wisst ja, wenn ich nicht schlafen kann, fange ich an zu träumen und stelle mir vor, wer ich wohl wäre, wenn ich nicht ich wäre. Dann bin ich Sängerin oder Reporterin oder Agentin in geheimer Mission und habe meist auch einen anderen Namen. Aber als berühmte Schauspielerin habe ich beschlossen, meinen wirklichen Namen zu behalten. Erstens, weil ich für meine vielen Filmrollen sowieso immer andere Namen habe, und zweitens, weil Lola Veloso für eine berühmte Schauspielerin doch richtig gut klingt.
Der Junge, den ich liebe, heißt auch in Wirklichkeit Alexandre, weil er Franzose ist und in Paris lebt. Aber ich nenne ihn Alex und er nennt mich Lola Löwin oder „ma chérie“. Das ist der französische Ausdruck für „mein Liebling“ und er schmilzt auf der Zunge wie ein magisches Wort. Meine beste Freundin Flo lebt in Hamburg und in jener Nacht lag sie neben mir.
Sie schlief – und weinte. Sie weinte wirklich und so fürchterlich, dass meine ganze Kopfhaut kribbelte und ich Flo in die Wangen kniff, bis sie die Augen aufschlug, mich ansah und sagte: „Aua.“
„Wieso ‚Aua‘?“, fragte ich. „Hast du dir wehgetan?“
Flo schüttelte den Kopf. „Du“, sagte sie. „Du hast mir wehgetan.“
„Entschuldigung“, sagte ich. „Ich wollte doch nur, dass du aufwachst, deshalb hab ich dich gekniffen.“
Wieder schüttelte Flo den Kopf. „Das war es ja gar nicht. Es war das, was du gesagt hast.“
Hä? Wie jetzt? „Ich hab nichts gesagt“, sagte ich.
„Doch“, sagte Flo und ihre Stimme klang ganz piepsig. „Ich hasse dich und ich wünschte, du wärst tot! Das hast du gesagt und dann bist du weggelaufen und ich wusste, es war für immer.“
Ich setzte mich auf. „Das war doch nur ein Traum, Flo.“
„Ja, das weiß ich. Aber er war so …“ Flo fuhr sich durch ihre schwarzen Haare, die mal wieder in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden. „… er war so echt.“
Ich hielt meiner besten Freundin ein Taschentuch hin. „Mensch, Flo, so was würde ich doch niemals sagen!“
Flo putzte sich die Nase und dann stand sie auf, um sich etwas zu trinken zu holen. Als sie draußen war, hatte ich ein ganz komisches Gefühl im Bauch und das hörte auch nicht auf, als Flo zurück in mein Zimmer kam, sich neben mich legte und anfing, mit mir über das Theaterstück zu sprechen. Ein bisschen würde ich nämlich auch in der Wirklichkeit Schauspielerin werden. Ich würde zwar nicht Catgirl spielen, aber immerhin würde ich in ein paar Monaten auf unserer Schulbühne stehen – und mit etwas Glück die Hauptrolle in dem Stück bekommen, das Frau Wiegelmann sich für uns ausgesucht hatte. Es war Schneewittchen und morgen würden wir mit den Proben beginnen. Ehrlich gesagt finde ich das Stück ein bisschen peinlich. Ich meine, wir sind Viertklässlerinnen! Aber Opa sagt immer, am Anfang muss man kleine Brötchen backen, und damit hat er ja auch recht. Catgirl konnte ich nachts sein. Tagsüber würde ich Schneewittchen spielen.
„Wenn Annalisa die Rolle nicht kriegt“, gab Flo zu bedenken. Annalisa hatte sich nämlich auch gewünscht, Schneewittchen zu sein.
„Annalisa!“, schnaubte ich. „Hast du schon mal ein blondes Schneewittchen gesehen?“
„Nö“, gab Flo zu. „Aber wenn es danach geht, kriegst du die Rolle auch nicht.“
Ich seufzte. Da hatte Flo leider recht. Schließlich war auch ich blond und nicht schwarzhaarig wie mein Papai. Auch die braune Haut hatte ich nicht von ihm geerbt. Meine Haut war hell wie die meiner Mama. Aber an meiner Haarfarbe konnte ich schließlich etwas ändern.
„Ich könnte mir eine Perücke kaufen. Oder mir die Haare färben.“
Flo gähnte. „Das könnte Annalisa aber auch.“
„Trotzdem“, sagte ich. „Wenn jemand Schneewittchen wird, dann ich. Das wirst du schon sehen.“
Ich kuschelte mich neben Flo und ein paar Minuten später war meine Freundin eingeschlafen. Ich dagegen blieb wach. Ich versuchte, wieder Catgirl zu sein oder meine Premierenparty zu feiern oder zumindest Annalisa die Schneewittchenrolle wegzuschnappen. Aber irgendwie funkte mir immer dieser Satz dazwischen, den ich in Flos Traum gesagt hatte. Ich stand noch einmal auf und ging ans Fenster. Draußen schneite es tatsächlich in riesigen Flocken, und als ich das Fenster öffnete, war die Welt ganz wunderbar still.
„Ich werde dich nie hassen, Flo“, sagte ich leise in die Stille hinein. Da schmatzte meine Freundin im Schlaf und als ich mich neben sie legte, dachte ich, dass ich eigentlich sehr glücklich war. Ich hatte eine beste Freundin, ich hatte einen Jungen, den ich liebte, und bald würde ich bestimmt auch eine tolle Rolle haben. Und dann wäre ich fast eine richtige Schauspielerin. Das jedenfalls sagte Papai, als wir am nächsten Abend in der Perle des Südens zu Abend aßen.
2.
Unerfüllte Wünsche und ein fliegender Taschenkrebsschwanz
Es ist noch gar nicht lange her, da sollte die Perle des Südens Hamburgs größter Flop werden. Die Perle des Südens ist unser brasilianisches Hafenrestaurant, wo Flos Mutter Penelope als Kellnerin arbeitet, wenn sie nicht gerade als Sängerin auf unserer Bühne steht. Nach ihrem letzten Auftritt hatte ihr sogar ein Musikproduzent das Angebot gemacht, zusammen mit dem brasilianischen Musiker Eduardo Macedo ein Album aufzunehmen.
Inzwischen ist die Perle des Südens Hamburgs größtes Top – dank Flo und mir. Kurz nach meinem zehnten Geburtstag waren wir zwei nämlich auch im wirklichen Leben Agentinnen geworden. Unser Feind war ein berühmter Restaurantkritiker, den Flo und ich damals den Cooltuer getauft hatten, und der so grässlich gemein zu Penelope gewesen war, dass sie ihm ein Glas mit Eiswürfeln auf den Schoß gekippt hatte. Aus Rache hatte er mit einem bitterbösen Artikel unser Restaurant vernichten wollen und dadurch Penelopes Arbeit und unser aller Leben in Gefahr gebracht. Um ein Haar hätte Flos Mutter eine neue Stelle in Berlin angenommen und wäre mit meiner besten Freundin weggezogen. Das zu verhindern, war unsere Mission gewesen – und mit vereinten Superkräften hatten Flo und ich das Unglaubliche geschafft: Wir hatten den Cooltuer dazu gebracht, sich für sein Verhalten zu entschuldigen und seinen Artikel umzuschreiben. Deshalb hängt er jetzt in einem goldenen Rahmen neben der Bar. Nicht der Cooltuer natürlich, sondern sein Artikel. Darin steht unter anderem, dass die Perle des Südens mit einem Zauber versehen ist, der seine Gäste in eine andere Welt entführt. In eine Welt der brasilianischen Genüsse, der brasilianischen Musik, aber vor allem der brasilianischen Lebensfreude.
Ich glaube, dass viele Menschen den Artikel gelesen haben, denn seit er Anfang Dezember in der Zeitung erschienen ist, freut sich Opa immer öfter, dass der Laden brummt. So wie heute, am Sonntag, als Flo und ich mit Mama ins Restaurant kamen. Unsere Weihnachtsferien waren vorbei und morgen fing die Schule wieder an. Frau Wiegelmann hatte versprochen, am ersten Schultag die Rollen für Schneewittchen zu verteilen, und außerdem würden wir im Sachunterricht mit dem Thema „Ich und mein Körper“ anfangen und Sexualkunde haben, worauf Flo und ich schon ordentlich gespannt waren. Aber heute freute ich mich erst mal auf „Feijoada à la Zwerg“, mein brasilianisches Lieblingsessen mit Bohnen, zubereitet von meinem Lieblingskoch Zwerg. Zum Glück war auch unser Hilfskoch Berg wieder da, denn der Laden brummte wirklich außerordentlich.
Das Restaurant hatte so viele Gäste, dass Papai, Penelope und Opa gar nicht mit uns essen konnten. Dafür kam Oma mit meiner Tante Lisbeth, die heute wieder ihren grünen Nicki und die Goldkrone auf den kurzen Haaren trug. Seit Oma mit ihr im Puppentheater das Märchen vom Froschkönig gesehen hatte, wollte meine Tante eine Froschkönigin sein und machte mir mit ihrem Kostümwunsch zu schaffen.
„Ibsel Oschtüm, Ola?“, fragte sie mich zum ungefähr tausendsten Mal in dieser Woche. Das sollte heißen, dass meine Tante ein echtes Froschkostüm haben wollte.
„Nein bleibt nein, mein Schatz“, sagte ich. „Solange keine Zauberin kommt und mich von meiner Froschphobie erlöst, kann ich dir deinen Wunsch leider nicht erfüllen.“
Meine Tante ist erst drei und kann noch nicht richtig sprechen, aber dass eine Phobie eine sehr, sehr große Angst ist, die ich vor Fröschen habe, versteht sie sehr wohl.
Sie rückte gnädig ihre Krone gerade, und Penelope, die kurz an unseren Tisch gekommen war, verbeugte sich vor ihr. „Was darf ich der Froschkönigin und ihrer Gefolgschaft denn zum Essen servieren?“
„Paudi Käsu!“, befahl Tante Lisbeth. Richtig heißt das Gericht Pão de queijo. Es sind brasilianische Käsebällchen, die meine Tante neuerdings fast so sehr liebte wie grüne Weintrauben, auch wenn Papai ihr streng verboten hatte, damit im Restaurant um sich zu werfen.
„Schon gar nicht, wenn ein Restaurantkritiker im Anmarsch ist“, sagte Mama und zeigte grinsend zur Restauranttür.
„Eff“, kreischte Tante Lisbeth. „Eff neben Ibsel ditzen.“ Eff sollte Jeff heißen. So lautet der richtige Name des Cooltuers, der mittlerweile Stammgast in der Perle des Südens und ein Freund der Familie ist. „Einen wunderschönen guten Tag, Eure Majestät“, sagte er zu Tante Lisbeth. „Es ist mir eine Ehre, neben Ihnen Platz zu nehmen.“ Er gab meiner Tante einen Handkuss, dann nickte er lächelnd in die Runde und bestellte bei Penelope gefüllte Taschenkrebse.
„Sonst noch einen Wunsch?“, fragte Penelope. Ihre Stimme war kühl. Sie war die Einzige, die ihm immer noch die kalte Schulter zeigte.
„Nein, danke“, sagte Jeff, aber das war gelogen. Sein wirklicher Wunsch war, dass Flos Mutter ihm sein Verhalten von damals verzeihen würde. Ich konnte es in seinen Augen lesen – und dass er Penelope inzwischen mehr als nur ein bisschen mochte, ebenfalls. Wenn sie auf der Bühne sang, wischte er an seinen Augen rum, und einmal hatte er Penelope gefragt, ob er sie zum Essen einladen dürfte. Aber Flos Mutter hatte ihm mehr als deutlich klargemacht, dass er sich seine aufdringlichen Wiedergutmachungsversuche sparen könnte, und so blieb sein Wunsch unerfüllt.
Flo war das ganz recht und ein bisschen verstand ich Penelope auch. Wenn mich jemand richtig ärgert, dann vergesse ich es nicht so leicht, und Jeff hatte uns mehr als nur ein bisschen geärgert. Penelope am allermeisten. Trotzdem tat er mir leid. Das lag vielleicht auch daran, dass ich ein besonderes Verhältnis zu ihm habe. Denn Jeff ist der Vater des Jungen, den ich liebe. Wäre er damals nicht in unser Restaurant gekommen, hätte ich Alex nie kennengelernt – und als er heute in unserem Restaurant saß, vermisste ich Alex ganz schrecklich.
„Er vermisst dich auch“, sagte Jeff leise zu mir, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Eine Viertelstunde später kam Papai mit dem Essen. „Bom apetite, meu amigo“, sagte er zu Jeff, als er ihm die gefüllten Taschenkrebse servierte.
Das hieß auf Deutsch: „Guten Appetit, mein Freund“, aber der Cooltuer zog ein langes Gesicht. Sicher nicht wegen Papais Bemerkung oder wegen der Krebse, sondern wegen Penelope, die jetzt am Nachbartisch stand und sich ebenfalls auf Brasilianisch mit einem Gast unterhielt.
Der Gast saß mit dem Rücken zu mir, weshalb ich nur seine blond gefärbten Locs sehen konnte, die er zu einem hohen Dutt aufgesteckt hatte. Aber hören konnte ich ihn laut und deutlich.
„Eu acho sua voz tão bonita e pura. Todos deveriam se sentir sortudos de poder te escutar“, sagte er zu Penelope, deren Gesicht so rot wurde wie der Taschenkrebs, den Jeff sich gerade in den Mund geschoben hatte. Flo, die meinem Blick gefolgt war, machte ein verwirrtes Gesicht.
„Was ist denn mit meiner Mutter los?“, fragte sie, während Jeff neben mir mit Kauen aufhörte und sich offensichtlich dieselbe Frage stellte.
„Ich finde deine Singstimme wunderschön und rein. Alle sollten sich glücklich schätzen, sie hören zu dürfen“, sagte ich stolz.
„Hä?“ Flo starrte mich an. „Was soll denn das jetzt?“
„Frag ihn“, sagte ich und zeigte mit der Gabel auf den Gast am Nebentisch. „Ich habe nur übersetzt, was er zu deiner Mutter gesagt hat.“ Stolz war ich, weil ich das so gut übersetzt hatte. Und ein bisschen auch auf Penelope, denn ihre Stimme war wirklich traumhaft schön.
„Da flirtet aber jemand“, hörte ich Oma zu Mama sagen. Mama grinste und Penelope verließ den Nachbartisch. Ihr Gesicht war nicht mehr ganz so rot. Aber auf ihren Lippen lag ein Lächeln, das Oma recht gab. Flo drehte sich noch einmal zum Nachbartisch um. Dann stieß sie mich an und sah plötzlich auch stolz aus. „Ich glaub, der ist Sänger“, sagte sie. „Er war auf Penelopes letztem Konzert. Jedenfalls fand ich ihn richtig cool.“
Ich sah zu Jeff, der plötzlich alles andere als cool aussah. Er hatte einen Anfall bekommen. Einen Hustenanfall. Er hustete und hustete und sein Gesicht wurde so tiefdunkelrot, dass ich dachte, gleich stirbt er. Er reckte die Hände in die Luft, während Mama ihm auf den Rücken schlug, immer fester und fester, bis Penelope mit einem Glas Wasser an unseren Tisch gelaufen kam und ganz besorgt aussah. Sie hielt ihm das Glas hin, aber Jeff schüttelte nur verzweifelt den Kopf, rollte die Augen und dann – Mama hatte gerade ziemlich fest zugeschlagen – schoss ein Taschenkrebsschwanz aus seinem Mund und landete auf Flos Teller.
„Iiiih“, sagte Flo angeekelt.
„Witzig“, sagte Tante Lisbeth und kicherte.
Mama setzte sich wieder auf ihren Platz. „Das war noch gar nichts“, meinte sie. „Ich kenne eine Geschichte von einer Frau, die sich an einer Fischgräte verschluckt hat. Die Frau hat gehustet und gehustet und dann ist die Fischgräte in ihre Mandel geflutscht und dort ist sie das ganze Wochenende quer drin stecken geblieben, bis die Frau sich mit einer Schere im Mund rumgestochert hat, um die Gräte rauszuschneiden. Dabei hat sie die Mandel erwischt und es blutete in Strömen und …“
„Viktualia!“, schimpfte Oma meine Mutter aus. „Kannst du deine unappetitlichen Geschichten nach dem Essen erzählen?“
Mama machte ein beleidigtes Gesicht, während Jeffs Husten in ein erschöpftes Röcheln überging. Inzwischen sahen alle Gäste zu uns herüber, auch der Gast am Nachbartisch. Sein Grinsen war ein bisschen schadenfroh, fand ich. Dann sah er zu Penelope und lächelte und Penelope lächelte zurück.
Jeff nahm Penelope das Glas aus der Hand, trank es in einem Zug leer, legte einen Zwanzigeuroschein auf den Tisch und verließ das Restaurant. Verwundert sah Penelope ihm nach. „Stimmte was mit dem Essen nicht?“, fragte sie. Flo und ich wechselten einen Blick.
„Ich glaube“, bemerkte Oma trocken, „es war eher der Nachbartisch, mit dem etwas nicht stimmte.“
„Oh“, sagte Penelope und wurde schon wieder rot. Dann ging sie hastig zur Bar. Wir aßen weiter, bis meine Tante irgendwann doch noch anfing, ihre Käsebällchen durchs Restaurant zu werfen, und Oma entschied, dass es Zeit zum Gehen war.
„Wir gehen auch“, sagte Mama zu Flo und mir. „Morgen ist Schule, da wollt ihr schließlich fit sein.“
Oh ja, das wollten wir. Zumindest wollte ich fit sein, denn morgen würde sich entscheiden, ob ich Schneewittchen werden würde oder nicht.
3.
Schneewittchen und der Spiegel
„Es war einmal mitten im Winter und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, da stach sie sich mit der Nadel in den Finger und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Oh, hätte ich ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen. Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum das Schneewittchen genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.“
So beginnt das Märchen von Schneewittchen, das wir am Montagmorgen im Probenraum der Aula abwechselnd vorlasen. Wir, das waren die dreizehn Schülerinnen und Schüler der vierten Klassen, die sich vor den Weihnachtsferien zu dem Theaterprojekt angemeldet hatten. Aus den Parallelklassen kamen sechs und aus unserer Klasse sieben Kinder: Sol, Ansumana, die Kussmaschine (ein Junge namens Mario, der immer die Mädchen küssen will), Annalisa, Frederike, Flo – und natürlich ich.
Annalisa hatte den Anfang gelesen und ich las den Schluss, wo der Spiegel der bösen Stiefmutter mitteilt, dass die frisch vermählte Königin Schneewittchen tausendmal schöner sei als sie. „Da“, las ich, „stieß das böse Weib einen Fluch aus und ihr ward angst, so angst, dass sie sich nicht zu lassen wusste. Sie wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen, doch ließ es ihr keine Ruhe, sie musste fort und die junge Königin sehen. Und wie sie eintrat, erkannte sie Schneewittchen und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffeln über das Kohlenfeuer gestellt, die wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da musste sie in die rot glühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.“
„Warum“, fragte Ansumana Frau Wiegelmann, als ich das Buch zugeklappt hatte, „warum haben Sie sich eigentlich so ein Babymärchen für uns ausgesucht? Wenn wir ein Theaterstück aufführen, warum können wir dann nicht was Cooles machen?“
Ein paar Kinder klatschten und riefen durcheinander, aber als sich alle wieder beruhigt hatten, sagte Frau Wiegelmann mit ihrem Lächeln, das ich so an ihr mag: „Das könnt ihr doch. Was spricht dagegen, dieses Märchen anders aufzuziehen?“
„Hä?“, fragte Ansumana. „Was soll das denn heißen?“
„Na, es abzuwandeln“, erklärte Flo. „In eine andere Zeit versetzen oder so. Ausdrücke wie böses Weib streichen wir dann auch. Wie daneben klingt das denn?“
Frau Wiegelmann nickte zufrieden. „So sehe ich es auch. Ende März findet unsere Aufführung statt. Das heißt, wir haben fast drei Monate Zeit, um uns mit dem Stück zu beschäftigen. Es umzuschreiben oder uns zu überlegen, wie wir die Rollen verändern.“
„Für die sieben Zwerge hätte ich schon eine Idee“, rief Tom aus der 4c. „Die könnten doch in unserem Stück eine Hip-Hop-Band sein.“
Frau Wiegelmann lachte. „Das klingt doch schon mal gut. Ihr könntet euch einen Hip-Hop-Tanz ausdenken, mit dem die Zwerge abends in ihr Häuschen getanzt kommen.“
„Und Schneewittchen ist eine Punkerin“, rief Frederike.
„Nö“, rief Annalisa. „Ich will keine Punkerin sein.“
„Was heißt hier, du willst keine Punkerin sein?“, fuhr ich sie an. „Schließlich ist noch nicht mal klar, ob du überhaupt Schneewittchen wirst! Ich finde sowieso, das mit den Rollen sollten wir als Erstes klären, dann können wir uns selbst überlegen, wie wir es abwandeln wollen.“
Frau Wiegelmann machte ein Gesicht, als hätte sie lieber noch ein wenig allgemein über das Stück geredet, aber plötzlich schrien alle durcheinander.
„Also gut“, lenkte Frau Wiegelmann ein. „Wir verteilen die Rollen und dann sehen wir weiter.“ Sie ging an die Tafel und schrieb alle Rollen auf, die in Schneewittchen vorkommen würden:
Schneewittchens Mutter (die gute Königin)
Der Jäger
Die sieben Zwerge
Der Prinz
Schneewittchen
Schneewittchens Stiefmutter (die böse Königin)
„So“, sagte sie. „Dann fangen wir erst mal mit den kleineren Rollen an. Wer will die gute Königin sein?“
Ich hätte nie gedacht, dass sich irgendjemand für eine andere Rolle als für die Hauptrolle melden würde, aber Frederikes Finger schoss gleich in die Höhe.
„Darf ich mich dann auch richtig mit einer Nadel blutig piksen?“, fragte sie, als Frau Wiegelmann ihren Namen an die Tafel geschrieben hatte.